Die folgsame Tochter - Lisa Unger - E-Book
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Die folgsame Tochter E-Book

Lisa Unger

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Beschreibung

Als Selena im Zug einer jungen Frau begegnet, ist sie sogleich fasziniert von Marthas Offenheit und vertraut ihr ein Geheimnis an: Selena fürchtet, dass ihr Ehemann sie mit der Babysitterin betrügt. Nur wenige Tage später ist die Babysitterin spurlos verschwunden und Selena die Letzte, die sie sah. Während die Polizei beginnt, in Selenas Umfeld zu ermitteln, erinnert diese sich plötzlich an Marthas Frage: "Was wäre, wenn dein Problem einfach so verschwinden würde?" Selena ist zutiefst beunruhigt ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungTeil 1 - All unsere kleinen GeheimnisseProlog1 - Selena2 - Anne3 - Selena4 - Geneva5 - Pearl6 - Selena7 - Anne8 - Geneva9 - Pearl10 - Selena11 - Selena12 - Oliver13 - Selena14 - Anne15 - Pearl16 - Selena17 - Selena18 - Pearl19 - Anne20 - Selena21 - Anne22 - Pearl23 - Hunter24 - SelenaTeil 2 - All unsere kleinen Lügen25 - Selena26 - Pearl27 - Hunter28 - Selena29 - Pearl30 - Anne31 - Oliver32 - Pearl33 - Cora34 - Pearl35 - Cora36 - Selena37 - Pearl38 - Selena39 - Selena40 - Selena41 - Selena42 - Selena43 - Geneva44 - Pearl45 - SelenaDanksagung

Über das Buch

Als Selena im Zug einer jungen Frau begegnet, ist sie sogleich fasziniert von Marthas Offenheit und vertraut ihr ein Geheimnis an: Selena fürchtet, dass ihr Ehemann sie mit der Babysitterin betrügt. Nur wenige Tage später ist die Babysitterin spurlos verschwunden und Selena die Letzte, die sie sah. Während die Polizei beginnt, in Selenas Umfeld zu ermitteln, erinnert diese sich plötzlich an Marthas Frage: »Was wäre, wenn dein Problem einfach so verschwinden würde?« Selena ist zutiefst beunruhigt …

Über die Autorin

Lisa Unger ist eine amerikanische Thrillerautorin, deren Romane es in ihrem Heimatland regelmäßig auf die Bestsellerliste schaffen und vielfach begeistert besprochen werden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.

LISA UNGER

     DIE

     FOLGSAME

TOCHTER

thriller                                                  

Aus dem Amerikanischenvon Anke Angela Grube

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Lisa Unger

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Confessions on the 7:45«

Originalverlag: Park Row Books, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Fröhlich, Bremen

Einband-/Umschlagmotiv: © Magdalena Wasiczek / Trevillion Images

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-1020-6

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für Jeffrey.

Denn auch nach zwanzig gemeinsamen Jahrenkommst du für mich an erster Stelle, immer.

 

Jemand, der ein Geheimnis bewahren will, muss es auch vor sich selbst bewahren.

nach George Orwell, 1984

TEIL 1

All unsere

kleinen Geheimnisse

 

Prolog

Sie beobachtete. Das war ihre Gabe. Im Dunkel zu verschwinden, einzutauchen in die Schatten dahinter und dazwischen. Nur dort sah man die Dinge so, wie sie waren, nur dort enthüllten Menschen ihre wahre Natur. Heutzutage breiteten alle ihr ganzes Leben in der Öffentlichkeit aus, präsentierten zurechtgestutzte und gefilterte Versionen ihrer selbst. Nur wenn sie allein waren, unbeobachtet, ließen sie die Masken fallen.

Sie beobachtete ihn nun schon eine ganze Weile. Die Maske, die er trug, war bereits ins Rutschen gekommen.

Auch er stand im Schatten, eine kräftige Gestalt in der dunklen Straße. Sie hatte ihn verfolgt, als er durch die Straßen gefahren war wie ein Raubtier auf Beutezug, um dann seinen Wagen unter den Bäumen abzustellen. Er hatte eingeparkt und war im Auto sitzen geblieben, während der Abend voranschritt und in den Häusern die Lichter ausgingen, eins nach dem anderen. Endlich war er ausgestiegen, hatte leise die Autotür geschlossen und war über die Straße gehuscht. Jetzt wartete er. Was hatte er vor?

Sie folgte ihm jetzt seit ein paar Wochen und hatte gesehen, wie er seinen Kindern im Park auf der Schaukel Anschwung gab, mitten am Tag einen Strip-Club besuchte, in einer Sportkneipe ein Spiel anschaute und sich dabei mit seinen Kumpels sinnlos besoff. Sie hatte beobachtet, wie er einer jungen Mutter mit Kleinkind und einem Baby im Kinderwagen half, ihre Einkäufe vom Auto ins Haus zu tragen.

Einmal hatte er in einer Bar eine Frau abgeschleppt. In seinem Auto auf dem Parkplatz hatten sie es wie die Tiere getrieben. Danach war er in einen Supermarkt gegangen und hatte für die Familie eingekauft, Eiscreme und Goldfischchen in den Einkaufswagen gehäuft, Sachen, die seine Kinder gern mochten.

Was hatte er jetzt vor?

Der Beobachter schaut nur, er greift nie ein. Trotzdem verspürte sie heute ein unheilvolles Kribbeln. Die Nacht war kühl, und sie wartete, geduldig und still.

Das Klackern von hohen Absätzen, ein rasches Stakkato auf der verlassenen Straße. Ein leiser Schauer durchlief sie. War denn sonst niemand hier unterwegs? Schaute aus dem Fenster? Nein. Sie war die Einzige. Schien es nicht manchmal so, als würden die Leute nichts mehr wahrnehmen? Sie schauten nicht hin. Sie blickten mit gesenkten Köpfen auf die mobilen Endgeräte in ihren Händen. Oder in sich hinein, verfolgten gebannt den Film aus Vergangenheit und Zukunft, Wünschen und Ängsten, der unablässig in ihren Köpfen ablief.

Die Gestalt der jungen Frau war schlank, ihre Haltung aufrecht und selbstbewusst. Sicheren Schrittes marschierte sie die Straße entlang, Hände in den Taschen, die Umhängetasche über der Schulter. Als er aus dem Schatten trat und ihr den Weg versperrte, blieb die junge Frau unvermittelt stehen und wich ein wenig zurück. Es schien, als wollte er nach ihrer Hand greifen, aber sie verschränkte die Arme.

Es folgte ein Wortwechsel, den sie nicht verstehen konnte. Die Stimmen klangen zunächst scharf, dann sanfter. Aus der Entfernung hörte es sich an wie Vogelstimmen. Was hatte er vor? Ein Angstschauder lief ihr über den Rücken.

Er machte Anstalten, die junge Frau zu umarmen, und sie zuckte zurück. Aber er tat es trotzdem. Im Dunkel der Nacht war er nur ein drohend aufragender Schemen, hinter dem die kleine Gestalt der Frau fast gänzlich verschwand. Wie in einer Art Tanz bewegten sie sich zur Tür, anfangs ruckartig, unbeholfen. Dann schien sie nachzugeben, sich an ihn zu schmiegen. Sie schloss auf, und die beiden verschwanden im Haus. Dann war wieder alles still.

Sie stand wie erstarrt, unsicher, was sie da gesehen hatte. Später, als ihr klar wurde, was er getan hatte und wer er unter seiner Maske wirklich war, hasste sie sich dafür, dass sie wie angewurzelt stehen geblieben war, im Schatten versteckt, und dass sie nur beobachtet hatte. Aber dann sagte sie sich, dass sie es ja nicht gewusst hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass unter der Maske ein wahres Monster steckte.

1

Selena

Selena liebte die Zwischenzeiten. Die kostbaren Augenblicke zwischen den verschiedenen Rollen, die sie im Leben spielte.

Sie verpasste den Zug um siebzehn Uhr vierzig, weil das Meeting bei dem Klienten länger dauerte, und schon bevor sie vom Konferenztisch aufstand, war klar, dass sie auf keinen Fall rechtzeitig zum Abendessen mit ihrem Mann Graham und den kleinen Rabauken Stephen und Oliver zu Hause sein würde. Die wilden Stunden danach würden ohne sie ablaufen müssen – duschen, Schlafanzug anziehen, Raufereien – kurze, aber heftige Scharmützel zwischen den Brüdern –, vielleicht fernsehen, wenn die beiden es schafften, ein paar Minuten still zu sitzen, dann ins Bett und vorlesen. Es kam nicht häufig vor, dass Selena länger arbeitete; sie legte Wert darauf, immer pünktlich zu Hause zu sein. So chaotisch die Abende mit der Familie auch oft sein mochten, sie waren der beste Teil ihres Tages.

Doch als sie an jenem Tag den Zug nicht mehr erwischte – es war schon so spät, dass sie nicht mal versuchte, noch zum Bahnhof zu hetzen –, öffnete sich ein Zeitfenster, das vorher nicht da gewesen war. Etwas mehr als zwei Stunden zwischen dem Zug um siebzehn Uhr vierzig, den sie normalerweise nahm, und dem um neunzehn Uhr fünfundvierzig, den sie nun zu nehmen beabsichtigte, nachdem sie im Büro noch ein paar Sachen erledigt hätte.

Selena spürte, wie sie sich in dieser Lücke ausdehnte, in dieser Zwischenzeit, die weder zu ihrem Berufsleben noch zu ihrem Mutterleben gehörte. Sie war einfach. Sie konnte nachdenken. Und um die Wahrheit zu sagen, gab es so einiges, worüber sie nachdenken musste. Diese Dinge waren wie ein weißes Rauschen in ihrem Hinterkopf.

Sie stieg aus dem Taxi, das sie vor ihrem Bürogebäude absetzte, und trat in die winterliche Kälte hinaus. Der Großstadtlärm überflutete sie, und sie wurde von dem Strom hektischer Menschen erfasst, die nach einem langen Tag nach Hause eilten. Dann trat sie in die stille Eingangshalle mit dem Marmorboden und den glänzenden Wänden. Sie nickte dem Pförtner zu, der sie kannte, zog ihre Zugangskarte durch und trat durch das Drehkreuz. Im Fahrstuhl nach oben war sie allein.

Ihr Herz begann zu hämmern, ihr Mund wurde trocken. Die Tasche war zu schwer, zerrte an ihren angespannten Schultermuskeln. Sie hatte den Zug nicht absichtlich verpasst. Sie hatte wirklich den Klienten nicht abwürgen wollen, als der kein Ende fand.

Aber.

Die Büroräume waren leer. Die Literaturagentur hatte nur wenige Angestellte, und die meisten hatten Familie. Viele der Eltern gingen frühzeitig, um die Kinder von der Schule abzuholen, und arbeiteten am Nachmittag im Homeoffice. Beth, Selenas Chefin und zugleich ihre langjährige beste Freundin, hatte alles so eingerichtet, dass ihre Angestellten gute Arbeit leisten und sich zugleich um die Familie kümmern konnten – man stelle sich nur vor. Der humane Arbeitsplatz, eine Seltenheit.

Sie machte kein Licht in ihrem Büro, sondern genoss den Blick durch die Fensterfront auf die funkelnden Lichter von Downtown. Als sie ihre Tasche fallen ließ, spürte sie, wie ihr warm wurde. Sie schlüpfte aus der Jacke, setzte sich vor den Laptop und holte tief Luft, bevor sie den Deckel aufklappte.

Mittlerweile war es Viertel nach sechs. Die Jungs würden schon gegessen haben. Wie sie ihr Kindermädchen Geneva kannte und die Tüchtigkeit, mit der sie alles managte, hatten Oliver und Stephen auch bereits geduscht und waren im Schlafanzug. Wahrscheinlich saßen sie schon vor dem Fernseher.

Selena lehnte sich in ihrem ergonomischen Bürostuhl zurück und genoss die angenehme Position.

Sie hatte die Kamera nicht direkt versteckt. Geneva wusste, wo im Haus sich Kameras befanden – eine oben, eine unten. Selena hatte einfach die Kamera aus dem Kinderzimmer umgestellt, ohne Graham oder Geneva darüber zu informieren.

Sie zögerte kurz. Ihr Schreibtisch war voll mit gerahmten Fotos von den Jungs und Graham, Kinderzeichnungen und einer Keramikeule, die Oliver im Kunstunterricht gemacht hatte. Sie griff nach dem glasierten, unförmigen Ding. Unten hatte er seinen Namen eingeritzt, und sie fuhr mit dem Finger das wacklige O und das rückwärts geneigte e nach. Irgendwo brummte ein Staubsauger.

Ihr Hochzeitsfoto. Sie mit strahlendem Lächeln und Graham umwerfend elegant in seinem klassischen Smoking. Er hatte ihr ins Ohr geflüstert, während der Fotograf drauflosknipste – kleine Anzüglichkeiten, witzige Bemerkungen. Und dann hatte er gesagt: Das ist der schönste Tag meines Lebens. Sein Atem kitzelte in ihrem Ohr, er hatte die Arme um sie gelegt. Ihr ganzer Körper prickelte vor Freude, vor Begehren. Das war jetzt fast zehn Jahre her. Gott, ein flüchtiger Augenblick, ein Wimpernschlag, ein einziger Atemzug.

Sie stellte das Foto wieder hin. Dann klickte sie die App an, die es ihr ermöglichte, auf ihrem Laptop die Aufnahmen der Kamera zu sehen, die sie im Spielzimmer der Jungs installiert hatte.

Es dauerte einen Moment, bis das Bild lud.

Als es so weit war, war sie nicht überrascht.

Graham, ihr Mann, trieb es mit Geneva, ihrem Kindermädchen. Auf dem Spielteppich, den sie so liebevoll zusammen bei IKEA ausgesucht hatten.

Der Ton war abgestellt, also blieb ihr das Grunzen und Stöhnen erspart.

Wann hatte sie Verdacht geschöpft? Ungefähr vor zwei Wochen. Sie hatte zufällig einen Blick zwischen Graham und Geneva aufgefangen. Eine Kleinigkeit, eine Millisekunde lang, ein Mikroausdruck in ihren Gesichtern.

Nein, hatte sie gedacht. Das kann nicht sein.

Aber sie hatte die Kamera aus dem Kinderzimmer im Spielzimmer installiert.

Es war jetzt das zweite Mal, dass sie die beiden beobachtete. Eine sonderbare Ruhe überkam sie, eine Art distanzierter Teilnahmslosigkeit.

So sexy ist sie nun auch wieder nicht, dachte sie und musterte die junge Frau mit den schimmernden weizenblonden Haaren und den geröteten Wangen. Selena beugte sich vor, um besser sehen zu können. Attraktiv war Geneva zweifellos. Aber nicht so viel mehr als sie selbst.

Gut, sie war ein bisschen jünger, aber nur ein paar Jahre. Vielleicht hatte sie eine Weichheit, die Selena fehlte, eine gewisse Frische. Aber sie war nichts Besonderes, vom Äußeren her nur leicht überdurchschnittlich. Das war durchaus ein Kriterium, das Selena berücksichtigt hatte, als sie Geneva einstellte. Geneva war eine attraktive, kluge, sympathische Kinderbetreuungs-Fachkraft mit einer langen Liste begeisterter Referenzen. Kein heißer Feger. Keine errötende Mittzwanzigerin mit glänzenden Lippen und Tattoos an unpassenden Stellen, die sie später bereuen würde. Die meisten Frauen, Selena eingeschlossen, würden sich davor hüten, sich einen knackigen Vamp ins Haus zu holen. Das war einfach nicht ratsam.

Außerdem kannte Selena sie. Hatte sie unbedingt als Nanny haben wollen. Sie hatten sich auf dem Spielplatz kennengelernt, während des ersten Jahrs, in dem Selena bei den Jungs zu Hause geblieben war. Das Leben als berufstätige Mutter, das Jonglieren zwischen Kindern und Büro, war so anstrengend gewesen. Das Pendeln, immer die Hetze, um die Kinder rechtzeitig vom Kindergarten abzuholen. Also waren sie und Graham übereingekommen, dass sie eine Weile zu Hause bleiben würde – auf unbestimmte Zeit. Sie konnten es sich leisten, Graham verdiente gut. Es würde keinen Range Rover und keine Reisen nach Tahoe während der Frühjahrsferien mehr geben. Aber sie würden gut zurechtkommen.

Selena fand es wunderbar, wie Geneva mit den Tucker-Jungs, Ryan und Chad, umging. Sie war liebevoll, aber bestimmt, verantwortungsvoll, aber nicht übertrieben streng. Die Kinder hörten auf sie. Aufgepasst, pflegte sie munter zu sagen, und alle Augen richteten sich auf sie. Sie war nicht wie die anderen Kindermädchen, die Selena im Park beobachtete – Angehörige der Generation Y, die auf ihre Smartphones starrten, während ihre Schützlinge Amok liefen oder sich ebenfalls mit ihren digitalen Endgeräten beschäftigten. Geneva spielte Fangen mit den Jungs, schubste sie auf der Schaukel an, spielte Verstecken.

Und so furchtbar sexy war sie nun wirklich nicht.

Sie hatte ein reizendes Gesicht, eine Stupsnase und volle Lippen, dunkle Rehaugen, dichte Wimpern. Angenehm üppige Rundungen, vielleicht ein klein wenig zu üppig. Breites Becken, eine Rubens-Figur, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Der Typ, der für körperliche Arbeit gebaut ist, auf positive Weise. Selena selbst war groß und schlank, ein genetischer Segen, für den sie dankbar war, weil sie weiß Gott keine Zeit hatte, an ihrer Figur zu arbeiten.

Jetzt stellte sie den Ton an und hörte dem Stöhnen zu. Klang es nicht ein wenig … künstlich?

Selena hatte sich damals fast jeden Tag mit Geneva unterhalten. Ihre Kinder, Oliver und Stephen, liebten sie. Ist Geneva auch da?, hatte Oliver, der Ältere, häufig gefragt, wenn sie in den Park gingen. Wahrscheinlich, hatte Selena dann immer geantwortet und sich gewünscht, dass sie jemanden wie Geneva hätte, und sei es nur in Teilzeit. Eine Nanny, in deren Obhut sie die Kinder guten Gewissens lassen konnte. Doch sie war gern zu Hause. Ihr Job in der Öffentlichkeitsarbeit fehlte ihr nicht. Sie hatte nie den Drang verspürt, etwas zu erreichen, den so viele ihrer Freundinnen zu haben schienen. So war sie einfach nicht gestrickt. Sie war gern berufstätig, das schon – sie mochte die Unabhängigkeit, den Umgang mit den Kollegen, die Befriedigung, ihre Sache gut zu machen. Das Gehalt. Aber sie hatte sich nie über den Beruf definiert.

Graham: »Oh, ja. Das ist so gut.«

Sie drosselte die Lautstärke. Griff nach einem gerahmten Foto ihrer Söhne, hielt es so, dass es ihr die Sicht auf den Bildschirm versperrte, und blickte in ihre freudestrahlenden rosigen Gesichter.

Die Mutterschaft gab ihrem Leben einen Sinn, wie der Beruf es nie getan hatte. Sie war für ihre Kinder da, kochte für sie, hielt das Haus sauber, kümmerte sich um ihre Termine, ging mit ihnen zum Arzt und zum Friseur. Sie holte sie von der Schule ab, besuchte Elternabende und Halloween-Feiern in der Schule. Es war nicht sexy. Es war nicht immer einfach. In dieser Kultur gab es nicht viel Anerkennung für die Mutterrolle, nicht wirklich. Doch sie fand eine Befriedigung darin, die sie sonst nirgends gefunden hatte.

Dann hatte Graham ganz unerwartet seine Stelle verloren – na ja, passierte so etwas überhaupt jemals erwartet? Es war nicht seine Schuld. Die Buchbranche schrumpfte, und sein hohes Gehalt war schwer zu rechtfertigen in einem Verlag mit rückläufigen Umsätzen, der Ratgeber und Lebenshilfe-Bücher herausbrachte. In genau derselben Woche, es war wirklich eine glückliche Fügung, hatte Selenas beste Freundin Beth ihr eine gute Position angeboten, als sie bei einem Cocktail zusammensaßen: die Leitung der Abteilung Verträge und Lizenzen in ihrer Literaturagentur. Sie würde mehr verdienen als Graham, dazu kamen noch Boni. Natürlich brauchten sie jetzt ein Kindermädchen, denn Graham war nicht direkt für Fürsorgearbeit geschaffen. Und die Jobsuche ist ein Fulltime-Job, Babe.

Selena suchte fieberhaft nach einer Lösung für dieses Problem, daher kam es ihr vor wie ein Wink des Schicksals, als sie direkt am nächsten Tag von Geneva erfuhr, dass sie ihren Job verlieren würde. Mrs. Tucker wolle ein paar Jahre zu Hause bleiben, erzählte sie.

Wenn etwas so reibungslos lief, bedeutete das, dass man im Flow war, oder nicht? Hieß es nicht heutzutage so? Da die Kinderbetreuung gesichert war, fiel es Selena leichter, wieder arbeiten zu gehen. Es war vielleicht nicht unbedingt das, was sie wollte. Aber man tat, was man tun musste, oder nicht? Graham würde schon etwas Neues finden. Es war ja nicht für immer – obwohl der Verdienst schon eine schöne Sache war.

So, wie die Kamera positioniert war, hatte Selena einen guten Blick auf Geneva, die offenbar gern oben war. Bildete sie es sich nur ein, oder war sie nicht wirklich mit dem Herzen dabei? Auch wenn sie, nach ihrem Gesichtsausdruck und den Lippenbewegungen zu urteilen, zweifellos die passenden Laute von sich gab.

Die Aufnahmen der zweiten Kamera unten zeigten die Jungs vor dem Fernseher, sie guckten Trolljäger. Beide waren satt, bettfertig und warteten auf ihre Mutter.

Geneva war mustergültig in dieser Beziehung, auch wenn das in einem solchen Moment vielleicht eine seltsame Beobachtung war. Aber Selena hatte immer zu schätzen gewusst, dass Geneva nicht zu den Kindermädchen gehörte, die versuchten, die Mutter zu ersetzen. Sobald Selena abends das Haus betrat, ging sie. Manchmal war sie schon weg, wenn Selena wieder herunterkam, nachdem sie sich umgezogen hatte. Das Haus war immer picobello, und die Jungs waren normalerweise einigermaßen ruhig – so ruhig, wie man es von einem Fünfjährigen und einem Siebenjährigen erwarten konnte. Jedenfalls tobten sie nicht wild herum, so wie sie es taten, wenn Graham zuständig war. Es kam selten vor, aber wenn Graham mal einen Tag auf die Kinder aufpasste, waren sie abends schmutzig und aufgedreht. Da es bei ihm keine festen Abläufe gab, fehlte ihnen die Ordnung und eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Graham verhielt sich, als wäre er selbst ein Kind, übernahm eher die Rolle eines älteren Bruders mit schlechtem Einfluss als die eines Vaters.

So wie gerade eben. Als er die Nanny im Spielzimmer nagelte, während seine kleinen Söhne unten fernsahen.

Warum empfand sie keine größere Wut?

Es war wie ein Sirren im Hinterkopf, seit sie die beiden vor drei Tagen zum ersten Mal beobachtet hatte. Ein kaum hörbares Dröhnen, das sie von sich wegschob und verdrängte, tief in sich vergrub. Warum weinte sie nicht vor Wut und Eifersucht, weil sie betrogen wurde? Warum war sie nicht nach dem ersten Mal nach Hause gerast, hatte getobt, Graham rausgeworfen und Geneva gefeuert? So ein Verhalten wäre doch normal.

Aber Selena war sich nur einer Art Taubheit bewusst, die sich nach dem ersten Mal verfestigt hatte, einer stumpfen Herzlosigkeit. Aber nein. Darunter brodelte es.

Jetzt warf Geneva den Kopf voller Lust zurück. Graham bekam diesen hilflosen Gesichtsausdruck, den er immer hatte, kurz bevor er zum Höhepunkt kam, hob bei geschlossenen Lidern ein wenig die Augenbrauen, verzückt wie ein Geiger, der beim Spielen in seiner Musik aufgeht. Selena merkte, dass sie die Armlehnen so fest umklammert hielt, dass es wehtat.

Vage war sie sich eines anderen Gefühls bewusst, eines Gefühls, das sie schon längere Zeit unterdrückte. Lange vor diesem Tag, irgendwann nach der Geburt ihres zweiten Kindes, hatte Selena angefangen, eine Abneigung gegen ihren Mann zu entwickeln. Sie war nicht anhaltend, aber schockierend intensiv. Es nervte sie, wenn er sie ständig mitten im Satz unterbrach, wenn er in der Küche herumstand und jede Kleinigkeit beaufsichtigte, wenn er so tat, als würde er sich an der Hausarbeit beteiligen, obwohl das nicht stimmte. Überhaupt nicht. Sicher erging es allen nicht mehr ganz frischen Paaren so. Und dann verlor er seine Stelle und war nicht einmal sonderlich bekümmert darüber.

Ach, na ja, ich wollte mich sowieso verändern. Und du hast ja gesagt, dass du gern wieder berufstätig wärst.

Hatte sie das gesagt? Sie glaubte nicht. Denn die Arbeit hatte ihr nicht sonderlich gefehlt.

Irgendwann danach, wenn sie ihn nach Feierabend zwei Tage hintereinander in derselben Jogginghose antraf oder im Browser-Verlauf des Rechners nicht den geringsten Hinweis darauf fand, dass er nach einer neuen Stelle gesucht hatte, hatte sie angefangen, ihn ein klein wenig zu hassen. Dann etwas mehr. Der elegante und charmante Mann im Smoking, der sie zum Lachen gebracht und vor Lust hatte erzittern lassen, erschien ihr wie jemand aus einem Traum, an den sie sich kaum noch erinnern konnte.

Sie beugte sich vor, um die Lautstärke wieder hochzudrehen, und als sie ihn unter Geneva stöhnen hörte, wuchs ihr Hass ins Unermessliche. Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie, wie Menschen einander töten konnten – Ehepartner, die sich einmal leidenschaftlich, hingebungsvoll geliebt hatten, die vor dem Altar Tränen des Glücks vergossen und eine wunderbare Hochzeitsreise gemacht hatten, die wunderbare Kinder bekommen und sich ein schönes Leben aufgebaut hatten.

Dieses Ding, das da in ihr lauerte, begann zu toben und wollte hinaus. Sie konnte es hören. Aber sie konnte es nicht richtig fühlen.

In den letzten Tagen hatte sie sich gegenüber Graham distanziert verhalten, hatte seine Annäherungsversuche zurückgewiesen. Falls ihm das aufgefallen war, hatte er es nicht angesprochen. Die Wahrheit war: Er betrog sie nicht zum ersten Mal. Aber sie hatte gedacht, sie hätten das überwunden. Sie waren zur Paarberatung gegangen, es hatte tränenreiche Versprechungen gegeben. Sie hatte ihm vergeben und sich erlaubt, ihm wieder zu vertrauen. Offenbar war das töricht von ihr gewesen.

»Graham.«

Die Stimme erschreckte Selena, holte sie unvermittelt ins Hier und Jetzt zurück.

Geneva war von Graham heruntergestiegen und hatte bereits ihren Rock wieder gerichtet. Wie auch beim letzten Mal hatten sie sich danach hastig angezogen, mit abgewandten Blicken und ernsten Gesichtern. Zumindest besaßen sie den Anstand, danach nicht noch liegen zu bleiben und sich genüsslich auf dem Boden zu aalen.

»Das muss aufhören«, fuhr Geneva fort. Selena hörte Scham heraus, Reue. Gut. Gut für dich, Geneva!

Graham hatte seine Hosen wieder hochgezogen, saß auf dem Sofa und hatte das Gesicht in den Händen vergraben.

»Ich weiß«, sagte er mit erstickter Stimme.

»Du hast eine nette Familie. Ein schönes Leben. Und das hier ist … beschissen.« Genevas Gesicht war gerötet.

Oh, Geneva, dachte Selena verrückterweise, bitte kündige nicht.

»Ich glaube, ich sollte besser kündigen«, sagte Geneva.

Erschrocken blickte Graham auf. »Oh Gott, nein«, rief er. »Tu das nicht.«

Selena lachte laut auf. Nein, das war keine Liebe. Er fürchtete nicht, die schöne junge Geneva zu verlieren. Er hatte panische Angst, die Verantwortung für Stephen und Oliver würde an ihm hängen bleiben, solange er »auf Stellensuche« war.

»Selena verlässt sich auf dich«, erklärte er. »Sie schätzt dich wirklich sehr.«

Geneva stieß ein kleines Lachen aus, und Selena ertappte sich dabei, dass sie ebenfalls lächelte. Wie konnte sie die Frau immer noch mögen, nachdem sie gerade zugesehen hatte, wie sie es mit ihrem Mann trieb? Offenbar hatte sie sich selbst nicht mehr in der Gewalt. Aber das passierte, wenn man eine berufstätige Mutter war; man verlor den Verstand.

»Ich bezweifle sehr, dass sie das hier schätzen würde«, sagte Geneva.

»Nein.« Graham, blass vor Scham, rieb sich über das Gesicht. Als er aufblickte, sah Selena mit einem seltsamen Aufwallen von Erleichterung für einen Moment ihn, ihren Mann, ihren besten Freund, den Vater ihrer Kinder. Er war noch da. Er war keine Fiktion, die sie erschaffen hatte.

»Hör zu«, sagte Geneva. Sie schlang die Arme um sich und machte Anstalten, zur Tür zu gehen. »Es ist nicht gut, dass du so oft hier bist. Du musst eine neue Stelle finden.«

»Ja.« Sein Haar war zerzaust, und er sah aus, als hätte er sich seit Tagen nicht rasiert.

Was sah Geneva nur in ihm? Er und Selena hatten zumindest eine gemeinsame Geschichte. Ihre Romanze war wunderbar gewesen, sie hatten abenteuerliche Reisen zusammen unternommen und hatten ein schönes gemeinsames Zuhause. Vor dieser Sache waren seine Seitensprünge bedeutungslos gewesen. Jedenfalls hatte sie sich eingeredet, dass es nicht direkt Affären waren. Bis vor Kurzem war er ein guter Ehemann gewesen, er hatte gut für die Familie gesorgt. Er war ihr bester Freund, der Mensch, dem sie immer zuerst alles erzählen wollte. Er war witzig. Charmant. Intelligent. Selbst jetzt, in dieser hässlichen Situation, wünschte sie, sie könnte mit ihm über ihren grässlichen Mann reden, der die Nanny vögelte. Er würde sicher wissen, was zu tun war.

»Es ist nicht gut, wenn Männer zu Hause sind«, fuhr Geneva fort. »Ich habe das in den letzten Jahren häufig erlebt. Es ist einfach … normalerweise keine gute Sache.«

»Ja«, sagte er wieder, und jetzt klang es noch deprimierter. Die arme Geneva. Sie hatte sicher nicht geahnt, dass sie auch Grahams Kindermädchen würde spielen müssen.

Selena klappte ihren Laptop zu, heftiger, als sie beabsichtigt hatte, schob ihn in seine Hülle und steckte ihn in ihre Tasche. Sie zog ihre dunkle Wolljacke über. In ihrem Magen rumorte es.

Sie war zornig, fühlte sich verletzt und verraten – das wusste sie. Doch diese Gefühle waren unterschwellig, wie heiße Lava, und brodelten irgendwo tief in ihr, bauten langsam Druck auf. So war sie immer gewesen – außen ganz ruhig, während es in der Tiefe rumorte. Sie kämpfte alles nieder, schob es weg – bis es nicht mehr ging. Und dann war der Gefühlsausbruch gewaltig.

Als sie auf die Straße trat, hatte sich wieder dieser Schatten über sie gesenkt, diese graue Taubheit. Die Innenstadt war brechend voll. Sie schob sich durch die belebten Straßen zur U-Bahn, dann durch den vollen Bahnhof zum Bahnsteig, wo sie gerade noch ihren Zug erwischte.

Sie ging suchend durch die Waggons, während der Zug sich zischend zur Abfahrt bereit machte.

Da. Ein freier Platz neben einer jungen Frau, die ihr für einen kurzen Moment irgendwie bekannt vorkam. Sie hatte glatte schwarze Haare, mokkabraune Augen, und um die roten Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Schick, stylish – selbst aus der Entfernung fand Selena sie sofort sympathisch. Als die junge Frau Selena auf sich zusteuern sah, nahm sie ihre Tasche von einem freien Sitz, um ihr Platz zu machen. Und Selena ließ sich mit einem vermutlich verräterischen Seufzer auf den Platz neben ihr sinken. Sie umklammerte ihr Promi-Magazin People und wollte nur eins: sich in den nächsten vierzig Minuten in diesen Hochglanzseiten verlieren, sich von ihren Problemen ablenken lassen.

»Harter Tag?«, fragte die Unbekannte. Ihre Miene – ein leichtes Lächeln auf den vollen Lippen, ein Glitzern in den dunklen Augen – besagte, dass sie das alles kannte. Es selbst erlebt hatte. Jeden Insider-Witz verstand.

Selena stieß ein kleines Lachen aus. »Sie haben ja keine Ahnung.«

2

Anne

Es war von Anfang an ein Fehler gewesen, und Anne wusste das. Man schläft nicht mit seinem Chef. Das gehörte wirklich zu den Dingen, die Mütter ihren Töchtern beibringen sollten. Kau das Essen immer gründlich. Schau nach rechts und links, bevor du die Straße überquerst. Vögle nicht mit deinem direkten Vorgesetzten, egal, wie sexy, reich oder charmant er sein mag. Nicht, dass Annes Mutter ihr je irgendwas Nützliches beigebracht hätte.

Wie dem auch sei, hier war sie. Schon wieder. Wurde von hinten genommen, über die Couch gebeugt, im Eckbüro ihres Chefs mit dem Blick über die ganze City. Die Welt war ein Feld aus Lichtern, die weit unter ihnen ausgebreitet waren. Sie versuchte, es zu genießen. Aber wie so oft hatte sie das Gefühl, über sich zu schweben. Alle richtigen Geräusche machte sie trotzdem. Sie wusste, wie man es vortäuscht.

»O mein Gott, Anne. Du bist so sexy.«

Er presste sich tief sie hinein, stöhnend.

Als er sie zum ersten Mal angebaggert hatte, hatte sie angenommen, dass er Spaß machte – oder nicht klar dachte. Sie waren zusammen nach DC geflogen, um einen wichtigen Kunden, der in Erwägung zog, sich eine andere Investmentfirma zu suchen, zum Essen auszuführen. Im Taxi, auf der Rückfahrt ins Hotel, hatte Hugh die Hand auf ihren Oberschenkel gelegt – während er mit seiner Frau telefonierte. Er sah sie dabei nicht einmal an, also fragte sie sich kurz, ob er nur geistesabwesend war. So war er manchmal, ein bisschen blöd. Übertrieben herzlich, allzu vertraulich. Vergesslich.

Seine Hand wanderte ihren Oberschenkel hinauf. Anne saß sehr still da. Wie ein Beutetier. Hugh beendete das Telefongespräch, und sie dachte, dass er gleich hastig die Hand zurückziehen würde.

Oh! Tut mir so leid, Anne. Sie erwartete, ihn das sagen zu hören, entsetzt über das eigene distanzlose Verhalten.

Aber nein. Seine Hand wanderte noch höher.

»Habe ich die Signale falsch gedeutet?«, fragte er leise.

Stopp. Die meisten Leute würden jetzt denken: Die arme Anne! Aus Angst um ihren Job schläft sie mit ihrem Chef, der sie sexuell belästigt.

Was Anne dachte, war: Wie kann ich das zu meinem Vorteil nutzen? Sie hatte wirklich nur versucht, ihre Arbeit gut zu machen. Aber wie es schien, hatte Paps recht gehabt, wie so oft. Wenn du nicht nach jemandem ein Netz auswirfst, wirft es jemand nach dir aus.

Hatte sie unbewusst Signale ausgesandt? Möglich. Ja. Vielleicht hatte Paps auch in diesem Punkt recht. Man kann nicht aus seiner Haut, selbst wenn man es versucht.

Sie befummelten sich im Taxi wie Teenager nach einem Schulball, benahmen sich aber gesittet, als sie im Ritz durch die Lobby gingen. An der Tür ihres Hotelzimmers presste er sich gegen sie. Sie war froh, dass sie verführerische Dessous trug und sich die Beine rasiert hatte.

In dieser Nacht hatte sie Hugh – grau meliertes Haar, durchtrainiert, flacher Bauch – den Ritt seines Lebens verschafft. Und viele Nächte danach ebenfalls. Er mochte es, wenn sie oben war. Er war ein rücksichtsvoller Liebhaber, fragte ständig: Gefällt dir das? Alles in Ordnung? Machte intime Geständnisse: Kate und ich – wir sind schon sehr lange verheiratet. Wir haben beide … Gelüste. Als ob sie sich für seine Ehe interessieren würde.

Anne glaubte nicht wirklich an Dinge, die andere Leute so hoch zu bewerten schienen. Treue – echt? Sollte man etwa sein ganzes Leben lang nur einen einzigen Menschen begehren? Die Ehe. Gab es sonst noch etwas, das mit so großer Wahrscheinlichkeit falschlief, enttäuschte, scheiterte? Ach was! Die Menschen waren Tiere. Brünstige, wilde Tiere. Männer wie Frauen. Die Gesellschaft wurde durch absolut willkürliche Gesetze und Moralvorstellungen zusammengehalten, die sich ständig wandelten, egal, wie sehr die Leute sich daran klammerten. Dabei schafften sie es gerade mal so eben, sich unter Kontrolle zu halten.

Anne erwartete nicht, dass Hugh sich in sie verliebte, sie ermutigte ihn auch nicht dazu. Tatsächlich sprach sie sehr wenig. Sie hörte zu, gab die richtigen Antworten, Bestätigungen. Falls ihm auffiel, dass sie ihm praktisch nichts von sich erzählt hatte, sprach er es nicht an. Aber verlieben tat er sich. Und die Sache wurde kompliziert.

Hugh war fertig, schlang den Arm um ihre Taille und weinte ein wenig. Das Gewicht seines Körpers erdrückte sie. Er wurde oft emotional, nachdem sie sich geliebt hatten. Meistens hatte sie nichts gegen ihn. Aber dieses Geflenne war furchtbar abturnend. Sie drückte sich gegen ihn, und er ließ zu, dass sie sich aufrichtete. Sie zog ihren Rock herunter, und er nahm sie in die Arme.

Sie hielt ihn eine Weile fest, wischte ihm die Tränen ab, küsste sie weg. Weil sie wusste, dass es das war, was er wollte. Es war ihre spezielle Gabe zu wissen, was Menschen wollten, was sie im tiefsten Herzen begehrten, und es ihnen zu geben. Für eine Weile. Deshalb hatte Hugh sich auch in sie verliebt, so wie jeder sich aus diesem Grund verliebte. Er liebte es zu bekommen, was er sich wünschte, auch wenn er vielleicht selbst nicht wusste, was genau das war.

Als er sie endlich losließ, starrte sie auf ihr geisterhaftes Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe und wischte sich den verschmierten Lippenstift ab.

»Ich werde sie verlassen«, sagte Hugh und warf sich auf eins der Sofas. Er war groß und elegant, stets perfekt angezogen. Seine Anzüge waren maßgeschneidert, nur die besten Stoffe kamen zum Einsatz. Jetzt war seine Seidenkrawatte lose, das Baumwollhemd zerknittert, nur die Hose seines schwarzen Wollanzugs wirkte immer noch wie frisch gebügelt. Mit seinem durchtrainierten Körper konnte er alles tragen, sogar sein weißer Tennisdress saß perfekt.

Sie lächelte und setzte sich neben ihn. Er gab ihr einen Kuss, salzig und liebevoll.

»Es wird Zeit. Ich kann das nicht mehr«, sagte er.

Es war nicht das erste Mal, dass er davon anfing. Das letzte Mal, als sie versucht hatte, ihn davon abzubringen und gehen wollte, hatte er sie an den Handgelenken gepackt, zu fest. In seinen Augen hatte ein Ausdruck von Verzweiflung gelegen. Sie wollte nicht, dass er heute Abend klammerte. Emotional wurde.

»Gut«, sagte sie und fuhr mit den Fingern durch sein Haar. »Ja.«

Denn das war es, was er hören wollte, er brauchte diese Bestätigung. Wenn man Leuten nicht das gab, was sie wollten, wurden sie böse. Oder zogen sich zurück. Und dann wurde das Spiel schwieriger oder war ganz verloren.

»Wir gehen fort«, sagte er und zeichnete mit dem Finger die Linie ihres Kiefers nach. Denn natürlich würden sie beide ihre Jobs verlieren. Die Investmentfirma gehörte seiner Frau Kate, die sie auch leitete. Sie hatte sie von ihrem legendären Vater geerbt, ihre Brüder saßen im Vorstand, und die hatten Hugh nie gemocht (das war eine seiner Lieblingstiraden beim Bettgeflüster: dass Kates Brüder ihn nicht respektierten). »Wir machen eine lange Auslandsreise und überlegen dann, wie es weitergehen soll. Ein Neuanfang für uns beide. Würde dir das gefallen?«

»Natürlich«, sagte sie. »Das wäre wunderbar.«

Anne mochte ihren Job. Als sie sich hier beworben hatte, hatte sie aufrichtig vorgehabt, für die Firma zu arbeiten. Sie war ein Zahlenmensch, und Investment war eine Art Verbindung von Logik und Magie. Die Kundenberatung hatte durchaus Ähnlichkeit mit Trickbetrug – man überredete Leute, sich von ihrem Geld zu trennen, indem man ihnen versprach, es zu vermehren. Zudem respektierte und mochte sie ihre Chefin: Kate, die Frau ihres Liebhabers. Eine starke, intelligente Frau.

Vielleicht hätte sie sich das alles überlegen sollen, bevor sie Hughs Avancen nachgab. Er war hier nicht der Entscheider; sie hatte sich verrechnet oder überhaupt keine Berechnungen angestellt. Manchmal unterliefen ihr solche Fehler, und sie ließ zu, dass sie sich in ihrem eigenen Netz verstrickte. Paps hielt es für eine Art Selbstsabotage. Manchmal denke ich, dass du nicht mit dem Herzen dabei bist, Süße. Vielleicht stimmte das.

»Oje«, sagte Hugh, zog sich von ihr zurück und blickte auf die Uhr. »Ich bin spät dran. Ich muss mich umziehen, gleich treffe ich mich mit Kate bei diesem Fundraising-Event.«

Anne stand auf, holte seinen Smoking aus dem Schrank und legte ihn auf dem Sofa aus. Noch so ein wunderbares Kleidungsstück, schwerer, seidiger Stoff. Sie strich liebevoll mit dem Finger über das Revers. Er stand auf, und sie half ihm beim Anziehen, hängte seine Tageskleidung in den Schrank. Sie band ihm seine Krawatte. Im Herzen war er ein kleiner Junge. Er wollte, dass man sich um ihn kümmerte, ihn umsorgte. Vielleicht war das etwas, das jeder gern wollte.

»Du siehst großartig aus«, sagte sie und küsste ihn. »Viel Spaß heute Abend.«

Er schaute sie lange an, und wieder füllten sich seine Augen mit Tränen.

»Bald«, versprach er. »Bald hat diese Scharade ein Ende.«

Sie legte ihm sanft die Hand an die Wange, lächelte so süß sie nur konnte und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Anne.« Er griff nach ihrer Hand. »Ich liebe dich.«

Sie sagte ihm nie, dass sie ihn liebte. Sie sagte so etwas wie ich dich auch oder schickte ihm das herzäugige Emoji als Antwort auf eine Nachricht. Manchmal warf sie ihm auch nur eine Kusshand zu. Es schien ihm nicht aufzufallen, oder er war zu stolz, sie zu fragen, warum sie es nie aussprach oder ob sie ihn liebte. Hauptsächlich lag es ihrer Ansicht nach allerdings daran, dass Hugh nur das sah und hörte, was er sehen und hören wollte.

Sie entzog ihm behutsam ihre Finger und warf ihm eine Kusshand zu. »Gute Nacht, Hugh.«

Sein Handy klingelte und er sah sie an, während er ranging.

»Bin auf dem Weg, Schatz«, sagte er dann mit abgewandtem Blick und entfernte sich von ihr. »Ich hatte noch ein Kundengespräch.«

Als sie ging, folgte ihr seine Stimme auf dem Weg durch den Flur.

In ihrem Büro sammelte sie ihre Sachen zusammen und hatte ein seltsam flaues Gefühl im Magen. Ihr Glück hier war aufgebraucht. Sie hätte nicht sagen können, warum sie das dachte. Es war nur so eine Ahnung, dass die Lage unhaltbar war. Es würde nicht so leicht sein, Kate zu verlassen, wie Hugh annahm, und im Grunde wollte er das vielleicht auch gar nicht. Und sobald es zur Krise kam, war sie ihren Job los. Natürlich würde es kein Totalverlust sein. Dafür würde sie schon sorgen.

Ein Gefühl von Einsamkeit überkam sie, von Leere. Sie wünschte, sie könnte Paps anrufen, damit er ihr gut zureden konnte. Stattdessen piepste ihr Handy. Die Nachricht, die sie lesen musste, ärgerte sie.

Es ist falsch, stand da. Ich will das nicht mehr.

Halt durch, schrieb sie zurück. Es ist zu spät, jetzt noch einen Rückzieher zu machen.

Komisch, wie es manchmal so lief. Im kritischen Moment musste sie den Rat erteilen, den sie selbst gebraucht hätte. Die Schülerin wurde zur Lehrerin. Paps wird sicher erfreut sein, dachte sie.

Anne warf einen Blick auf das Display. Die kleinen Punkte pulsierten und verschwanden dann. Das Mädchen, jünger als sie, unerfahrener, würde tun, was ihr gesagt wurde. Das hatte sie noch immer getan. Bisher.

Wieder etwas munterer geworden, blickte sie auf die Uhr. Wenn sie sich beeilte, würde sie es gerade noch schaffen.

3

Selena

Als Selena sich auf ihrem Sitz einrichtete, blieb der Zug unvermittelt stehen und stieß ein resigniertes Ächzen aus. Das Licht ging aus, dann wieder an. Sie wartete.

Bitte nicht, dachte sie.

Wenn der Zug jetzt den Bahnhof verließ, konnte sie es noch nach Hause schaffen, bevor die Jungs eingeschlafen waren. Sie warf einen Blick auf ihre Sitznachbarin, die aus dem Fenster starrte. Man sah nur ihr glänzendes schwarzes Haar, das wie ein Vorhang über ihr elegantes Profil fiel. Wieder hatte sie das Gefühl, sie irgendwo schon mal gesehen zu haben.

Sie schrieb Graham, dem untreuen Arsch, eine Nachricht:

Zug hat Verspätung!

So was Blödes, schrieb er zurück. Die Nanny ist gegangen. Ich bring die Jungs ins Bett. Sie warten auf dich. Ich liebe dich!

Klasse, wie er es vermied, Geneva beim Namen zu nennen. Hatte sie nicht mal irgendwas darüber gelesen? Auf Distanz gehen. Wie um zu betonen: Ich hatte nie irgendeine sexuelle Beziehung zu dieser Frau.

Seine Worte klangen reumütig, oder nicht? Es lag am Ausrufezeichen, das er selten verwendete. Alle Lektoren hassten das Ausrufezeichen, es war eine Mogelpackung. Der Dialog sollte für sich sprechen. Doch bei Kurznachrichten vermittelte es Wärme, Begeisterung, Lebhaftigkeit – irgendwas. Wenn er zu diesem Mittel griff, musste er sich vorkommen wie ein Ungeheuer. Er war ein Ungeheuer.

Ich liebe dich auch, schrieb sie widerstrebend zurück. Ohne Ausrufezeichen.

Aber doch, sie liebte ihn. Schon immer, in all den Jahren, die sie jetzt zusammen waren. Er brachte sie zum Lachen. Niemand verstand sich besser auf eine Schultermassage als er. Er war stark; er regelte alles, hackte Holz, übernahm die Gartenarbeit. In vielerlei Hinsicht war er ein guter Ehemann gewesen. Und sie liebte ihn. Seltsam. Denn sie hasste ihn mit gleicher Inbrunst. Dieses Grollen in ihr. Die Lava aus Traurigkeit, Wut und Liebe, die in ihr brodelte. Dörfer würden niederbrennen, wenn der Vulkan endlich ausbrach.

Sie schaute aus dem Fenster.

Schwärze.

Alles, was sie sehen konnte, war das schwache Spiegelbild ihrer Sitznachbarin in der Scheibe. Mittlerweile waren nur noch wenige Leute im Waggon. Viele waren aufgestanden und gegangen, vermutlich, um eine andere Reisemöglichkeit zu finden. Selena hätte sich woanders hinsetzen können, damit sie beide mehr Platz hatten. Aber wäre das nicht unhöflich gewesen?

Dieses Gesicht.

Was war es nur?

Die Frau hatte hohe, ausgeprägte Wangenknochen, ihre dunklen Augen waren ein Abgrund. Um den sinnlichen Mund spielte ein reizendes, schiefes Lächeln. Selena wollte gerade ein höfliches Gespräch anfangen, als ihre Sitznachbarin zu sprechen begann. Sie flüsterte etwas, das Selena erst nicht richtig verstand. Später würde sie im Rückblick auf diese erste Begegnung versuchen, Gründe für das zu finden, was dann geschah.

Vielleicht war es nur einer dieser seltsamen Fälle von sofortiger tiefer Sympathie, die so überraschend kommen wie das Verlieben. Oder lag es an der Zugverspätung, der schwachen Beleuchtung im Abteil, dem Gefühl von Ohnmacht, weil man nichts tun konnte außer zu warten?

Manchmal passierte so etwas, dass Frauen sich auf Anhieb verstanden. Selena hatte das schon einige Male erlebt. Man sieht einander an – und weiß Bescheid. Über die Reise vom Mädchen- zum Frausein, über die Hoffnungen und Träume, die alle teilen und die das Leben selten erfüllt. Und selbst wenn es das tut, ist es nie ganz so, wie man erwartet hat. Es gibt keinen Glaspantoffel, keinen Märchenprinzen. Diese Prinzessinnen-Hochfrisur tut nach einer Weile weh, das Haar ist zu straff, die Haarnadeln zu spitz. Die Enttäuschungen, die das Leben unweigerlich bereithält, die nüchterne Wirklichkeit. Und ja, auch das Gute – wahre Liebe, echte Freundschaft, die Geburt von Kindern. Man sieht sich in die Augen und weiß um den Weg der anderen, ihre Reise, die Höhen und Tiefen, die Ironie des Schicksals.

Ihre Sitznachbarin sagte wieder etwas.

»Haben Sie je etwas getan, das Sie zutiefst bereut haben?«

Es war kaum mehr als ein Flüstern. Vielleicht redete sie ja nur mit sich selbst – Selena tat das ständig. Sie führte ganze Unterhaltungen unter der Dusche.

Mit wem redest du? Das hatte Oliver, ihr Ältester, der Neugierige, neulich wissen wollen.

Mit mir selbst, hatte sie geantwortet.

Das ist schräg.

Zumindest konnte sie auf diese Weise sicher sein, dass jemand zuhörte, Anteil nahm. Oft erteilte sie sich selbst unter der Dusche ganz ausgezeichnete Ratschläge, als gäbe es da eine kleine Therapeutin in ihrem Kopf, die alle Antworten parat hatte.

»Ja«, entgegnete Selena. »Natürlich.«

Oh, da gab es viele Dinge, bis zurück in die Kindheit. Sie bereute, dass sie in der fünften Klasse Marty Jasper nicht zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen hatte. Marty war ein seltsames Mädchen, nicht immer nett, das von allen gemieden wurde. Sie waren nicht befreundet, aber Selena hätte sie trotzdem einladen sollen, aus Freundlichkeit. Sie bereute, dass sie ihre Jungfräulichkeit wegen einer Wette verloren und daraufhin ihre beste Freundin eingebüßt hatte. Auf dem College hatte es ein paar One-Night-Stands gegeben, die riskant gewesen waren, fast gefährlich.

Das mit ihrem Ex-Freund Will tat ihr leid, sehr. Alle hatten gedacht, dass sie ihn einmal heiraten würde. Und sie hätte sich mehr bemühen sollen, als es mit dem Stillen nicht geklappt hatte, denn deshalb waren ihre Kinder jetzt so heikle Esser. Vielleicht aber auch nicht. Wer wusste das schon? Es gab noch andere Dinge, die sie bedauerte. Sie könnte ein Buch mit all dem füllen, was sie bereute.

»Ich schlafe mit meinem Chef«, sagte die Frau.

»Oh«, sagte Selena, überrascht, aber irgendwie auch nicht. »Die Geschichte.«

Erst im letzten Jahr hatte ihre Freundin Leona mit ihrem Chef geschlafen – beide waren verheiratet. Ein ziemliches Chaos.

»Wenn ich mich von ihm trenne«, fuhr ihre Sitznachbarin fort, »könnte es hässlich werden, glaube ich. Er will meinetwegen seine Frau verlassen.«

»Oh«, sagte Selena und beugte sich erwartungsvoll vor, froh über die Ablenkung von ihrem eigenen Drama. Ein bisschen Sensationslust war auch dabei.

»Seiner Frau gehört die Firma. In der wir beide arbeiten.«

»Hmm«, machte Selena und nickte. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. So etwas kam vor, oder nicht? Dass man sich einfach etwas von der Seele reden musste. Es ist zu viel, unmöglich, es für sich zu behalten, aber aus hundert Gründen kann man es nicht den Menschen erzählen, die einem nahestehen. Deshalb schütteten die Leute ja beim Barmann oder beim Friseur ihr Herz aus.

Manchmal war jemand, den man nicht kannte, die sicherste Option.

Die Frau wandte den Kopf und schaute Selena im trüben Licht des liegen gebliebenen Waggons an. Sie schlug die Hand vor den Mund und riss die Augen auf.

»Es tut mir leid!«, sagte sie. »Warum habe ich Ihnen das bloß erzählt?«

»Offenbar«, sagte Selena, die sich mütterlich und abgeklärt vorkam, »mussten Sie einfach mal mit jemandem reden.«

Selena kannte das Gefühl. Sie hatte keiner Menschenseele das von Graham erzählt. Weder ihrer Mutter noch ihrer Schwester, auch Beth nicht. Es lag ihr wie ein Stein im Magen, schnürte ihr die Kehle zusammen. Was für eine Erleichterung es wäre, darüber reden zu können. Aber wie konnte sie es jemandem erzählen? Graham und Selena. Liebe auf den ersten Blick, ein Traumpaar, glücklich bis an ihr Lebensende. Alle beneideten sie. Und jetzt waren sie genau wie alle anderen: bedauernswert unvollkommen, die Ehe vielleicht endgültig am Ende.

Der Zug stand, und Selena spürte Verzweiflung auf sich lasten. Draußen herrschte Dunkelheit, und die Stille im Zug vertiefte sich.

»Ich bin Martha«, sagte ihre Sitznachbarin und streckte ihr die Hand entgegen.

»Selena.« Marthas Hand war kühl und zart, aber sie hatte einen festen Handschlag.

Martha wühlte in ihrer Tasche und holte zwei Kleinflaschen Wodka hervor. Eine reichte sie Selena, die sie mit einem Lächeln entgegennahm. Sie fühlte sich an Beth erinnert, ihre beste Freundin und Chefin, die Mini-Fläschchen von allem Möglichen hortete: Alkoholika, Shampoo, Feuchtigkeitscreme, Desinfektionsmittel, Mundwasser. Sie bediente sich in Hotels und verstaute die Beute im Koffer und in ihrer Handtasche. Wenn man irgendwas brauchte – Nadel und Faden, einen Kamm, Mundwasser, Bodylotion –, war die Chance groß, dass Beth es irgendwo in der Riesentasche hatte, die sie ständig mit sich herumschleppte.

Martha drehte den kleinen Schraubverschluss ab. Nach kurzem Zögern folgte Selena ihrem Beispiel.

»Um einen Scheißtag ein wenig zu versüßen«, sagte Martha. Sie stießen mit den Fläschchen an, und Selena hielt nach dem Zugbegleiter Ausschau. Man durfte im Zug nicht trinken, oder? Sie verspürte das leichte Prickeln, das sie immer empfand, wenn sie eine Regel brach. Den Reiz des Verbotenen.

»Prost«, sagte sie.

Sie ließ den warmen Wodka ihre Kehle hinabrinnen, Wärme stieg ihr in die Wangen. Noch einen Schluck, und sie spürte eine willkommene Leichtigkeit. Der Zug blieb still und dunkel. Einige der anderen Passagiere sprachen leise in ihre Handys. Der Mann ihnen gegenüber schlief, den Kopf auf seine zusammengefaltete Jacke gelegt.

Selena spürte das Handy in ihrer Tasche vibrieren und fischte es heraus. Ein Video-Anruf.

»Da muss ich rangehen«, sagte sie. Martha nickte und streckte die Hand aus, und Selena reichte ihr das Wodka-Fläschchen zum Festhalten.

Sie nahm den Anruf an und sah ihre Söhne, die darum rangelten, aufs Bild zu kommen. Sie stellte den Ton leiser, stand auf und trat in den Gang zwischen den Zugtoiletten.

»Mama«, sagte Oliver. »Wo bist du?«

»Ich sitze im Zug fest, mein Großer«, antwortete sie mit gesenkter Stimme. »Tut mir leid. Habt ihr schon eine Geschichte vorgelesen bekommen?«

»Papa hat uns Der Junge, der zu viel Spielzeug hatte vorgelesen«, sagte er.

»Schon wieder«, warf Stephen ein.

Graham war nicht der bevorzugte Elternteil für die Vorlesezeit. Er las nicht mit der erforderlichen Begeisterung, und er las immer nur ein Buch, von ihm ausgesucht, ohne Diskussion. Selena dagegen verbrachte eine Stunde im Kinderzimmer und ließ jeden der Jungs ein Buch aussuchen. Nach dem Vorlesen blieb sie oft noch eine Weile auf dem Fußboden liegen, bis die Kinder eingeschlafen waren. Manchmal schlief sie selbst ein, und Graham musste sie holen.

»Ich schaue noch zu euch rein und gebe euch beiden einen Gutenachtkuss, sobald ich zu Hause bin«, versprach sie. »Ich hoffe, es dauert jetzt nicht mehr lange.«

Wieder hielt sie Ausschau nach dem Zugbegleiter oder sonst jemandem, den sie fragen könnte. Aber es war niemand da. Warum zum Teufel diese Verspätung?

Stephen, blond, zwei fehlende Vorderzähne, begann von einem Klassenkameraden zu erzählen, der sich selbst den Pony geschnitten hatte und dann nach Hause gehen musste, weil er so heftig weinte. Oliver hatte sein Snack nicht geschmeckt, und morgen wollte er gern Rosinen mitnehmen. Schließlich griff Graham ein.

»Okay, Jungs«, sagte er. »Zeit, ins Bett zu gehen.«

Er nahm das Telefon, die Jungs protestierten und riefen dann einstimmig: »Hab dich lieb, Mama!«

»Hab euch auch lieb, Jungs!«, sagte sie. »Ich bin bald zu Hause.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Graham. Jetzt war sein Gesicht auf dem Display zu sehen. Dunkle Augen, Bartstoppeln, schiefe Nase (gebrochen bei einem Football-Spiel, nie richtig zusammengewachsen), zerzaustes Haar. Dieses Lächeln, spitzbübisch, verwegen. »Liebst du mich auch?«

»Tue ich«, sagte sie, um einen leichten Ton bemüht. »Das weißt du.«

Sie versuchte, das Bild auszublenden, wie Geneva auf ihm saß, aber es kam ungebeten. Eigentlich lief es wie in einer hässlichen Dauerschleife pausenlos in ihrem Kopf ab, wie ein Fernseher im Hintergrund, ein Song, den sie durch die Wand hindurch hörte. Es drückte ihr das Herz zusammen. Er musste es ihr angesehen haben.

Graham runzelte die Stirn. »Was ist los?«, fragte er.

»Ich sollte Schluss machen«, sagte sie.

»Okay«, entgegnete er, rieb sich die Augen und sah sie dann wieder an. »Halt mich auf dem Laufenden.«

Er war ahnungslos, wusste nicht, was sie mitangesehen hatte. Und mehr noch, nichts an seinem Verhalten deutete darauf hin, dass irgendetwas nicht stimmte. Er war genau wie immer: Tonfall, Mimik, Körpersprache. Wenn sie es nicht selbst gesehen hätte … Was hieß das? Dass die Sache ihm nichts bedeutete? Hatte er sie bereits vergessen? Oder aber er war ein gewiefter Lügner und Betrüger und fähig, jedes Gefühl von Schuld oder Reue zu verdrängen. Für einen Moment erschien ihr der Mann auf dem Display wie ein Fremder.

»Graham.«

»Ja?«

»Wenn noch nasse Wäsche in der Maschine ist, legst du sie bitte in den Trockner?«

Er verdrehte die Augen, als hätte sie ihm eine Herkulesaufgabe auferlegt. »Ja, gut.«

Sie beendete den Anruf ohne ein weiteres Wort. Sein Gesicht auf dem Display erstarrte und verschwand dann im Nichts.

Sie kehrte zu ihrem Platz zurück und ließ sich schwer auf den Sitz fallen. Martha gab ihr die Mini-Flasche zurück. Sie nahm einen großen Schluck.

»Klingt so, als hätten Sie eine nette Familie«, sagte Martha und hob die Hand. »Ich wollte nicht lauschen.«

»Ja, ich kann mich glücklich schätzen«, erwiderte Selena.

Denn es wurde von einem erwartet, dass man das sagte, nicht wahr? Wir können von Glück sagen. Ich bin ja so dankbar.

Und es stimmte, meistens fand sie das tatsächlich. Bis sie die Nanny-Kamera umgestellt hatte.

Nach dem Vorfall in Vegas hatte ihre Mutter sie gewarnt – behutsam, sanft, wie es ihre Art war: Das wird nicht das letzte Mal bleiben, Schatz. Ein Mann, der einmal fremdgegangen ist, wird es wieder tun.

Aber Selena hatte nicht auf sie gehört. Graham war nicht wie ihr Vater, nicht im Mindesten, versicherte sie sich. Ihr Vater hatte eine Affäre nach der anderen gehabt, und ihre Mutter Cora war bei ihm geblieben, hatte es wegen der Kinder ertragen, wie sie sagte. Wegen Selena und ihrer Schwester Marisol.

Aber das waren ihre Eltern. Das war überhaupt nicht mit ihr und Graham zu vergleichen. Der erste Vorfall, das war keine Affäre gewesen, nicht direkt. Sie hatten eine Therapie gemacht. Es war einfach nicht dasselbe. Jedenfalls hatte sie sich das eingeredet.

»Also, was werden Sie tun?«, fragte Selena, erpicht auf eine Ablenkung von ihrem eigenen Leben. »Wegen Ihres Chefs.«

Martha zuckte die Achseln und drehte sich ein wenig zur Seite, damit sie einander besser ansehen konnten, anstatt auf die Rückseite des Vordersitzes zu starren. Ihre Augen – dichte, lange Wimpern, leicht geschminkt, fast mandelförmig – waren brennend, hypnotisch.

»Wünschen Sie sich nicht auch manchmal, Ihre Probleme würden einfach verschwinden?«, meinte sie mit einem Seufzer.

»Ja, wäre das nicht schön?« Selena stellte fest, dass ihr Wodkafläschchen fast leer war. Das war ja schnell gegangen. Sie fühlte sich lockerer, ihre Schultern waren weniger verspannt.

»Wenn er beispielsweise einfach das Interesse an mir verlieren würde, wissen Sie? Wenn er jemand anderen kennenlernen würde.«

Irgendetwas an diesen Worten erwischte Selena auf dem falschen Fuß, und sie spürte, wie die ganze unterdrückte Traurigkeit in ihr hochstieg. Und dann flossen die Tränen, unaufhaltsam. Die Nanny, ausgerechnet die Nanny! Was für ein Klischee!

»Oh nein«, sagte Martha und wirkte erschüttert. »Was habe ich gesagt?«

»Tut mir leid«, brachte Selena heraus, fischte ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und wischte sich die Augen ab.

»Erzählen Sie mir, was los ist«, sagte Martha. »Da wir gerade dabei sind, uns unsere Geheimnisse anzuvertrauen.«

Und Selena erzählte es ihr, ohne vorher darüber nachzudenken. Sie erzählte dieser wildfremden Frau im Zug, dass sie ihren Mann in Verdacht hatte, mit dem Kindermädchen zu schlafen. Während sie länger arbeitete, um die Familie zu ernähren. Sie ließ den Umstand aus, dass sie es mit eigenen Augen gesehen hatte, auf Video. Denn war es nicht zu eigenartig, dass sie dabei zugesehen hatte? Zwei Mal. Und immer noch nichts unternommen hatte.

»Tut mir leid«, sagte sie wieder, als sie fertig war. »Warum habe ich Ihnen das bloß erzählt?«

»Offensichtlich«, sagte Martha mit demselben freundlichen Lächeln wie zuvor Selena, »mussten Sie mal mit irgendjemandem darüber reden.«

Sie holte ein weiteres Fläschchen Grey Goose hervor. Blutrot lackierte Fingernägel, perfekt manikürt, feingliedrige weiße Hände, keine Ringe. Als Selena den kleinen Schraubverschluss abdrehte und einen Schluck nahm, merkte sie, dass ihre Sitznachbarin auf ihren Diamantring starrte, ihren Verlobungsring. (Frauen taten das oft. Es war ein Riesenklunker.) Es war befreiend gewesen, es endlich rauszulassen. Als hätte sie die Last für eine Weile abgelegt.

»Aber Sie wissen es nicht mit Sicherheit?«, fragte Martha.

Selena schüttelte den Kopf.

»Haben Sie irgendeinen Grund, an ihm zu zweifeln?«

»Nein«, sagte Selena. »Es ist nur so ein Gefühl.«

»Ich hoffe, Sie irren sich.« Martha hob ihre Kleinflasche, und sie stießen erneut an. »Und wenn nicht, dann hoffe ich, dass er bekommt, was er verdient.«

Den letzten Satz sprach sie mit einem spitzbübischen Lächeln aus, aber Selena spürte, wie ihr innerlich ein wenig kalt wurde. Was hatte Graham denn verdient? Was hatte irgendjemand verdient?

»Männer«, sagte Martha, als Selena nicht antwortete. »Sie haben so viele Fehler, nicht wahr? Sie haben die ganze Welt zugrunde gerichtet.«

Ihr Ton war düster geworden, ihr Blick distanziert. »Sie richten nur Schaden an.«

Selena überkam der bizarre Impuls, die Männer zu verteidigen, selbst Graham. Schließlich hatte sie zwei Söhne. Aber die Verteidigungsrede erstarb ihr auf den Lippen. Denn es stimmte, oder? Im gewissen Sinne waren Männer für einen Gutteil der Übel der Welt verantwortlich – für Kriege, Klimawandel, Genozide, Pädophilie, Vergewaltigungen, Morde, die meisten Verbrechen. Sie liefen seit Jahrtausenden Amok.

»Wünschten Sie sich nicht auch manchmal, Ihre Probleme würden von selbst verschwinden?«, fragte Martha erneut. »Ohne Ihr Zutun?«

Aber Probleme lösten sich nicht von allein. Und plötzlich wurde Selena bewusst, dass Martha »die andere« war. Sie schlief mit dem Mann einer anderen Frau, der Frau, der die Firma gehörte, bei der Martha arbeitete, und die vermutlich ihrem Mann und ihrer Angestellten ebenso vertraute, wie Selena es getan hatte. Eine Frau, die ihren Lebensunterhalt verdiente und ihre Familie ernährte, während ihr Mann es mit dem erstbesten hübschen Mädchen trieb, das ihm begegnete.

»Wie könnte denn eine Lösung für Ihr Problem aussehen?«, fragte sie und tupfte sich die Augen ab.

»Heute kam mir der Gedanke, dass es toll wäre, wenn er einfach … sterben würde«, antwortete Martha mit einem frechen Lächeln. »Durch einen Autounfall, einen Herzinfarkt, einen Raubüberfall auf der Straße. Dann könnte ich meine Stelle behalten, und niemand würde je etwas erfahren.« Sie lachte auf, ein süßes, mädchenhaftes Lachen, und nahm noch einen zierlichen Schluck Wodka. Natürlich machte sie nur Witze. Oder? Selena rückte ein wenig von ihr ab und presste ihre Handtasche fester gegen ihren Bauch.

»Und ich würde nie wieder so dumm sein«, fuhr ihre Sitznachbarin fort. »Ich hätte nie wieder so große Angst um meinen Job, dass ich nachgebe, wenn mein Chef mich sexuell bedrängt.«

Empfand Geneva es etwa so? Hatte Graham sie angebaggert, und sie hatte nachgegeben, weil sie Angst um ihren Job hatte? So schien es eindeutig nicht zu sein. Aber es war nicht so einfach, oder? Graham befand sich durchaus in einer Machtposition. Und Selena wusste, dass Geneva Probleme hatte, finanziell über die Runden zu kommen. Sie konnte es sich nicht leisten, arbeitslos zu sein, nicht mal für kurze Zeit.

Die Lichter flackerten, es gab einen Ruck und der Zug fuhr an. Hoffnung flammte in Selena auf. Aber dann geschah wieder nichts.

»Die Strecke war blockiert«, ertönte die Stimme des Zugbegleiters durch das Lautsprechersystem. Der Mann neben ihnen erwachte, fuhr hoch, blickte sich verwirrt um und checkte sein Handy. »Die Schienen wurden geräumt und sind jetzt wieder frei. Es wird gleich weitergehen. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten.«

Der Mann nahm seine Sachen und ging in einen anderen Waggon.

»Und wie ließe sich Ihr Problem lösen?«, fragte Martha mit eindringlichem Blick. Selena fühlte sich wie durchbohrt.

Sie versuchte ein schiefes Lächeln.

Alleinstehende Frauen begriffen es einfach nicht, die komplizierte Vielschichtigkeit der Ehe, des Lebens mit Kindern, mit all den Opfern, die jeden Tag gebracht werden mussten, dem Ringen um Kompromisse.

Es gibt keine Lösung für mein Problem, dachte Selena.

Sollte sie sich scheiden lassen, eine alleinerziehende Mutter werden, sodass Oliver und Stephen jedes zweite Wochenende und die Ferien bei ihrem Vater verbrachten? Oder an der Ehe festhalten? Geneva feuern, obwohl ihre Söhne sie liebten, versuchen, einen Kündigungsgrund zu finden, der ihnen einleuchtete, ohne Selena zu beschämen und Graham in den Augen seiner Kinder herabzusetzen. Dann ihren Job kündigen und vom Ersparten leben, bis er eine neue Stelle fand und wieder arbeiten ging. Ihn zur Rede stellen, Eheberatung, vielleicht einen neuen Weg finden, sich einander anzunähern. Es gab keine Lösung, die nicht ein ganzes Heer neuer Probleme mit sich brachte. Probleme, zu deren Lösung ihr, offen gestanden, schlicht die Energie fehlte.

»Vielleicht verschwindet sie ja einfach«, sagte Martha. »Und Sie können so tun, als wäre nichts gewesen.«

Es war ein Flüstern im Dunkeln, verführerisch wie eine Schlange.

Als Selena ihr in die Augen blickte, war es, als starre sie in den Weltraum, kalt, fern und leer. Ihr war ein wenig übel vom Wodka.

Ja, was wäre, wenn Geneva nicht mehr zur Arbeit käme? Einfach verschwand. Graham würde sich bei der Stellensuche garantiert viel mehr ins Zeug legen, wenn er für die Familienarbeit zuständig war. Ja, vielleicht könnte sie so tun, als wäre nie etwas gewesen. Es wäre so viel einfacher. Einen kurzen Augenblick schien es ihr möglich. Schließlich hatte ihre Mutter das jahrzehntelang getan, damit die Familie intakt blieb.

Aber nein. Das ging nicht. Sie konnte nicht einfach vergessen, was sie gesehen hatte, sie konnte nicht vergessen, was sie über ihren Mann wusste. Sie war nicht wie ihre Mutter. Sie konnte nicht einfach der Kinder wegen die Augen vor seiner Untreue verschließen. Oder doch?

Da erwachte der Zug wieder zum Leben, das Licht ging an, und es ging ruckartig vorwärts. Leicht angeekelt und mit hämmerndem Herzen sammelte Selena ihre Sachen zusammen.

»Ja«, sagte sie und brachte ein kleines Lachen zustande. »Aber so viel Glück werde ich wohl kaum haben.«

»Man kann nie wissen.« Martha wickelte sich eine Strähne ihres dunklen, seidigen Haars um den Finger. »Es passieren ständig schlimme Dinge.«

Selena wechselte auf den Sitz auf der anderen Gangseite.

»So kann ich mich besser ausbreiten«, erklärte sie, als Martha die Aktion mit einem höflichen Lächeln verfolgte. »Und Sie haben mehr Platz.«

Martha nickte und hob ihre Tasche auf, die sie auf den Boden gestellt hatte.

»Vielen Dank für den Wodka«, sagte Selena, als sie sich eingerichtet hatte. »Und fürs Zuhören.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Martha. »Ich fühle mich jetzt viel besser. Ich glaube, ich weiß, was ich tun werde.«

»Manchmal brauchen wir nur jemanden, der zuhört.«

»Und uns einen kleinen Schubs in die richtige Richtung gibt.«