Die Phantasie der Schildkröte - Judith Pinnow - E-Book
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Die Phantasie der Schildkröte E-Book

Judith Pinnow

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Beschreibung

Was passiert, wenn wir die Chance bekommen, unserem inneren Kind zu begegnen? Der dritte Roman von Judith Pinnow ist eine zärtliche, poetische Geschichte über die Kraft des Wünschens. Edith ist Mitte vierzig, Single und wohnt allein in einer kleinen Wohnung in Köln. Ihr Leben verläuft in sehr engen Bahnen. Tagsüber arbeitet sie bei einer Versicherung, abends schaut sie Fernsehen. Außer zu ihrer Mutter, mit der sie sich pflichtschuldig einmal im Monat trifft, um sich von ihr kritisieren zu lassen, hat sie kaum Kontakte. Das ändert sich, als sich eine Zehnjährige in ihr Leben drängt und ihr Aufgaben stellt. Edith muss merkwürdige Dinge erledigen, aber vor allem sich anderen Menschen öffnen. Auf dem Weg zu sich selbst hat sie skurrile Begegnungen, lernt ihren Großvater kennen und schließt Freundschaften.

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Seitenzahl: 469

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Judith Pinnow

Die Phantasie der Schildkröte

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Lilly,Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzig

Für Lilly,

mein zauberhaftes Schneewittchen

Kapitel eins

Mein Gefühl sagte mir schon den ganzen Morgen, dass irgendetwas in der Luft lag. Es lauerte auf mich. Die erste Badroutine lief noch ganz normal. Das Frühstück auch. Ich hatte wie jeden Morgen Frühstücksfernsehen mit Ella Neumann angeschaltet. Ich frühstücke nie ohne Ella. Sie ist gut gelaunt, perfekt frisiert und seit Jahren Mitte dreißig. Sie gibt mir das Gefühl, dass die Welt in Ordnung ist, auch wenn die Nachrichten, die zwischendurch laufen, das komplette Gegenteil beweisen. Ella ist wie eine gute Freundin. Nein, besser, ich kann sie nämlich jederzeit leise drehen oder abschalten. Da heute Montag ist, läuft auch der Ton des Fernsehers. Dienstags und donnerstags gucke ich Ella ohne Ton, am Mittwoch ganz normal mit Bild und Ton und freitags gibt es nur den Ton, den Bildschirm meines kleinen Küchenfernsehers drehe ich dann weg. So kann ich mich das ganze Wochenende wieder auf den Montag freuen, denn da darf ich wieder mit Bild und Ton gucken.

Bei meiner zweiten Badroutine passierte es dann. Die pigmentreduzierende Tagescreme ließ sich noch wie immer problemlos auf meine Sommersprossen auftragen. Ich klopfe sie jeden Morgen energisch mit allen zehn Fingern in die Haut, in der Hoffnung, dass die lästigen Tüpfelchen eines Tages verschwinden. Natürlich passiert das nicht. An meinem langweiligen Gesicht ist sowieso nichts zu verbessern. Ich bin fünfundvierzig, aber die meisten schätzen mich schon auf fünfzig. Niemand gibt das natürlich offen zu, aber ich sehe es in den Augen der Leute, wenn ich mein wahres Alter verrate. An Tagen, an denen ich solche Blicke nicht ertragen kann, behaupte ich einfach, ich sei fünfzig. Dann ist jeder zufrieden. Ich tusche mir die Wimpern, nur damit mir keiner im Büro nachsagen kann, ich würde mir keine Mühe geben. Meine kurzen hellbraunen Haare zupfe ich etwas mit den Fingern zurecht, eigentlich nur, um der Tagescreme noch ein paar Sekunden mehr Zeit zum Einziehen zu geben. Dann spritze ich mir eine winzige Menge getönter Creme auf meine linke Zeigefingerspitze und verteile sie auf den hässlichen Sommersprossen. Da passiert es.

Statt der winzigen benötigten Menge quillt ein ganzer Schwall aus der Tube. Die getönte Masse hält sich nicht lange auf meiner Fingerspitze auf, sondern klatscht auf mein Oberteil.

Die ganze Montagsbluse ist versaut. Das bekomme ich nie im Leben rausgewischt jetzt auf die Schnelle. Was soll ich bloß machen? Mein Dienstagsoutfit hängt zwar schon bereit, aber so kommt ja die ganze Woche durcheinander. Und wenn ich das Freitagsoberteil anziehe? Das könnte ich im Laufe der Woche waschen, bügeln und dann wie geplant freitags wieder tragen. Aber dann hätte ich zweimal die Woche dasselbe an.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als mir ein für die Woche überhaupt nicht eingeplantes Oberteil herauszusuchen. Ich wähle wenigstens ein ähnliches Dunkelblau, schlüpfe in eine kleingemusterte Bluse und fühle mich schrecklich. Wenn der Montagmorgen so beginnt, kann die ganze Woche nur furchtbar werden. Ich hatte es geahnt. Gleich nach dem Aufwachen hatte ich schon dieses ungute Gefühl. Mein Toastbrot war auch härter als sonst.

Ich muss mich jetzt beeilen, um noch pünktlich die Straßenbahn zu erwischen. Meine Handtasche steht im Flur bereit. Ich schließe die Tür meiner kleinen Dachgeschosswohnung ab und nehme den Aufzug, um Zeit zu sparen.

Der Aufzug kommt erfreulich schnell. Das ist ungewöhnlich, weil es ein altes Ding ist mit einem Metallgitter, das man mühsam auf- und zuschieben muss. Ich schiebe, will eintreten und erstarre. Im Aufzug befindet sich eine Person. Außer mir wohnt aber niemand auf der Etage. Die Person macht keine Anstalten auszusteigen, also trete ich unwillig ein.

»Wohnst du hier?«, fragt eine helle Stimme. Nur ungern wende ich den Blick vom Boden ab. Die Person ist ein Kind in einer Jeansjacke und einer roten Baseballkappe auf den Haaren, die darunter komplett versteckt sind. Das Mädchen schaut mich interessiert an.

»Ja«, antworte ich knapp und frage mich, ob sie in ihrem Alter nicht schon wissen müsste, dass man Erwachsene nicht duzt. Ich schätze sie auf neun oder zehn, vielleicht auch elf. Ich habe keine Ahnung. Ich kann Kinder nicht leiden. Mir begegnen auch keine Kinder in meinem Leben. Ein einziges Mal hatte ich eine alte Schulfreundin mit ihrem Sohn bei mir in der Wohnung. Diese beiden Tage gehörten zu den schlimmsten in meinem Leben. Das Kind aß meine komplette Osterdeko auf, während die Mutter überall sein Spielzeug verteilte. Er war laut und unhöflich wie alle Kinder, wollte alles, bekam alles, verschmierte alles. Es war gruselig. Letztendlich habe ich eine aufkommende Magen-Darm-Grippe erfunden, um beide loszuwerden. Richtig lügen musste ich dabei gar nicht, denn nach dem Besuch war mir tatsächlich tagelang übel.

Ich wende meinen Blick wieder zum Boden und sende eisige Schwingungen aus, um keine weiteren Fragen beantworten zu müssen.

»Willst du wissen, ob ich hier wohne?«

Ich stöhne innerlich und schüttle nur unwirsch den Kopf, ohne sie anzusehen. Erst die Montagsbluse und dann das. Fehlt nur noch, dass der Aufzug stecken bleibt. Wie auf Kommando ruckelte es in der wackeligen Kabine, und der Aufzug steckt fest. Ich werde meine Straßenbahn verpassen und mit dem falschen Oberteil zu spät zur Arbeit kommen.

Hitze steigt in mir hoch. Das Kind lacht. »Ui«, sagt es, »jetzt stecken wir fest!« Sie klatscht begeistert in die Hände, als wäre im Aufzug stecken zu bleiben ein großes Vergnügen. Ich halte mich an den Gitterstangen fest und versuche, die aufkommende Panik zu unterdrücken.

»Hast du Platzangst? Ich hab mal von einer Frau gehört, die an Platzangst in einem Aufzug gestorben ist.«

Einfach nicht hinhören, sage ich mir. Einfach an etwas anderes denken. »Die hat sich so reingesteigert in ihre Angst, dass sie keine Luft mehr bekommen hat und erstickt ist. Obwohl ja Luft genug da war in dem Aufzug. Glaub ich jedenfalls. Und ich meine, hier kommt ja überall Luft rein durch die Stangen, da musst du also gar keine Angst haben.«

Sie ist gar nicht da. Lass sie einfach reden. Ich krame in meiner Tasche, um mein Handy zu finden. Nichts. Ich muss es auf dem Esstisch liegen gelassen haben.

Verzweifelt drücke ich an der Wand alle Knöpfe auf der Leiste. Sie glotzen mich nur blöd leuchtend an. Ich drücke wie verrückt den Notrufknopf, obwohl ich genau weiß, dass der nirgendwo Alarm auslöst.

»Ich glaub nicht, dass der Alarmknopf nützt. Da braucht man nämlich einen Hausmeister für. Hier gibt es keinen Hausmeister, oder? Ich hab keinen gesehen. Hausmeister wohnen immer ganz unten und haben ein kleines Fenster, aus dem sie rausschimpfen, wenn man bei ihnen klingelt. So ein Fenster gibt es in diesem Haus nicht. Ich wohne nämlich seit neuestem hier.« Sie strahlt mich an. Ich streife sie mit dem Blick, dann wende ich mich wieder den Knöpfen zu.

»Du hast nicht zufällig ein Handy dabei?«

Sie schaut mich nur ratlos an. »Hast du Angst oder hast du es eilig oder beides zusammen?«, fragt sie mich.

Ich gebe es auf, an den Knöpfen herumzudrücken, und lehne mich an die Wand. Ich schaue auf die Uhr. Meine Straßenbahn fährt gerade ein. »Verdammter Mist!«, fluche ich.

»Du kannst ruhig ›verdammte Scheiße‹ sagen. Ich bin da nicht so. Meine Mutter hat das auch immer gesagt. Magst du?« Sie zieht aus ihrer Hosentasche einen Kaugummi, der zwar noch in Papier eingewickelt, aber sicher warm und eklig ist. Ich schüttle angewidert den Kopf.

Sie zuckt mit den Schultern, steckt ihn sich selbst in den Mund und beginnt, laut zu kauen. Ich konnte ihre Anwesenheit schon vorher kaum ertragen, aber jetzt wird es unzumutbar. Vielleicht sollte ich laut um Hilfe rufen.

»Haaaaaalloooooooooooo«, brüllt das Kind plötzlich durch die Stäbe hindurch. »Wir stecken hier feeeeeheeeeeeeest!!!«

»Hör auf, so laut zu schreien!«, fahre ich sie an.

»Muss ich doch, sonst hört mich ja keiner. Hiiiiiiilfffffeeeeeeee!«, ruft sie.

»Man schreit nicht einfach ›Hilfe‹ in die Gegend«, belehre ich sie.

»Aber wir brauchen doch Hilfe.«

Da hat sie leider recht. Wir brauchen ganz dringend Hilfe. Der Alarmknopf führt ins Nichts. Keiner der Nachbarn scheint zu Hause zu sein. Ich kenne sowieso nur die alte Frau Knoppel, die ganz unten wohnt. Als Einzige im Haus hat sie einen kleinen Balkon, was völlig unsinnig ist, da sie ja im Erdgeschoss wohnt. Eigensinnig hängt er fünfzig Zentimeter über dem Boden neben dem Hauseingang herum und gibt ihr Gelegenheit, alle, die hier ein und aus gehen, genau zu überwachen. Die ersten Wochen habe ich sie noch nett gegrüßt, aber nie mehr als ein Brummen geerntet. Ich habe es dann schließlich aufgegeben. Grußlos renne ich mindestens zweimal am Tag an ihr vorbei. Meistens sitzt sie wie eine Königin auf einem Stuhl auf dem Balkon. Wenn es kühl ist, mit einer Decke. Im Winter bleibt sie hinter der Scheibe. Das ist besonders unangenehm, weil man dann ihre wachsamen Augen nur undeutlich hinter dem Glas schimmern sieht. Die anderen Nachbarn kenne ich gar nicht. Ich glaube, dass im ersten, zweiten und dritten Stock Paare leben, die glücklicherweise alle kinderlos sind. Jetzt ist wohl leider eine Familie mit Kind eingezogen.

»Wo wohnst du?«, frage ich das Kind und bemerke erst, als ich die Frage ausspreche, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte doch kein Gespräch mit dieser Person.

»Unter dir«, sagt sie.

Wenigstens hört sie beim Sprechen auf, Kaugummi zu kauen. Darum frage ich weiter: »Wann seid ihr denn eingezogen?«

»Nur ich bin eingezogen. Mama sagt immer, ich sei ein schwieriges Kind.«

»Du bist ohne deine Eltern hier eingezogen? Du wohnst jetzt bei anderen Leuten?«

Sie nickt. Na super. Ein schwieriges Kind in unserem Haus. Und ich muss mit ihr in einem Aufzug stecken bleiben.

»Dann wohnst du hier nur vorübergehend?«, frage ich hoffnungsvoll.

»So lange, wie es nötig ist«, sagt sie unbestimmt und macht eine Kaugummiblase. Eine kümmerliche Kaugummiblase. Das konnte ich als Kind aber besser. »Mann, die platzen immer viel zu früh!«, sagt sie mehr zu sich als zu mir.

»Du machst es eben falsch«, rutscht es mir raus.

Jetzt ist sie interessiert und will wissen, wie es richtig geht. Sie hält mir einen frischen Hosentaschenkaugummi hin. Das fehlt mir noch. Ich nehme ihn nicht und drehe mich weg.

»Wenn du mir zeigst, wie man gute Kaugummiblasen macht, fährt der Aufzug weiter, wetten?«

»Um so einen Blödsinn wette ich nicht. Kaugummiblasen bringen keinen Aufzug zum Laufen.«

»Wetten doch?«

Ich schweige sie an. Wir werden bis zum Abend in diesem verdammten Aufzug feststecken. Ich kann nur hoffen, dass die ersten Nachbarn schon am frühen Nachmittag auftauchen. Das sind unendliche Stunden in diesem Gefängnis mit einem nervigen, schwierigen Kind. Ich setzte mich seufzend auf den Boden. Vermutlich werde ich heute nicht mehr im Büro auftauchen, also ist es egal, ob meine Hose schmutzig wird. Sie ist erst wieder für Donnerstag eingeplant. Bis dahin kann ich sie waschen und trocknen.

Das Kind setzt sich mir gegenüber und macht wieder seine kümmerliche Blase. »Du willst doch raus hier, oder?«, fragt sie mich.

Ich sage nichts, merke aber schon, dass ich mit dieser Strategie nicht weiterkomme.

»Bring mir bei, wie man Blasen macht, und der Aufzug fährt weiter, wetten?«

Ich kann es nicht mehr hören. Ich muss dem ein Ende setzen.

»Okay, Folgendes. Ich bringe dir jetzt so eine blöde Blase bei, aber dafür hältst du den ganzen Tag die Klappe, bis wir hier raus sind, verstanden?«

Sie nickt begeistert. »Kein Wort! Versprochen.« Sie nickt weiter und hält mir wieder den Kaugummi hin.

Ich nehme ihn widerwillig. Bevor ich ihn in den Mund stecke, sage ich noch: »Keine Fragen, kein vor sich Hinreden und auch kein Kaugummikauen mehr!«

»Ja. Nun mach schon!«, sagt sie ungeduldig. Ich kaue den Kaugummi weich, dann spanne ich ihn gefühlvoll über meine Zunge und mache eine schöne, volle Blase. Ein lang vergessenes Gefühl von Stolz breitet sich in mir aus, was natürlich lächerlich ist.

»Eine Kaugummiblase kann nun wirklich jeder Idiot«, sage ich zu dem Kind, das ganz begeistert klatscht.

»Wie mache ich es?«

»Du musst die Blase perfekt vorbereiten. Der Kaugummi muss weich sein. Dann legst du ihn auf deine Zunge und drückst ihn platt.« Ich warte, bis sie so weit ist. »Jetzt spannst du ihn vorsichtig. Mach es langsam, nicht zu schnell. Und jetzt mit Gefühl aufblasen.«

Sie bläst, und es bildet sich eine perfekte Kaugummiblase. Ihre Augen werden ganz groß vor Überraschung. Sie bläst weiter, bis der Ballon schließlich platzt. Spontan möchte ich applaudieren, kann mich aber zum Glück noch rechtzeitig davon abhalten. »So, erledigt. Den Rest der Zeit hältst du die Klappe, und wehe …«

Der Aufzug setzt sich ruckelnd in Bewegung. Das Kind springt jubelnd auf. »Es hat funktioniert!« Lachend hält sie mir eine Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ich bin viel zu perplex, um sie nicht zu nehmen. Sie zieht mich hoch. Der Aufzug fährt nach unten, als hätte er nie etwas anderes getan.

Ich zerre das schwere Gitter zur Seite und bin frei. Erleichterung durchströmt mich.

»Das war super«, sagt das Kind und hält mir seine erhobene Hand hin, die ich wohl abklatschen soll.

»Tschüss«, sage ich schnell und eile los, aber sie ist schneller. Während sie mir die Haustür aufhält, quatscht sie mich voll.

»Das ist jetzt unser Spiel, ja? Ich geb dir immer eine Aufgabe, die du machen musst.«

Na klar, denke ich und bleibe stehen. »Ich spiele nicht«, sage ich nachdrücklich, damit ich sie jetzt nicht jeden Tag am Hals habe.

»Kaugummiblasen bringen keinen Aufzug zum Laufen«, wiederholt sie frech meine Worte von vorhin.

»Das war ein blöder Zufall. Ich muss los zur Straßenbahn. Ich bin schon über eine Stunde zu spät.«

»Deine nächste Aufgabe ist auch gar nicht schwer …«

Ich laufe einfach los.

»Du musst nur jemanden in der Bahn ansprechen, sonst nichts!«, ruft sie mir hinterher.

Was für ein nerviges Mädchen. Ich werde bei den Nachbarn klingeln müssen und mich beschweren. Sie sollen ihr vorübergehendes Kind bitte besser betreuen, damit es nicht anderen Leuten im Aufzug zur Last fällt.

In der Bahn klopfe ich mir lange die Hose ab und zupfe an meiner falschen Bluse herum. Ich sehne mich nach meinem richtigen Montagsoberteil. Außerdem habe ich immer noch den blöden Kaugummi im Mund und weiß nicht, wohin mit ihm. Ich mache unauffällig eine kleine Blase. Was für ein schrecklicher Tag!

 

Es passt mir ganz gut, nach der Arbeit meine Mutter zu treffen. Die Treffen mit ihr sind jedes Mal ein Stimmungskiller. Heute wird sie mich nicht runterziehen können, denn ich bin schon unten.

Auf der Arbeit klang die Erklärung, ich sei im Aufzug stecken geblieben, wie eine wenig originelle Ausrede. Augenbrauen wurden fragend in die Höhe gezogen, und in der Mittagspause gab es keinen Vanillejoghurt. Ich esse jeden Tag einen Vanillejoghurt zum Nachtisch. In der Kantine haben sie eine wirklich gute Sorte, und der Joghurt ist mein Lichtblick in der Arbeit. Es passiert nur etwa einmal im Monat, dass in dem zweiten Fach von links nur Erdbeer- und Mangojoghurts stehen. Ich suchte verzweifelt alle Joghurts durch und verursachte schon einen kleinen Stau, wollte es nicht glauben, obwohl es ja zum Tag an sich sehr gut passte, dass ausgerechnet Vanille fehlt. Ohne vernünftiges Montagsoutfit kann man auch nicht auf den Joghurtlichtblick hoffen. Natürlich nicht.

Meine Mutter und ich treffen uns immer im Rainbowgarden, das ist ein chinesisches Restaurant. Sie mag chinesisches Essen, aber noch lieber mag sie ihre Zigaretten, die sie dort, obwohl es verboten ist, unbehelligt rauchen kann.

Wir sitzen immer an einem Tisch ganz hinten, neben dem Eingang zu den Toiletten. Selbst wenn es voll ist, bleibt dieser Tisch immer frei. Niemand will hier hinten hocken, außer meiner Rauchermutter.

Vielleicht bin ich wenigstens zuerst da, dann kann ich mir den Platz schnappen, von dem aus man wenigstens in den Raum und nicht auf die Klotüren gucken muss.

Ich habe Glück. Der Tisch ist noch unbesetzt. Ich hänge meine Jacke über die Stuhllehne und setze mich. Wenn ich den Abend überlebt habe, folgt wieder mindestens eine Woche, in der ich meine Mutter nicht treffen muss, versuche ich, mich selbst zu motivieren. Das Verhältnis zwischen uns kann man bestenfalls als angespannt beschreiben. Aber ich bin nun mal ihr einziges Kind, und sie wohnt auch in Köln, also bringe ich es nicht übers Herz, sie nicht zu sehen. Lieber hier als in meiner Wohnung, wo sie alles anfasst und schlechtredet.

Ich spiele ein bisschen an den Zahnstochern herum, die einzeln in kleine Plastiktütchen verpackt sind. Für jeden Zahnstocher eine eigene kleine Hülle, in der ihm nichts passieren kann. Ich fahre mit meiner Handfläche über die verpackten Zahnstocher. Das fühlt sich irgendwie beruhigend an. Viel zu früh sehe ich eine schmale kleine Person auf meinen Tisch zusteuern.

»Hallo Mama.« Ich stehe auf und umarme sie. Es ist eine Pflichtübung, die wir beide mit der größten Distanz, die bei einer Umarmung überhaupt möglich ist, absolvieren. Ich bin fast zwei Köpfe größer als sie und komme mir neben ihr immer unangemessen riesig vor.

Sie knurrt etwas zur Begrüßung, was sich anhört wie »verdammte Bahn« und setzt sich dann schwer atmend auf den freien Stuhl, ohne ihre Jacke auszuziehen. Meine Mutter ist siebzig Jahre alt, klein, drahtig und viel fitter, als sie tut. In etwa zwei Minuten wird sie noch mal aufstehen und ihre Jacke ausziehen, nur um sich dann wiederum schwer atmend, als wöge sie hundert Kilo, auf den Stuhl fallen zu lassen.

Sie mustert mich kurz mit ihren kleinen Rosinenaugen, um dann festzustellen: »Die Bluse steht dir nicht.«

»Ich weiß.« Ich seufze. »Es war nicht geplant, sie heute anzuziehen.«

»Du planst zu viel und machst zu wenig. Warum haben wir noch keine Speisekarten?«

»Mama, du brauchst keine Speisekarte. Du nimmst immer die vierundsiebzig. Jedes Mal. Dazu bestellst du eine Weinschorle und hörst dir dann von der Bedienung an, dass sie so etwas nicht haben. Daraufhin nimmst du …«

»Einen Weißwein. Ich weiß das, Kind. Ich möchte trotzdem eine Speisekarte, also geh sie bitte besorgen.«

Ich stehe auf und gehe Richtung Theke. Ich finde es peinlich, nach den Karten zu fragen, weil wir ja erst seit zwei Minuten hier sind. Es ist einfach unhöflich, der Bedienung gar keine Zeit zu geben, sie uns zu bringen. Wenigstens muss ich jetzt nicht mit ansehen, wie Irmgard, meine Mutter, umständlich ihre Jacke auszieht und dabei viel mehr atmet als nötig.

Gerade als ich die Speisekarten unauffällig aus dem Fach an der Theke ziehe, bemerkt mich die Bedienung und nimmt sie mir lächelnd ab. Sie eilt mir voraus zu unserem Tisch, um ihr Versäumnis wiedergutzumachen. Ich renne mit rotem Kopf hinterher und ärgere mich, dass ich an der Theke nicht einfach gewartet habe.

Wir bestellen, meine Mutter nimmt die Nummer vierundsiebzig, fragt nach einer Weinschorle, entscheidet sich dann für einen Weißwein und wirft mir anschließend einen Blick zu, der besagt: Hier mache ich die Regeln.

Ich seufze innerlich und hoffe, dass unser Essen schnell kommt und ich bald die Bahn nach Hause nehmen kann.

Irmgard wirft eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch. Ich versuche wegzugucken, weil mich die Art, wie sie sich eine Zigarette anzündet, wahnsinnig macht. Ich flüchte mich in die Zahnstocherhüllen, sehe aber trotzdem aus den Augenwinkeln, wie sie sich mit einer gierigen Bewegung über die Kerze beugt und ihre Fluppe daran entzündet.

Als Kind hat sie mir erzählt, es würde jedes Mal ein Seemann sterben, wenn man das tut. Dann hat sie mit ihren gelben Zähnen gegrinst und sich an unserer Kerze auf dem Esstisch eine Zigarette angezündet. »Tot«, sagte sie danach süffisant. Seitdem hat sie ganze Flotten ausgerottet. Ich frage mich, ob sie ihre Kippen auch so anzündet, wenn sie allein ist, oder ob es ihr immer noch Spaß macht, mich mit der Seemann-Nummer zu ärgern.

Sie legt den Kopf in den Nacken und bläst den Rauch in die Luft. Ich wedele demonstrativ mit meinen Händen, was sie wie immer ignoriert. Ich bereue, diesen Platz gewählt zu haben, denn ich kann sehen, wie einige Leute irritiert zu uns rüberschauen. Rauchen ist auch in diesem Restaurant schon lange verboten, aber meine Mutter hält sich einfach nicht daran, und die Bedienung ist viel zu nett, um etwas zu sagen.

Irmgard hat ihre langen Haare zu einem Zopf streng nach hinten gebunden. Sie färbt sie sich tiefschwarz, hat aber immer einen weißen Ansatz von mehreren Zentimetern. Sie ist geschminkt, trägt silberne Kreolen und eine randlose Brille, die zu groß ist für ihr kleines faltiges Gesicht. Der Rollkragenpullover verdeckt den Hals und lässt ihren Kopf seltsam körperlos aussehen.

Wir ackern uns mühsam vorwärts in einem zähen Gespräch über ihren Augenarzt und meine offensichtliche Unfähigkeit, etwas aus meinem Leben zu machen. Es dauert nicht lange, bis sie zu ihrem Lieblingsthema kommt.

»Enkel werde ich wohl nicht mehr bekommen. Jetzt hast du so lange rumgetrödelt, dass du zu alt sein wirst«, erklärt sie mir vorwurfsvoll.

»Mama, ich hab nicht …« Es ist doch absurd, dass ich mich hier verteidigen soll, warum ich kein Kind in die Welt gesetzt habe. Ich sehe eine Tochter vor mir, die sich widerwillig mit mir beim Chinesen trifft, während ich ihr erläutere, wie sie sich am besten ihre hartnäckigen Sommersprossen wegschminken muss. Und meine Enkelin muss sich dann einige Jahrzehnte später wiederum mit meiner frustrierten Tochter treffen. Alles an diesem Tisch im Rainbowgarden. Eine erbärmliche Familientradition über Generationen hinweg erhalten. Bitte nicht!

»Was willst du überhaupt mit Enkeln, Mama, die wären dir doch nur lästig.«

Sie zieht ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückt sie dann eine Spur zu energisch in ihrem kleinen klappbaren Aschenbecher aus.

»Enkel kann man wieder abgeben. Die hat man nicht jahrelang an der Backe.«

Die Worte »wie dich« spricht sie nicht aus. Trotzdem höre ich sie.

Unser Essen kommt. Bis zur Rechnung schweigen wir uns an. Irmgard tötet noch zwei weitere Seemänner, dann kann ich endlich zur Bahn rennen.

 

Es sind nur noch wenige Menschen unterwegs. Der Großteil sitzt längst gemütlich zu Hause vorm Fernseher. Ich wünsche mich auch ganz dringend auf mein Sofa. Es ist herzlich wenig von meinem Abend übrig. Aber dafür habe ich jetzt mindestens zehn Tage irmgardfrei.

Ein junger Mann eine Reihe vor mir steht mit einem unhandlichen weißen Karton auf und verliert genau neben mir einen Umschlag. Ich sehe ihm hinterher, ob er es bemerkt hat, aber er wartet schon an der Tür auf die nächste Haltestelle. Mein Blick schweift schnell durch den Wagen. Keiner der anderen Fahrgäste hat den Umschlag bemerkt. Es widerstrebt mir sehr, durch den Waggon zu rufen. Vielleicht ist ja nichts Wichtiges in dem Umschlag, nur ein alter Brief. Soll er selbst auf sein Zeug achten, was geht mich das an. Die Bahn nähert sich der Haltestelle, mein Blick klebt an dem Umschlag. Er sieht dick aus. Ohne es wirklich zu wollen, hebe ich ihn auf. Die Straßenbahn hält an. Ich drehe ihn um. Er ist unverschlossen. Mehrere Geldscheine gucken mich an. Das sind bestimmt über vierhundert Euro. Die Türen öffnen sich, und der junge Mann steigt mit seinem Karton aus.

»Warten Sie!« Ich springe auf und renne ihm nach, aber er ist schon auf den Bahnsteig gelaufen. Mir bleibt keine andere Wahl, ich muss aussteigen und ihm nachlaufen. Super, eine Haltestelle vor meiner. Jetzt habe ich die Wahl zwischen laufen und auf die nächste Bahn warten. Mein Rest des Abends fährt mit der Bahn, die ich gerade verlassen habe, weg. Wo ist der Kartonmann? Ich sehe seine dunklen strubbeligen Haare, die sich wippend auf den Ausgang zu bewegen. Außer Atem erwische ich ihn gerade noch an der Rolltreppe.

»Das haben Sie verloren.« Keuchend halte ich ihm den Umschlag hin.

Seine dunklen Augen weiten sich vor Schreck. Er nimmt den Umschlag, presst ihn an seine Brust und schließt die Augen. Unglaublich dankbar sieht er mich an und will mich spontan umarmen. Ich weiche etwas zurück, und der Karton ist auch im Weg, also lässt er es und stottert nur: »Danke, vielen Dank! Das ist – so nett von Ihnen!«

Ich nicke und weiß nicht, was ich sagen soll. Dass er das nächste Mal besser auf seine Sachen aufpassen soll, damit andere Menschen nicht wegen ihm aus der Bahn steigen müssen, kommt mir irgendwie nicht über die Lippen.

»Das ist mein Monatslohn. Ich weiß gar nicht, wie ich den verlieren konnte. Was für ein Glück, dass Sie ihn gefunden haben und nicht jemand anders!«

Ich denke daran, dass ich den Umschlag gar nicht aufheben wollte, und schäme mich ein bisschen.

»Tja, ich muss dann mal nach Hause«, sage ich.

»Warten Sie! Mögen Sie Schokotörtchen? Jeder mag doch Schokotörtchen.« Lachend drückt er mir den Karton in die Arme und springt auf die Rolltreppe. Ohne Karton ist er erstaunlich leichtfüßig. Ich bleibe überrumpelt unten stehen, den Karton in beiden Händen, und schaue ihm nach. Er winkt, bis er oben ist. »Danke! Sie sind ein guter Mensch!«, ruft er und verschwindet.

Als ich endlich zu Hause bin, tun mir die Arme weh vom Kartonschleppen. Ich lege mich im Nachthemd auf mein Sofa, obwohl ich nur noch zwölf Minuten habe, bis ich ins Bett gehen muss.

Bevor ich neugierig den Karton öffne, streiche ich über die schöne geschwungene Schrift auf dem Deckel. Konditorei Mama Molli. Das klingt nach einem Ort, an dem es immer warm ist und nach Zimt duftet. Ob der Kartonmann für diese Konditorei arbeitet? Ich klappe den Deckel hoch und blicke auf eine ganze Armee tiefdunkler, glänzender Schokotörtchen. Einige sind mit Himbeeren und Heidelbeeren garniert.

Vorsichtig hebe ich eins mit Himbeeren aus der Packung. Um diese Uhrzeit esse ich normalerweise nichts mehr. Ich beiße ab. Es schmeckt himmlisch. Viel besser, als ich erwartet hatte. Schokoladig, fluffig, schmelzend lecker. Besser als jeder Vanillejoghurt. Andächtig kaue ich vor mich hin. Wie gut, dass ich den Umschlag aufgehoben habe.

Wer hätte gedacht, dass der Tag so endet? Mir fällt das Kind im Aufzug wieder ein. »Du musst nur jemanden in der Bahn ansprechen …«

Da besteht überhaupt kein Zusammenhang. Das ist lächerlich. Ich esse noch ein Törtchen und beschließe, nicht weiter drüber nachzudenken. Nach vier Törtchen gehe ich mit viel zu vollem Magen, aber seltsam zufrieden ins Bett.

Kapitel zwei

Ich schließe gerade meine Wohnung auf, als sich hinter meinem kleinen Schränkchen, das links neben der Wohnungstür auf dem Treppenabsatz steht, etwas bewegt. Etwas Großes. Größer als ein Tier. Ich schreie, also vielmehr es schreit mich. Ein unkontrollierter, hysterischer, erschrockener Schrei entfährt mir, ohne dass ich ihn zurückhalten kann.

Das größere Etwas schreit zurück. Es ist das Mädchen aus dem Aufzug.

»Bist du verrückt?«

»Wieso, du hast zuerst geschrien!«

»Weil du hier hinter meinem Schrank hockst. Du hast mich zu Tode erschreckt.«

»Du mich auch. Wieso schreist du denn so schrecklich?«

Ich hebe den Schlüssel auf, der mir vor Schreck aus der Hand gefallen ist. Ich will mir mein Abendessen machen und meine Dienstagsserie gucken. Dienstag ist Monktag. Monk ist ein seltsamer Detektiv, der tausend Ängste und Neurosen hat. Ich seh ihm gern zu, wie er unbeholfen durch seine Fälle stolpert und am Ende immer alles löst.

Schnell schließe ich meine Tür auf. Das Kind trägt wieder seine rote Baseballkappe und stellt sich direkt neben mich, bereit, mit mir zusammen meine Wohnung zu betreten.

»Geh nach Hause«, sage ich und stoße die Tür auf.

»Kann ich nicht. Ich hab meinen Schlüssel vergessen, und niemand ist da.«

Das ist ja großartig. Aber nicht mein Problem.

»Die kommen sicher gleich«, sage ich zuversichtlich, betrete meine Wohnung und knalle ihr die Tür vor der Nase zu.

Ich stelle meine Dienstagsschuhe auf ihren Platz und hänge meine Jacke auf. Während ich Pipi mache, zähle ich die Fliesen im Bad. Es sind zwölfeinhalb. Ich weiß es, weil ich sie jedes Mal zähle. Mein Magen knurrt. Wird Zeit, dass ich etwas zu essen bekomme. Ob das Mädchen auch Hunger hat?

Es ist wirklich nicht mein Problem, wenn sich die neuen Eltern genauso wenig um sie kümmern wie ihre Mutter zu Hause. Ich wasche Hände und schaue danach kurz in den Spiegel. Meine Haare sind schrecklich. Vielleicht sollte ich auch mal eine Baseballkappe tragen. Ich verbiete mir jeden weiteren Gedanken an das Kind, gehe in die Küche, öffne den Kühlschrank und starre eine Minute lang meine wenigen Vorräte an. »Verdammt«, fluche ich schließlich, schließe den Kühlschrank und schleiche zur Wohnungstür. Ich lege mein Ohr an das Holz und lausche. Nichts zu hören. Einen Spion habe ich leider nicht. Sie ist sicher ein Stockwerk tiefer und wartet dort. Ich lege die Hand auf die Klinke. Wenn ich einmal in den Flur lausche und nichts höre, kann ich sie vielleicht vergessen und mir endlich ein Essen machen. Ich öffne langsam die Tür. Das Kind steht direkt vor mir auf der Matte, als hätte es nur darauf gewartet. Sie hält den Kopf schief und schaut mich an. Ich seufze tief und öffne wortlos die Tür etwas weiter. Sie versteht und kommt wie eine kleine Katze sofort herein.

»Schuhe aus«, kommandiere ich, bevor sie weitere Schritte in den Flur machen kann. Sie zieht artig ihre Schuhe aus. Auf dem Schuhregal ist kein freier Platz. Natürlich nicht, denn meine Dienstagsschuhe stehen ja schon dort. Sie stellt ihre Schuhe einfach neben das Regal auf den Boden, was mir nicht passt, aber ich habe auch keine bessere Idee. Ich hebe sie hoch und stelle sie ein paar Zentimeter weiter nach links. Zu zweit betrachten wir ihr kleines Paar Stoffschuhe, das so verloren vor meinem Regal voller Damenschuhe steht. Sie schaut mich unsicher an, nimmt dann ihre Schuhe in die Hand und stellt sie auf die Fußmatte vor die Tür. Das ist besser. Ich nicke. Jetzt sieht es so aus, als würde sie gleich wieder gehen, und das gibt mir ein gutes Gefühl.

Sie folgt mir in die Küche.

»Möchtest du …« Ich unterbreche mich, weil ich sehe, wie sie mit den Fingern meine Küchentheke berührt. »Geh mal Hände waschen!« Ich deute auf die Badtür.

»Okay«, sagt sie fröhlich und verschwindet.

Ich schließe die Augen und fasse mir mit beiden Zeigefingern an mein Nasenbein. Warum habe ich sie reingelassen? Wie lange muss sie jetzt bei mir bleiben? Es ist zehn nach sechs. Um sieben beginnt Monk. Bis dahin werden ihre Pflegeeltern ja wohl wieder zu Hause sein. Ich werde uns einfach etwas zu essen machen. Dann essen wir, und dann geht sie. Ich reiße meinen Vorratsschrank auf. Was essen Kinder? Spaghetti. Spaghetti sind gut, und meistens habe ich auch welche da. Eine Fünfhundert-Gramm-Packung reicht für fünf Mahlzeiten. Ich koche immer genau hundert Gramm. Ich finde die Packung, in der noch zweihundert Gramm sind. Das passt. Im Kühlschrank habe ich noch Speck und Sahne. Das wird etwas knapp für zwei Personen, aber es wird gehen. Ich setze einen Topf mit Wasser auf, schalte den Herd an und kippe dann noch mal etwas Wasser nach. Ich bin es nicht gewohnt, für zwei Personen zu kochen. Ich esse immer allein. Ich kaufe ein, was ich für mich brauche, und fertig. Ich mag es nicht, Besuch zu haben. Man weiß nie, was der andere mag, kauft alles Mögliche ein, und dann steht es hier rum. Ich hasse es, Essen wegzuwerfen. Einmal habe ich für eine Kollegin, die nachmittags vorbeikommen wollte, um sich mein Sofa anzuschauen, weil sie für ihre neue Wohnung ein ähnliches Modell suchte, extra eine große Packung Kekse gekauft. Sie lehnte aber dankend ab, weil sie gerade Diät machte, und ich blieb auf der geöffneten Riesenpackung Kekse sitzen. Sie wurden weich und ungenießbar, und ich bin sowieso nicht so für Kekse. Ich musste alles wegwerfen. So eine Verschwendung. Nehme ich jetzt für das Kind auch hundert Gramm? Oder weniger?

Sie kommt zurück in die Küche und setzt sich auf meinen Barhocker an die Küchentheke.

»Das ist ein toller Platz!«, stellt sie fest. Ja, ist auch mein Platz. Von dort aus kann man den kleinen Küchenfernseher perfekt sehen. Man kann allerdings nicht zu zweit dort sitzen, denn ich habe nur einen Barhocker. Wir werden am Esstisch sitzen müssen, an dem ich nur zum Zeitunglesen sitze.

»Was meinst du, wie viele Spaghetti isst du?«

»Och, so viele wie du hast.«

Das ist keine hilfreiche Antwort. »Hundert Gramm?«, frage ich nach.

»Mach lieber tausend!«

Ich lege zweihundert Gramm Spaghetti in das kochende Wasser, warte kurz und schiebe die rausguckenden Enden nach und nach auch in die brodelnde Flut. Meine Mutter hat sie früher immer zerbrochen. Dann hatte man lauter kleine Stücke auf der Gabel, die einem runterrutschten.

»Wie lang sind die?«, fragt das Mädchen, das mir interessiert zuschaut.

»Wie, wie lang? Normal lang eben.«

»Ich meine, wie viele Zentimeter?« Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal.

»Keine Ahnung. Lang genug.« Ich gehe zum Kühlschrank und hole Speck und Sahne heraus.

»Darf ich messen?« Sie wedelt mit einem Lineal herum, das immer auf der Küchenzeile in einem Fach liegt. Typisch Kind, alles wird sofort angegrabscht. Sie hopst vom Barhocker herunter und drängelt sich vor den Herd.

»Die kannst du nicht mehr messen, die sind im heißen Wasser«, sage ich und lege den Deckel auf den Topf, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt.

»Ob gekochte Spaghetti länger sind als harte?«

Sie findet die leere Packung, die ich gerade wegwerfen wollte, zieht triumphierend eine übriggebliebene Nudel heraus und misst sie.

»25,7 Zentimeter«, sagt sie stolz, als hätte sie sie selbst auf diese Länge gezüchtet.

Mir ist das alles zu viel. Warum musste ich blöde Kuh auch die Tür noch mal öffnen? Ich konzentriere mich darauf, die Sauce zu machen, und decke dann den Tisch. Das Kind steht auf und läuft kreuz und quer durch meine Wohnküche. Ich finde, die Küche ist der schönste Raum meiner Wohnung. Es gibt ein großes halbrundes Fenster, unter dem mein kleiner Tisch steht, auf dem ich Bücher stapele und Zeitschriften aufhebe. Sogar mein altes grünes Sofa passt hier noch gut rein. Es macht den Raum gemütlich, auch wenn ich sehr selten dort sitze. Das Mädchen lässt sich schwungvoll auf das Sofa fallen.

»Deine Wohnung ist nett. Viel netter als du.«

Na vielen Dank. »Wie alt bist du eigentlich?«

»Zehn.«

»Zehn. Aha. In dem Alter weiß man aber schon, dass man Erwachsene nicht einfach duzen kann, oder?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Wir kennen uns doch.«

Ich schüttle den Kopf. »Ich weiß nicht einmal deinen Namen.«

»Schneewittchen.«

»Schneewittchen?«

Sie nickt.

»Das ist doch kein Name.«

»Was denn sonst?«

»Ein Märchen. Deine Eltern haben dich Schneewittchen genannt?«

Ich schütte die Nudeln ab und genieße den heißen Wasserdampf, der mir entgegenschlägt. Er umhüllt mich kurz wie eine warme feuchte Wolke, unter der alles in Ordnung ist.

»Nein. Ich hab mich Schneewittchen genannt.«

»Warum?«

»Weil mir mein echter Name nicht gefällt. Darf ich jetzt messen?« Sie kommt ganz nah neben mich und zeigt auf den Topf dampfender Spaghetti.

»Wenn’s sein muss.«

Ich reiche ihr eine Gabel, damit sie sich nicht die Finger verbrennt. Sie angelt sich eine Nudel aus dem Topf und breitet sie akribisch genau lang auf der Arbeitsplatte aus, dann misst sie. »Genau 29 Zentimeter« sagt sie zufrieden. »Das sind über drei Zentimeter mehr, hättest du das gedacht?«

Ich antworte nicht, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich ihr eine Portion auftun soll oder ob sie es lieber selber macht. Ich möchte nicht, dass sie mein Tischtuch mit Sauce bekleckert. Das kann natürlich auch beim Essen passieren. Ich hätte etwas unterlegen sollen. Geschirrtücher, die kann man besser waschen als die Tischdecke. Jetzt ist es zu spät. Ich müsste alles noch einmal abräumen. Schneewittchen setzt sich ungefragt und schaufelt sich eine riesige Portion Nudeln auf den Teller. »Sauce!«, verlangt sie freundlich und streckt mir ihren Teller entgegen. Ich fülle vorsichtig etwas Tomatensauce auf den Spaghettiberg. Als ich damit fertig bin, sehe ich erstaunt, dass sie auch meinen Teller schon mit Nudeln gefüllt hat.

Ich fülle auch meinen Berg mit Sauce auf und setze mich.

»Machst du keine Kerze an?«, will sie wissen.

Ich mache mir tatsächlich immer eine kleine Kerze zum Essen an. Auf der Küchentheke steht sie, dort wo sie hingehört. Da könnte ich jetzt allein gemütlich sitzen und in dreißig Minuten Monk gucken.

Ich stehe noch mal auf und hole die Kerze.

»Kennst du das so von zu Hause? Macht ihr euch immer Kerzen an?«, frage ich das Kind.

Sie schüttelt unbestimmt den Kopf. »Ich dachte nur, wenn wir zwei das erste Mal zusammen essen, sollten wir es besonders hübsch haben. Findest du nicht?«

Das erste und letzte Mal, denke ich, nicke aber und zünde den Docht an.

»Guten Appetit«, wünscht Schneewittchen und fängt an zu essen.

»Pass bitte auf. Die Tischdecke ist ganz frisch.«

Die Spaghetti sind gut. Auch die Sauce ist mir gelungen, obwohl ich mir mit der Menge für zwei Leute unsicher war und ein bisschen zu wenig Speck drin ist. Ich beobachte das Kind. Sie isst ganz ordentlich. Vielleicht geht das mit der Tischdecke sogar gut. Ich entspanne mich ein bisschen. Eine Weile ist die Kleine so beschäftigt mit ihren Nudeln, dass sie keine Fragen stellt.

Wir könnten Schokotörtchen zum Nachtisch essen, fällt mir ein. Ich habe ja noch die ganze Packung voll, die kann ich allein gar nicht schaffen. Allerdings ist es riskant, ein Kind mit Schokolade zu füttern. Das wird man dann nie mehr los. Noch einundzwanzig Minuten, bis Monk läuft.

»Hast du deine Aufgabe geschafft?«

Ich verstehe nicht, was sie meint.

»Hast du jemanden in der Bahn angesprochen?«

»Nein. Also nicht absichtlich. Ich musste einem hinterherlaufen, weil er einen Umschlag verloren hat.«

»Was war drin in dem Umschlag?«

»Geld.«

»Viel Geld?«

»Ja, viel Geld.«

»Woher weißt du das? Hast du reingeschaut? Das macht man aber nicht, man darf nicht in fremde …«

»Er war offen! Und ich wollte ihn weder aufheben noch reingucken, hab es aber glücklicherweise getan, und der Mann war so glücklich, dass er mir einen Karton voller Schokotörtchen geschenkt hat.«

Triumphierend schaue ich sie an und nehme einen Schluck Wein aus meinem Glas. Mir fällt auf, dass sie gar nichts zu trinken hat. Ich stehe auf und hole ihr ein Glas. Hoffentlich trinkt sie Wasser, ich habe nämlich sonst nichts da.

»Ein Karton voller Schokotörtchen?« Sie bekommt ganz rote Wangen vor Begeisterung. »Wie groß ist der Karton? Soooo groß?« Sie breitet die Arme aus. Ich hole ihn aus dem Kühlschrank und stelle ihn auf den Tisch.

Sie fährt genau wie ich gestern Abend andächtig mit dem Finger über die schöne schnörkelige Schrift auf dem Deckel.

Dann sieht sie mich fragend an. Sie traut sich nicht, ihn ohne meine Erlaubnis zu öffnen. Ob ihre Mutter viel mit ihr schimpft? So wahnsinnig schwierig finde ich das Mädchen gar nicht. Immerhin hat sie es geschafft, meine Tischdecke nicht vollzukleckern.

»Mach auf«, erlaube ich.

Sie öffnet den Deckel. Während sie staunt, räume ich unsere Teller ab und stelle uns zwei frische hin. Schokolade krümelt natürlich. Ich hole schnell noch ein Küchenhandtuch und lege es unter Schneewittchens Teller. Die Tischdecke hat sich so gut gehalten, das muss man jetzt nicht auf den letzten Metern versauen. Noch zwölf Minuten, bis Monk läuft.

Wir genießen beide ein Törtchen mit Blaubeeren obendrauf.

»Du darfst dir noch eins mitnehmen, wenn du möchtest.« Sie steht auf und räumt meinen und ihren Teller in die Küche.

»Ich gehe jetzt, stimmt’s?«, sagt sie traurig.

»Ja, du gehst jetzt. Ich hab dir ein Essen gekocht und jetzt, jetzt gehst du wieder. Es kann gar nicht mehr lange dauern, bis deine Pflegeeltern wieder da sind. Sicher sind sie sogar schon zu Hause und machen sich Sorgen.«

Sie nickt zustimmend und nimmt sich ein Törtchen aus der Packung. »Danke.«

»Keine Ursache.«

Sie schaut auf die restlichen Törtchen. Es sind bestimmt noch fünfzehn.

»Isst du die alle?«, fragt sie.

»Nein.« Ich muss etwas lächeln bei dem Gedanken.

Ihr Gesicht leuchtet auf. »Dann habe ich deine nächste Aufgabe!«

O nein, bitte nicht. Noch vier Minuten, bis Monk läuft. Ich bugsiere sie in den Flur. »Schnee…« Mir fällt es schwer, sie so zu nennen. »Schneewittchen, pass auf, ich bin nicht gut mit Kindern. Ich hab es generell nicht so mit anderen Menschen. Du bist ein nettes Kind, aber ich will nicht mit dir spielen, und ich will auch keine Aufgaben bekommen.«

»Wenn du es generell nicht so mit Menschen hast, ist die Aufgabe genau richtig für dich!«

Ich seufze.

»Aufgaben müssen schwer sein, sonst sind es keine Aufgaben. Dann wären es ja Leichtgaben.« Sie lacht. »Das mit der Bahn hast du ganz toll gemacht. Ich bin sehr stolz auf dich.«

Sie ist also stolz auf mich, als wäre ich ihr Schüler. Das ist doch albern. Ich muss sie jetzt wirklich loswerden. In drei Minuten fängt Monk an, und ich trage noch gar nicht meine Fernsehjogginghose. Ich öffne demonstrativ die Haustür, und sie hockt sich hin und zieht sich ihre Schuhe an.

»Du hast jede Menge Törtchen übrig, also ist deine nächste Aufgabe, dass du mindestens zehn davon verschenken musst. Den Rest essen wir zusammen, wenn du das geschafft hast.« Sie steht schwungvoll auf und hält sich kurz an meinem Arm fest, weil ihr schwindelig wird. Ihre kleine Hand ist ganz warm.

Ich will etwas Abwehrendes sagen. Sie lässt die Hand auf meinem Arm und schaut mich bittend von unten an. Eine kleine Person in Kapuzenpulli und weißen Stoffschuhen, auf denen kleine blaue Sterne sind. Die habe ich vorhin gar nicht bemerkt. »Versprich es.«

Monk fängt an, ich muss weg. Was soll’s. »Okay«, stimme ich zu, nehme meinen Arm weg und schließe schnell die Tür.

Ich fliege in mein winziges Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Programm elf einstellen, schnell. Verdammt, der Vorspann läuft schon. Ich renne ins Schlafzimmer, reiße meine Fernsehjogginghose aus dem Schrank und ziehe mich im Wohnzimmer vor dem Fernseher um, damit ich nicht den Anfang verpasse. Ich habe zwar einen Festplattenrekorder, den ich programmieren könnte, aber das mache ich nie. Jeden Dienstag um neunzehn Uhr läuft Monk, und ich wüsste nicht, was ich zu dieser Zeit Besseres tun sollte, als auf meinem guten Sofa zu sitzen und zu gucken. Die Küche werde ich später aufräumen. Ich lege mich gemütlich hin, breite die flauschige Decke über mir aus und schaue mir den Mordfall an, um den es heute geht. Ich warte auf das wohlige Gefühl, das ich immer bekomme, wenn ich Monk sehe. Die ganze Woche freue ich mich auf die Serie. Heute stellt es sich nicht ein. Vielleicht weil ich den Vorspann halb verpasst habe?

In der Werbepause gehe ich schnell auf die Toilette. Ich zähle zwölfeinhalb Fliesen. Meine Wohnung kommt mir leer vor. Bin ich jetzt bescheuert? Ich räume schnell in der Küche alles auf, bis nichts mehr an den Besuch von Schneewittchen erinnert. Die Kerze kommt an ihren Platz und das Lineal auch. Es ist schon erstaunlich, dass Spaghetti so viel länger werden, wenn man sie kocht. Hätte ich nicht gedacht. Morgen kann ich wieder mit Ella frühstücken an meinem richtigen Platz. Mittwochs mit Bild und Ton. Das wird schön. Ich nehme mir noch ein Schokotörtchen aus dem Kühlschrank. Ich kann tatsächlich nicht alle essen. Ob man die einfrieren kann? Das hätte ich sicher gleich tun müssen. Ich mache noch einen Abstecher in den Flur, öffne die Wohnungstür und lausche in das dunkle Treppenhaus. Ganz leise dringen Gesprächsfetzen an mein Ohr. Eine Frau lacht. Sicher ist Schneewittchen inzwischen zu Hause.

Mit Törtchen auf einem Teller nehme ich wieder Platz auf meinem Sofa. Zudecken, weitergucken. Dann eben ohne das gute Gefühl. Wer kann Gefühlen schon trauen? Mir schmeckt das zweite Törtchen nicht mehr. Es krümelt auch überall hin. Wieso kann ich das hier nicht genießen? Ich habe nur noch die Hälfte von der Serie vor mir, dann dauert es wieder eine Woche, bis ich die Chance auf das wohlige Monk-Gefühl habe. Ich reiße mich jetzt zusammen. Das kommt davon, weil ich den Abend nicht perfekt vorbereiten konnte. Ich habe mir keinen Tee kochen können. Es muss am fehlenden Tee liegen.

Den Rest der Serie gucke ich, grimmig entschlossen, es zu genießen. Als ich aufstehe und die Decke zusammenlege, merke ich, wie verspannt ich bin. Ich strecke mich erst ganz weit nach oben, dann beuge mich nach vorn. Meine Fingerspitzen berühren nicht den Boden. Da fehlen sicher fünf Zentimeter. Man könnte mich weichkochen, dann wäre ich länger. Dann würden nur zwei Zentimeter fehlen.

Was für ein Blödsinn. Ich beschließe, früher als sonst ins Bett zu gehen und noch etwas zu lesen.

Es ist mir etwas peinlich, sogar vor mir selbst, aber ich lese ausschließlich Kinder- und Jugendbücher. Ich habe natürlich auch Literatur für Erwachsene, aber ich kann mit den meisten Büchern nichts anfangen. Immer geht es um Liebe, darum, wie die zwei sich am Ende kriegen. Diese Welt ist mir fremd. Ich bin gerne allein. Ich verstehe nicht, warum alle immer meinen, man könne nur zu zweit oder als Familie glücklich sein. Allein zu leben bringt sehr viele Vorteile, aber in keinem Buch wird das so erzählt. Immer gibt es dieses anstrengende Streben nach einem besseren Leben, erfüllt von Liebe und was weiß ich noch für einem Quark.

Ich mag einfache Geschichten, die in einer Welt spielen, in der es noch Plätzchen backende Großmütter gibt und Zauberkräfte. Natürlich sind Kinderbücher noch unrealistischer als die für Erwachsene, aber das stört mich nicht. Es gibt immer die Guten und die Bösen, und am Ende siegt das Gute. Genau wie bei Monk.

In Kinderbüchern bekommt die Welt so eine schöne Ordnung. Böse Stiefmütter werden verbrannt, echte Mütter sind gut und liebevoll und Kinder tugendhaft und mutig. Die Väter spielen meistens keine große Rolle, auch das gefällt mir. Meinen eigenen Vater kenne ich nicht, er hat meine Mutter sitzenlassen, als sie mit mir schwanger war. Man kann problemlos ohne Vater aufwachsen. Ich brauche das ganze Bohei nicht, das in Filmen und Büchern über verschwundene Väter gemacht wird. Am Ende finden sie sich dann und sinken sich in die Arme. Schwachsinniger geht es doch nicht mehr. Mein Vater wollte mich nicht, warum sollte ich also ein Interesse an ihm haben? Sicher, als Kind habe ich mir manchmal vorgestellt, wo er ist und was er wohl macht, aber jetzt habe ich keine großen Ambitionen herauszufinden, ob er alkoholkrank in irgendeinem heruntergekommenen Loch sitzt oder Multimillionär in Abu Dhabi wurde. Wozu? Mir reicht ein schwieriger Elternteil vollkommen aus.

Ich schlage Die Wunderbäckerei auf, lese ein ganzes Kapitel über das Mädchen Lucky, das mit Zaubermuffins eine ganze Herde Pferde zum Fliegen bringt, packe meine Lesebrille sorgfältig weg und lösche das Licht.

 

Am nächsten Morgen stehe ich unschlüssig vor dem Kühlschrank. Jetzt ist es definitiv zu spät, die Törtchen einzufrieren. Heute kann man sie sicher noch gut essen, aber ab morgen werden sie nicht mehr schmecken.

Es stresst mich, dass ich nicht weiß, was ich mit den fünfzehn Törtchen machen soll. Ich kann sie nicht alle essen, ich will sie aber auf keinen Fall wegwerfen. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, ich muss sie verschenken. Damit erfülle ich dann aber schon die zweite dusselige Aufgabe des Mädchens. Das widerstrebt mir. Langsam wird mir kalt vor dem Kühlschrank. Ich hole den Karton heraus und stelle ihn auf die Küchentheke.

Ich werde ihn einfach im Büro in die Kaffeeküche stellen. Muss ja keiner wissen, dass sie von mir sind. Und wenn das nervige Mädchen nachfragt, werde ich behaupten, ich hätte sie weggeworfen. So mache ich es.

Ich stelle die Morgenmoderatorin Ella aus, klemme mir entschlossen den Karton unter den Arm und verlasse meine Wohnung.

Im Büro angekommen stelle ich fest, dass mein Plan nicht aufgehen wird. Ausgerechnet heute feiern zwei Kolleginnen Geburtstag und haben Kuchen mitgebracht. Na super. Konnten die nicht an einem anderen Tag feiern? Jetzt muss ich meinen Karton irgendwie verstecken, damit mich keiner fragt, was da drin ist. In meinen Rollcontainer unter dem Schreibtisch passt er nicht. Ich werde ihn am besten unten am Empfang abgeben. Ich arbeite in einem großen Versicherungsbüro. Gleich wenn man reinkommt, meldet man sich mit seinem Mitarbeiterausweis am Zeiterfassungsterminal an. Das ist einfach eine kleine Säule mit einem Schlitz, durch den ich meinen Ausweis ziehe. Dann zeigt er mir beim Reingehen meine »Kommzeit« an, und wenn ich nach Hause gehe, meine »Gehzeit«. Hinter dem Empfangstresen komme ich mit meinem Mitarbeiterausweis selbständig durch eine Drehtür, es gibt also normalerweise keine Veranlassung, mit der Empfangsdame unten zu sprechen. Daher kann ich nicht einschätzen, ob sie meine Bitte aufdringlich finden wird.

Bevor mich jemand mit dem Karton sehen kann, laufe ich schnell wieder zurück ins Erdgeschoss. Im Aufzug hätte ich ja eventuell Kollegen getroffen. Jetzt stehe ich unentschlossen vor der Drehtür herum, die mich vom Empfang trennt. Was sage ich bloß?

»Entschuldigung, könnten Sie vielleicht diesen Karton für mich aufbewahren?« Reicht das? Oder muss ich erklären, warum? Soll ich sagen, was da drin ist, damit sie nicht denken, ich bin eine durchgeknallte Mitarbeiterin, die jetzt schnell eine Kartonbombe unten am Empfang deponiert?

Ich laufe zwischen Treppe und Drehtür hin und her, während ich nachdenke. Wie lächerlich ist das denn? Ich werde da jetzt rausgehen und die Frau fragen, ob sie diesen Karton für mich verwahren kann bis sechzehn Uhr. Bis sechzehn Uhr klingt super, das klingt dienstlich, terminlich, das ist was Reelles. Ich hole tief Luft und trete durch die Drehtür. Die Dame am Empfang legt gerade den Hörer auf und wendet sich mir zu. Es ist gar keine Frau, es ist ein Mann. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Mein Kopf ist ganz leer.

»Ich hab diesen Karton«, höre ich mich sagen. »Den habe ich bis sechzehn Uhr, und da wollte ich mal fragen ob …« Himmel, was rede ich denn da? So geht das nicht. Ich muss hier weg.

»Ach, wissen Sie was, vergessen Sie es, ich weiß schon, wie ich es mache.« Ich will eine unbekümmerte Handbewegung machen, dabei rutscht mir der ganze Karton auf den Empfangstresen, und die Schokotörtchen purzeln fröhlich eine Etage tiefer neben sein Telefon auf die Unterlagen, die dort liegen. Kleine Schokokrümel überall. Die Himbeeren sind runtergefallen, das gibt bestimmt Flecken. Ich würde am liebsten sterben.

»O Gott, Entschuldigung! Ich …« Hochrot versuche ich, so schnell ich kann, die Törtchen wieder einzusammeln. »Ich mach das wieder sauber. Es tut mir so leid!«

»Das ist doch kein Problem«, sagt der Mann und hilft mir beim Einsammeln der Törtchen. Ich kann ihn nicht angucken, weil ich damit beschäftigt bin, die Tränen zurückzuhalten. Warum habe ich die Scheißtörtchen überhaupt mitgenommen? Warum habe ich sie nicht einfach weggeschmissen? »Kommen Sie, ich mache Ihnen auf, dann kommen Sie besser ran.«

Seine Hilfsbereitschaft macht alles nur noch schlimmer. Er öffnet mir eine Schranke, und ich stolpere ihm hinterher auf die andere Seite des Empfangstresens. In diesem Moment betritt auch noch mein Chef, Herr Leupold, die Empfangshalle. »Guten Morgen!«, schmettert er fröhlich in den Raum. Hoffentlich sieht er mich nicht.

»Na, Frau Schenil, was machen Sie denn hier? Haben Sie etwa Ihren Job gewechselt? So schlimm ist unsere Abteilung doch gar nicht.«

Ich bemühe mich zu lächeln und stammle: »Tja, haha …« Schlagfertigkeit ist auf einer Liste mit meinen besten Fähigkeiten so etwa auf dem Platz dreiundzwanzigtausend. Gott sei Dank, er geht weiter durch die Schleuse.

Kurze Zeit später sind alle Törtchen wieder in ihrem Karton. Wie kriege ich jetzt die Krümel von den Unterlagen? Das ist eine Katastrophe. Ich kann hier nie wieder vorbeikommen. Ich muss einen Hintereingang finden oder kündigen. Der Pförtner nimmt eine Pappe, schiebt mich mit einem »Darf ich mal« zur Seite und fegt alle Schokokrümel gekonnt in seine Hand und vorn dort in den Papierkorb. Die Himbeeren liest er mit den Fingern auf, steckt sie sich in den Mund und lacht mich an.

»Lecker!«, sagt er.

»Ich, Sie, Sie können gern auch ein Törtchen haben. Ich hab die alle übrig«, stottere ich und tupfe an dem kleinen Himbeerfleck herum, der zurückgeblieben ist. Der Mann zerknüllt das Himbeerfleckpapier einfach und nimmt sich ein Törtchen aus dem Karton. »Gern! Vielen Dank.«

»Nein, ich habe zu danken. Sie sind wirklich nett, und Entschuldigung noch mal, dass mir hier der Karton ausgekippt ist.«

»Ich bewahre ihn für Sie auf. Bis vier, stimmt’s?«

Ich schaue ihn das erste Mal richtig an. Er hat braune Haare und braue Augen mit kleinen Fältchen drum herum. »Danke, das wäre sehr nett. Sie sind nett.« Mein Gott, das habe ich doch schon gesagt. Jetzt denkt er, ich bin nicht nur ungeschickt, sondern auch etwas debil.

»Kein Ding«, sagt er. »Und das hier«, er hält das Törtchen hoch, »hebe ich mir auf zum Nachtisch heute Mittag.«

Ich will sagen, wie lecker die Törtchen sind, und dass ich mich freue, dass er nicht sauer war. Aber ich habe Angst, dass mir wieder rausrutscht, er sei nett, darum sage ich gar nichts und halte nur einen Daumen hoch. Dann verschwinde ich, so schnell ich kann, durch die Schleuse.

Den ganzen Vormittag überlege ich, wie ich mich unbemerkt aus dem Gebäude schleichen könnte. Aber selbst wenn mir das gelingt, muss ich ja morgen wieder an dem Pförtner vorbei. Dann ist es noch peinlicher, weil ich meinen Karton nicht mitgenommen habe. Ich muss ihn abholen.

In der Mittagspause schließe ich mich im fünften Stock auf der Toilette ein. Hier geht kaum jemand hin, deshalb hat man meistens seine Ruhe. Ich verriegele die Tür in der engen Kabine und stehe unschlüssig vor dem Klo herum. Ich will mir genau überlegen, was ich nachher beim Abholen sage. Aber hier mit Blick auf die Toilette fällt mir nichts ein. Ich schließe wieder auf und laufe ein bisschen vor den Waschbecken auf und ab. Das ist besser.

»Vielen Dank für das Aufbewahren und noch mal Entschuldigung wegen heute Morgen«, übe ich halblaut vor mich hin. Oder soll ich mich zuerst entschuldigen?

»Entschuldigung für heute Morgen und vielen Dank für das Aufbewahren. Sie sind wirklich nett. – Nein, verdammt, nicht sagen, dass er nett ist. Auf keinen Fall!«, schimpfe ich mit mir selbst. Ich stütze mich auf ein Waschbecken und schaue versehentlich in den Spiegel. Großer Fehler, denn jetzt würde ich am liebsten überhaupt nie den Karton abholen und gar nicht mehr zur Arbeit gehen. Warum bin ich nur so eine hässliche, ungeschickte Frau? Ich muss mich konzentrieren. »Erst bedanken oder erst entschuldigen?«, frage ich mein Spiegelbild.

»Erst bedanken«, sagt jemand hinter mir. Vor Schreck kriege ich fast einen Herzinfarkt. Eine Frau in meinem Alter mit wuscheligen roten Haaren tritt neben mich an ein Waschbecken und wäscht sich die Hände.

»Ich würde mich erst bedanken und ruhig sagen, dass er nett ist. Hört man doch viel zu selten!« Sie schaut mich durch den Spiegel an und scheint meine knallrote Gesichtsfarbe gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie redet mit mir, als würden wir uns seit Jahren kennen. Gesehen habe ich sie, glaube ich, auch schon mal in der Kantine.

Sie trocknet sich die nassen Hände mit einem Papiertuch ab und reicht mir dann die rechte. »Nancy Brandt, Vertragsabteilung, ich wollte nicht lauschen.«

Ich nehme ihre Hand und sage: »Edith Schenil, Leistungsabteilung. Ich hab hier bloß … geübt.«

»Kenn ich, mach ich auch manchmal. Nicht unbedingt hier, aber zu Hause.« Sie lächelt mich an. Sie hat jede Menge Sommersprossen im Gesicht. Bei ihr sehen sie gut aus. Bei anderen Frauen sieht ganz viel gut aus, was an mir einfach nur kläglich wirkt.

»Lust auf einen Vanillejoghurt?«, fragt sie mich. »Ich bin süchtig nach dem Zeug«, fügt sie hinzu.

Ich hatte heute schon einen Vanillejoghurt. Zwei an einem Tag esse ich nie. »Nein, danke«, lehne ich ab.

»Na, dann viel Spaß noch beim Üben!« Sie öffnet schwungvoll die Tür zum Flur, winkt mir zu und verschwindet. Vielleicht hätte ich doch einen Joghurt mit ihr essen sollen. Mein Spiegelbild schaut mich vorwurfsvoll an.

Was soll’s. Sicher war die Einladung nur eine Floskel. Was ist das überhaupt für eine Person, die andere Menschen heimlich auf der Toilette belauscht und das dann auch noch anspricht? Ein längeres Gespräch mit ihr wäre sicher schrecklich gewesen.

Ich kehre zurück in meine Abteilung und vergrabe mich die nächsten Stunden vor dem Computer. Ich bearbeite zügig einen Vorgang nach dem anderen. Sobald ich ihn archiviert habe, mache ich einen kleinen Strich auf meinem Zettel unter den Buchstaben MLE, die stehen für maschinelle Leistungsverarbeitung. Nach jedem Telefonat gibt es einen Strich bei T für Telefon. Jeder fünfte Strich fühlt sich gut an, weil ich dann ein kleines Bündel Striche zusammenhabe. Auf vierzig MLE sollte ich jeden Tag kommen, meistens schaffe ich sogar fünfundvierzig. Je nachdem wie viel Telefonstriche ich machen muss.