Hüte dich vor deinem Nächsten - Lisa Unger - E-Book

Hüte dich vor deinem Nächsten E-Book

Lisa Unger

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Beschreibung

Wie sehr kannst du einem geliebten Menschen vertrauen?

Isabel Raine führt offenbar ein perfektes Leben: Sie ist glücklich verheiratet und beruflich auf der Überholspur. Doch dann verschwindet ihr Mann Marcus spurlos. Als Isabel Nachforschungen anstellt, fällt ihre Welt in sich zusammen: Der echte Marcus Raines ist schon seit Jahren tot. Doch wen hat sie dann geheiratet? Und warum interessiert sich das FBI für ihn? Auf der Suche nach dem Mann, den sie glaubt zu lieben, droht Isabel in einer Welt voller Verrat und Täuschung unterzugehen. Kann sie ihren Mann finden, bevor es zu spät ist?

"Unger beweist sich als Meisterin von Sprachtempo und Spannung (...). Es ist ihr nervenaufreibendstes und spannendstes Buch (...)." Crimespree Magazine

New-York-Times-Bestsellerautorin Lisa Unger nimmt uns in diesem Psychothriller mit auf eine fesselnde Suche nach der Wahrheit, nach Liebe und erschütternden Geheimnissen - emotional und spannend bis zum Schluss.

eBooks von beTHRILLED - Mörderisch gute Unterhaltung!


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Seitenzahl: 544

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

ERSTER TEIL

ABSCHIED

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

ZWEITER TEIL

TOTER PUNKT

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

DRITTER TEIL

ERLÖSUNG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

ANMERKUNGEN DER AUTORIN

DANK

Weitere Titel der Autorin:

Die treue Freundin

Die folgsame Tochter

Für immer sollst du schweigen

Dein geliebter Feind

Über dieses Buch

Isabel Raine führt offenbar ein perfektes Leben: Sie ist glücklich verheiratet und beruflich auf der Überholspur. Doch dann verschwindet ihr Mann Marcus spurlos. Als Isabel Nachforschungen anstellt, fällt ihre Welt in sich zusammen: Der echte Marcus Raines ist schon seit Jahren tot. Doch wen hat sie dann geheiratet? Und warum interessiert sich das FBI für ihn? Auf der Suche nach dem Mann, den sie glaubt zu lieben, droht Isabel in einer Welt voller Verrat und Täuschung unterzugehen. Kann sie ihren Mann finden, bevor es zu spät ist?

Über die Autorin

Lisa Unger ist eine amerikanische Thrillerautorin, deren Romane es in ihrem Heimatland regelmäßig auf die Bestsellerliste schaffen und vielfach begeistert besprochen werden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.

Lisa Unger

Hüte dich vor deinem Nächsten

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2009 by Lisa Unger

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Die For You“

Originalverlag: Shaye Areheart Books

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzungen von Eva Bonné liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

This translation published by arrangement with Crown,an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Für diese Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Irmgard PerkouniggCovergestaltung: Manuela Städele-Monverdeunter Verwendung von Motiven © Magdalena Wasiczek / Trevillion ImageseBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7517-1632-1

be-ebooks.de

lesejury.de

Für Elaine Markson,

meine nimmermüde Befürworterin,furchtlose Verfechterinund wundervolle Freundin.

PROLOG

Schnee bedeckt langsam die tiefroten Dächer von Prag. Ich starre in den eisigen, stahlgrauen Himmel, während das graue Straßenpflaster zu meinen Füßen unter einer weißen Decke verschwindet. Eine frostige Windbö pfeift über den Platz. Die Läden sind geschlossen, die Stühle vor den Straßencafés hochgestellt. In der Ferne höre ich Kirchenglocken. Der Wind seufzt und heult und treibt ein paar lose Zeitungsblätter an mir vorbei. Der stürmische Morgen könnte wunderschön sein, hätte ich nicht solche Schmerzen – und wäre mir nicht so furchtbar kalt.

Meine linke Körperhälfte hat Bodenkontakt und fühlt sich steif und taub an. Mit großer Mühe und schmerzenden Gliedern versuche ich, mich aufzusetzen. Ich ziehe mich an einer Parkbank hoch und komme auf die Füße. Der eisige Wind zerrt an meinen Ärmeln und an meinem Kragen, und ich frage mich, wie lange ich auf diesem menschenleeren Platz auf den eiskalten Steinen gelegen habe. Wie bin ich hierhergekommen? Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist die junge Frau mit dem tätowierten Gesicht. Ich hatte ihr eine Frage gestellt. Ich kann mich an ihre Augen erinnern – sehr jung, kaputt, verängstigt. Ich fragte sie: »Kde?«

Wo? Erschreckt sah sie mich an. Ich erinnere mich an ihren fahrigen Blick und wie sie eingeschüchtert von einem Fuß auf den anderen trat. »Prosím«, sagte ich. Bitte. »Kde je Kristof Ragan?« Wo ist Kristof Ragan?

Ich weiß noch, dass sie etwas sagte, aber ihre Antwort ist zu tief in meinem schmerzenden Kopf vergraben, als dass ich mich daran erinnern könnte. Beweg dich, sagt eine innere Stimme. Hol Hilfe. Ich habe das Gefühl, dass Gefahr im Anzug ist, kann aber nicht sagen, aus welcher Richtung.

Trotzdem bewege ich mich nicht von der Stelle. Die ganze Welt dreht sich, und ich fürchte, erneut auf das harte Pflaster zu schlagen. Ich trage eine Jeans. Meine Lederjacke steht offen, so dass man den Spitzenträger meines BHs unter dem zerrissenen Pullover sehen kann. Die Haut an meinem Dekolleté ist gerötet und schmerzt vor Kälte. Mein rechtes Hosenbein ist zerrissen, und am Knie klafft eine Wunde, von der Blut über mein Schienbein läuft. Es fällt mir schwer, das verletzte Bein zu belasten. Meine Füße sind so kalt, dass ich sie nicht mehr spüre.

Der Platz liegt verlassen da. Es ist kurz nach Morgengrauen, dämmrig und neblig. Auf der Platzmitte erhebt sich ein riesiger Weihnachtsbaum mit blauen Elektrokerzen, drumherum stehen kleinere, mit funkelnden Lichtern geschmückte Bäume. Der Platz ist von den Holzbuden des Weihnachtsmarktes gesäumt. Die verschnörkelten Straßenlaternen sind mit glimmenden Lichterketten behängt und die Türen und Fenster der umstehenden Häuser mit Kränzen geschmückt. Der im Winter wasserlose Brunnen füllt sich mit Schnee. Der Altstädter Platz ist ein Märchen. Wahrscheinlich ist heute der erste Weihnachtstag, andernfalls würden Touristen umherschlendern, Stadtbewohner zur Arbeit hetzen und Junggesellen nach einer langen Partynacht nach Hause torkeln. Ich habe diesen Platz geliebt, habe mich hier immer willkommen gefühlt, aber heute ist es anders. Ich bin so allein, als hätte ich die Apokalypse verschlafen. Ich habe alles verpasst und bin einsam zurückgeblieben.

Langsam schleppe ich mich zur Straße. Ich stütze mich an Parkbänken und Häuserwänden ab, um nicht zu stürzen. Hohe Türme, von denen klagende Heilige auf mich herunterschauen, recken sich in den Himmel. Ich entdecke mein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe. Meine Haare sind das reinste Vogelnest, und selbst in diesem Moment zwingt meine Eitelkeit mich dazu, mit den Fingern hindurchzufahren, um es ein wenig zu glätten. Unter meinen Augen klebt verschmierte Wimperntusche. Ich befeuchte meine Finger und versuche, sie abzurubbeln. Meine Jacke ist an der Schulter aufgerissen. Ich habe einen Bluterguss am Kinn. Ich ärgere mich über die Frau in der Scheibe. Sie hat ein aufgeblasenes Ego, hat sich von ihrem Hochmut leiten lassen. Angewidert von mir selbst stoße ich einen tiefen Seufzer aus. Die Atemwolke löst sich rasch in der kalten Luft auf.

Ich gehe weiter, denn mein eigener Anblick ist mir unerträglich. Weiter vorn sehe ich einen grün-weißen Streifenwagen. Er ist klein und kompakt, eigentlich sieht er gar nicht wie ein Auto aus, eher wie ein riesiges Spielzeug. Ich sehne mich nach dem Blau und Weiß eines eleganten Chevy Caprice mit kreischenden Sirenen und zwei taffen New Yorker Cops. Aber dies hier muss reichen. Ich versuche, schneller zu gehen, und hebe winkend die Hand.

»Hallo!«, rufe ich, »können Sie mir helfen?«

Auf der Fahrerseite des Wagens steigt eine Polizistin aus. Sie kommt auf mich zu. Als ich mich ihr nähere, sehe ich ein verächtliches Grinsen auf ihrem Gesicht. In der wuchtigen Uniform wirkt sie klein. Ihre Haare sind unvorteilhaft rot gefärbt, aber ihre Haut ist milchweiß, und ihre Augen leuchten überirdisch blau.

»Können Sie mich verstehen?«, frage ich.

»Ein bisschen«, sagt sie. Ahn biss-schen. Sie kneift die Augen zusammen. Schneeflocken sammeln sich in ihrem Haar. Eine verkaterte Amerikanerin, die sich verlaufen hat, sagt ihre Miene. Ja, das hat sie schon hundertmal gesehen. Eine Schande.

»Ich brauche Hilfe«, sage ich und recke trotzig das Kinn vor. »Ich muss die amerikanische Botschaft finden.« Jetzt mustert sie mich eindringlich, und ihr Gesichtsausdruck wandelt sich von amüsierter Verachtung hin zu offenem Misstrauen.

»Wie heißen Sie?«, fragt sie. Ich sehe, wie ihre Hand langsam und wie beiläufig zur Waffe wandert, ein fieses, schwarzes Ding, das viel zu groß ist für ihre schlanken, weißen Finger. Ich zögere; plötzlich und aus unerklärlichem Grund tut es mir leid, sie angesprochen zu haben. Ich will ihr meinen Namen nicht verraten. Ich will mich umdrehen und weglaufen.

»Zeigen Sie mir bitte Ihren Pass«, sagt sie in strengem Ton. Ich sehe einen Anflug von Angst in ihren blauen Augen aufblitzen, und so etwas wie Aufregung. Ich merke, dass ich vor ihr zurückweiche. Das gefällt ihr gar nicht, und sie macht einen Schritt auf mich zu.

»Bleiben Sie stehen«, sagt sie und nimmt die Schultern zurück, um größer zu wirken. Ich gehorche. Während ich krampfhaft überlege, was ich tun soll, breitet sich die Stille zwischen uns aus.

»Sagen Sie mir Ihren Namen.«

Ich drehe mich um und renne los. Eigentlich ist es mehr ein Stolpern, und ich komme nur langsam und recht unelegant vorwärts. Sie brüllt mich auf Tschechisch an, und ich brauche keinen Dolmetscher, um zu begreifen, dass ich tief in der Tinte stecke. Dann fühle ich ihre Hand an meiner Schulter und liege wieder am Boden. Die kleine Frau ist erstaunlich kräftig und rammt mir ihr Knie in den Rücken. Es verschlägt mir den Atem. Ich stemme mich gegen das Gewicht und schnappe nach Luft. Ich höre meinen eigenen panischen, rasselnden Atem. Sie brüllt in ihr Funkgerät. Sie will mir die Arme hinter den Rücken ziehen, als ich plötzlich merke, wie ihr Körper mit einem Ruck von mir weggestoßen wird. Ich höre, wie ihre Pistole klappernd auf das Pflaster fällt, und drehe mich um. Sie liegt auf der Seite und starrt mich aus ihren schockierend blauen Augen an, die inzwischen weit aufgerissen sind vor Schmerz und Todesangst. Ich will zu ihr, halte aber inne, als sie den Mund öffnet und sich ein Blutschwall in den Schnee ergießt. Ich erkenne einen roten, sich rasch ausbreitenden Fleck an ihrem Unterleib. Sie versucht, ihn mit der Hand zu bedecken, aber das Blut sickert ihr durch die Finger.

Dann hebe ich den Kopf und sehe ihn. Wie eine schwarze Säule ragt er aus der weißen Landschaft auf. Er hat die Waffe sinken lassen und steht reglos da, während der Wind an seinen Haaren zerrt. Ich rapple mich auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und gehe langsam rückwärts.

»Warum hast du das getan?«, frage ich.

Er kommt auf mich zu, seine gedämpften Schritte hallen von den Hauswänden wider.

»Warum?«, kreische ich. Aber er scheint unbeeindruckt, und sein Gesicht ist starr, so als hätte ich ihm nie etwas bedeutet. Vielleicht ist das die Wahrheit. Ich sehe, wie er den Arm hebt, und drehe mich um. Er wird auf mich schießen, und ich renne um mein Leben.

ERSTER TEIL

ABSCHIED

Ihr bleibt vereint,wenn die weißen Schwingen des Todeseure Tage scheiden.

Khalil Gibran, Der Prophet

EINS

Als ich meinen Mann zum letzten Mal sah, hing ein winziger Tropfen aus Himbeermarmelade in seinem blonden Spitzbart. Wir hatten eben Cappuccino aus der lächerlich teuren Kaffeemaschine getrunken, die ich drei Wochen zuvor aus einer plötzlichen Laune heraus gekauft hatte, und dazu Croissants gegessen, die er von seinem täglichen Achtkilometerlauf mitgebracht hatte, ohne die Ironie der Situation zu bemerken. Sein schlanker, durchtrainierter Körper funktionierte wie eine Maschine und nahm, wenn überhaupt, nur an Muskelmasse zu. Ganz anders als bei mir. Meine Oberschenkel werden allein schon vom Geruch der Backwaren breiter.

Die Croissants waren noch warm. Ich versuchte zu widerstehen, während er sie aufschnitt, mit Butter und Marmelade bestrich und eines mit heraustropfender Füllung vor mir auf dem weißen Teller liegen ließ. Ich kämpfte innerlich, verlor und griff danach. Es war perfekt – flockig, auf der Zunge zergehend, süß und salzig zugleich. Und dann war es weg.

»Du übst keinen guten Einfluss auf mich aus«, sagte ich und leckte mir Butter von den Fingern. »Ich bräuchte mehr als eine Stunde auf dem Crosstrainer, um das wieder zu verbrennen. Und wir wissen beide, dass das nicht passiert.« Aus blauen Augen warf er mir einen reumütigen Blick zu.

»Ich weiß«, entgegnete er, »und es tut mir leid.« Dann das Lächeln. Oh, dieses Lächeln. Es wollte mit einem Lächeln erwidert werden, egal, wie wütend oder frustriert ich gerade war, wie satt ich es hatte. »Aber es war doch gut, oder? Du wirst den ganzen Tag dran denken.« Redete er über das Croissant oder über den Sex vor Sonnenaufgang?

»Ja«, sagte ich, als er mich küsste, seinen starken Arm um meine Taille legte und mich fest an sich zog. Die Geste fühlte sich an wie eine Einladung, nicht wie der Abschied, als der sie sich herausstellen sollte. »Du hast recht.«

In dem Augenblick sah ich die Marmelade. Ich bedeutete ihm mit einer Geste, sich den Mund abzuwischen. Er hatte sich für ein wichtiges Meeting umgezogen. Alles entscheidend waren die Worte, mit denen er mir den Termin beschrieb. Er warf einen Blick auf sein Spiegelbild in der Mikrowellenklappe und wischte sich die Marmelade ab.

»Danke«, sagte er und ging zur Tür. Er nahm seine lederne Laptoptasche und hängte sie sich über die Schulter. Die Tasche wirkte schwer, und ich fürchtete, sie könne seinen Anzug zerknittern, ein todschickes, teures Ding aus schwarzer Wolle, das er sich neulich erst gekauft hatte. Aber ich sagte nichts. Ich wollte ihn nicht bemuttern.

»Danke wofür?«, fragte ich. Mir war bereits entfallen, dass ich ihm die Peinlichkeit erspart hatte, mit Essensresten im Gesicht zu einem Meeting zu erscheinen.

»Dafür, dass du das Schönste bist, was ich an diesem Tag zu sehen kriege.« Er war ein opportunistischer Charmeur. Immer schon gewesen.

Ich lachte, schlang meine Arme um seinen Nacken und küsste ihn noch einmal. Er wusste, was er sagen musste, damit ich mich wohlfühlte. Ich würde tatsächlich den ganzen Tag an unseren Sex denken, an das Croissant, an sein Lächeln, an seinen letzten Satz.

»Mach sie fertig«, sagte ich, als ich ihn an der Haustür verabschiedete und ihm nachschaute, wie er zum Aufzug am Ende des kurzen Flurs lief. Er drückte auf den Knopf und wartete. Wegen des Flurs hatten wir uns für das Apartment entschieden, noch bevor wir durch die Tür gegangen waren – der dicke, rote Teppichboden, die Wandvertäfelung, die drei Meter hohen Decken. New Yorker Vorkriegseleganz. Die Türen des Aufzugs öffneten sich lautlos. Vielleicht habe ich in diesem Moment, kurz bevor er den Aufzug betrat, den Schatten über sein Gesicht huschen sehen. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet, um jenem Moment eine Bedeutung zu verleihen. Aber falls er überhaupt da war, dieser Anflug von – was eigentlich? Angst? Traurigkeit? –, so ging er ebenso schnell wieder vorüber. So schnell, dass ich ihn in jenem Augenblick nicht bewusst registrierte.

»Das werde ich, du kennst mich doch«, erwiderte er, cool wie immer. Aber bei diesen Worten hörte ich ihn genau heraus, seinen muttersprachlichen Akzent, der sich nur bemerkbar machte, wenn er unter Stress stand oder betrunken war. Aber ich machte mir keine Sorgen um ihn. Ich zweifelte niemals an ihm. Was immer er sich für den Tag vorgenommen hatte – es hatte mit neuen Investoren für seine Firma zu tun –, ich war mir sicher, dass er es schaffen würde. So war es immer. Er bekam, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Mit einem Winken und einem kecken Schulterblick betrat er den Aufzug, und die Türen schlossen sich hinter ihm. Und dann war er weg.

Während der Aufzug abwärtsglitt und ihn und seine Stimme mitnahm, bildete ich mir ein, ihn herumalbern und »Ich liebe dich, Izzy!« rufen zu hören.

Ich musste lächeln. Nach fünf Ehejahren, einer Fehlgeburt, mindestens fünf Totalabstürzen, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinzogen, aufregendem Sex, ödem Sex, guten Tagen und schlechten Tagen, nach vielen kleineren (und nicht so kleinen) Enttäuschungen und Herzschmerz, der sich unweigerlich einstellt, wirft man die Flinte nicht bei der erstbesten Gelegenheit ins Korn; nach ein paar düsteren Momenten, in denen ich überzeugt war, es nicht mit ihm zu schaffen und ohne ihn besser dran zu sein, nach all jenen atemlosen Momenten, in denen ich glaubte, ohne ihn nicht mehr leben zu können – nach alldem hätte er es mir nicht mehr zu sagen brauchen. Trotzdem war ich froh, es von ihm zu hören.

Ich schloss die Tür, und mein Vormittag begann. Fünf Minuten später telefonierte ich mit Jack Mannes, meinem alten Freund und Langzeitagent.

»Wann kommt der Scheck?« Die ewige Frage der Autoren.

»Ich werde mich drum kümmern.« Die ewige Antwort der Agenten. »Wie kommst du mit dem Manuskript voran?«

»Ich ... komme voran.«

Zwanzig Minuten später, als ich zum Joggen aufbrach, hatte ich den Geschmack von Marcs buttrigem Himbeermarmeladenkuss immer noch auf den Lippen.

Als er auf die Straße trat, schlug ihm ein eisiger Wind entgegen, und er wünschte, er hätte einen Mantel mitgenommen. Er spielte kurz mit dem Gedanken, noch einmal umzukehren, aber dafür war es zu spät. Also knöpfte er sich die Anzugjacke zu, schulterte seine Laptoptasche und vergrub die Hände tief in den Hosentaschen. Eilig lief er über die 68. Straße, um zum Broadway zu kommen. An der Kreuzung sprang er die gelb gekachelte Treppe zur U-Bahn hinunter und war dankbar für die Wärme, selbst wenn es an diesem Morgen ungewöhnlich stark nach Urin stank. Er ließ seine Karte durch den Schlitz gleiten, ging durchs Drehkreuz und wartete auf die U-Bahn nach Downtown.

Es war kurz nach neun, so dass sich auf dem Bahnsteig weniger Leute aufhielten als noch eine Stunde zuvor.

Die Hände immer noch in den Taschen, lehnte Marcus sich an die Wand und wartete. Der New Yorker wartet immer und überall – auf Züge, auf Busse, auf ein Taxi; er wartet in unmöglich langen Warteschlangen auf einen Kaffee und in großen Menschenansammlungen auf den Beginn eines Films oder einer Kunstausstellung. Der Rest der Welt hält die New Yorker für ruppig und ungeduldig, aber in Wahrheit sind sie es gewohnt, sich mit der Resignation der Verdammten in die Schlange einzureihen. Sie mögen klagen, aber sie warten geduldig.

Marcus war im Alter von achtzehn Jahren in die Stadt gekommen, hatte sich aber nie als New Yorker betrachtet. Er kam sich eher wie ein Zoobesucher vor, dem man erlaubt hatte, im Gehege zwischen den Tieren umherzuschlendern. Aber eigentlich hatte er sich immer schon so gefühlt, selbst als Kind, in seiner Heimat. Immer stand er als stiller Beobachter am Rande. Er hatte das längst als Teil seiner Persönlichkeit akzeptiert, war nicht im Geringsten unglücklich darüber und empfand auch kein Selbstmitleid. Isabel hatte das immer verstanden; als Schriftstellerin befand sie sich in einer ähnlichen Lage. Beobachten kann nur, wer isoliert am Rande steht.

Dieser Satz war der erste von vielen Gründen, aus denen er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er hatte einen ihrer Romane gelesen und ihn außergewöhnlich tiefsinnig und aussagekräftig gefunden. Er war fasziniert von ihrem Foto auf der Rückseite des Buches und versuchte, über das Internet mehr über sie zu erfahren. Was er las, steigerte sein Interesse: Sie stammte aus wohlhabenden Verhältnissen, hatte jedoch aus eigener Kraft Karriere gemacht und acht Bestseller geschrieben. Sie hatte die Welt bereist und bemerkenswert einfühlsame Essays über ihre Reisen verfasst. »Prag ist die Stadt der Geheimnisse«, hatte sie geschrieben. »Märchenhafte Straßen verwandeln sich plötzlich in dunkle Gassen, hinter einer schweren Eichentür mit schmiedeeisernen Beschlägen versteckt sich ein geheimer Hinterhof, die kunstvollen Fassaden bergen eine dunkle Geschichte. Die Stadt zeigt ihr prächtiges Antlitz, es ist wunderschön und von edler Abstammung, aber ihre Augen sind kalt. Sie schmunzelt, aber sie lacht nie. Sie weiß etwas, aber sie verrät es nicht.« Es war die Wahrheit, die kaum je ein Außenstehender begreifen konnte; dennoch hatte es diese amerikanische Schriftstellerin geschafft, einen Blick auf das Innerste der Stadt zu erhaschen, und das bewegte ihn.

Ihre rabenschwarzen Locken und ihre dunklen Augen, ihre schneeweiße Haut, ihre zarte Nackenlinie und die zierlichen Hände, die ihn an einen Vogel erinnerten, hatten ihn dazu gebracht, zu einer ihrer Signierstunden zu gehen. Er wusste sofort, dass sie die Richtige war, wie die Amerikaner es nennen – so als hätten sie nur gelebt, um einander zu finden und eins zu werden. Auch wenn er anfangs etwas ganz anderes darunter verstanden hatte.

Das alles schien so lange her zu sein – der erste Nervenkitzel, das übermächtige Verlangen. Oft wünschte er sich, er könnte noch einmal diesen ersten Abend erleben, die ersten gemeinsamen Jahre. Er hatte so viel falsch gemacht – manches wusste sie, anderes dufte sie nie, niemals erfahren. Er erinnerte sich daran, dass er, als sie frisch in ihn verliebt war, etwas in ihrem Blick gesehen hatte, das die Leere in seinem Inneren füllte. Aber obwohl sie seine dunklen Geheimnisse nicht kannte, schaute sie ihn nicht mehr so an. Ihr Blick schien an ihm vorbeizugehen. Wenn sie ihm in die Augen sah, hatte er das Gefühl, sie betrachte jemanden, der gar nicht existierte. Und vielleicht war es seine Schuld.

Er hörte die U-Bahn herandonnern und stieß sich von der Wand ab. Er ging auf die Bahnsteigkante zu, als er plötzlich eine Hand auf seinem Arm spürte. Der Griff war kraftvoll und fest. Marcus fuhr reflexartig herum und befreite sich, indem er zurückwich und die Faust nach oben riss.

»Bleib locker, Marcus«, sagte der Mann und lachte kehlig. »Entspann dich.« Er hob seine fleischigen Hände und hielt sie in der Luft. »Warum so nervös?«

»Ivan«, sagte Marcus kühl, obwohl sein Herz hämmerte wie eine adrenalingetriebene Pumpe. Der Moment bekam etwas Surreales, Finsteres, Albtraumhaftes. Ivan war ein Geist, tief in Marcus’ Erinnerung vergraben, und nun starrte er ihn an wie einen exhumierten Leichnam. Ivan, damals ein großer, drahtiger junger Mann, manisch und verschroben, hatte stark zugenommen. Nicht an Fett, sondern an Muskeln; er sah aus wie ein Bulldozer, gedrungen und kräftig, so als könnte er Beton zermalmen oder gar die Erde selbst.

»Was?« Wieder das tiefe Lachen, diesmal weniger amüsiert. »Kein ›Wie geht’s?‹ Kein ›Schön, dich zu sehen‹?«

Marcus betrachtete Ivans Gesicht. Das breite Grinsen, die Wangenknochen, die wie Felsen hervorstanden, die dunklen, blitzenden Augen – sie konnten sich jederzeit zu Eis verwandeln. Selbst jetzt, da er sich jovial gab, strahlte Ivan eine gewisse Leere, etwas Verstörendes aus. Es war so merkwürdig, ihm an diesem Ort zu begegnen, in diesem Leben, dass Marcus für einen Moment das Gefühl hatte, immer noch neben Isabel im Bett zu liegen und zu träumen. Gleich würde er aufwachen, wie immer, wenn ein Albtraum ihn heimsuchte.

Marcus schwieg, während seine U-Bahn hielt und wieder abfuhr. Jetzt waren die beiden Männer auf dem Bahnsteig allein. Die Frau am Fahrkartenschalter war in ein Taschenbuch vertieft. Marcus hörte das Wummern der U-Bahnen unter der Erde und das Hupen und Rauschen von der Straße. Zu viel Zeit verstrich. Während sie sich anschwiegen, wurde Ivans Gesichtsausdruck kühl und hart.

Dann stieß Marcus ein Lachen aus, das von den Betonwänden widerhallte und die Frau am Schalter veranlasste, kurz von ihrem Buch aufzublicken.

»Ivan«, sagte Marcus mit einem gezwungenen Lächeln. »Wozu die Anspannung?«

Ivan lachte unsicher, dann boxte er Marcus in den Oberarm. Marcus umarmte Ivan überschwänglich, und sie klopften einander kräftig auf den Rücken.

»Hast du etwas Zeit für mich?«, fragte Ivan, legte einen Arm um Marcus’ Schulter und zog ihn zum Ausgang. Ivans gigantischer Arm fühlte sich an wie eine Rinderhälfte, die nur mit Hilfe einer Maschine zu heben ist. Marcus tat, als hätte er den drohenden Unterton nicht bemerkt.

»Selbstverständlich, Ivan«, antwortete er. »Selbstverständlich habe ich Zeit für dich.«

Marcus’ Stimme klang brüchig, was er mit einem Hüsteln zu kaschieren suchte. Falls Ivan es bemerkt hatte, ließ er sich nichts anmerken. Während sie die Treppe hinaufstiegen und Ivan ihn fest umarmt hielt, bahnte sich ein Strom aus bösen Vorahnungen einen Weg von Marcus’ Kehle bis in seinen Magen. Ivan redete, erzählte einen Witz über eine Nutte und einen Priester, aber Marcus hörte nicht zu. Er dachte an Isabel. Daran, wie sie heute Morgen ausgesehen hatte, ein bisschen verschlafen, sehr hübsch in dem Pyjama, mit zerzausten Locken, die nach Geißblatt und Sex dufteten und nach Butter und Marmelade.

Auf der Straße lachte Ivan schallend über seinen eigenen Witz, und Marcus stimmte automatisch mit ein, obwohl er die Pointe nicht mitbekommen hatte. Ivan kannte eine Menge Witze, einer dümmer als der andere. Auf diese Weise hatte er hauptsächlich Englisch gelernt. Er hatte Witzbücher gelesen und den Stand-up-Komikern zugehört. Er war der Ansicht gewesen, man könne eine fremde Sprache nur verstehen, wenn man ihren Humor begreife, wenn man wisse, worüber die Muttersprachler lachen. Marcus war sich da nicht so sicher. Aber es brachte nichts, mit Ivan zu streiten. Ganz im Gegenteil, es war ungesund. Diesem Riesen von einem Mann brannte bei der kleinsten Gelegenheit die Sicherung durch. In einer Minute lachte er, in der nächsten prügelte er mit seinen riesigen Pranken auf sein Gegenüber ein. So hatte er sich schon verhalten, als sie Kinder waren, vor einer halben Ewigkeit.

Ivan ging auf einen neuen Lincoln zu, der auf der 68. Straße im Halteverbot stand. Er öffnete den Wagen per Fernbedienung. Das Auto sah teuer aus; angesichts seiner Lebensumstände während der vergangenen Jahre konnte Ivan sich so etwas kaum leisten. Marcus wusste, was das zu bedeuten hatte. Ivan war wieder zu jenem Lebensstil zurückgekehrt, der ihm die Probleme überhaupt erst eingebrockt hatte.

Marcus’ Blick fiel auf seine eigene Haustür aus schimmerndem Glas und poliertem Holz und die großzügige, halbrunde Auffahrt davor. Die Markise am Eingang war mit einem Kranz geschmückt und erinnerte daran, dass Weihnachten vor der Tür stand.

Er sah eine Nachbarin, die junge Mutter – hieß sie Janie? – mit ihren zwei kleinen Kindern aus dem Haus kommen. Plötzlich und mit einem Sehnen musste er an das Baby denken, das Isabel sich wünschte. Er selbst hatte nie Kinder gewollt, hatte sich über Isabels Schwangerschaft geärgert und war über die Fehlgeburt sogar erleichtert gewesen. Aber irgendwie löste der Anblick der Frau mit ihren zwei kleinen Töchtern ein tiefes, schmerzliches Bedauern in ihm aus. Marcus wandte das Gesicht ab, so dass sie ihn nicht erkannten, als sie auf der anderen Straßenseite vorbeiliefen.

»Du hast es dir gutgehen lassen«, sagte Ivan, der ebenfalls zum Hauseingang geschaut hatte. Im hellen Morgenlicht konnte Marcus die dunklen Ringe unter Ivans Augen sehen und eine lange Narbe auf der Wange, an die er sich gar nicht erinnern konnte. Ivans Kleidung wirkte billig und verschmutzt, seine Nägel waren blutig abgekaut. Er sah nicht gut aus, er sah aus wie jemand, der entweder kein Geld hat oder keine Lust, sich um sein Äußeres zu kümmern. Wie jemand, der zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbracht hat. Ivan konnte immer noch lächeln, aber alle Wärme war verschwunden. Sein Gesicht war wie versteinert.

»Und du? Wie geht es dir?«, fragte Marcus und spürte, wie Beklemmung seine Brust einschnürte.

Ivan zuckte gleichgültig die Achseln und hob beide Hände. »Schlechter als dir.«

Marcus wartete einen Augenblick. »Was willst du von mir?«

»Hast du gedacht, du würdest mich nie wiedersehen?«

»Viel Zeit ist vergangen.«

»Ja, Marcus«, sagte Ivan, wobei er den Namen sarkastisch betonte. »Das ist wohl wahr.«

Marcus bewegte sich widerwillig auf das Auto zu. Als er die Hand an den Türgriff legte, entdeckte er seine Frau, die gerade aus dem Haus kam. Sie hatte sich das Haar hochgebunden und es mit einem dünnen Gummi zu zähmen versucht. Sie trug Sportklamotten, ein altes, verwaschenes Sweatshirt und abgetretene Turnschuhe. Er dachte an ihr gemeinsames Frühstück und dass sie sich wegen der Kalorien gesorgt hatte. Er duckte sich ins Auto und beobachtete, wie sie sich zögernd umschaute. Ihr Gesicht wirkte hart, wie immer, wenn sie sich zu etwas zwang, wozu sie keine Lust hatte. Selbst aus der Entfernung konnte er das erkennen. Dann drehte sie sich unvermittelt um und rannte los. Jede Faser in Marcus’ Körper sehnte sich danach, ihr nachzulaufen, aber Ivan saß schon auf dem Fahrersitz. Das Auto geriet in Schieflage, und der Innenraum füllte sich mit Ivans Gestank – Schweiß und kalter Zigarettenqualm.

»Keine Sorge«, meinte Ivan und stieß ein kehliges Lachen aus. »Ich will nur reden. Eine neue Übereinkunft aushandeln.«

»Sehe ich besorgt aus, Ivan?«, fragte Marcus und lächelte cool. Ivan antwortete nicht.

Als sie sich in den Straßenverkehr einfädelten, fiel Marcus ein Vers aus dem Propheten wieder ein: »Heute werfe ich nicht meine Kleider ab, sondern meine eigene Haut, die ich eigenhändig von mir reiße.« Marcus konnte fühlen, wie sein bisheriges Leben davonzog und verblasste. An jedem Häuserblock, den sie passierten, ließ er ein kleines Stückchen seiner selbst zurück. Er fühlte, wie die Verbindung zwischen ihm und Isabel aufs Äußerste gespannt wurde und schließlich riss. Er spürte es wie einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Aber er tröstete sich mit einem ziemlich merkwürdigen Gedanken: Der Mann, um den sie trauern und den sie irgendwann hassen, jener Mann, dem sie niemals verzeihen würde, hatte in Wahrheit niemals existiert.

ZWEI

Rick«, sagte ich, fünfzehn Stunden nachdem Marcus aus dem Haus gegangen war. Es ging auf zweiundzwanzig Uhr zu. Die Lasagne in der Glasform stand zusammengesackt und unberührt auf dem Küchentresen. Im Kühlschrank welkte ein Salatkopf vor sich hin. »Ich bin’s, Isabel.«

»Hey, Iz!«, antwortete er fröhlich. Ich glaubte, etwas Gezwungenes in seiner Stimme zu hören, so als kostete ihn seine Fröhlichkeit große Mühe. »Was ist los?«

»Macht ihr heute Überstunden?« Ich versuchte, locker und ungezwungen zu klingen. Der Fernseher lief, der Ton war kaum zu hören. Über den Bildschirm flirrten die CNN-Nachrichten – Aufständische hatten im Irak eine Autobombe gezündet, eine Prominente hatte sich den Kopf rasiert und sich in eine Klinik einweisen lassen, in Chicago war ein Polizist erschossen worden. Ich konnte das Wasser durch die Leitungen in der Wand rauschen hören. Unser Nachbar duschte.

Das Schweigen am anderen Ende drehte mir den Magen um.

»Jaaa«, kam es viel zu spät und in gespielter Qual zurück, »du weißt ja, wie es hier läuft. Die kennen keine Gnade.« Er lachte, kurz und bemüht, war sofort in Deckung gegangen.

»Kann ich mit meinem Mann sprechen?« Ich hörte meinen schneidenden Unterton und fragte mich, ob Rick ihn ebenfalls bemerkt hatte.

»Klar«, sagte er. »Warte kurz.« Eine Woge der Erleichterung, meine Sorgen verflogen. Er arbeitet noch und hat vergessen, Bescheid zu sagen. Kommt nicht zum ersten Mal vor. Du bist paranoid. Ich wartete.

»Iz«, meldete Rick sich wieder. »Ich glaube, er ist rausgegangen, um sich was zu essen zu holen. Soll er dich zurückrufen?«

»Sein Handy leitet mich gleich auf die Mailbox weiter«, sagte ich einfach so.

»Ich glaube, er hat gesagt, der Akku sei leer«, entgegnete Rick mit sanfter Stimme.

»Okay«, seufzte ich. »Danke.« Lügner.

Ich legte auf. Er hatte mich gebeten zu warten, weil er es auf Marcs Handy versuchen wollte. Er konnte ihn nicht erreichen und hat mir dann eine Lüge aufgetischt. Ich vermutete das nicht nur, ich wusste es mit Bestimmtheit. Ich hatte mitbekommen, wie sie einander vor Kunden deckten, und mir war klar, dass Rick, der Geschäftspartner meines Mannes, mich öfter schon auf diese Art hingehalten hatte – aus verschiedenen Gründen, manchmal schlimm, manchmal weniger schlimm. Ich hatte dieses Verhalten stets seltsam gefunden, immerhin waren die beiden nicht befreundet. Ganz im Gegenteil, ich bildete mir ein, eine gewisse Feindseligkeit zu spüren, obwohl sie gut miteinander arbeiteten. Und nie versäumte es der eine, für den anderen zu lügen oder Ausreden zu erfinden.

Ich schenkte mir noch ein Glas Wein ein, das zweite aus einer Flasche billigen Chardonnays, der im Kühlschrank stand. So sehr ich meinen Mann auch liebte – Abende wie dieser erinnerten mich an die feinen Risse in unserer Ehe, jene Risse, die sich bemerkbar machten, sobald Druck ausgeübt wurde, und die drohten, uns auseinanderzubringen.

Um Mitternacht war ich leicht beschwipst, dämmerte vor dem Fernseher vor mich hin und beachtete die Bilder kaum. Ich wartete auf den Aufzug, auf den Schlüssel im Türschloss, auf das Klingeln des Telefons. Das Handy in meiner Hand war warm, weil ich es seit Stunden festgehalten und erfolglos alle paar Minuten seine Nummer angerufen hatte. Er war regelmäßig zu spät nach Hause gekommen oder für einen halben Tag in Meetings verschwunden; aber nicht so, nicht, ohne mich vorher anzurufen. Manchmal meldete er sich betrunken aus einer Bar, wenn wir uns gestritten hatten, oder von der Arbeit, um mir halbgare Lügen aufzutischen. Sich überhaupt nicht zu melden, sah ihm nicht ähnlich. Es war viel zu – verdächtig. Ich heftete meinen Blick auf die Digitaluhr am Decoder.

0.22.

0.23.

0.24.

Wo ist er?

Einmal, es ist fast zwei Jahre her, hatte Marc mich mit einer Frau betrogen, die er während einer Geschäftsreise in Philadelphia kennengelernt hatte. Die Affäre hatte zwei Monate gedauert, so erzählte er es mir jedenfalls später – lange Telefonate, ein paar spontane Trips in eine andere Stadt. Einmal kam sie nach New York, während ich mich bei einem Schriftstellertreffen befand, aber er schwor, sie habe keinen Fuß in unser Apartment gesetzt. Es war keine Liebesbeziehung, aber doch mehr als ein One-Night-Stand.

Ich hatte von Anfang an eine Vermutung – seit er zum ersten Mal nach Philadelphia wieder mit mir geschlafen hatte. Die Menschen verraten sich durch Kleinigkeiten, durch Details, die einer Schriftstellerin auffallen und die jeder andere übersehen würde. Ich spreche nicht von solch banalen Dingen wie Lippenstift am Hemdkragen oder dem Geruch von Sex. Ich meine das Wesentliche, die hauchdünnen Webfäden, die uns verbinden.

Er wirkte abwesend, sein leerer Blick verriet mir, dass er ganz woanders war. Irgendwie schienen unsere Körper nicht mehr zusammenzupassen. Seine Küsse schmeckten anders. Ich konnte damals nicht kommen, konnte die Distanz zwischen uns nicht überwinden. Das war noch nie passiert, bei uns war selbst der schlechte Sex gut gewesen. Wir schafften es, uns gut zu lieben, auch wenn wir wütend aufeinander waren, todmüde oder erkältet. Egal, was vorgefallen war, wir hatten es immer geschafft, uns auf körperlicher Ebene wieder anzunähern.

Ich habe damals weniger aufgebracht reagiert, als man vermuten könnte. Ich wurde nicht hysterisch, ich warf nicht mit Tellern, ich kreischte keine wüsten Beschimpfungen. Ich wartete einfach darauf, dass irgendein greifbarer Beweis meine Vermutung bestätigen oder entkräften würde, während die Distanz zwischen uns immer weiter wuchs. Ich gab nicht mir die Schuld, suchte nicht nach eigenen Fehlern, fragte mich nicht, was falsch lief. So war es nicht – so war ich nicht. Er hatte jemanden kennengelernt, sie hatten sich gut verstanden und waren im Bett gelandet. Der Sex war gut gewesen, und er wollte mehr. Das sagte mir mein Bauchgefühl. Ich kannte ihn, ich wusste, wie empfänglich er für Schönheit war und wie unersättlich sein Appetit. Sie musste schon etwas ganz Besonderes gewesen sein, um ihn vom rechten Weg abzubringen, denn das war untypisch für ihn. Auch ich habe im Lauf der Jahre andere Männer kennengelernt. Auch ich war in Versuchung geraten. In gewisser Hinsicht konnte ich ihn sogar verstehen. Aber es lag nicht in meiner Natur, untreu oder unehrlich zu sein. Ich schaffte es nicht einmal, ihn anzulügen, wenn es um den Preis meiner neuen Manolo Blahniks ging. Aber das ist nicht mal ein Schuh! Das ist ein mit Zahnseide umwickelter Zungenspachtel. Isabel, damit kommst du keine hundert Meter weit!

Der greifbare Beweis war schließlich eine SMS auf seinem Handy. Er stand unter der Dusche, das Handy lag neben mir auf dem Nachttisch. Normalerweise ließ er sein Handy nie herumliegen, er trug es immer bei sich, oder es steckte in seiner Laptoptasche. Ich hörte es summen, das Signal für eine eingehende SMS. Ich konnte nicht anders, als nach dem Handy zu greifen und die Nachricht zu lesen.

Jemand namens »S« schrieb: Kann nur noch an dich denken. Kann dich immer noch in mir fühlen.

Marcus kam aus dem Bad und brachte eine Dampfwolke mit ins Schlafzimmer, die nach unserem Salbei-Pfefferminz-Duschgel roch. Ich drehte mich zu ihm um. Er sah das Handy in meiner Hand und wahrscheinlich auch meinen Gesichtsausdruck. Wir waren beide wie erstarrt, als unsere Blicke sich trafen. Plötzlich erschien er mir fremd, so als sähe ich ihn zum ersten Mal halbnackt aus dem Badezimmer kommen. Eine seltsame Verspannung breitete sich von meinem Hals auf den gesamten Brustkorb aus. Die Luft zwischen uns knisterte fast.

»Liebst du sie?«, fragte ich schließlich. Ich wunderte mich selbst über meine tonlose, nüchterne Stimme. Wahrscheinlich war es die letzte einfache Frage, und alles Weitere würde von der Antwort abhängen.

»Nein«, sagte er schnell und schüttelte den Kopf, »natürlich nicht.«

»Dann beende es.«

Ein leichtes Sinken der Schultern, ein knappes Nicken, so als nähme er eine Einladung zum Kaffeetrinken an. »Okay«, sagte er leichthin.

»Und such dir für heute Nacht einen Platz zum Schlafen. Ich will dich momentan nicht in meiner Nähe haben.«

»Isabel«, sagte er.

»Ich meine es ernst«, entgegnete ich. »Geh.«

Ich war in meinem Stolz tief gekränkt, mein Herz angeknackst, wenn nicht gar gebrochen. Aber in erster Linie war ich enttäuscht. Nicht dass ich mir seinetwegen oder in Bezug auf unsere Ehe irgendwelche Illusionen gemacht hätte – nicht einmal in Bezug auf die Ehe insgesamt. Ich hätte nur gedacht, er verfüge über etwas mehr Selbstdisziplin. Ich hatte ihn für einen stärkeren Mann gehalten. Die Vorstellung, er könnte lügen, sich aus der Stadt stehlen und irgendwo in einem Hotel mit einer anderen Frau schlafen, machte ihn billig, weniger kostbar.

Die nächsten Tage verbrachten wir getrennt voneinander. Wir telefonierten viel und kamen zu dem Schluss, dass es in unserer Ehe einige Probleme gebe, die es anzugehen gelte. Tränen flossen, Entschuldigungen wurden beiderseitig ausgesprochen und angenommen. Er kam nach Hause. Wir lebten weiter. Eigentlich bin ich nie darüber hinweggekommen, aber nach und nach fügte der Vorfall sich ins Webmuster unserer Ehe ein. Von nun an schienen die Farben leicht verändert, und der Stoff fühlte sich anders an. Nicht unbedingt schlechter, nur anders eben. Wir suchten keinen Therapeuten auf, wir steigerten uns nicht in irgendwelche Kleinigkeiten hinein und diskutierten nicht nächtelang darüber, ob und wann es wieder passieren würde.

Die Probleme, die wir einräumen mussten – seine und meine Arbeitssucht, seine zeitweilige Unerreichbarkeit, meine Neurosen und Minderwertigkeitskomplexe – wurden nie angegangen. Ich schlug mich nicht damit herum, eventuell verlorengegangenes Vertrauen wiederzufinden. Ich betrachtete das Ganze als einen Ausrutscher. Und keiner von uns beiden sprach das Thema jemals wieder an. Damals hielt ich uns für unglaublich intellektuell, wir standen einfach darüber. Aber verleugnete ich nicht einfach die Wahrheit? Ich erzählte niemandem davon, nicht einmal Linda und Jack. Ich weiß es auch nicht, vielleicht handelte es sich um eine Art ängstlicher Bequemlichkeit. Man bemerkt den Knoten in der Achselhöhle, aber man kann sich nicht überwinden, zum Arzt zu gehen, weil man die Diagnose fürchtet. Man will niemandem davon erzählen, denn die Sorge der anderen würde das Problem umso realer machen.

Um drei Uhr morgens dachte ich über seine Affäre nach, über die andere Frau, und warum ich damals nicht mehr hatte erfahren wollen – ihren Namen, wie sie aussah, ihre Kleidergröße, ihren Beruf. Eine Rothaarige, eine Brünette, eine Blondine? Elegant? Intelligent? Ich fragte mich: Ist er jetzt bei ihr? Oder bei einer anderen? Hat er mich verlassen?

Seltsamerweise glaubte ich keinen Moment daran, er könnte einen Unfall gehabt haben – von einem verwirrten Obdachlosen auf die Gleise geschubst, von einem Linienbus überfahren, vor einem alten Gebäude von einem herunterfallenden Steinbrocken erschlagen, alles typische New-York-Unfälle, von denen man gelegentlich hört. Unmöglich, dass ihm etwas Derartiges zustoßen konnte. Dafür war er viel zu aufmerksam. Er hatte immer alles unter Kontrolle. Er glaubte nicht an Unfälle.

Um fünf Uhr morgens hatte ich alle Gefühlszustände durchlaufen, angefangen bei leichter Sorge bis hin zu blinder Panik und eiskalter Wut. Eine kurze Phase der Gleichgültigkeit stellte sich ein, gefolgt von neuer Angst, die sich alsbald in Hass verwandelte. Dann kam die Niedergeschlagenheit, am Ende die Verzweiflung. Ich wollte gerade meine Schwester anrufen, als das Handy in meiner Hand zu klingeln begann. Das Display blinkte blau: Marc.

»Mein Gott, Marc, wo steckst du?«, sagte ich sehr wütend, sehr erleichtert, sehr erpicht darauf, seine Stimme zu hören und eine Ausrede, die ich schlucken konnte: Komm schnell ins Krankenhaus, Isabel. Ich bin überfallen worden und habe einen Schlag auf den Kopf gekriegt. Ich bin eben erst aufgewacht. Weine nicht. Es geht mir gut.

Aber ich hörte nur ein Knacken in der Leitung und das entfernte Jaulen einer Sirene oder Alarmanlage. Dann gedämpfte Stimmen, beide männlich, sie klangen verärgert, mal laut, mal leiser, und ich konnte kein Wort verstehen.

»Marc!«, rief ich.

Dann ein Schrei, ein entsetzliches Kreischen. Ein grauenhaftes, tierisches Winseln, das jeden Nerv in meinem Körper erzittern ließ. Ich rief: »Marc! Marcus!«

Aber das Geschrei hörte nicht auf, es ging mir durch Mark und Bein, bis die Verbindung plötzlich unterbrochen wurde.

DREI

Was macht eine gute Ehe aus? Die Sorte Ehe, wie man sie in der Diamantringwerbung sieht – die schattigen Laubengänge, die glänzenden Augen, die ineinander verschlungenen Finger, der leidenschaftliche Kuss unter einem Sternenhimmel, das Überraschungsdinner bei Kerzenlicht. Gibt es das überhaupt? Sind das nicht nur seltene Momentaufnahmen in einem größeren Panorama aus gemeinsamer Zahnpflege, Geldstreitigkeiten, angebranntem Risotto und zu viel Fernsehen? War meine Ehe glücklich, war sie überhaupt gut? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich habe ihn geliebt, konnte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen, offenbarte ihm meine letzten Geheimnisse. Trotz unserer Charakterschwächen und der zahlreichen Fehler, die wir im Leben gemacht hatten, waren wir zusammengekommen und für eine Weile zusammengeblieben.

Aber jene letzten Momente in der Küche, wo wir uns geküsst und Croissants gegessen hatten und, wäre etwas mehr Zeit gewesen, wieder im Bett gelandet wären, um uns noch einmal zu lieben – waren nichts als Momente. An irgendeinem anderen, zufällig gewählten Tag hätte man beobachten können, wie wir uns darüber streiten, wer einkaufen gehen soll, oder wie wir uns ignorieren – er liest Zeitung, ich starre aus dem Fenster und denke über meinen neuen Roman nach. Man hätte sehen können, wie ich wegen der Fehlgeburt weine und weil ich einfach nicht wieder schwanger werde, während er mir mit verschränkten Armen gegenübersitzt. Die Kinderwunschfrage hatte uns immer gespalten. Meine Schwangerschaft war ein Unfall. Ich höre es ihn sagen, so als erleichterte das meinen Verlust. Jeder Moment zeigt nur eine einzige Facette des Paars, das wir waren, aber nur er kannte das ganze Bild.

Um neun Uhr am nächsten Morgen stand ich vor dem Eingang zu Marcs Büro. Seine Softwarefirma war im obersten Stockwerk eines kleinen Sandsteingebäudes in der Greenwich Avenue untergebracht. In dem Haus gab es noch andere Büros – eine Kanzlei, eine Literaturagentur und im Souterrain einen Fantasy-Buchladen. Ich versuchte es mit dem Schlüssel, konnte die Haustür aber nicht öffnen. Dann erinnerte ich mich an den Einbruch vor etwa einem Monat. Irgendjemand hatte die Tür aufgeschlossen und Computer im Wert von fast hunderttausend Dollar gestohlen. Danach wurden die Schlösser ausgetauscht und eine Alarmanlage installiert.

Ich wartete. Ich drückte mich in den Hauseingang, um mich vor dem bitterkalten Wind zu schützen. Die Schaufenster der gegenüberliegenden Geschäfte – ein schicker Klamottenladen, eine Apotheke, ein Sexshop – waren wegen der kommenden Feiertage rot und silbern dekoriert. Ich beobachtete die vorbeieilenden Passanten, ein jeder mit seinem Leben beschäftigt, einen Kaffee in der einen, das Handy in der anderen Hand und eine schwere Laptoptasche über der Schulter. Sie dachten an ihre Arbeit, an noch zu besorgende Geschenke, und fragten sich, ob noch Zeit sei, die letzten Weihnachtskarten zu schreiben. Bis gestern war ich genauso – in Eile, mir selbst immer einen Schritt voraus, kein bisschen im Jetzt lebend. Vierundzwanzig Stunden später hatte ich das Gefühl, einen katastrophalen Unfall überstanden zu haben. Mein Leben war ein Haufen zusammengedrückten Blechs, und ich war durch die Windschutzscheibe hinausgeschleudert worden. Die anfängliche Panik, die ich empfunden hatte, als Marcus nicht nach Hause kam, das Entsetzen und die Angst, die mich nach dem schrecklichen Anruf ergriffen hatten, waren verflogen. Ich stand unter Schock, ich lag am Straßenrand und verblutete.

Nach dem ominösen Anruf hatte ich die Nummer der Polizei gewählt, weil mir in meiner Angst nichts Besseres einfiel. Die Frau am anderen Ende der Leitung erklärte mir, ein vermisster Erwachsener gelte noch lange nicht als Notfall, es sei denn, es gebe Hinweise auf ein Verbrechen oder eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen. Ich erzählte ihr von den Schreien, die ich gehört hatte. Sie sagte, vielleicht seien die Geräusche aus einem Fernseher gekommen, oder vielleicht erlaube sich jemand einen Scherz mit mir. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Ehemann sich so grausam verhält. Sie erklärte mir, die Polizei könne ohne konkrete Hinweise oder eine Krankengeschichte keine Vermisstenanzeige aufnehmen, besonders nicht für einen Volljährigen, besonders nicht für einen Mann. Der Anruf beweise noch lange nicht, dass etwas nicht stimme.

»Konkrete Beweise, Madam.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Blut oder Einbruchspuren, eine Lösegeldforderung – solche Sachen.«

Sie gab mir eine Telefonnummer und eine Adresse. Ich solle persönlich vorstellig werden und Fotos und zahnärztliche Unterlagen mitbringen. Zahnärztliche Unterlagen.

»Die meisten Leute tauchen nach zweiundsiebzig Stunden wieder auf.«

»Die meisten?«

»Mehr als fünfundsechzig Prozent.«

»Und die anderen?«

»Unfall. Ganz selten Mord. Manche Leute verschwinden ganz freiwillig.«

Als sie das sagte, kam ich mir albern vor. Ich schämte mich. So als wäre ich bloß eine von hundert Ehefrauen, die sie an diesem Abend angerufen haben, weil ihre Männer nicht nach Hause gekommen sind. Schätzchen, er hat dich verlassen, wollte sie sagen. Wach auf.

Normalerweise hätte ich als Nächstes bei meiner Schwester und ihrem Mann Erik angerufen, um ihnen alles zu erzählen und mir Unterstützung zu holen. Aber ich ließ es bleiben. Ich konnte mich nicht überwinden, Linda anzurufen, denn dann hätte ich sie auch in die Affäre einweihen müssen, oder? Damit sie sich ein Bild machen konnte. Es war unmöglich. Aus demselben Grund – und noch ein paar anderen Gründen – ließ ich es ebenfalls bleiben, Jack anzurufen. Er hatte sich seine Ablehnung Marcus gegenüber nie anmerken lassen, trotzdem spürte ich sie deutlich.

Jack und ich hatten eine komplizierte Vorgeschichte. Außerdem würden sich in Marcus’ Augen alle Verdächtigungen bezüglich meiner Freundschaft zu Jack bestätigen, falls er erfuhr, dass ich mich in einer Notlage an Jack gewandt hatte. Marcus gefiel es nicht, dass wir uns nahestanden, dass wir ständig telefonierten, und er behauptete, unser Verhalten sei unserem rein beruflichen Verhältnis nicht angemessen. Ehrlich gesagt hat Marc meine Freundschaft zu Jack während unserer schlimmsten Streitereien stets zum Thema gemacht. Er fand, ich erzähle Jack zu viel, ich sehe ihn zu oft, er berühre mich auf viel zu vertrauliche Weise.

Du verstehst das nicht.

Ein wütendes Lachen. Ich verstehe es vollkommen. Du bist hier diejenige, die nicht versteht. Du bist einfach zu naiv, zu vertrauensselig.

Ich bitte dich!

Seit seiner Affäre hatte Marcus zum Thema Jack natürlich weniger zu sagen. Er beschränkte sich darauf, mir wütende Blicke zuzuwerfen.

Aber darüber dachte ich in diesem Moment nicht nach. Ich hatte immer noch den grauenhaften Schrei im Ohr und malte mir ein Horrorszenario nach dem nächsten aus. Nachdem ich mich angezogen und ein paar Fotos zusammengesucht hatte, versuchte ich, mich zu beruhigen, indem ich mir Erklärungen für den Anruf zurechtlegte. Vielleicht hatte er sein Handy verloren, oder es war ihm gestohlen worden, und was ich gehört habe, hatte nichts mit ihm zu tun. Vielleicht hatte er mich tatsächlich verlassen und lag jetzt in einem fremden Bett, vielleicht hatte er sein Handy, als er unser Leben verließ, in den nächsten Mülleimer geworfen. Wie besessen rief ich ein ums andere Mal an, nur um wieder und wieder bei seiner Mailbox zu landen. Als es Tag wurde, hatte ich das Haus verlassen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, aber stattdessen war ich vor seinem Büro gelandet. Ich stand vor dem Haus und hoffte, der Albtraum würde zu Ende gehen, bevor er richtig anfangen konnte.

Irgendwann sah ich Rick die Straße entlangkommen. Er lief an den schicken Boutiquen und Cafés vorüber und tippte auf seinem Blackberry herum, ohne mich im Hauseingang zu bemerken. Er war groß und schlaksig und hatte wilde, schwarze Locken, Koteletten und einen sorgfältig gestutzten Bart. Er trug verwaschene Jeans und unter der schwarzen Lederjacke, die trotz der Kälte offen stand, ein T-Shirt mit dem Aufdruck Love Kills Slowly. Er lief einfach an mir vorbei und sprang leichtfüßig die Treppe hoch.

»Rick«, sagte ich.

Erschreckt hob er den Blick von dem kleinen, schwarzen Gerät in seiner Hand. Er brauchte einen Augenblick, um mich in der ungewohnten Umgebung wiederzuerkennen. Er sah nicht gut aus, wirkte bleich, müde und gehetzt.

»Isabel«, sagte er und runzelte die Stirn. »Was ist los? Was tust du hier?« Er schaute sich um, ließ seinen Blick über die Straße schweifen.

»Marc ist gestern nicht nach Hause gekommen«, sagte ich. Ich beobachtete, wie er überrascht die Augenbrauen hob und kurz an mir vorbeischaute, um mir dann wieder in die Augen zu sehen. Er wollte Zeit gewinnen, um sich eine Ausrede auszudenken. Noch bevor er eine gefunden hatte, fragte ich: »War er gestern wirklich hier, als ich angerufen habe?«

Rick ließ das Blackberry in seine Jackentasche gleiten und senkte den Blick. Ich bemerkte die ersten grauen Haare in seinem drahtigen Schopf, die kaum merklichen Krähenfüße in seinen Augenwinkeln.

»Nein«, sagte er unverhohlen. »Er war nicht hier. Er ist nach seinem Meeting gestern nicht mehr hier gewesen. Er hat auch nicht angerufen.« Ich spürte eine eiskalte Welle der Enttäuschung über mir zusammenschlagen. Meine Angst wuchs. »Komm rein, Iz. Es ist kalt.«

Ich folgte Rick die Treppe hinauf, überlegte und versuchte, die Abläufe zu rekonstruieren. Marcus hatte nach dem Meeting nicht angerufen, obwohl er es mir versprochen hatte. Um drei Uhr nachmittags hatte ich zum ersten Mal versucht, ihn telefonisch zu erreichen, weil ich wissen wollte, wie es gelaufen war. Ich war weit davon entfernt gewesen, mir Sorgen zu machen. Zu oft hatte er unsere privaten Abmachungen vergessen, und tagsüber schien er ganz auf seine Arbeit konzentriert. Es war nicht ungewöhnlich, dass er nicht anrief, obwohl er es versprochen hatte. Mein Anruf war direkt auf die Mailbox umgeleitet worden – auch das nichts Ungewöhnliches. Ich hatte mir nicht einmal Sorgen gemacht, als er nicht zum Abendessen erschienen war. Aber als Rick und ich den obersten Absatz der schmalen, knarzenden Treppe erreicht hatten, wurde mir die hässliche Wahrheit bewusst. Seit gestern früh hatte niemand mehr etwas von Marcus gehört.

Im Flur hoffte ich noch, wir würden ihn im Büro vorfinden. Vielleicht hatte er die Nacht auf dem Sofa verbracht und war schrecklich verkatert. Izzy, es tut mir leid. Das Meeting ist schiefgelaufen. Ich bin einen trinken gegangen und habe die Kontrolle verloren. Verzeih mir. Obwohl es noch nie so weit gekommen war, sah ich die Szene deutlich vor mir. Rick tippte den Sicherheitscode ein, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die schwere Metalltür. Ich sah die Szene so klar vor mir, dass ich fast schon Erleichterung spürte, und brennende Wut.

Aber nein. Das Büro lag still und verlassen da. Lange Reihen aus Schreibtischen, riesige, flimmernde Monitore, unter der Decke nackte Rohre und Leitungen. Industrieschick. Marcs durch eine Glasscheibe abgetrenntes Büro war dunkel und aufgeräumt. Während wir den Raum durchquerten, fing irgendwo ein Telefon zu klingeln an. Es hörte sich wie ein elektronischer Vogel an, der in einem Computer eingesperrt ist. Ricky ließ seine Tasche fallen und rannte los.

Ich beobachtete ihn, bis er mir mit einem Kopfschütteln signalisierte, dass Marc nicht der Anrufer und auch nicht der Grund des Anrufs war. Ich schlenderte in Marcs Büro, knipste die Schreibtischlampe an und sah, dass Rick mich durch die Glasscheibe hindurch beobachtete, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Ich ließ mich in Marcs riesigen Ledersessel fallen, legte die Hände auf die kalte Schreibtischplatte und betrachtete unser Hochzeitsfoto. Wir strahlten so glücklich, dass es gestellt wirkte. Hinter unseren Köpfen leuchtete ein prächtiger Sonnenuntergang in Orange, Lila und Rosa. Ich stöberte in offen herumliegenden Dokumenten und Umschlägen herum, las die Post-its, die am Lampenschirm und am Telefon klebten. Ich wusste nicht, wonach ich suchte. Dann fuhr ich den Computer hoch. Im selben Moment trat Rick ein. Er sah nicht glücklich aus.

»Isabel, das mag er gar nicht.«

»Verpiss dich«, sagte ich ruhig und leise.

Rick starrte wieder auf seine Schuhe, steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch, so dass er aussah wie ein Geier. Ich fand ihn ein bisschen zu alt für seinen sportlich saloppen Stil. Vielleicht sollte er mal bei Barneys einkaufen und endlich erwachsen werden. Marcus erschien immer in Anzug und Krawatte zur Arbeit, klassische Eleganz mit einem zeitgenössischen Hauch. Rick hingegen kultivierte seinen punkigen Programmiererlook und verbreitete die dazugehörige Aura, bis hin zu seinem ungesunden Teint. Ich war immer der Ansicht gewesen, Marcus hätte den besseren Kundenberater abgegeben, aber er hasste diese Art von Arbeit. Rick und ein Team von Kundenbetreuern stellten den Kontakt zu den potenziellen Kunden her, beantworteten die Anfragen, kümmerten sich um die stetig wachsenden Bedürfnisse der Auftraggeber. Marcus war das Hirn der Firma, er trat selten in Erscheinung und hielt doch alle Fäden in der Hand. Rick war so etwas wie ein Strohmann. Ich fragte mich, ob er sich jemals darüber ärgerte.

»Weißt du, wo er ist?«, fragte ich. Rick öffnete den Mund, um zu antworten, doch ich unterbrach ihn: »Lüg mich nicht an.«

Er fixierte einen fernen Punkt hinter meinem Rücken. Ich studierte sein Gesicht. Was sah ich? Besorgnis, vielleicht sogar eine Spur von Angst. Er schüttelte den Kopf, dass die Locken wippten. »Nein, ich weiß nicht, wo er ist. Ich ... ich wünschte, ich wüsste es.«

»Als er nach dem Meeting nicht ins Büro gekommen ist, als er sich den ganzen Tag lang nicht gemeldet hat – fandest du das nicht ungewöhnlich? Hast du dir keine Sorgen gemacht?«

Rick hob beide Hände.

»Was willst du mir sagen?«, fragte ich wütend und ungläubig. »Das es nicht ungewöhnlich war?«

Keine Antwort. Kein Blickkontakt. Ich sah den Schweiß auf Ricks Stirn, schwieg weiter und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Schließlich erzählte ich ihm von dem Anruf. Ich versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, den Schrecken zu verdrängen. Rick sank auf den Stuhl vor Marcus’ Schreibtisch und ließ den Kopf zwischen die Hände sinken.

Als er immer noch nichts sagte, griff ich zum Telefon. »Ich werde noch mal bei der Polizei anrufen.«

»Warte«, entgegnete Rick erschreckt und hob den Kopf. Nein, er war nicht erschreckt. Er war entsetzt. »Warte kurz.«

Ich ließ meine Hand auf dem Hörer liegen. »Rick, was ist denn?«

Plötzlich ertönte im Treppenhaus ein lauter Knall. Die Stahltür barst. Rick sprang von seinem Sessel auf und ich von meinem, so schnell, dass der Drehsessel nach hinten schoss und gegen die Wand krachte.

Wir standen wie angewurzelt da, als ein Dutzend Personen durch die Tür stürmte, die Pistolen im Anschlag und von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, sah man von den strahlend weißen Buchstaben in der Körpermitte ab: FBI.

Die Zeit schien sich zu dehnen und zu strecken. Die Männer schwärmten aus, sprangen hinter die Schreibtische und verteilten sich im Büro wie Ratten in einem Labyrinth. Wir wurden von einer großen, schlanken Frau mit blondem Kurzhaarschnitt entdeckt; sie näherte sich uns und brüllte unverständliches Zeug. Ich sah nichts als die Pistolenmündung. Bemerkte, wie Rick sich die Hände an den Kopf legte, das Kinn senkte und die Augen schloss.

Ich dachte: Er hat darauf gewartet, er hat gewusst, dass es so kommen wird. Was haben er und Marcus getan? Ich stand wie betäubt da. Meine Finger berührten die kalte Schreibtischkante, und ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben und ohne jeden Halt durchs Weltall zu schweben.

Als ich Marc kennenlernte, hatte ich mich längst mit der Rolle als alleinstehende alte Tante abgefunden. Ehrlich gesagt hatte ich meinen Frieden damit gemacht; vielleicht war ich nach all den Losern und Spinnern, die durch mein Leben gezogen waren, sogar erleichtert. Ich hatte angefangen, mich als das ewige fünfte Rad am Wagen zu betrachten, als die Frau, die es einfach nicht schaffte, sich in eine Beziehung zu fügen. Auch wenn sich viele New Yorkerinnen beklagen – es war mir nie schwergefallen, Männer kennenzulernen. Ehe ich mich’s versah, hatte ich jemanden getroffen – beim Einkaufen, in einem Buchladen oder Café, in der U-Bahn. Das Problem war nur, dass nichts je von Dauer war, dass sich nie etwas entwickelte, egal wie vielversprechend es begonnen hatte. Ab einem gewissen Punkt beschlich mich jedes Mal dieses kalte, apathische Gefühl, ich fürchtete mich vor Anrufen und schweifte während eines Dates gedanklich ab. Und falls es einmal anders kam, hörte der Mann bald auf, sich zu melden, und irgendwann verschwand er ganz. Noch nicht einmal bis zu einer traurigen Trennung hatte ich durchgehalten. Meine Beziehungen verliefen sich einfach im Sande.

»Weißt du, Izzy«, sagte meine Schwester Linda (verheiratet, zwei süße Kinder, sehr erfolgreich als Fotografin, fünf Jahre älter als ich, Gott sei Dank, andernfalls müsste ich sie ermorden) eines Abends bei einem gemütlichen Glas Pinot Grigio zu mir, »hast du dich schon mal gefragt, ob du auch geben kannst? Ob du auf der Suche nach einem Mann bist, der in dein Leben passt, wie es jetzt ist? Du bist überhaupt nicht bereit, dich in irgendeiner Weise zu verbiegen oder zu verändern!«

Ich regte mich über diese Vermutung auf, hielt sie für grundfalsch. »Wenn der Richtige kommt, wird das auch nicht nötig sein«, gab ich trotzig zurück.

Ein kurzes Augenrollen, ein Schlückchen Wein.

»Oder?«

Sie wich meinem Blick nicht aus und zuckte nur die Achseln. »Na ja, in gewisser Hinsicht vielleicht. Aber wahrscheinlich würde dich ein bisschen Verbiegen und Verändern nicht stören, wenn der Richtige kommt.«

»Nicht aufgeben, Iz!«, rief uns Erik, der perfekte Ehemann, aus der Küche zu. »Die sollen sich verbiegen!«

»Psst«, machte meine Schwester, als Erik hereinkam. »Du weckst sie auf.« Die Kinder: Emily und Trevor.

»Hast du dich verbogen?«, fragte ich Erik.

»O ja, und wie! Und ich bin noch längst nicht fertig!« Er schwang seinen schlanken Körper auf den niedrigen Wildledersessel vor uns, um am Schwesterngespräch teilzuhaben. Um den Effekt zu verstärken, warf er dramatisch den Kopf in den Nacken.

»Also bitte.« Meine Schwester lächelte ihn mit glänzenden Augen an und streckte einen nackten Fuß aus, um an sein Knie zu stupsen. Manchmal war ich peinlich berührt, wenn sie ihn so ansah – die unverhohlene Bewunderung. Sie bewunderten sich gegenseitig. Bei ihnen gab es kein heimtückisches Sticheln und keinen Sarkasmus, keine gemurmelten Beleidigungen und versteckten Vorwürfe, wie sie bei meinen verheirateten Freunden an der Tagesordnung waren. Doch, manchmal stritten sie sich – und wie sie sich stritten. Aber sie waren dabei immer ehrlich, ernstlich bemüht, dass es schnell vorüber war. Gesund – ihre Beziehung war gesund. Manchmal machte mich das krank.

Ich weiß noch, dass ich an jenem Abend dachte: So etwas werde ich nie haben. Es wird nicht passieren. Bei diesem Gedanken fühlte ich keine Verzweiflung; stattdessen strömte eine seltsame Erleichterung durch meinen ganzen Körper. Ich war achtundzwanzig Jahre alt und hatte aufgegeben. Es fühlte sich gut an, ich ergab mich aus gutem Grund.

»Was ist mit Jack?« Meine Schwester hatte mir diese Frage schon so oft gestellt, dass ich, statt sie zu beantworten, einfach aufstand und mir kommentarlos Wein nachschenkte.

Und dann kam Marcus.

Seine ersten Worte: »Ich bin ein großer Fan von Ihnen.«

Ich lächelte ihn an, bedankte mich und nahm das Buch, das er mir entgegenhielt. Als Erstes bemerkte ich seine Hände, die schmal und kräftig wirkten. Ich befand mich in einem kleinen Buchladen und hatte eben aus meinem neuen Roman vorgelesen. Abgesehen von diesem einen Gentleman waren alle Zuhörer aufgestanden und gegangen, ohne mein Buch zu kaufen. Der Wind rüttelte an der Ladentür, bis das kleine Glöckchen klingelte. Die dicken, schweren Schneeflocken, die vom Himmel fielen, machten sich nicht die Mühe, liegen zu bleiben und hübsch auszusehen. Ich signierte das Buch mit schwarzem Edding und war in Gedanken schon bei meinem Schlafanzug, der dicken Daunendecke und Seinfeld-Wiederholungen. Aus dem Augenwinkel konnte ich die Buchhändlerin hinter dem Tresen gähnen sehen. Abgesehen von uns dreien befand sich niemand mehr im Laden; es war fast neun Uhr.

Ich gab dem Fremden das Buch zurück. Er stand da und trat von einem Bein aufs andere, nahm all seinen Mut zusammen, um etwas zu sagen. Ich machte mich darauf gefasst, etwas über das Buch zu hören, an dem er gerade arbeitete, und ob ich ihm einen Verlag oder einen Agenten empfehlen könne. Aber nichts dergleichen kam.

»Noch einmal vielen Dank«, sagte ich. »Sehr nett von Ihnen, an so einem ungemütlichen Abend herzukommen.«

»Auf keinen Fall hätte ich das verpassen wollen«, antwortete er.