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Ein berührender Liebesroman über vergessene Bücher, eine schüchterne Frau und einen Mann, der glaubte, nie wieder lieben zu können Die schüchterne Millie arbeitet als Assistentin in einem Verlag und rettet heimlich abgelehnte Manuskripte. Eins davon hat es ihr besonders angetan - eine traurige Liebesgeschichte, deren Worte sie in ihrem Innersten berühren. Sie beginnt, einzelne Zeilen daraus heimlich in Cafés und in Läden zu verteilen, um auch anderen Menschen Trost zu spenden. Als der Autor William Winter einen Zettel entdeckt, ist er entsetzt. Wurde sein Roman geklaut? Macht sich jemand über ihn lustig? William will unbedingt herausfinden, wer das getan hat. Doch als er Millie das erste Mal unwissentlich begegnet, geschieht etwas mit ihm: Sie bringt ihn dazu, über sein Geheimnis zu sprechen, und berührt ihn tief in seinem Herzen. Nur Millie macht die plötzliche Nähe Angst, sie glaubt nicht an das Glück und flüchtet …
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Dein Herz in tausend Worten.
Judith Pinnow, geboren 1973 in Tübingen, besuchte die Schauspielschule in Ulm und studierte am Lee Strasberg Theatre Institute in New York. Als Schauspielerin war sie in Fernsehserien und in Filmen zu sehen. Bekannt wurde sie als Fernsehmoderatorin. Mit ihrem Ehemann und Kollegen Stefan Pinnow und ihren drei Kindern lebt die Autorin in Schwerin.
VERGESSENE BÜCHER, EINE SCHÜCHTERNE FRAU UND EIN MANN, DER GLAUBTE, NIE WIEDER LIEBEN ZU KÖNNENDie schüchterne Millie arbeitet als Assistentin in einem Verlag und rettet heimlich abgelehnte Manuskripte. Eins davon hat es ihr besonders angetan – eine traurige Liebesgeschichte, deren Worte sie zutiefst berühren. Sie verteilt einzelne Zeilen daraus heimlich in Cafés, um auch anderen Menschen Trost zu spenden. Als der Autor William Winter einen Zettel entdeckt, ist er entsetzt. Wurde sein Roman geklaut? Macht sich jemand über ihn lustig? Als er Millie das erste Mal unwissentlich begegnet, geschieht etwas mit ihm: Sie bringt ihn dazu, über sein Geheimnis zu sprechen. Nur Millie macht die plötzliche Nähe Angst, sie glaubt nicht an das Glück und flüchtet …
Judith Pinnow
Eine Liebesgeschichte in Notting Hill
Liebesroman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2021© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: Sabine KwaukaTitelabbildung: © Sorbis / shutterstock (Paar); © woodhouse / shutterstock (Blumen),E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com,ISBN 978-3-8437-2482-1
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Der Raum des Vergessens
J. Abberwock
Hase in Not
Serendaccidentally
William
Die Pinnwand
Tun, was man tun muss
MRG
Corens Geheimnis
Millies Idee
Der Aufzug
999
Mrs Crane
Will sucht sie
Der Konferenzraum
Bruderliebe
Große Gesten
Popstar
Mehr und Meer
Moon over Bourbon Street
Rebecca und Coren
Die Eröffnung
Laden der vergessenen Geschichten
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Der Raum des Vergessens
Die U-Bahn rast in den Tunnel. Angstfrei stürzt sie sich in das enge schwarze Loch, ohne ihre Geschwindigkeit auch nur ein bisschen zu verringern. Gleichgültig hält sie an Bahnhöfen, spuckt einen Schwall Menschen aus, um gleich darauf andere aufzusaugen. Wenn ich von meinem Manuskript aufblicke und aus Versehen aus dem Fenster schaue, gucken mich große, erschrockene grüne Augen an. Ich weiß nicht, warum mein Spiegelbild in der Scheibe immer diesen Ausdruck hat. Niemand auf der Welt hat Angst vor seinen eigenen Augen, sage ich mir und lese weiter.
Ab und zu fällt mir auf, wie schlecht die Luft hier in den Waggons ist. Beinahe fünf Millionen Menschen nutzen jeden Tag die Londoner U-Bahn, und ich bin einer von ihnen. Ich wohne in einem Vorort von London. Um zur Arbeit zu kommen, nehme ich den Bus und steige in Epping in die Tube, wie die U-Bahn liebevoll von den Briten genannt wird. Es ist die erste Station, weshalb ich immer einen Sitzplatz bekomme. Ich quetsche mich in eine Ecke, um nur einen Sitznachbarn zu haben, und lese. Mein Manuskript verstecke ich in einer Wohnzeitschrift, die inzwischen schon einige Jahre alt ist. Bisher hat das keiner bemerkt. Die Menschen sind immer mit sich selbst beschäftigt.
Das mag ich sehr an London, man lässt sich in Ruhe. Man spricht den anderen nicht an. Jeder in der Tube ist in seiner ganz persönlichen Blase. Viele haben Kopfhörer in den Ohren. Sie lesen, schlafen oder starren in die Gegend. Synchron wackeln alle, wenn der Zug hält und wenn er wieder anfährt. Manchmal denke ich, es ist wie ein gemeinsamer Tanz.
Alles in allem brauche ich über anderthalb Stunden, um die Haltestelle Notting Hill Gate zu erreichen. Ich werde mit dem Menschenstrom an die Oberfläche gespült und betrete eine ganz andere Welt. Londoner Vororte sind grau. Notting Hill ist bunt. An manchen Tagen schreien einen die Farben geradezu an.
Obwohl ich seit vier Jahren hier in der Gegend arbeite, habe ich immer noch das Gefühl, durch eine Filmkulisse zu laufen. Plattenläden wechseln sich mit Vintage- und Einrichtungsläden ab. Alles hat genau die richtige Größe. Alles stimmt. Nie habe ich so perfekte Blautöne gesehen an den Ladenfronten und so unglaublich passende Blumen in den Kästen davor. Als ob sie genau wüssten, dass sie in Notting Hill stehen, leisten sie sich keinen schiefen Wuchs, keine vertrockneten Blätter.
Aber vielleicht kommt nachts auch einfach eine Armee an Gärtnern und tauscht die verblühten, schief gewachsenen gegen perfekte neue aus.
Wenn ich könnte, würde ich die alten retten, so wie ich die Geschichten rette.
Ich gehöre nicht hierhin, genau wie die schiefen Blumen. Trotzdem ist es schön, durch diese Welt zu gehen. George Orwell hat hier gelebt, Jimi Hendrix ist hier gestorben.
Meine Schritte sind beschwingter, wenn ich durch die Portobello Road laufe. Manchmal nehme ich einen Umweg über eine Seitenstraße, um an dem Gewürzladen vorbeizukommen. Wenn man sich nähert, riecht es zuerst nach Curry, und dann glaubt man plötzlich, alles auf einmal zu riechen. Den Chickensalat meiner Oma, die Paella, die ich mal in Spanien am Meer gegessen habe, obwohl ich sie nicht mochte, ein Essen bei einer Freundin zu Hause, als wir noch in die Vorschule gingen. Am Gewürzladen vorbeizugehen, ist eine Zeitreise.
Wenn sich die Nase erholt hat, kommt der verrückte Schuhladen. Ich habe mich noch nie getraut hineinzugehen, aber ich gucke mir immer die Schuhe im Schaufenster an. Jedes Mal stehen andere drin. Heute sind es rote hohe Plateauschuhe, daneben flache plüschige mit Fell und niedliche mit Spitze und Schleifen. Sofort habe ich Geschichten und Menschen dazu im Kopf und weiß genau, wer welche Schuhe tragen würde.
Manchmal stelle ich mir auch vor, wie es wäre, den Laden zu betreten und ein Paar anzuprobieren. Ein ganz verrücktes Paar, das mit dem Kunstrasen und den Plastikblumen dran vielleicht. Ich würde es kaufen und mir zu Hause an einen besonderen Platz stellen, um es jeden Tag anzuschauen.
Man braucht besondere Füße, um solche Schuhe zu tragen. Füße, wie sie die Heldinnen in den Manuskripten haben, die ich ständig lese.
Ich reiße mich los und eile weiter. Ich werde wieder zu spät kommen. Die Zeit ist etwas Abstraktes für mich. Ich kann nicht begreifen, wieso eine Stunde mal unendlich lang ist und dann wieder wie im Flug vorbezieht. Die Minuten kommen mir manchmal so schnell abhanden wie Wassertropfen, die an einer Scheibe heruntergleiten.
Ich jogge die Stufen hoch und stemme die schwere Tür auf, die weiß gestrichen ist, in schönem Kontrast zu dem pinkfarbenen Haus.
Ich liebe diese Farbe. Man kann eigentlich nicht länger traurig sein, wenn man das Verlagshaus sieht. Es strahlt einen an mit seinem Pink, und man muss unwillkürlich zurückstrahlen.
Ich habe mich bei Anderson & Jones beworben, weil der Verleger ein Faible für romantische Romane hat, so wie ich.
Heimlich hatte ich gehofft, jemand würde meine Liebe für Geschichten entdecken. Ich stellte mir vor, jemand würde sagen: »Millie hat das gewisse Etwas. Sie ist wie ein Trüffelschwein für gute Geschichten. Wir sollten sie unbedingt zur Lektorin machen. Wie gut, dass sie da ist und wir gerade eine neue Lektorin brauchen!«
Natürlich ist das nie passiert. Ich bin nichts weiter als eine Bürohilfe, ein Mädchen für alles. Ich koordiniere die Termine für den Verleger, Mr Anderson. Das alleine ist aber nicht wirklich viel Arbeit, da er seit Jahren mit denselben Leuten arbeitet. Also mach ich auch alles andere, was noch so anfällt. Ich kopiere, koche Kaffee, räume die Spülmaschine in der kleinen Küche ein und aus, gehe einkaufen und staube die Bücherregale ab, weil das die Putzfrau immer vergisst. Ich finde, Bücher haben es nicht verdient, staubig zu sein. Dann habe ich noch diesen einen besonderen Job, bei dem sich die Härchen an meinen Armen vor Aufregung aufstellen.
Offiziell heißt es, ich soll den Dachboden aufräumen. Auf den Dachboden kommen alle alten Papiere, die kein Mensch mehr braucht, die aber auch keiner aussortieren will, denn das würde ja Zeit kosten. Also bringt hier jeder im Verlag in unregelmäßigen Abständen sein überflüssiges Papier in kleinen grauen Kartons ohne Deckel nach oben auf den Dachboden.
Aus den Augen, aus dem Sinn. Sollte man dann doch mal etwas vermissen, ist es ja noch da, irgendwo in den Untiefen unterm Dach.
Irgendwann war der kleine Raum voll, und ich hatte eine neue Aufgabe.
Zuerst habe ich mich nicht darum gerissen, bis ich die Schätze entdeckt habe.
Mrs Crane wirft mir ihren tadelnden Blick über ihre Brille hinweg zu, als ich um zehn nach neun an ihrem Pult vorbeilaufe. Ich grüße sie leise. Sie nickt nur und wendet sich wieder ihrem Computerbildschirm zu.
Ich vermute, dass sie ihre Brille nur trägt, um über die Gläser zu linsen. In diesem Blick liegt so ein großer Vorwurf, den könnte man mit Worten überhaupt nicht ausdrücken.
Mrs Crane sitzt an der Rezeption des kleinen Verlags, in dem ich arbeite. Niemand weiß, was genau sie eigentlich macht, denn es kommt nur sehr selten jemand zu Besuch. Sie sitzt am Computer, hat alle Termine im Griff und wirkt immer sehr beschäftigt und streng. Eigentlich mache ich alle Termine für Mr Anderson und schicke Mrs Crane nur die Liste weiter. Trotzdem tut sie so, als sei sie unendlich unentbehrlich.
An Mrs Crane müssen nicht nur die Besucher, sondern auch alle, die hier arbeiten, vorbei. Vermutlich ist das ihre eigentliche Funktion. Sie gibt einem direkt beim Reinkommen das Gefühl, man sollte sich hier lieber keinen Fehler erlauben.
Alterslos sitzt sie da, die Haare hochgesteckt. Sie trägt immer dunkelroten Lippenstift, der nie verwischt. Ich habe sie allerdings auch noch nie etwas essen oder trinken sehen. Mrs Crane ist der Grund, warum ich jeden Abend Herzklopfen habe und den Impuls unterdrücken muss, meine große Umhängetasche fest an mich zu pressen, wenn ich an ihr vorbeigehe. Jedes Mal befürchte ich, sie könnte etwas merken und mit ihrem strengen Blick durch meine geschlossene Tasche mein Geheimnis sehen.
Hinter ihrem weißen Pult geht man ein paar Steinstufen hoch und kommt durch eine Tür auf die Lektoratsetage. Sie sind der Motor unseres Verlags. Sie entscheiden, ob ein Manuskript veröffentlicht wird oder nicht. Sie geben den Geschichten den entscheidenden Schliff. Sie haben den Blick von außen, sehen das, was die Autoren nicht mehr sehen können. Bevor ich hier anfing, stellte ich mir vor, dass jeder Lektor einen Zauberstab besitzt, mit dem er Seite für Seite auf das Geschriebene tippt und die Geschichte so besser und schöner macht.
Wenn ich durch die stets geöffneten Bürotüren schaue, sitzt jeder vor seinem Bildschirm und schüttet Unmengen Kaffee in sich hinein. Das Zaubern ist eine mühsame Arbeit, die lange dauert. Ich bewundere die drei. Sie sind das Bindeglied zu den Autoren.
Von den Autoren wird meist ohne Namen gesprochen. »Mein Autor will das und das, mein Autor meint, der Autor lässt fragen, ob«, heißt es. Sie sprechen über sie, als seien Autoren seltene, seltsame Tiere. Vermutlich sind sie das auch.
Menschen, die Geschichten schreiben, müssen doch anders sein.
So wie die, die sie lesen. Die Buchmenschen, die ich durch meinen Job kennengelernt habe, sind alle auf die ein oder andere Art sanftmütig. Manche verstecken es gut hinter ihrem robusten Auftreten.
Was ich so mitbekomme, ist es nicht immer leicht, die Autoren davon zu überzeugen, Zeilen zu ändern oder zu kürzen. Manchmal bekomme ich Teile eines Telefonats mit und höre, wie diplomatisch sie mit ihnen verhandeln müssen.
Ich könnte das nicht. Ich bin nicht besonders gut im Verhandeln oder überhaupt im Sprechen. Ich sage lieber nichts und beobachte.
Darin bin ich viel besser. Man könnte sagen, ich bin ein Beobachtungsprofi.
David mag zum Beispiel Kekse mit Kokosflocken obendrauf. Ich sorge dafür, dass er immer welche in der Kaffeeküche im Schrank findet.
Abbey trinkt nur Tee, also koche ich für sie zwei Kannen am Tag.
Rebecca ist die Lustigste und Lauteste von allen. Sie braucht deshalb sehr viel schwarzen Kaffee und Weingummis. Ich kaufe die ganz große Kilo-Tüte, die reicht so für eine Woche.
»Hallo, Millie«, schallt es nach und nach aus den Büros, als ich vorbeigehe. Meine Schritte lassen den Dielenboden unter mir knarzen. Niemand kann sich hier unauffällig durch den Flur bewegen, nicht einmal ich. Ich grüße zurück und gehe die geschwungene Treppe hoch in die nächste Etage. Die Treppe ist groß und einladend. Sie ist ganz und gar fehl am Platz in dem kleinen Verlagshaus. Sie würde eher in ein herrschaftliches Anwesen passen.
Oben ist deshalb auch nur noch Platz für zwei Räume: Mr Andersons Büro und die Kaffeeküche. Mr Andersons Büro ist dreimal so groß wie die kleinen Kammern, in denen die Lektoren sitzen. Die Kaffeeküche ist ein schmaler Raum ohne jeden Charme.
Rebecca, David und Abbey scheint das aber nicht zu stören, sie reihen sich gerne mit einer Tasse in der Hand hier auf und quatschen. Wenn ich danach die Küche betrete, wirkt sie ganz anders. Der fröhliche Austausch meiner Kollegen hängt noch in der Luft. Für ein paar Minuten bleibt die Atmosphäre positiv aufgeladen, bis sie wieder nur eine uncharmante schmale, lange Kaffeeküche ist.
Noch bevor ich meine Jacke und meine Tasche in dem hohen Schrank neben der Arbeitsfläche verstaue, räume ich die Spülmaschine aus, die ich gestern Abend angestellt hatte.
Ich habe kein eigenes Büro. Wenn Mr Anderson nicht da ist, könnte ich mich an seinen Schreibtisch setzen. Er selbst hat mir das vorgeschlagen, aber ich kann das nicht tun. Ich finde, das ist ein Eingriff in seine Privatsphäre. Seine Energie wabert um den Computer herum, und sein Chaos sieht so laut aus.
Mr Anderson ist das komplette Gegenteil von Mrs Crane. Er ist unorganisiert, unrasiert. Seine Haare stehen in alle Richtungen. Seine Klamotten passen nicht zusammen. Er sieht jeden Morgen aus, als hätte er sich ein paar Sachen, die auf dem Boden lagen, zusammengesucht. Dafür ist er herzlich und leidenschaftlich. Er liebt die Bücher, die er verlegt, von ganzem Herzen, und mehr kann man von einem Verleger nicht erwarten, finde ich.
Außerdem akzeptiert er stillschweigend, dass ich Termine nur per Mail mit den Agenten ausmache und Autoren nur im Notfall kontaktiere, wenn wirklich kein anderer kann.
Ich telefoniere nicht gerne. Meine Stimme funktioniert dann nicht.
Und Autoren sind sowieso eine andere Liga. Ich habe anfangs einmal versucht, einem Autor in einer Mail mitzuteilen, dass Herr Anderson ihn gerne treffen würde. Ich habe diese Mail zwanzigmal umgeschrieben. Ich konnte sie nicht abschicken. Wie soll ich denn an jemanden schreiben, der schreibt?
»Ich kann das nicht«, hatte ich Herrn Anderson kleinlaut mitgeteilt.
Er hat einfach nur genickt und die Mail selbst geschrieben.
Herr Anderson hat den Verlag von seinem Vater geerbt. Sein Großvater hat ihn mit seinem Partner Jones gegründet. Das Verlagshaus gehört Mr Anderson. Es ist inzwischen viele Millionen wert, und wir wimmeln regelmäßig Immobilienhaie ab, die es kaufen wollen. Es wäre sicher eine vernünftige Entscheidung, das pinkfarbene Haus in dieser prominenten Gegend zu verkaufen. Anderson & Jones macht seit einiger Zeit nur Verluste und könnte das Geld sehr gut gebrauchen.
Für Mr Anderson kommt ein Verkauf überhaupt nicht infrage. »Wir verkaufen doch nicht unser Herzstück!«, sagt er empört, wenn es ihm jemand vorschlägt.
Er hat recht. Hier in Notting Hill in dem schönen alten Haus zu arbeiten, erhebt uns alle. Mrs Crane vielleicht nicht, aber wer weiß das schon.
Mr Anderson ist heute Morgen noch nicht da, was nicht ungewöhnlich für ihn ist. Ich koche Kaffee und Tee und setze mich dann mit meinem Arbeits-Laptop auf die Treppe, die zum Dachboden führt.
Inzwischen haben sich alle daran gewöhnt, dass ich auf der Treppe arbeite. Es sieht vielleicht etwas seltsam aus, und ab und zu stelle ich mir vor, ich wäre Aschenputtel in einem Verlagshaus, aber tatsächlich fühle ich mich auf der Treppe sehr wohl. Sie ist der Zugang zu all den wunderbaren Dingen, die auf dem Dachboden, im Raum des Vergessens, wie ich ihn nenne, auf mich warten.
Als Mr Anderson schließlich kommt, bin ich mit den Mails für heute fertig. Ich habe unter anderem eine an den Literaturagenten Smith geschrieben. Ich weiß, dass Mr Smith ein dröhnendes Lachen hat. Man hört es sogar durch das Telefon, wenn Mr Anderson mit ihm spricht. Sein Lachen passt überhaupt nicht zu seinem Aussehen. Ich hatte ihn mir dick und mit Bart vorgestellt und war ganz erstaunt, als ein langer, dünner Mann ohne Bart und Haare sich als Mr Smith vorgestellte.
Mr Anderson hatte ihn schnell zu sich hineingewinkt. Ich nehme an, dass er die große Unordnung in seinem Büro überhaupt nicht wahrnimmt. Er kauft gerne auf dem Markt und in den Läden hier in Notting Hill irgendwelche zweifelhaften Antiquitäten ein, die er dann zwischen Bücherstapeln und alten Zeitschriften aufstellt. Sein Büro sieht aus wie ein sehr unaufgeräumtes Museum. Die Putzfrau hat es aufgegeben, die Dinge bei ihm abzustauben.
Mr Anderson ist jeden Morgen aufs Neue erstaunt, mich zu sehen, jedenfalls wirkt er immer so.
»Ach, guten Morgen, Millie«, begrüßt er mich. Ich sehe nur die Hälfte von ihm, weil er eine Statue vor sich herträgt.
Ich springe auf und öffne ihm die Tür zu seinem Büro.
»Danke, äh, ja, danke«, sagt er und bugsiert das Kunstwerk in den vollen Raum. Hilflos schaut er sich um. Ich räume zwei ausgestopfte Hasen weg und stelle sie auf die kaputte Standuhr. Mr Anderson kann seine Statue jetzt in die frei gewordene Lücke stellen.
Beide stehen wir nebeneinander und betrachten sie.
Er dreht sie noch ein bisschen. Es ist der muskulöse Oberkörper eines jungen Mannes ohne Kopf, Arme und Beine. »Ich musste ihn einfach mitnehmen«, erklärt mir Mr Anderson mit leuchtenden Augen.
Er errät meinen Wunsch. »Fass ihn ruhig an. Ich finde, er lädt dazu ein, ihn anzufassen, meinst du nicht auch?«
Ich nicke fasziniert und lege vorsichtig meine Hand auf das Material, das aussieht wie massiver Marmor. Es fühlt sich wärmer an. Vermutlich ist es aus Gips geformt. Alle versuchen immer, etwas darzustellen, was sie eigentlich nicht sind. Selbst dieser Torso hier.
Ich fahre mit den Fingern über seine Muskeln. Er fühlt sich nicht so glatt an, wie er aussieht. Meine Fingerspitzen ertasten kleine Erhebungen.
»Wie soll ich ihn nennen?«
»Norman«, sage ich spontan. »Er sieht aus wie ein Norman.«
»Norman«, wiederholt Mr Anderson, »das passt!« Er nickt mir zu und wirft seine braune Ledertasche achtlos auf den vollen Schreibtisch.
Das ist das Signal für den Eistee. Ich gehe in die Küche, hole das große Glas, das speziell für ihn reserviert ist, aus dem Schrank und gieße es randvoll mit Eistee. Mr Anderson mag es so, und ich mag die Herausforderung, es so voll über den Flur in sein Büro zu balancieren.
Der Trick ist, sich mit der Flüssigkeit im Glas zu verbinden. Ein Glied in der Kette der Wassermoleküle zu werden. Haltet euch aneinander fest, denke ich, und die Teilchen tun, was ich denke.
Ich schaffe es auch heute, ohne einen Tropfen zu verschütten, das Glas sicher auf Mr Andersons Schreibtisch abzustellen. Er gräbt mir jedes Mal einen Platz frei. Dann schaut er zufrieden lächelnd auf das volle Glas und dreht sich auf seinem Schreibtischstuhl hin und her. Er hat schon den nächsten großen Gedanken im Kopf. Ich verlasse sein Büro und mache mich daran, die Küche etwas aufzuräumen und neuen Kaffee und Tee zu kochen.
In der Mittagspause gehen die Lektoren immer zusammen etwas essen. Anfangs haben sie mich jedes Mal gefragt, ob ich mitkomme, aber die Vorstellung, vor anderen zu essen und eventuell auch reden zu müssen, jagt mir Angst ein.
Inzwischen wissen sie, dass ich lieber alleine durch die Gegend laufe. Manchmal bleibe ich auch einfach als Einzige im Verlag zurück, setze mich auf die Treppe und höre zu, wie das alte Haus atmet.
Ich kann mich darin verlieren und werde eins mit allen Dingen, die jemals hier passiert sind. Den schönen und den traurigen.
Es ist gut, wenn dann nach und nach alle zurückkommen und ihre Stimmen und das Knarzen ihrer Schritte mich aus meiner Melancholie holen.
Den schönsten Teil des Arbeitstages hebe ich mir meistens bis zum Schluss auf. Nachmittags haben alle genug Kaffee, Tee, Weingummis und Kekse, und ich kann unauffällig meine Tasche nehmen und die Treppe hoch zum Dachboden steigen. Ich halte mich dabei am Holzgeländer fest, das schwer und angenehm unter meiner aufgeregten Hand liegt.
Ich steige die 23 Stufen hoch bis zu der schlichten Tür, die man mit einem Schlüssel, der an einem Nagel an der Wand hängt, öffnen muss.
Ein wohliger Schauer erfasst mich, als ich die Tür aufstoße und den Raum vor mir sehe. Durch ein kleines Giebelfenster fällt Licht. Wenn die Abendsonne scheint, was heute nicht der Fall ist, kann man den Staub in der Luft tanzen sehen.
Ich bewege mich sicher zwischen den Papierstapeln. Das hier ist meine Welt. Hier gehöre ich hin. Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden und hebe einen grauen Karton auf meinen Schoß. Die Schatzsuche kann beginnen. Hier oben zwischen all den inzwischen unwichtig gewordenen Listen, Programmen und Notizzetteln liegen die abgelehnten Manuskripte. Manche werden nach Absprache von Agenten oder Autoren an uns geschickt, und dann gibt es noch die vielen »unverlangt eingesandten Manuskripte«.
Jede Woche gehen etwa zehn solcher Bücher bei uns ein. Meist von unbekannten Autoren und Menschen, die einfach gerne Geschichten schreiben und den Mut hatten, sie einzuschicken. Alle wurden von den Lektoren geprüft und als »nicht für unser Programm geeignet« eingestuft. Die Verfasser der Geschichten bekommen dann einen Formbrief, eine freundliche, wohlwollend formulierte Absage.
Die Dateien werden gelöscht und, falls sie in Papierform vorhanden sind, was leider immer seltener vorkommt, vernichtet. Beziehungsweise nicht wirklich vernichtet, sondern einfach hier im Raum des Vergessens geparkt.
Ich maße mir nicht an zu beurteilen, ob die Geschichten ein Recht auf Veröffentlichung gehabt hätten. Ich denke, Abbey, Rebecca und David machen einfach nur ihren Job. Ein Verlag kann nicht alle Manuskripte in gedruckte Bücher verwandeln. Aber für mich sind diese Geschichten, die es nicht geschafft haben, etwas Wunderbares.
Manche sind ungeschickt geschrieben, sodass man hören kann, wie der Autor nach Worten ringt. Einige sind sehr skurril bis zur Grenze der Unverständlichkeit. Salz- und Pfefferstreuer diskutieren zum Beispiel über aktive Sterbehilfe, und dann taucht plötzlich eine Banane im Superheldenkostüm auf und frisst sie.
Ich versuche nicht, alles zu verstehen, ich lese nur und staune. Am liebsten habe ich die rührseligen Geschichten. Die Autoren tragen manchmal zu dick auf, schwelgen in schwülstigen Wörtern, aber es steckt oft so viel Leidenschaft und Liebe darin, dass ich gar nicht aufhören kann, diese Geschichten zu sammeln.
Ich rette sie, die Manuskripte, die keiner wollte. Ich befreie sie aus dem Raum des Vergessens und erwecke sie zu neuem Leben, indem ich sie mitnehme und lese. Mein Bruder Felix hat mich mal gefragt, warum ich ausgerechnet die schrägen, die ungeschickten und die rührseligen Geschichten rette.
»Weil sie mich an mich selbst erinnern«, habe ich ihm geantwortet.
»Ach, Milliepanilli«, so nennt er mich seit der Kindheit. »Du bist nicht schräg, dich muss nur mal ein Prinz wachküssen.«
Felix ist der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich versteht. Unsere Eltern sind früh gestorben, und Felix hat sich, obwohl er damals erst zwanzig war und ich sechzehn, nach ihrem Tod um mich gekümmert. Eigentlich tut er das heute noch, und manchmal nervt es mich, all seine besorgten Fragen zu beantworten.
Auf dem Dachboden lese ich nur kurz in die Manuskripte rein und wähle die schönsten und seltsamsten Geschichten, um sie in meiner großen Umhängetasche anschließend heimlich aus dem Verlag zu schmuggeln.
Die, die ich nicht mitnehme, verstaue ich in Kisten und reihe sie ordentlich an der Wand auf, damit sie eine neue Chance bekommen. Vielleicht entdeckt sie eines Tages noch jemand, der sie lesen mag, das wäre doch schön.
57 Minuten braucht die Tube von Notting Hill Gate bis Epping. 57 Minuten, in denen ich lesen kann. Auf dem Rückweg ist es schwieriger, einen Sitzplatz zu ergattern. Wenn ich keinen bekomme, wickle ich mich mit den Armen um eine Stange wie ein Koalabär um einen Stamm. So kann mich das Geruckel der Bahn nicht umwerfen.
Heute habe ich Glück und bekomme sofort einen Sitzplatz. Mit Herzklopfen packe ich das Manuskript aus, das mich schon im Raum des Vergessens neugierig gemacht hat. Es trägt den schönen Namen Dein Herz in tausend Worten. Dieser Titel wäre bei Abbey sofort durchgefallen. Sie mag nichts, was zu romantisch anmutet. Abbey hätte das sofort umgetextet in etwas Leichtes. Immer diese Liebe hätte sie es vielleicht genannt.
Der Autor heißt J. Abberwock. Ich lasse meine Wohnzeitschrift sinken und denke nach. Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor.
Abberwock, Abberwock, klingt wie … Jabberwock, natürlich!
Der Jabberwock ist eine Figur aus Alice im Wunderland. Er kommt in einem Gedicht vor, in dem die Hälfte der Wörter ausgedacht ist. Ich müsste es mal wieder lesen, es hatte mir damals so gut gefallen.
Wenn ich mich richtig erinnere, wird in dem Gedicht vor dem Jabberwock gewarnt. Er ist ein drachenartiges Geschöpf mit Klauen und Zähnen.
Der Autor ist also ein Fan von Alice im Wunderland.
Ich starre aus dem Fenster und muss mir kurz vorstellen, wie der Jabberwock sich an die U-Bahn krallt. Ich sehe zotteliges Fell und Flügel, die wild schlagen.
Er hat grüne Augen, oder sind das meine? Ich schüttele den Kopf über mich selbst und beginne zu lesen.
Als ich hochschaue, ist um mich herum alles leer. Ich stelle fest, dass ich friere. Wo bin ich hier eigentlich? Erstaunt realisiere ich, dass ich an der Bushaltestelle in Epping sitze. Den Bus habe ich wohl verpasst. Vermutlich sogar mehrere Busse. Es dämmert bereits.
Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich aus der Bahn ausgestiegen bin. Ich habe im Gehen weitergelesen und bin wohl hier gestrandet.
Es ist halb acht. Ich muss seit etwa zwei Stunden hier sitzen.
Ich strecke mich und schaue nach, wann der nächste Bus fährt.
Er kommt erst in 35 Minuten.
Bevor ich wieder in das Buch versinke, stelle ich mir eine Erinnerung auf meinem Handy ein, um nicht wieder den Bus zu verpassen. Ich kann mir selbst nicht trauen, denn diese Geschichte ist so berauschend und ergreifend, dass ich alles um mich herum vergesse.
Sie handelt von einem Mann, der in einem Café jobbt und eines Tages beim Saubermachen einen Liebesbrief unter dem Kühlschrank findet.
Er fragt eine Kundin, ob das ihrer sei, und so kommen sie ins Gespräch. Sie verlieben sich, und er schreibt ihr jeden Tag einen Liebesbrief, als Erinnerung an ihr Kennenlernen.
Die Geschichte ist wundervoll geschrieben, der Autor trifft genau den richtigen Ton. Ich sehe die beiden genau vor mir. Megan, mit ihren langen roten Haaren, und Jasper mit dem Grinsen eines großen Jungen.
Mein Handy klingelt. Der Bus kommt.
Irgendwie schaffe ich es nach Hause und lese dort direkt weiter. Ich falle in die Seiten, bin bei ihrem ersten Streit dabei und bei ihrer Versöhnung in der Dämmerung.
Leise legte sich die Nacht über uns, machte uns wieder zu Verbündeten. Mein Ärger fiel von mir ab und verwandelte sich in den Wunsch, sie zu berühren.
Ich bin er, und ich bin sie, zur selben Zeit. Ich lache, flirte, schlafe, küsse und ärgere mich mit ihnen, bis ich erschrocken die letzten Seiten lese. Mit zitternden Fingern blättere ich sie um und stürze ins Bodenlose.
Felix meldet sich verschlafen. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist.
»Milliepanilli«, sagt er mit rauer Stimme, »was ist los?«
Ich kann nicht sprechen, also schluchze ich in mein Handy.
»Geht es dir gut? Soll ich kommen?«, er klingt plötzlich hellwach.
»Nein«, schniefe ich, »ich habe nur etwas sehr Trauriges gelesen.«
Er lacht erleichtert. »Was hast du denn gelesen?«, fragt er sanft.
Ich erzähle ihm von der Liebesgeschichte. Wie Jasper am Ende seinen Traum aufgibt, Architektur zu studieren, um bei ihr zu sein und sie darin zu unterstützen, weiter Bilder zu malen.
»Sie haben diesen schrecklichen Streit, bei dem er ihr sagt, sie sei egoistisch und weltfremd, und dann …«, mir kommen wieder die Tränen, »dann beschließt er, sich nicht an der Uni einzuschreiben und bei ihr in Cornwall zu bleiben, und er will sie treffen und ihr sagen, dass es ihm leidtut und er jetzt weiß, dass Malen sie glücklich macht und es genau das ist, was sie tun soll …« Ich kann nicht weitersprechen.
Felix wartet geduldig eine Weile ab. »Und dann?«, fragt er, als mein Schluchzen leiser wird.
»Sie stirbt bei einem Autounfall. Sie nimmt eine Kurve zu schnell und fliegt mit ihrem Auto über die Klippen«, sage ich tonlos.
Felix schweigt. Ich weine. Er sagt nicht, dass das alles nur ein Buch ist. Er sagt nicht, ich soll mich nicht so anstellen.
Stattdessen sagt er: »Das tut mir leid, Millie, ehrlich. Endet es denn einfach so?«
»Ja, das ist die letzte Seite.«
»Aber die anderen Seiten waren schön? Hast du die Geschichte gerne gelesen?« Er holt mich sanft in die Realität zurück, wie das nur Brüder können.
Meine Tränen trocknen, als ich von den schönen Liebesbriefen erzähle, die er ihr jeden Tag geschrieben hat.
Irgendwann gähnt Felix laut und sagt, wir sollten jetzt beide noch ein paar Stunden schlafen.
Ich lege mich ins Bett und starre an die Decke. Ich muss ständig daran denken, wie Jasper sich jetzt fühlen muss. Kann man mit so einem Loch im Herzen überhaupt weiterleben? Ich lege meine Hand auf mein Herz und fühle das Loch, das Mama und Papa hinterlassen haben.
»Du schaffst das, Jasper, es geht«, flüstere ich durch die Nacht in eine andere Welt hinein.
Am nächsten Tag kommt mir alles lauter vor als sonst. Ich packe mir morgens das Manuskript in meine Tasche. Es ist ein gutes Gefühl, es bei mir zu haben.
Den ganzen Tag gehen mir Sätze aus dem Roman durch den Kopf. Ab und zu schleiche ich mit meiner Tasche auf die Toilette, schließe mich in eine Kabine ein und hole das Manuskript hervor. Ich streiche sanft mit den Fingern über den Titel und den Namen des Autors.
Dein Herz in tausend Worten von J. Abberwock
Der Autor hat seinen Namen kleiner gedruckt, so als würde es eigentlich keine Rolle spielen, von wem die Geschichte ist.
Ich suche die Sätze, an die ich mich erinnere. Ich lese sie langsam Wort für Wort.
Einige davon sind tröstlich, andere lustig und lebensfroh. Es sind Sätze, in die ich mich einhüllen möchte.
Ich spreche sie leise vor mich hin, während ich Kaffee koche.
Abends kommt Felix zum Essen. Ich koche gerne für ihn, weil es mir das Gefühl gibt, auch mal etwas für ihn tun zu können.
Er sitzt mir gegenüber, erzählt und gestikuliert dabei wild. Er bringt mich zum Lachen. Wie immer hat er ein paar neue Männergeschichten auf Lager. Ihm passieren immer die unglaublichsten Sachen. Anders als ich ist er ziemlich gut aussehend. Er hat die blauen Augen von unserer Mutter Lilith geerbt. Seine dunkelblonden Haare wellen sich leicht und stehen dadurch immer etwas in alle Richtungen ab, was ihm etwas Verwegenes gibt und Männern gut zu gefallen scheint.
Frauen natürlich auch, aber die haben ja sowieso keine Chance bei Felix. Frauen merken oft erst ziemlich spät, dass er schwul ist, was mich immer ziemlich amüsiert.
Für mich ist er einfach nur Felix, mein großer Bruder, der mir immer alle Karamellbonbons weggegessen hat und der so schlimm pupsen kann, dass man sofort den Raum verlassen muss, wenn man nicht sterben will.
»Und er hat wirklich eine Katze zu dir mitgebracht? Warum hast du ihn überhaupt gleich nach Hause eingeladen?«, frage ich nach.