Für immer sollst du schweigen - Lisa Unger - E-Book
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Für immer sollst du schweigen E-Book

Lisa Unger

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Beschreibung

Wie gut kennst du die Menschen, die du liebst?

Maggie lebt in einer typischen Kleinstadt: Jeder kennt jeden, Geheimnisse gibt es nicht. Aber dann verschwindet die junge Charlene, und die perfekte Fassade beginnt zu bröckeln - denn es ist nicht das erste Mädchen, das verschwindet. Der Fall wird für Maggie umso dramatischer, als ihr eigener Sohn Ricky verdächtigt wird. Und auch ihr Ehemann, der die polizeilichen Ermittlungen leitet, scheint mehr über das verschwundene Mädchen zu wissen als er sollte ...

"Ein meisterhafter Thriller." Freizeit Extra Plus

Ein packender Psychothriller der New-York-Times-Bestsellerautorin Lisa Unger.

eBooks von beTHRILLED - Mörderisch gute Unterhaltung!



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Seitenzahl: 540

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

EIN MONAT ZUVOR

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ANMERKUNG DER AUTORIN

DANK

Weitere Titel der Autorin:

Die treue Freundin

Die folgsame Tochter

Hüte dich vor deinem Nächsten

Dein geliebter Feind

Über dieses Buch

Maggie lebt in einer typischen Kleinstadt: Jeder kennt jeden, Geheimnisse gibt es nicht. Aber dann verschwindet die junge Charlene, und die perfekte Fassade beginnt zu bröckeln – denn es ist nicht das erste Mädchen, das verschwindet. Der Fall wird für Maggie umso dramatischer, als ihr eigener Sohn Ricky verdächtigt wird. Und auch ihr Ehemann, der die polizeilichen Ermittlungen leitet, scheint mehr über das verschwundene Mädchen zu wissen als er sollte ...

Über die Autorin

Lisa Unger ist eine amerikanische Thrillerautorin, deren Romane es in ihrem Heimatland regelmäßig auf die Bestsellerliste schaffen und vielfach begeistert besprochen werden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.

Lisa Unger

Für immer sollst du schweigen

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2010 by Lisa UngerTitel der amerikanischen Originalausgabe: „Fragile“Originalverlag: Shaye Areheart Books

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzungen von Eva Bonné liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

This translation published by arrangement with Crown, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Für diese Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Irmgard PerkouniggCovergestaltung: Manuela Städele-Monverdeunter Verwendung von Motiven © Magdalena Wasiczek / Trevillion ImageseBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7517-1631-4

be-ebooks.de

lesejury.de

FÜR MEINE ELTERNJOE UND VIRGINIA MISCIONE

Was es bedeutet, Eltern zu sein, erfahren wir erst,

wenn wir selber Eltern werden.

Mom und Dad, ich liebe euch.

Danke für alles ... damals wie heute.

PROLOG

Als junger Mann glaubte Jones Cooper nicht an Fehler. Er glaubte, dass viele Wege ans Ziel führen; und wo man landete, da gehörte man auch hin. Zweifel waren etwas für die Kurzsichtigen und die Kleinmütigen. Heute sah er das alles ganz anders. Er betrachtete die Welt nicht mehr mit der Arroganz der Jugend. Und die Jugend war nicht das Einzige, was ihm vor langer Zeit schon abhanden gekommen war.

Jones spürte das erdrückende Gewicht seiner Zweifel, als er seinen Ford Explorer von der Straße lenkte und den Allradantrieb zuschaltete, um im Schlamm voranzukommen. Während der letzten Wochen hatte das Herbstwetter verrücktgespielt. An einem Tag war es heiß gewesen, am nächs ten windig und bitterkalt, dann wieder warm. Nun braute sich ein Gewitter zusammen, so als hätte der Himmel per sönlich beschlossen, den Wetterkapriolen ein Ende zu machen. Morgen früh würden die Reifenspuren nicht mehr zu sehen sein.

Was ihn erstaunt hatte und immer noch erstaunte, selbst nach all den Jahren noch, war das Tempo seiner Verwandlung. Über Nacht hatte er sich von allen Konventionen und Moralvorstellungen verabschiedet, die ihn einst prägten; sie waren von ihm abgefallen und zu Boden gerutscht wie ein Umhang, der sich mit einer einzigen Handbewegung öffnen ließ. Und den Menschen darunter erkannte Jones kaum wieder. Im Lauf der Jahre hatte er versucht sich einzureden, die Umstände hätten ihn verändert und zu diesem anormalen Verhalten gezwungen. Dabei wusste er es besser. Er kannte sich. Er war feige. Er war Abschaum. Immer schon gewesen.

Als er den Wagen zum Stehen brachte, tauchte ein gleißender Blitz die Landschaft sekundenlang in weißes Licht. Jones würgte den Motor ab, lehnte sich zurück und holte tief Luft. Das Handy in seiner Hosentasche fing zu vibrieren an. Er brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass seine Frau anrief; nach so vielen guten Jahren mit einer Frau wusste man, wann sie anrief, man wusste sogar, was sie sagen würde. Er nahm das Gespräch nicht an, aber ab jetzt lief die Zeit. Ihm blieb kaum mehr als eine halbe Stunde, denn dann würde sie anfangen, in der Gegend herumzutelefonieren. Es war untypisch für ihn, nicht erreichbar zu sein. Nicht zu dieser Stunde, am frühen Abend, wenn ihr letzter Patient gegangen war und er, sofern nichts weiter anlag, Feierabend machte.

Der Gedanke an die verlorene Normalität ließ Jones laut aufschluchzen. Er war von der Wucht seiner Gefühle selbst überrascht; die Schluchzer packten und schüttelten ihn wie ein bellender Reizhusten, der aus seinem tiefsten Innern kam. Aber es war so schnell vorbei, wie es über ihn gekommen war, und zitternd trocknete er sich die Augen. Draußen fing es zu schütten an. Ein zweiter Blitz zuckte am Himmel, und Jones spürte das Donnergrollen unter seinen Schuhsohlen.

Er langte unter den Beifahrersitz, wo sein schwerer, gelber Regenmantel lag. Er schlüpfte hinein und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Dann stieg er aus, ging zur Heckklappe, öffnete sie und beugte sich unter sie, um in den Kofferraum zu spähen. Das Bündel war unglaublich klein. Schwer vorstellbar, dass es für alles Hässliche und Düstere in Jones’ Leben stand, für jedes feige Manöver und jede aufgeschobene Entscheidung. Am liebsten hätte er es gar nicht angefasst.

Das Handy in seiner Tasche begann abermals zu vibrieren, was ihn jäh aus seinen Gedanken riss. Er beugte sich in den Kofferraum und nahm das in dicke, graue Plastikplane eingewickelte Bündel heraus. Auf einmal wirkte es überhaupt nicht mehr klein und leicht. Es war, als hätte er die Last der ganzen Welt zu tragen. Er spürte das Grauen in sich aufsteigen, schaffte es aber, seine Panik im Keim zu ersticken. Er hatte keine Zeit für Tränen, konnte sich nicht noch einen Zusammenbruch leisten.

Jones lief durch den Regen, duckte sich mit dem Bündel im Arm unter der Absperrung aus Polizeiband durch und blieb schließlich am Rand eines klaffenden Erdlochs stehen. Matty Bauer, einer der Jungen aus The Hollows, war hier in einen stillgelegten Minenschacht gestürzt. Er war mit Freunden zum Spielen hergekommen, als sich der Boden unter seinen Füßen auftat und ihn verschluckte. Beim Sturz hatte er sich ein Bein gebrochen. Die Polizei und die Rettungskräfte hatten fast einen ganzen Tag gebraucht, um Matty aus dem Loch zu bergen, dessen Ränder immer wieder abbröckelten und den Jungen in der Tiefe mit Erde zuschütteten.

Irgendwann hatten sie es geschafft, einen Kranwagen bis an den Rand des Kraters zu manövrieren. Jones hatte sich sofort freiwillig gemeldet und war mit einer Trage für den Jungen hinabgelassen worden. Obwohl Jones gerade erst wieder im Dienst war und sich von einer Verletzung erholte, hatte er unbedingt als Erster nach unten gewollt.

Als er unten angekommen war, hatte er einen stummen Matty mit glasigen Augen vorgefunden. Der Junge stand unter Schock, sein Bein war entsetzlich verdreht. Während Jones ihn auf die Trage legte und beruhigte – halte durch, Junge, wir holen dich hier raus –, hatte das Kind keinen Ton von sich gegeben. Jones hatte zugesehen, wie die Trage in die Höhe stieg und sich langsam im Lichtkreis drehte wie der Zeiger einer Uhr. Fast zwanzig Minuten, die ihm vorgekommen waren wie Stunden, hatte er unten in dem dunklen, tiefen Loch ausgeharrt. Dann kam das Gestell endlich wieder herunter, um auch ihn zu bergen. Da unten in dem Loch hatte Jones endlich Zeit zum Nachdenken gehabt.

Lasst euch Zeit, Jungs.

Tut uns leid, Sir! Wir arbeiten, so schnell wir können! Was anscheinend nicht besonders schnell ist.

Aber nachdem der erste klaustrophobische Anfall überstanden war, hatte Jones sich in dem dunklen Loch seltsam friedlich gefühlt. Von oben drang etwas Licht herein, die steilen Wände warfen das Echo der Stimmen zurück. Jones hatte keine Angst davor, die Kraterwände könnten abrutschen und ihn lebendig begraben. Vielleicht wäre es besser, den Heldentod zu sterben, als so unwürdig weiterzumachen wie bisher?

Der Krater sollte am nächsten Morgen bei Tagesanbruch aufgefüllt werden; ein Bulldozer stand bereit, um einen riesigen Erdhaufen ins Loch zu schieben. Jones hatte die Wache verlassen und seiner Assistentin gesagt, er wolle sich persönlich vergewissern, dass an der Baustelle alles vorbereitet sei. Er hatte ihr erzählt, er wolle die Arbeiten von der ersten Minute an überwachen. Deswegen war er hier.

Wir müssen verhindern, dass noch mehr Kinder in die Grube fallen. Wir können von Glück sagen, dass Matty sich nur ein Bein gebrochen hat.

Jones Cooper war ein guter Polizist. Die Einwohner von The Hollows konnten sich glücklich schätzen, ihn zu haben. Alle waren dieser Ansicht.

Ohne einen feierlichen Spruch und ohne geheuchelte Ergriffenheit ließ er das Bündel fallen, und Sekunden später hörte er den dumpfen Aufprall auf dem weichen, feuchten Boden. Jones lief zu seinem Geländewagen zurück und holte einen Spaten aus dem Kofferraum. Er plagte sich zwanzig Minuten damit, Erde in das Loch zu schaufeln, obwohl er wusste, dass man das Bündel vom Rand des Kraters sowieso nicht erkennen konnte. Während er sich abrackerte, nahm der Regen zu, und verästelte Blitze zuckten über den Himmel.

EIN MONAT ZUVOR

EINS

Als die Fliegentür krachend ins Schloss fiel, hüpfte ihr Herz vor Freude. Aber dann spürte sie sofort die Ernüchterung, und ein kleiner Abgrund tat sich in ihrer Seele auf. Fast hörte Maggie ihren Sohn, wie er früher einmal gewesen war – immer im Laufschritt, immer schmutzig vom Fußballtraining, ständig auf dem Fahrrad in der Nachbarschaft unterwegs. Beim Nachhausekommen war er immer hungrig oder durstig gewesen und hatte sich direkt auf den Kühlschrank gestürzt. Mom, ich will was essen. Er war voller Liebe gewesen und immer bereit, sie zu umarmen und zu küssen, ganz anders als seine Freunde, die damals schon vor ihren Müttern zurückschreckten, als wäre ein Kuss so unangenehm wie eine Impfung. Er hatte viel gelacht. Er war ein Clown, der auch sie zum Lachen bringen wollte. Es war noch gar nicht so lange her, dass ihr Sohn Ricky hieß, nicht Rick. Aber heute war dieser kleine Junge so weit weg, als

wäre er in eine Rakete gestiegen und zum Mond geflogen. Rick kam in die Küche. Er überragte sie um einen ganzen

Kopf und war von oben bis unten in Schwarz gekleidet – schwarze Jeans, sorgfältig zerrissenes, durchlöchertes T-Shirt und knöchelhohe Schnürstiefel von Doc Martens, obwohl es heute ungewöhnlich warm war. Maggie fand es geradezu schwül, wobei daran vielleicht nur die Hormone schuld waren. An den silbernen Nasenring ihres Sohns hatte sie sich längst gewöhnt, eigentlich fand sie ihn ganz cool.

»Hey, Mom.«

»Hallo, Schatz.«

Er machte sich daran, alle Schränke aufzureißen. Maggie versuchte, nicht hinzusehen. Sie hatte am Küchentresen gestanden und in einem Katalog mit lauter Schnickschnack geblättert, den kein Mensch brauchte. Sie spähte aus den Augenwinkeln hinüber. Gestern war er mit einer Tätowierung nach Hause gekommen, einem abstrakten Stammeszeichen, das sich über den ganzen Unterarm schlängelte. Es war entsetzlich und noch nicht fertig; man sah kaum mehr als einen nicht ausgemalten Umriss. Die Fertigstellung würde noch einige Sitzungen dauern, und um die bezahlen zu können, musste Ricky noch lange jobben. Auf keinen Fall würde Maggie dafür bezahlen, dass er sich verschandeln ließ. Nicht dass er sie um das Geld gebeten hätte.

Die wunde, gereizte Haut an Rickys Unterarm war von einer glänzenden Schutzschicht aus Vaseline bedeckt. Allein beim Anblick wurde Maggie übel. So traurig machte sie das.

Sie musste immerzu daran denken, wie perfekt und makellos er gewesen war, wie weich seine rosige Babyhaut. Wie warm sich sein kleiner, wohlgeformter Körper angefühlt hatte, und wie sie ihn abgeküsst und seine Schönheit bewundert hatte. Als junge Mutter hatte sie sich nicht von ihm losreißen können. Nun starrte sie angestrengt in den Katalog, um ihren Sohn und das, was er mit sich angestellt hatte, nicht mehr sehen zu müssen.

Der Familienkrach von gestern lag hinter ihnen; sie hatten alles gesagt, was zu sagen war. In drei Wochen wurde er achtzehn Jahre alt. Sie war nicht mehr für seinen Körper verantwortlich. Du hast nicht das Recht, mich zu kontrollieren, hatte er ihr vorgeworfen. Ich bin kein Kind mehr. Natürlich hatte er recht. Das verletzte sie am meisten.

»Halb so wild, Mom«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er durchwühlte die Post auf dem Tresen. »Viele Leute haben ein Tattoo.«

»Ricky«, sagte sie und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Aber anstatt weiterzusprechen, atmete sie ganz langsam aus. Manche Sachen konnten nie wieder rückgängig gemacht werden. Er würde dieses Ding für immer mit sich herumtragen. Vielleicht würde es ihr eines Tages nicht mehr auffallen, so wie seine Haarfarbe, die sich ständig änderte und heute rabenschwarz war. Er stellte sich neben sie und küsste sie auf den Scheitel.

»Ich bin kein Baby mehr.«

»Für mich schon, Ricky«, sagte sie. Er wollte sich abwenden, aber sie packte ihn und zog ihn an sich. Er erwiderte die Umarmung.

»Rick«, korrigierte er sie, drehte sich um und ging zum Kühlschrank.

»Ricky, für immer«, sagte sie. Ihr war klar, wie albern und dickköpfig das klang. Er hatte einen Anspruch darauf, sich seinen Namen selbst auszusuchen, oder? Hatte sie ihm nicht beigebracht, für sich einzustehen, Grenzen zu ziehen, Respekt einzufordern?

»Mom.« Ein Wort. Ein sanfter Tadel und eine Aufforderung an sie, sich zu beruhigen.

Sie musste lächeln und spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Egal, wie traurig oder wütend sie war, die Chemie zwischen ihnen machte jeden Streit praktisch unmöglich. Bevor sie laut wurden oder mit Türen knallten, konnten sie ebenso gut in Gelächter ausbrechen. Zwischen Ricky und seinem Vater sah die Sache anders aus. Wenn ihr Mann und ihr Sohn stritten, wurde Maggie klar, dass manche Menschen niemals lernen würden, miteinander auszukommen.

»Was macht deine Band?«, fragte sie. Ein Themenwechsel täte ihnen beiden gut.

»Nicht gerade viel. Charlene und Slash haben sich gestritten. Sie hat seine Gitarre kaputt gemacht. Er kann sich keine neue leisten. Wir hatten eh keine Auftritte geplant. Vielleicht legen wir eine Pause ein.«

»Wer ist Slash?«

»Du weißt schon. Billy Lovett.«

»Oh.« Billy mit dem goldblonden Haar und den meergrünen Augen, der Charmeur, der Starkicker, seinerzeit der Schwarm aller Viertklässlerinnen. Inzwischen standen er und Ricky kurz vor dem Schulabschluss und hatten mit den beiden Jungs, deren Augen auf den alten Klassenfotos schelmisch blitzten, nichts mehr gemein. Heute sahen sie eher so aus, als verschliefen sie die den Tag in einem Sarg. Dass Billy

»Slash« genannt werden wollte, war ihr ganz neu.

»Tut mir leid«, sagte sie. Ehrlich gesagt fand sie die Band schrecklich. Charlenes Gesang konnte bestenfalls als mittelmäßig durchgehen. Ricky spielte seit der vierten Klasse Schlagzeug, seine Technik war in Ordnung, aber er besaß kein besonderes Talent – zumindest nicht in Maggies Ohren. Billy alias Slash war ein ganz passabler Gitarrist, aber wenn die drei zusammen musizierten, kam nichts heraus als aggressiver Krach, der Maggie innerlich zusammenzucken ließ.

»Wow«, hatte sie gesagt, nachdem sie und Jones im vergangenen Jahr den Bandwettbewerb in der Schule verfolgt hatten. Ricky und seine Freunde hatten es unter die letzten drei Bands geschafft, schließlich aber gegen die gleichermaßen unbegabte, lärmende Konkurrenz verloren. »Ich bin beeindruckt.«

Ricky schenkte sich einen Orangensaft ein, wobei er es schaffte, die Granitarbeitsplatte und gleichzeitig den frisch geputzten Küchenboden zu bekleckern. Maggie griff zum Lappen, um die Flecken aufzuwischen.

Das ist dein Problem. Du sitzt ihm ständig im Nacken und räumst hinter ihm her. Er meint, er könnte sich alles erlauben. Die heftigsten Auseinandersetzungen mit ihrem Mann hatte sie wegen Ricky, ihrem einzigen Kind. Anscheinend nahm Jones gar nicht wahr, dass sein Sohn, »der Spinner«, wie er ihn nannte, überdurchschnittlich gute Noten nach Hause brachte und einen rekordverdächtigen Schulabschluss machen würde. Sowohl Georgetown als auch die New York University hätten ihn liebend gern aufgenommen; die Zusagen hingen an der Kühlschranktür, wo Maggie früher Ricks Wachsmalbilder und Stundenpläne befestigt hatte. Und das waren nur die ersten zwei Antwortschreiben.

Wozu soll das gut sein, wenn er gar nicht studieren will? Er ist ein schlaues Kerlchen – und dann fällt ihm nichts Besseres ein, als sich die Nase piercen zu lassen?

Aber Maggie kannte ihren Sohn. Er hätte sich nicht die Mühe gemacht, so viele Bewerbungen zu schreiben, wenn sich hinter der Punkerfrisur und dem Tattoo nicht jemand versteckte, der den Wert einer guten Ausbildung zu schätzen wusste. Schließlich wollte er nicht sein ganzes Leben im einzigen Plattenladen der Stadt verbringen.

»Geht ihr, du und Charlene, zum Winterball?«

Rick warf ihr einen scharfen Blick zu. Seine hellwachen Augen nahmen sie ins Visier. Sie waren schwarz, so tiefschwarz wie die seines Großvaters. Manchmal sah Maggie die Stärke und Weisheit ihres Vaters in Ricks Augen, manchmal nur ein kurzes Aufblitzen, das einem lakonischen Witz oder beißendem Spott voranging. So wie jetzt.

»Du machst Witze«, sagte er.

»Nein«, antwortete sie gedehnt. »Nein, ich mache keine Witze. Es wäre bestimmt ein großer Spaß.«

»Äh, nein, Mom. Wir gehen da nicht hin. Außerdem sind es bis dahin noch ein paar Monate.«

»Du könntest als du selbst hingehen, in deinem Stil.« Maggie hielt immer noch den Lappen in der Hand und war dabei, Oberflächen abzuwischen, die nicht abgewischt werden mussten – den verchromten Brotkasten, den Grill, die Tonschüssel aus Italien, in der das Obst lag, falls sie Obst im Haus hatten, was im Moment nicht der Fall war. Sie müsste dringend einkaufen gehen. Gott behüte, dass Jones oder Ricky auf die Idee kamen, sich unaufgefordert die Liste vom Küchentresen zu schnappen und zum Supermarkt zu fahren. Nein, dafür musste Maggie drei Tage lang sticheln.

Sie fragte sich, wie Rickys und Charlenes »eigener Stil« wohl aussehen könnte. Alle Mütter, denen sie vor der Schule oder im Supermarkt begegnete, waren damit beschäftigt, ihre Tochter oder ihren Sohn für das große Ereignis auszustatten. Ballkleider wurden gekauft, Smokings ausgeliehen. Mit einem morbide angehauchten, klassischen Outfit könnte Maggie sich anfreunden; das wäre zu machen. Vor einer Ewigkeit war sie selbst einmal cool gewesen. Sie hatte die NYU besucht und regelmäßig im East Village die Nächte durchgetanzt – im Pyramid Club oder im CBGB, ganz in Schwarz. Am Aussehen ihres Sohnes störte sie sich viel weniger als ihr Mann. Schlaflose Nächte bescherte ihr höchstens die Collegewahl. Und Charlene. Sie machte sich Gedanken über Charlene.

Die arme, kleine Charlene, die sich hinter einer Maske aus schwarzem Eyeliner und knallrotem Lippenstift versteckte. Dabei war sie erfahren und ratlos zugleich, leidenschaftlich und doch verletzlich. Sie zählte zu der Sorte Mädchen, die überall Ärger machen und dennoch angepasst und schüchtern wirken. Sie hatte Maggies Sohn in ein Netz eingesponnen, ohne es zu merken, ganz unbeabsichtigt womöglich. Und aus Sicht der Fliege ist so ein Spinnenfaden stabiler als Eisenketten.

Irgendetwas an seiner Stimme, an seinem Gesichtsausdruck hatte Maggie dazu bewogen, die Hände still zu halten und ihm aufmerksam zuzuhören, als er zum ersten Mal von Charlene erzählte. Maggie wusste sofort, das gibt Ärger.

Maggie wartete auf die Totenglocke: Mom, Charlene ist schwanger. Wir werden heiraten. Aber sie war so klug, den Mund zu halten, Charlene willkommen zu heißen – in ihrem Haus und, soweit Jones es zuließ, in ihrer Familie. Eigentlich war das Mädchen in Ordnung. Manchmal erkannte Maggie sich in Charlene als die Maggie von früher wieder. Manchmal.

Maggie konnte sich daran erinnern, dass sie getobt und rebelliert hatte, weil ihre Eltern ihr den Umgang mit einem Jungen von der benachbarten Highschool verbieten wollten. Phillip Leblanc. Mit seinem strubbeligen Haar und den schwarzen, immer mit Farbe beschmierten Klamotten (ein Künstler, selbstredend) war er alles, was die Jungs aus The Hollows nicht waren: cool, exzentrisch, kreativ. Sie liebte ihn so, wie weibliche Teenager lieben, nach Art der Lemminge. Was natürlich mit wahrer Liebe nichts zu tun hat. Unglücklicherweise wollen die Siebzehnjährigen das nicht einsehen. Und mit dem Hausarrest und den Standpauken trieben Maggies Eltern ihre Tochter erst recht in die Arme des wartenden Phillip. Ein heilloses Chaos, aus dem Maggie kaum wieder herausfand. Aber das war in einem anderen Leben gewesen. Bis heute dachte sie gelegentlich an ihn und fragte sich, was aus ihm geworden war. Sie hatte ihn im Lauf der Jahre immer wieder gegoogelt, ohne Informationen zu finden. Er war ein schwieriger Junge gewesen, fiel ihr dann ein, aus dem vermutlich ein schwieriger Erwachsener geworden war.

Sogar ihre Mutter hatte neulich erst, als Maggie sich wieder einmal über Charlene beschwerte, zugegeben, die Sache damals falsch angegangen zu sein. Maggie war sehr überrascht, weigerte ihre Mutter sich doch immer beharrlich, eigene Fehler einzugestehen. Aber inzwischen hatte Elizabeth viel Zeit zum Nachdenken – wenn sie sich nicht gerade über die mysteriösen Geräusche auf ihrem Dachboden aufregte.

Zum Glück hatte Jones begriffen, dass ihr Sohn in Sachen Charlene am Rand eines Abgrunds wandelte. Eine falsche Bewegung, so gut sie auch gemeint war, und er würde sich erschrecken und abstürzen. Dann hätten sie ihn für immer verloren.

Dieses Mädchen schläft mit unserem Sohn, sagte er eines abends zu Maggie, als sie am Pool saßen und Wein tranken. Ich weiß, hatte sie geantwortet, nicht ohne einen Stich der Eifersucht zu spüren. Vielleicht auch der Wut und Trauer. Gerade erst am Vortag hatte sie gesehen, wie Charlene ihre Hand zwischen Rickys Beine geschoben hatte. Plötzlich musste sie daran denken, wie sie Ricky gebadet und gewickelt hatte. Sie spürte eine unendliche Trauer. Manchmal hatte sie den Eindruck, das Muttersein bestünde nur daraus

– aus Kummer, Schuldgefühlen und Angst. Man verabschiedete sich jeden Tag ein kleines bisschen mehr. Zuerst verließen sie den Körper, zum Schluss das Haus der Mutter. Aber nein, das war nicht alles. Da gab es auch noch die Liebe, diese allumfassende, unglaubliche Liebe. Und das Elterndasein war anstrengend, so anstrengend, dass sie sich, weil sie beide berufstätig waren, gegen ein zweites Kind entschieden hat-ten. Dabei ging eine Kindheit so schnell vorbei.

Mit dem Mädchen stimmt doch was nicht. Ich weiß, sagte sie.

Jones warf ihr über den Tisch einen überraschten Blick zu.

Ich dachte, du würdest sie mögen.

Maggie zuckte die Achseln. Ich mag sie, weil ich das Beste für Ricky will. Und er liebt sie.

Jones schnaubte verächtlich. Was weiß er schon von Liebe? Nicht genug. Deswegen ist es so gefährlich.

»Ich bezahle den Smoking und den Chauffeur«, sagte sie. Bettelte sie ihn an?

»Ach komm, Mom.«

»Lass es dir wenigstens durch den Kopf gehen. Frag Charlene. Selbst eine so coole Braut wie sie träumt doch insgeheim von Bällen und Abendkleidern.« Sie versuchte ein Lächeln, befürchtete aber, ganz schön verzweifelt zu wirken.

»Okay, okay. Ich werde sie fragen.«

Er sagte es nur ihr zuliebe, trotzdem durchströmte sie ein Glücksgefühl. Eigentlich war sie überzeugt, keine von diesen Müttern zu sein. Aber nun war es so weit, sie bedrängte ihren Sohn, zum Winterball zu gehen, damit sie Fotos machen und sich mit den anderen Moms über Kleider und Blumen und Mietlimousinen austauschen konnte. Es war einfach peinlich.

Um gleichgültig zu wirken, wandte sie sich wieder dem Katalog zu. Eine Alarmanlage für den Pool, ein Keramikfrosch mit integriertem Schlüsselversteck, eine schwimmende Kühltasche. Sie hatte Lust, etwas zu kaufen. Egal, was. Sie warf einen Blick auf ihre Fingernägel. Sie bräuchte dringend eine Maniküre.

Die Fliegentür fiel zum zweiten Mal ins Schloss. Als Maggie den Kopf hob, war ihr Sohn verschwunden; ihr Mann hatte seinen Platz eingenommen und war nun dabei, die Post zu sichten. Wenn die beiden wüssten, wie ähnlich sie sich eigentlich waren, würden sie vor Wut in die Luft gehen.

»Wo steckt Johnny Rotten?«, fragte Jones seelenruhig.

»Vor einer Minute war er noch da.« Maggie klappte den Katalog zu und warf ihn in den Müll.

»Hat mich kommen hören«, sagte Jones. Er riss einen Umschlag auf, überflog die Telefonrechnung und legte sie auf den Küchentresen.

»Bestimmt«, sagte sie, um dann hinzuzufügen: »Keinen Streit heute, okay?«

»Worüber sollten wir uns streiten, Maggie? Der Krieg ist verloren. Uns bleibt nichts übrig, als zu kapitulieren.«

Sie spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. »Es herrscht kein Krieg. Es geht hier nicht um gewinnen oder verlieren. Er ist unser Kind.«

»Sag ihm das!«

Maggie sah ihren Mann eindringlich an, aber er hatte dichtgemacht und ging wortlos die übrige Post durch – nichts als Werbung. Sie wusste nicht mehr, wie sie ihn trösten, wie sie ihn erweichen könnte. Die vielen Jahre im Job hatten ihn nur härter gemacht. Nein, nicht nur. Aber früher war seine Wut hitzig gewesen, er hatte getobt und geschrien. Nun wirkte er in sich gekehrt, ließ niemanden an sich heran. Man musste keine Psychiaterin sein, um zu wissen, wie ungesund das war.

Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und musterte sie blitzschnell. »Hübsch siehst du aus. Hast du was mit deinen Haaren gemacht?«

»Ich habe sie vor ein paar Tagen nachschneiden lassen.«

Sie schüttelte ihre rotbraunen Locken für ihn und klimperte verführerisch mit den Wimpern.

Er trat zu ihr und nahm sie in seine starken Arme. Sie lehnte sich an ihn, spürte seine breite Brust unter dem weichen Stoff des Jeanshemds, legte den Kopf in den Nacken und schaute zu seinem geliebten Gesicht empor.

»In deinen blauen Augen könnte ich ertrinken, Maggie«, sagte er lächelnd.

Die vergangenen Jahre, die elterlichen Sorgen, die Geldprobleme, der ganze Stress hatten sie nicht ihrer Liebe beraubt, auch wenn Maggie das manchmal befürchtet hatte. Immer noch liebte sie seinen Anblick, seinen Duft und wie er sich anfühlte. Trotzdem bekam sie manchmal den Eindruck, er nehme sie nicht mehr richtig wahr. Wie die vom Onkel geerbte, goldene Uhr oder die Diamantohrringe in der Schatulle, die früher ihrer Großmutter gehört hatten – kostbare Schätze, die sich im Lauf eines Lebens angesammelt hatten und behütet, aber kaum noch beachtet wurden. Herausgeholt zu besonderen Anlässen, wenn überhaupt.

Es gab Schlimmeres. Bei ihren Freundinnen hatte sie verfolgt, wie Ehen implodiert und verpufft waren und nichts als emotionale Wracks und Schiffbrüchige zurückgeblieben waren, und die Zweitehen verliefen kaum besser. Aber an manchen Tagen konnte Maggie Jones nicht einmal leiden. Manchmal sehnte sie sich danach, ihm einen kräftigen Kinnhaken zu verpassen, so kräftig, dass sie sich die Fingerknöchel aufschlagen würde. Dabei liebte sie ihn nicht weniger bedingungslos als ihren Sohn. So stark war ihre Liebe, so sehr gehörte sie zu Maggies Persönlichkeit dazu. Jones war ihre fehlende Hälfte, im positiven wie im negativen Sinn.

»Er ist in Ordnung«, sagte sie und schlang ihre Arme um Jones’ Taille. »Er macht das schon.«

Schweigen. Jones atmete tief ein, und sie spürte, wie sich seine Brust hob.

Darum ging es also. Es ging nicht um die Wut. Nicht um den Wunsch nach Kontrolle. Es ging auch nicht darum, dass Jones zu wenig Liebe oder Verständnis für den Jungen aufbrachte. Es ging um Angst. Die Angst, der jahrelange Einsatz könnte nicht gereicht haben – die Sorge um seine Gesundheit, sein Herz und seinen Verstand, das Festsetzen von Zubettgehzeiten, das Ziehen von Grenzen, die Warnung vor bösen Fremden und die Mahnung, vor dem Überqueren der Straße in beide Richtungen zu schauen. Die Angst, dass fremde, unkontrollierbare Mächte ihn auf der Schwelle zum Erwachsenenalter mit sich reißen und vom rechten Weg abbringen würden, so dass sie nicht mehr an ihn herankämen. Die Angst, er könnte etwas Abscheulichem verfallen und Geschmack daran finden. Dann könnten sie nichts weiter tun, als ihn ziehen zu lassen. Maggie war überzeugt, ihm ein gutes Vorbild gewesen zu sein. Sie betete darum. Warum hatte ihr Mann so wenig Vertrauen?

»Hoffentlich«, sagte er tonlos, so als wäre es ohnehin zu spät.

Sie trat einen Schritt zurück, um ihn tadelnd anzusehen, aber dann fiel ihr Blick auf die kleine Uhr an der Edelstahlmikrowelle hinter Jones’ Rücken. In fünf Minuten würde ihre nächste Sitzung beginnen. Sie hatte keine Zeit für Wortgefechte. Er hatte ihren abschweifenden Blick bemerkt und wandte sich von ihr ab, um, unbewusst Ricky imitierend, den Kühlschrank zu öffnen und hineinzuschauen.

»Da geht sie hin, die verzweifelte Welt zu retten«, sagte er spöttisch, »Seele für Seele. Und was ist mit ihrem Mann?«

»Was soll mit dem sein?«, fragte sie, schenkte sich einen Kaffee ein und wollte sich auf den Weg in den Anbau machen, der mit dem Haus durch einen Flur verbunden war und wo sie ihre Patienten empfing. »Ist er verzweifelt?«

Sie neckten einander. Oder doch nicht? Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, stand er immer noch gebeugt vor dem Kühlschrank. Plötzlich sah er seltsam gealtert aus.

»Jones?«

Er grinste sie an. »Verzweifelt auf der Suche nach einem Mittagessen«, sagte er augenzwinkernd. Wirkte es aufgesetzt?

»Es ist noch Lasagne übrig und Salat, den habe ich eben frisch gemacht«, sagte sie und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Sie hatte hastig und ohne ihn gegessen, obwohl sie wusste, dass er mittags nach Hause kommen würde. Sie erstickte das Gefühl im Keim. Ich bin seine Frau, nicht sein Dienstmädchen. Ich bin Mutter, nicht Kellnerin. Wie oft hatte sie sich diese Sätze schon vorgebetet? Vielleicht würde sie irgendwann selbst dran glauben.

»Und mein Cholesterin?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Fettarmer Käse! Vollkornlasagne! Putenfleisch!«

»Igitt«, sagte er und nahm im selben Moment die Tupperdose aus dem Kühlschrank. »Seit wann sind wir so gesund?«

»Wir sind nicht gesund, Jones, wir sind alt.«

»Hmm.«

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg zu ihrem Patienten.

ZWEI

Sie liebte ihn. Sie wusste, was das hieß, egal, was die anderen sagten. Es war unmöglich, die Liebe zu leugnen, oder? Sie war wie ein Waldbrand im Sommer, wie eine tektonische Plattenverschiebung am Grund des Ozeans. Sie konnte ein Leben verändern, konnte zerstören und erschaffen. Vor einer Verabredung begann ihr Herz zu rasen, und ihr Mund wurde so trocken wie bei einer Panikattacke. Wann kam er? Würde er überhaupt kommen? War er wirklich in sie verliebt? Was, wenn er seine Meinung änderte? Jenes köstliche, sorgenvolle Warten, und dann die Begegnung, Haut an Haut, sein Hals an ihren Lippen, ein tiefes Ausatmen – leidenschaftliche Erleichterung, so wie wenn man nach dem Auftauchen endlich wieder Luft bekommt. Wie könnte man die Liebe nicht erkennen? Sie war schon mit anderen Jungs gegangen, hatte

für sie geschwärmt, aber das war anders gewesen.

»Oft bezahlt man für einen kurzen Spaß mit lebenslangem Leiden«, hatte ihre Mutter Melody sie während eines theatralischen Vortrags zum Thema Verantwortungsbewusstsein gewarnt. Manchmal tat sie Charlene leid. Charlene fragte sich, ob ihre Mutter überhaupt noch wusste, was Spaß ist und wie sich die Liebe anfühlt. Oder lag das für sie alles so weit zurück, dass sie, sollte sie der Liebe noch einmal begegnen, deren Sprache nicht mehr verstehen würde?

Im Gästezimmer ihrer Großmutter hatte Charlene in einer verstaubten Kiste im Kleiderschrank ein altes Fotoalbum gefunden. In dem Album steckten viele Bilder von Leuten, die Charlene nicht kannte, aber auch eines, das Melody an ihrem Hochzeitstag zeigte. Ihre Mutter sah gertenschlank aus und trug ein schmal geschnittenes, altmodisches Spitzenkleid. Sie war so hübsch gewesen! Aber nicht aus diesem Grund hatte Charlene das Foto aus dem Album gelöst und in ihrer Handtasche verschwinden lassen, sondern wegen des Blicks, den die frisch verheiratete Melody ihrem Ehemann zuwarf. Sie strahlte vor Glück, lächelte breit und mit blitzenden Augen. Nie im Leben hatte Charlene ihre Mutter so gesehen. Nie. Die Frau auf dem Foto war eine Fremde, die Charlene gern kennengelernt hätte. Sie sah lustig und cool aus, so wie eine Frau, die über schmutzige Witze lacht und zu viel trinkt.

Charlene hatte das Foto nach dem Tod ihrer Großmutter entdeckt. Sie hatten das Haus ausgeräumt, weil es verkauft werden sollte. Charlene wollte es behalten und dort einziehen. Sollte ihre Mutter doch lieber das Loch verkaufen, in dem sie jetzt wohnten.

»Auf keinen Fall«, hatte ihre Mutter gesagt. »Hast du eine Ahnung, wie viel Arbeit es macht, in einem so alten Haus zu leben?«

Dabei war das Haus wunderschön – drei Stockwerke hoch und ausgestattet mit Spitzengardinen, Parkettböden, geschwungenen Treppengeländern und klapprigen Fenstern. Jede Treppe knarzte auf unverkennbare Weise, und im Sommer, wenn es schwül wurde, klemmten sämtliche Türen. Charlene hatte immer das Gefühl, das Parfüm ihrer Oma erschnuppern zu können, einen leichten, blumigen Duft, der sie unerklärlicherweise »Rock-a-bye Baby« summen ließ.

Aber nicht nur die Unbequemlichkeiten des Altbaus hatten ihre Mutter zum Verkauf bewogen. Charlene konnte es ihr vom Gesicht ablesen. Es lag auch nicht am Geld, obwohl das Geld natürlich eine Rolle spielte. Charlene wusste nicht, warum ihre Mutter ihr Elternhaus verkaufen und Fremden überlassen wollte, die es vor dem Einzug »renovieren«, sprich ihm seine Persönlichkeit und Geschichte entreißen würden.

»Du bist zu jung, um das zu verstehen. Manchmal möchte man einfach mit der Vergangenheit abschließen; man will nicht mehr davon umgeben sein und ständig an Sachen erinnert werden, die man lieber vergessen würde.«

»Was denn zum Beispiel? Was würdest du lieber vergessen? Ich dachte, du magst das Haus.«

»Das tue ich auch. Und ich weiß, dass es Oma am liebsten wäre, wir würden einziehen.«

»Warum tun wir es dann nicht, Mom?«

»Ich werde es verkaufen, Charlene. Wir brauchen das Geld. Ende der Diskussion.«

Und plötzlich sah ihre Mutter so traurig und so fremd aus, dass Charlene zum ersten Mal im Leben gehorchte und den Mund hielt. Damals war sie dreizehn Jahre alt gewesen und erfüllt von unsäglicher Wut und erdrückender Traurigkeit, weil sie ihre Oma verloren hatte und das geliebte Haus noch dazu. Aber Melody ließ einfach nicht mit sich reden. Leben heißt loslassen, Charlene. Gewöhn dich dran. Bis heute fragte Charlene sich, ob das stimmte. Mehr durfte man vom Leben nicht erwarten?

Sie hatte ihren Vater früh verloren. Sie war damals noch zu klein gewesen, um den Verlust zu betrauern, aber sie wusste, dass die anderen Mädchen etwas erlebten, was ihr für immer versagt bleiben würde. Sie hatte das alles zu einem Song verarbeitet, er hieß »Erinnerungen zu verkaufen«.

Was du behalten willst, verschwindet.Was du nicht mehr brauchst, das bleibt.Verkauf deine Geschichte,

Verkauf deine Seele,

Du bist trotzdem bankrott, müde und alt.Nur Erinnerungen bleiben

Und wärmen dich, denn draußen ist es kalt.

Der Refrain bestand aus Wutgeheul und der mehrfachen Wiederholung des Songtitels. Das Lied war kein bisschen schlechter als die armseligen Coverversionen, die sie sonst spielten. In letzter Zeit hatte Charlene immer wieder versucht, Slash zum Komponieren eigener Stücke zu überreden, aber er hatte keine Lust.

Slash hielt ihre Texte für lyrische Ergüsse, viel zu blumig und kitschig. Als könnte sich einer, der sich Slash nannte und schwarzen Lippenstift trug, ein Urteil erlauben! Sie stritten regelmäßig und leidenschaftlich deswegen. Sie musste ihm einfach widersprechen. Ihre Texte spiegelten ihr Seelenleben wider. Gewiss, ihre Mutter nannte sie eine hysterische Ziege, und Charlene ahnte, dass die meisten ihrer Freunde, Rick eingeschlossen, im Grunde das Gleiche dachten. Aber das kümmerte sie nicht. Es war besser, Dampf abzulassen, eine Szene zu machen und zu viel Gefühl zu zeigen, als wie ein gehirntoter Zombie in der öden Vorstadt dahinzuvegetieren.

Wäre Rick nicht dabei, hätte sie die blöde Band sowieso schon längst verlassen. Sie hatte keine Lust mehr, Coverversionen auf Schülerpartys zu spielen und krampfhaft die Texte und Gedanken anderer Leute nachzubeten. Slash hatte einfach keine Ideen. Er konnte Noten lesen und berühmte Gitarristen imitieren, aber nie im Leben wäre er imstande, einen einzigen Ton selbst zu komponieren. Sie wollte nichts kaputt machen, als sie ihm die Gitarre weggenommen hatte, sie war ihr einfach aus der Hand gerutscht und in einem unglücklichen Winkel gegen die Wand geprallt. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war Slash kurz vorm Heulen gewesen. Er hatte das Instrument mit dem gebrochenen, traurig an den losen Saiten baumelnden Hals vom Boden aufgehoben und davongetragen wie ein verletztes Kind.

»Na toll«, hatte Rick sie angezischt.

»Das war keine Absicht«, hatte sie sich verteidigt und Slash hilflos nachgeschaut. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen und fragte sich, wie teuer eine neue Gitarre wohl sei. Ständig passierten ihr solche Sachen. Sie hatte sich nicht unter Kontrolle und verletzte die anderen unabsichtlich, und später dann tat es ihr schrecklich leid. Und anscheinend war sie nie in der Lage, es wiedergutzumachen. Sie hatte ein besonderes Talent dafür, irreversiblen Schaden anzurichten.

Nun saß sie in ihrem spießigen Zimmer in ihrem spießigen Elternhaus und lackierte sich die Fingernägel in einem schillernden Grün. Sie hasste das Fertighaus mit den quadratischen Minizimmern und den dünnen Wänden, das absolut identisch mit einem Drittel der Häuser in der Neubausiedlung war. Es war, als lebte sie den beschränkten Lebensentwurf eines beschränkten Architekten. Wer konnte in einem Gefängnis mit Rigipswänden zu kreativen Höhenflügen ansetzen? Sie nicht. Aber bald hätte sich das Problem erledigt. In sechs Monaten wurde sie achtzehn, und nach dem Schulabschluss würde sie versuchen, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Aufs College? Weitere vier Jahre fremdbestimmt und in Knechtschaft leben? Auf keinen Fall.

Wo willst du denn hin?, fragte ihre Mutter. Glaubst du wirklich, in New York käme man mit dem Mindestlohn über die Runden? Denn ohne Ausbildung findest du höchstens bei McDonald’s einen Job. Aber Charlene hatte einen Fluchtplan geschmiedet; er war schon fertig.

Du kannst hier bei mir wohnen, wenn du so weit bist, Charlene. Bei ihrem letzten Treffen hatte er es ihr angeboten. So lange du willst.

Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie die Stimmen im Erdgeschoss hörte. Sie hielt inne, ließ den kleinen Pinsel mit der grünen Glitzerfarbe über ihrer großen Zehe schweben und lauschte. Manchmal konnte sie anhand von Auftaktlautstärke und Tonfall voraussagen, ob es mit einem plötzlichen Knall, Türenschlagen und Motorengeheul enden würde oder ob das Ganze langsam Fahrt aufnehmen und sich von Zimmer zu Zimmer steigern würde, bis es am Ende zu einer lauten Entladung mit Verletzten kam. Manchmal traf es ihre Mutter, manchmal ihren Stiefvater Graham und manchmal, wenn sie in die Schusslinie geriet, Charlene selbst. Was heute nicht passieren würde, so viel hatte sie sich nach dem letzten Mal geschworen. Eine Woche lang hatte sie ihr linkes Auge mit Make-up und schwarzem Eyeliner zukleistern müssen. Sollten sie sich doch die Köpfe einschlagen. Außerdem klang es diesmal besonders ernst.

Charlene konnte die einzelnen Worte nicht hören, nur die hysterische Tonlage ihrer Mutter. Sie griff nach ihrem iPod, steckte sich die Kopfhörer ins Ohr und drehte die Lautstärke voll auf. The Killers.

Sie versuchte mitzusingen und sich in einen Zustand seliger Unwissenheit zu begeben. Aber ihr Herz klopfte, und sie spürte ein trockenes Ziehen tief im Hals. Als sie mit ihren Zehennägeln fertig war, zitterte ihre Hand; sie schraubte das Fläschchen zu und knallte es auf den Nachttisch. Dass ihr Körper meuterte, machte sie wütend. Ihr Verstand war hart und fürchtete sich vor nichts, aber ihr Körper war der eines kleines Mädchens, das verängstigt im Dunkeln saß und zitterte.

Charlene griff nach dem iPod, stoppte die Musik und lauschte in die Stille hinein. Sie atmete aus. Schweigen. Einen Augenblick lang war sie fast erleichtert. Aber die Stille hörte sich nicht gut an. Sie wirkte nicht leer, nicht frei von Spannung. Es war, als wäre sie lebendig, als verberge sie etwas. Charlene stand vom Bett auf und stakste mit gespreizten Zehen durchs Zimmer, um den immer noch feuchten Nagellack nicht zu verschmieren. Sie lauschte an der billigen, dünnen Tür mit dem fleckigen Messingknauf. Nichts. Nicht einmal der Fernseher, der normalerweise pausenlos lief – Frühstücksfernsehen, Quizshows, danach die Daily Soaps und die Talkshows, Oprah und Dr. Phil. Kam ihre Mutter je einmal dazu, einen klaren Gedanken zu fassen?

Charlene tastete instinktiv nach der Tür, so wie man es im Brandfall tun soll. Ist die Tür heiß, darf man sie auf keinen Fall öffnen. So etwas bekam man in der Schule eingetrichtert. Messer, Gabel, Schere, Licht. Immer wieder, die gesamte Schulzeit hindurch, wurde man genötigt, bei schrillender Alarmglocke in Zweierreihen das Schulgebäude zu verlassen. Aber auf die alltäglichen Gemeinheiten in der Neubausiedlung, auf die unglückliche Ehe der Eltern und die vergiftete Atmosphäre bereitete einen niemand vor, auf die aufdringlichen Blicke und anzüglichen Kommentare des Stiefvaters, die einen dazu brachten, sich klein und mies zu fühlen; auf die selbstsüchtige, verantwortungslose Mutter, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie unbarmherzig Strafende oder beste Freundin sein wollte, was einen zusätzlich verwirrte und verunsicherte. Da kam niemand mit Krankenwagen und heulenden Sirenen angebraust. Damit sollte man leben. Dabei tat es weh, zerstörte und beschädigte wie unsichtbares Gift im Trinkwasser. Die krankmachenden Effekte wurden erst später sichtbar, und dann verbrachte man den Rest seines Lebens auf der Analysecouch.

Mit solchen Gedanken schob Charlene die Tür auf und bewegte sich durch den Flur in die ungewohnte Stille hinein. Sie hatte ihre frisch lackierten Zehennägel vergessen und hinterließ bei jedem Schritt einen grünen Fleck auf dem Teppichboden. Am Kopf der Treppe blieb sie stehen.

»Mom?«, rief sie. Sie bekam keine Antwort, hörte aber etwas. Ein leises, zittriges Geräusch, abgehackt und unregelmäßig. Weinen. Jemand weinte. Langsam stieg sie die Treppe hinunter.

»Mom?«

DREI

Marshall Crosby versank wieder einmal in einer Depression. Maggie konnte es eindeutig sehen. Die körperlichen Anzeichen sprachen dafür. Sein ungewaschenes Haar hing ihm strähnig über die Brillenränder. Maggie war gleich bei seinem ersten Besuch aufgefallen, wie selten er sich den Pony aus dem Gesicht strich. Stattdessen verschanzte er sich dahinter und brachte durch seine schrägen Blicke eine ganze Reihe von Gefühlen zum Ausdruck – Verachtung, Trotz, Verlegenheit und, wie heute, eine mürrische Trauer. Eine gewisse Verschlossenheit. Unter der abgewetzten, navyblauen Kapuzenjacke zeichneten sich seine mageren, hängenden Schultern ab; er hatte die Beine von sich gestreckt und die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Die lila Schatten unter seinen Augen verrieten, dass er zu wenig geschlafen hatte.

»Wie geht es dir heute, Marshall?«, fragte Maggie. Sie saß in dem Ledersessel gegenüber dem Sofa, auf dem Marshall Platz genommen hatte. Sie strich sich den Rock glatt und legte sich den Notizblock auf den Schoß.

»Ganz gut.«

»Du siehst müde aus.«

»Ja. Kann sein.«

»Warst du lange auf? Oder konntest du nicht einschlafen?«

Ein Schulterzucken. Marshall drehte sich um und schaute aus dem Fenster, so als erwartete er jemanden, dann ließ er sich wieder zurücksinken.

»Das ist wichtig«, erklärte sie und versuchte, Blickkontakt herzustellen. Aber Marshall zog es vor, den niedrigen Sofatisch zwischen ihnen zu betrachten. »Wenn du Einschlaf- oder Durchschlafprobleme hast, müssen wir deine Medikamente umstellen.«

»Ich war lange auf.« Klang er ungeduldig?

»Hast du für die Schule gelernt?«, fragte sie.

Marshall grinste Maggie hämisch an. »Lernen ist was für Weicheier.«

»Wer hat das gesagt?« Als müsste sie noch fragen. Sie kannte Marshalls Vater gut genug.

Marshall zuckte wieder nur die Achseln. Maggie betrachtete ihn kurz und wandte sich dann dem Notizblock auf ihren Knien zu. Sie hatte »entzieht sich« darauf gekritzelt. Sie konnte sich gar nicht erinnern, das geschrieben zu haben, aber es passte perfekt auf die Situation.

Vor vielen Jahren war Marshall von einer frustrierten Lehrerin als lernbehindert gebrandmarkt worden, ein Urteil, das ihn durch seine gesamte Schullaufbahn verfolgt hatte. Jahrelang hatte er sich abgemüht – gelangweilt, unglücklich, von den Eltern misshandelt, in der Schule gemobbt. Bis Henry Ivy, Marshalls Geschichts- und Vertrauenslehrer an der Highschool, bemerkt hatte, was allen anderen entgangen war: Marshall war ein verängstigter Junge, der sich hinter seiner vermeintlichen Begriffsstutzigkeit nur versteckte. Henry unterstützte Marshall, wo er konnte; er gab ihm Nachhilfe und betätigte sich als Hobbypsychologe. Und zur großen Überraschung aller ergab ein Test, dass Marshall den IQ eines Hochbegabten hatte.

Zufällig zur selben Zeit wurde Marshalls Vater wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet. Seitdem lebte Marshall bei seiner Tante Leila, seinem Onkel Mark und seinen beiden Cousins Tim und Ryan. Leila befolgte Mr. Ivys Rat und schickte Marshall zu Maggie, die ihn begutachten und therapeutisch betreuen sollte. Alle arbeiteten eng zusammen, um ihn auf die richtige Bahn zu lenken. Und die Veränderungen waren wundersam. Bis Marshalls Vater Travis vor sechs Wochen aus der Haft entlassen wurde.

»Wie ist es, wieder bei deinem Vater zu wohnen?«

»Ganz okay. Er kann nicht besonders gut kochen.«

Man hatte Marshall die Entscheidung überlassen, bei Leila und Mark Lane zu bleiben, aber er wollte zu seinem Vater zurück. Inzwischen war er seit drei Wochen wieder zu Hause. Seine Zensuren stürzten ab, er vernachlässigte seine Körperpflege, und sein Blick war so leer wie früher. Maggie vermutete, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis er seine Tabletten nicht mehr einnehmen und die Sitzungen schwänzen würde. Das machte sie wütend und traurig, aber als noch schlimmer empfand sie das Gefühl der Ohnmacht. Nach Marshalls letztem Besuch war sie so aufgewühlt gewesen, dass sie ihre eigene Therapeutin angerufen hatte.

»Eine Therapie kann nur funktionieren, wenn der Patient freiwillig mitarbeitet«, hatte Dr. Willough erklärt. »Das gilt für Kinder genauso wie für Erwachsene. Der Patient muss die Hilfe schon wollen. Und wir müssen unsere beschränkten Möglichkeiten erkennen. Unsere Grenzen.«

Fast alle Gewalt- und Missbrauchsopfer zog es nach Hause. Manchmal konnte man etwas dagegen tun, manchmal nicht. Marshalls Vater war Polizist. Nach der Verhaftung hatte er natürlich seinen Job verloren, nicht aber seine Freunde. Der Richter, der Marshall die Rückkehr nach Hause erlaubt hatte, war ein Trinkkumpan von Travis. Leila, die Schwester von Travis, hatte sich noch im Gerichtssaal an Maggies Schulter ausgeweint. Wir haben ihn verloren, schluchzte sie. Maggie hatte gehofft, dass Leila irrte. Sie konnte sich noch gut an das hämische Grinsen erinnern, das Travis ihnen zugeworfen hatte, als er zusammen mit Marshall den Saal verließ.

»Okay«, sagte sie, »was hast du gestern Abend so spät noch gemacht, wenn nicht gelernt?« Sie bemühte sich, locker und unbefangen zu klingen.

»Ich habe meinem Dad geholfen.« Marshall setzte sich gerade hin. Beinahe meinte sie, ihn lächeln zu sehen. Das wünscht sich doch jeder Junge: dem Vater nahe zu sein. Maggie dachte an Jones und Ricky und verspürte einen kleinen Stich.

»Wobei?«

»Er arbeitet jetzt als Privatdetektiv, wussten Sie das?«

»Ja, ich hatte davon gehört.«

Henry Ivy hatte ihr neulich erst beim Mittagessen erzählt, dass Travis Crosby sich selbstständig gemacht hatte. Keiner der beiden konnte sich vorstellen, dass ihn jemand beauftragen würde.

»Wir haben sein Büro gestrichen«, erzählte Marshall.

»Nach dem Schulabschluss werde ich bei ihm einsteigen.« Er klang so stolz; Maggie hätte sich gern mit ihm gefreut.

Aber sie nickte nur knapp, um ihre Neutralität zu wahren. Er war ein sensibler Junge und bemerkte ihre fehlende Begeisterung sofort. Sie sah, dass sein rechtes Knie zu wippen anfing. Er war nervös. Eine Sekunde später kaute er auf seinem Daumennagel herum.

»Wie wäre es mit einem College?«, fragte sie. »Mr. Ivy hat mir erzählt, dass du mit deinen Noten bei vielen guten Universitäten eine Chance hättest – Rutgers, Fordham.«

Marshall winkte ab. »Mein Dad sagt, für so was haben wir kein Geld.«

Maggie bemühte sich, gelassen zu wirken. Am liebsten hätte sie ihn angebrüllt: Sieh zu, dass du aus diesem Kaff wegkommst, Marshall. Von deinem Vater. Mach eine Ausbildung. Eine andere Chance hast du nicht.

»Es gibt Stipendien, Studienkredite, Fördermaßnahmen«, sagte sie stattdessen. »Wir könnten dir helfen.«

Er senkte den Blick. Maggie beschloss, das Thema zu wechseln. »Wie läuft es mit deiner Mutter?«

»Meine Mutter ist eine Nutte«, sagte Marshall. Seine Stimme klang ruhig, aber eine verräterische Röte stieg in seine Wangen.

»Warum sagst du so etwas?« Eine unterschwellige Furcht ließ Maggie an die Sesselkante rutschen.

Marshall zog die Mundwinkel verächtlich nach unten.

»Sie hat jetzt einen Freund.«

Maggie zwang sich, vor einer Antwort tief ein- und auszuatmen in der Hoffnung, in der Stille würde er über seine Äußerung noch einmal nachdenken. Die verächtliche Grimasse verschwand, und plötzlich sah er nur noch traurig aus.

»Deswegen ist sie noch lange keine Nutte, Marshall.

Wann hast du zum letzten Mal mit ihr gesprochen?« Maggie hörte, wie ihr Sohn in der Einfahrt seinen Wagen startete und davonbrauste. Zu schnell. Der Junge fährt zu schnell, und dieses getunte Auto macht es nicht besser. Sekundenlang hing sie ihren eigenen Gedanken nach, und fast überhörte sie Marshalls Antwort, der irgendetwas von seiner Mutter und einer Nachricht auf Facebook murmelte.

»Sie meinte, sie vermisst mich.« Er lachte bitter. Für einen so jungen Menschen klang er schrecklich alt und abgestumpft.

»Keine Besuche, keine Anrufe?«

»Sie sagt, sie hätte keine Zeit. Sie ist zu beschäftigt.«

Maggie war sich nicht sicher, ob das stimmte. Vielleicht mied Marshall seine Mutter absichtlich? Angie Crosby hatte ihren Mann vor fünf Jahren verlassen, nachdem er sie brutal zusammengeschlagen hatte (eine Tat, für die Travis nie zur Rechenschaft gezogen worden war, denn auch Angie hatte damals zugeschlagen). Danach hatten die beiden sich eine fürchterliche Schlammschlacht ums Sorgerecht geliefert, legendär in The Hollows, wo alle sich kannten und auf dieselbe Schule gegangen waren. Die Gerüchte und der Klatsch wollten kein Ende nehmen, und es gab keine Veranstaltung – von der Weihnachtsfeier auf dem Polizeirevier bis hin zum jährlichen Pfannkuchenessen der Freiwilligen Feuerwehr –, ohne dass irgendwer irgendeinen Kommentar abgab.

»Damals hast du dich gut mit ihr verstanden, oder?«

»Ja. Kann sein.«

Nachdem das Sorgerecht aufgeteilt worden war, hatte sich Angie aus dem Staub gemacht. Sie wollte nichts lieber, als Travis zu verlassen, was offenbar auch hieß, Marshall zu verlassen. Wenn sie ihn schon nicht von Travis fernhalten konnte, hatte sie Maggie neulich erst gebeichtet, würde sie ganz auf ihn verzichten. Sie hatte sich geweigert, Marshall zur Therapie zu begleiten und Maggie stattdessen eine E-Mail geschickt, um »ihren Standpunkt« klarzumachen. Schon im zarten Alter von neun Jahren habe Marshall zu Zornesausbrüchen geneigt, sie zweimal geschlagen und mit den üblen Schmähworten beschimpft, die er von seinem Vater kannte. Immer schon hatte ich Angst vor Travis, sogar als ich noch in ihn verliebt war. Leider muss ich eingestehen, dass ich Marshall gegenüber ähnlich empfinde. Ich möchte leben, ohne geschlagen und ohne von meinem eigenen Sohn als Nutte und Hure beschimpft zu werden. Bin ich deswegen ein Monster, das sein eigenes Kind im Stich lässt? Vielleicht.

Zu Maggies Freude hatte während Travis’ Haftstrafe eine Art vorsichtige Annäherung stattgefunden, die Marshall offenbar guttat. Vielleicht hatte Angie sich in dem Moment zurückgezogen, in dem Travis aus dem Gefängnis kam und Marshall sich entschieden hatte, wieder bei seinem Vater zu leben. Maggie machte sich eine Notiz. Sie würde Angie anrufen und fragen, was passiert war.

»Hast du deine Medikamente genommen?«

Marshall nickte. Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben konnte.

Maggie war nicht unbedingt dafür, Kindern Pillen zu verschreiben, ihrer Meinung nach war es der letzte Ausweg. Sie, die Kinder- und Jugendpsychiaterin, verlor regelmäßig Patienten, weil sie sich weigerte, eilfertig Rezepte bei Dr. Willough zu bestellen. Andererseits konnte man Marshall mit seinen fast siebzehn Jahren kaum noch als Kind bezeichnen; als er Maggie das erste Mal besuchte, war er schwer depressiv gewesen. Keine bipolare Störung, kein ADHS, kein Borderline – im Lauf der Jahre waren ebenso viele Diagnosen wie Therapeuten zusammengekommen. Weil Maggie aber überzeugt gewesen war, eine klinische Depression erkannt zu haben, hatte sie ihm unter besonderer Abwägung der Risiken ein leichtes Antidepressivum verschrieben.

Anscheinend war er gut untergebracht gewesen – bei einer liebevollen Tante, einem ebenso positiv eingestellten Onkel und, was am wichtigsten war, seinen Cousins Ryan und Tim, ausgeglichenen, gut integrierten Jungen, die sich gern um den etwas jüngeren Marshall kümmerten, ihn zum Sport mitnahmen, am Oldtimer schrauben ließen, den sie zusammen instand setzten, und ihm Tipps gaben, wie er an das Mädchen herankommen konnte, für das er schwärmte. Maggie hatte die Familie vor den Risiken gewarnt und sie auf die Warnsignale vorbereitet, aber offenbar hatte Marshall die Medikamente gut vertragen.

»Hast du noch Kontakt zu Ryan und Tim?«

»Ja, manchmal.« Inzwischen schaute er über ihren Kopf hinweg und vermied tunlichst jeden Blickkontakt. Er schien sich seines wippenden Knies bewusst zu werden und hielt es still.

»Ach, Marshall. Wir sparen uns das Gerede und kommen direkt auf den Punkt, okay? Was ist los?«

Offensichtlich interessierte er sich sehr für die Zimmerdecke. Als er Maggie dann endlich wieder ansah, lächelte er. Sein Lächeln hatte ihr immer gefallen, es war süß und jungenhaft und brach so unerwartet hervor wie ein Sonnenstrahl aus einer Gewitterwolke. Aber diesmal war es eine hässliche Grimasse, die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Marshall beugte sich unvermittelt vor und fragte: »Wissen Sie was, Doc?«

Maggies Blick wirkte gelassen, um ihm zu zeigen, dass sie sich von seinem veränderten Tonfall weder einschüchtern noch sonstwie beeindrucken lassen würde. Bemerkenswert, wie plötzlich aus seinem tonlosen, gleichgültigen Teenagergemaule ein tiefes, resonantes Knurren geworden war.

»Was, Marshall?«

Er kicherte, unverständlicherweise. Maggie unterdrückte den Impuls, vor ihm zurückzuweichen; sie straffte ihre Schultern und setzte sich auf.

»Ich glaube, ich will Sie nicht länger in meinem Kopf haben.«

Maggie versuchte ein souveränes, kühles Lächeln und hielt seinem Blick stand. Seine Augen waren so mineralisch grün wie ein Baggersee.

»Ob du herkommst oder nicht, bleibt selbstverständlich dir überlassen«, antwortete sie.

Der innere Kampf schien sich auf seinem Gesicht widerzuspiegeln. Die Akne an seinem Kinn und auf seiner Stirn leuchtete in einem aggressiven Rot, während seine Mundwinkel wie bei einem traurigen Pantomimekünstler nach unten hingen. Er riss die Augen auf, so als wollte er losweinen, dann verengte er sie zu misstrauischen Schlitzen.

»Sprich mit mir, Marshall.«

Maggie bemühte sich, nicht übereifrig zu klingen. Die Mutter in ihr wollte sich neben ihn setzen und ihn umarmen; aber das war natürlich unmöglich. Aber selbst wenn sie ihm aufrichtige Zuneigung hätte entgegenbringen dürfen, wäre er nicht in der Lage gewesen, sie anzunehmen.

Plötzlich stand er auf, streckte sich und zog die dauerkrummen Schultern nach hinten. Nie zuvor hatte sie bemerkt, wie groß er war; immer hatte sie ihn als schlaksigen Jungen in Erinnerung gehabt, nicht als den hochgewachsenen, kräftigen jungen Mann, der er war. Er ist über eins achtzig groß und wiegt mindestens neunzig Kilo, dachte sie überrascht und lehnte sich unbewusst zurück. Er muss ihr die Überraschung angesehen haben, denn in seinem Gesicht zeichnete sich ein neuerlicher Gefühlskampf ab. Schließlich gewann eine unschöne Grimasse die Oberhand.

Nie zuvor hatte sie einen Hang zur Gewalttätigkeit bei ihm festgestellt, aber die heutige Sitzung hatte sie erschreckt. Was war passiert? Wie hatte er sich so sehr verändern können?

Marshall beugte sich vor, um seinen abgewetzten Rucksack vom Boden aufzuheben. Er verließ den Raum, ohne ihr noch einen Blick zuzuwerfen. Maggie blieb mit klopfendem Herzen noch minutenlang sitzen, bevor sie endlich aufstand, zum Schreibtisch ging und den Telefonhörer aufnahm.

VIER

Nagetiere. Die waren einfach überall. Auch wenn die Leute sie nicht bemerkten. Oder nicht bemerken wollten. Er hatte schon ganze Kolonien von Mäusen, Ratten, Eichhörnchen und Waschbären gesehen – auf Dachböden, in Kellern, hinter Zwischenwänden, unter Geräteschuppen. Kolonien, die jahrelang und nur durch wenige Zentimeter Putz und Mörtel getrennt mit den Menschen zusammenleben. Leben, sich fortpflanzen, sterben, zu Staub zerfallen. Sie waren von ganz eigener Schönheit – die geschmeidigen Körper, das ungestüme Wesen, die scharfen Zähne, die schwarzen Knopfaugen. Besonders die Jungtiere waren niedlich, so wie bei allen anderen Arten auch. Kleine, blinde, quiekende Klumpen, rosa oder mit weichem, grauem Fell.

Die Ratte hingegen, die ihm in die Falle gegangen war, ein stattliches Männchen, wirkte alles andere als niedlich. Sie war qualvoll umgekommen, mit gebleckten Zähnen und ausgestreckten Krallen. Außerdem war sie groß – der Rumpf maß fast zwanzig Zentimeter – und schwer. Charlie Strout hätte sie auf ein gutes halbes Pfund geschätzt. Natürlich hatte er schon größere Exemplare gesehen, manche Ratten konnten die Größe einer kleinen Hauskatze erreichen, und aggressivere ebenfalls. Zweimal war er bei der Arbeit gebissen worden, einmal auf dem Dachboden einer alten Dame. Sie hatte seine Hand verbunden und ihm Tee gekocht. Er war in einen regelrechten Hinterhalt geraten. Und einmal wurde er gebissen, als er ein scheinbar totes Tier aus einer Falle entfernen wollte. Wie nachlässig. Die meisten Tiere nahmen jedoch Reißaus; so wie die meisten Lebewesen wollten sie einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Charlie warf die Falle auf die Ladefläche seines Ford. Sie landete mit einem dumpfen Krachen. Er bedeckte sie und die beiden Tierkadaver mit einer dicken Plane aus Segeltuch.

»Erfolg gehabt?«

Er drehte sich um und sah seine Auftraggeberin auf dem Gartenpfad stehen, der zum Haus hinaufführte. An den Ekel der anderen hatte er sich längst gewöhnt, an ihre ablehnende Körperhaltung. Sie hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, drückte sich die Arme an den Körper und zog die Schultern hoch. Blinzelnd stand sie in der Nachmittagssonne. Das Licht verfing sich in ihrem goldblonden Haar, in ihren Diamantohrringen. Sie war hübsch, eine jung gebliebene Mittvierzigerin. Heutzutage blieben die Frauen einfach länger jung und mädchenhaft; er konnte sich nicht daran erinnern, seine Mom und deren Freundinnen im gleichen Alter noch sonderlich attraktiv gefunden zu haben.

»Jawohl, Madam.«

»Hoffentlich zum letzten Mal.«

»Ich habe die Ausgänge verschlossen. Falls noch welche drin sind, werden sie nach einer Weile nervös und hungrig. Und dann gehen sie in die Falle.«

Ihr Stirnrunzeln wurde stärker. »Aber ins Haus kommen sie nicht?«

»Nein, Madam, das wäre sehr unwahrscheinlich.« Ausschließen konnte man es nicht. Wie auch? Die Tiere waren schlau und geschickt. Sie zwängten sich durch Löcher, von deren Existenz niemand wusste – hinter dem Fernseher zum Beispiel. Sie kamen durch die Toilette und durch die Belüftungsschächte, wenn sie einen Eingang fanden und Essen rochen. »Lassen Sie keine Lebensmittel unverpackt herumliegen. Bringen Sie täglich den Müll raus.«

Sie nickte und zog ein unglückliches Gesicht.

»Wir kriegen das in den Griff.«

Sie lächelte dankbar und kam auf ihn zu, um ihm einen zusammengerollten Zehndollarschein in die Hand zu drücken. Sie gab immer ein großzügiges Trinkgeld und war ihm gegenüber stets höflich und nett. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Kein Problem. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Charlie spürte den Hauch eines schlechten Gewissens. Es gab hier längst nicht so viele Ratten, wie der Gutachter der Firma bei seinem ersten Besuch angedeutet hatte. Bestimmt hatte er Begriffe wie Verpestung benutzt. Na ja, ich schätze mal, es sind nicht mehr als dreißig. Und dann hatte er ihr vermutlich einen Vortrag über gefährliche Bakterien aus Kot und Nahrungsresten gehalten, die in die Luftschächte verschleppt werden und beim Menschen Atemprobleme hervorrufen. Bestimmt hat er ihr Fragen gestellt wie: Waren Sie oder Ihre Kinder in letzter Zeit häufiger krank als sonst? Nach seinem Vortrag war sie bereit gewesen, zweitausend Dollar für das »Drei-Stufen-Programm« auszugeben: Fallenaufstellung und Kadaverentfernung, Verschluss der Schlupflöcher, Reinigung der Umgebung mit dem patentierten

»Spezialreiniger«, in Wahrheit nur eine nach Kirschen duftende Flüssigkeit, die sie überall verspritzten. Die reinste Abzocke; in den meisten Fällen brauchte Charlie kaum länger als drei Stunden, um die Fallen aufzustellen, die Ratten einzusammeln, ein paar Löcher zu verschließen und das Duftwasser zu versprühen. Er streckte die Arbeiten über einen Zeitraum von mehreren Wochen, um es nach mehr aussehen zu lassen. Aber die meisten Leute hätten jede Summe bezahlt, um nur die Ratten loszuwerden, ganz besonders, wenn Kinder im Haushalt lebten. Für Waschbären, Maulwürfe und Eichhörnchen wünschten die Leute sich Lebendfallen, bei den Ratten war ihnen egal, auf welche Weise sie umkamen. Niemand hörte das Zuschnappen der Fallen und die Schmerzensschreie gern, trotzdem baten die wenigsten Auftraggeber ihn darum, die Ratten lebendig zu fangen und woanders auszusetzen.

Vermutlich hatte es mit der Pest zu tun – mit einem schlimmen Ereignis in der Geschichte der Menschheit, das sich über Jahrhunderte und Kontinente erstreckte und sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben hatte. Ratten galten als Überträger von Tod und Seuche. In den Sozialsiedlungen in New York City kursierte das Gerücht, Ratten würden nachts in Babywiegen klettern, um die Kinder im Schlaf zu beißen. Bei seiner Arbeit in The Hollows hatte Charlie dergleichen nie erlebt; in seinen Augen unterschieden die Ratten sich kein bisschen von den anderen ungebetenen Hausgästen. Sie waren einfach nur Tiere, die leben wollten.

Er stieg in seinen Pick-up. Es handelte sich um eines der neuesten Modelle im Fuhrpark seines Arbeitgebers. Heute saß Wanda im Büro, und weil sie ihn mochte und ihn für einen ordentlichen Kerl hielt, sorgte sie immer dafür, dass er einen anständigen Wagen mit Klima- und Stereoanlage bekam.

Er schaltete die Klimaanlage ein. Es war schon Oktober, aber die Hitze immer noch mörderisch. Der Klimawandel – darüber sollten die Leute sich den Kopf zerbrechen! Stattdessen gaben sie Tausende von Dollars aus, damit er auf ihren Dachböden herumkroch. Wie viele seiner Kunden hatten auch nur einen Cent für den Klimaschutz gespendet? Nicht dass er es besser gemacht hätte, aber dafür verdiente er nur fünfzehn Dollar die Stunde und lebte nicht in einem Vierhundert-Quadratmeter-Neubau.