Die Prophezeiung der Giraffe - Judith Pinnow - E-Book
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Die Prophezeiung der Giraffe E-Book

Judith Pinnow

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Beschreibung

Hanna lebt allein ein ganz normales Leben und vermisst nichts. Nur ihre romantisch veranlagte beste Freundin Svenja sucht nicht nur für sich den Mr Right, sondern auch für Hanna. Als eine Serie merkwürdiger Ereignisse Hannas Alltag überrollt, ist sie irritiert: Erst zieht eine ihr unbekannte ältere Dame einfach in den Wohnwagen hinter ihrem Haus ein, dann entdeckt sie im Vorgarten eine Giraffe, die mit langem Hals die Blätter von ihrer Kugelrobinie frisst. Ab diesem Tag passiert Hanna eine unwahrscheinliche Sache nach der anderen. Ihre Freundin Svenja ist sicher, dass nur die Magie der großen Liebe diese Reihe beenden wird, und gibt eine Kontaktanzeige für Hanna auf. Sie beschließen, dass beide gleichzeitig jede einen Mann in ihrem Lieblingscafé treffen wollen. Wer bekommt am Ende die große Liebe?

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EPUB
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Seitenzahl: 479

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Judith Pinnow

Die Prophezeiung der Giraffe

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Hanna Lambert hat von ihrer Mutter ein wunderschönes Haus mit einem sehr großen Garten geerbt, in dem ein alter Wohnwagen steht. Eines Tages sitzt eine ältere Dame in bunter Strickjacke an einem kleinen Campingtisch vor dem Wohnwagen. Auf ihre Frage, was sie da mache, antwortet die Frau, sie sei in den Wagen eingezogen und lebe jetzt hier. Hanna ist so perplex, dass sie nicht weiß, was sie sagen soll. Sie fällt aber erst recht aus allen Wolken, als sie eine Giraffe in ihrem Vorgarten antrifft, die mit langem Hals die Blätter von ihrer Kugelrobinie frisst.

Seit diesem Tag passiert Hanna eine unwahrscheinliche Sache nach der anderen. Was hat das zu bedeuten? Offensichtlich hat die Strickjackenfrau ihre Hände im Spiel, denn mit ihr fing alles an. Hannas Freundin Svenja kennt sich aus mit Magie und ahnt, dass die Serie seltsamer Ereignisse nur enden kann, wenn Hanna etwas aktiv in ihrem Leben verändert.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Für Hilo und alle [...]

Eine Woche vorher

Die Frau in der Strickjacke

Svenja

Regenbogen-Eier

Mit Geschmack

Lichtermeer

Spurensuche

Eine ungewöhnliche Einladung

Majas Geheimnis

Sebastian

Die große Liebe

Regenbogen aus dem Gartenschlauch

Amor

Samstag

Sonntag

Der Klaus

Rivalinnen

Die Wurst

Schluss damit

Neuanfang

Verschränkung von Elementarteilchen

Wenn der Himmel leuchtet

Was wird aus

Für Hilo und alle anderen Lehrerinnen mit Herz

Eine Woche vorher

Hinterher weiß man alles besser. Ich hätte diese letzte ruhige Woche genießen sollen, aber ich hatte ja keine Ahnung, was bald auf mich zukommen würde. Meine Hortensien vor dem Haus waren noch komplett unversehrt und zeigten die ersten Blüten. Es ist jedes Jahr eine kleine Überraschung, welche Farbe sie bekommen. Meine Mutter hat sie früher mit einer speziellen Flüssigkeit gegossen, damit sie immer schön blau blühen. Ich mache das nicht, und so sind sie mal pink, mal lila und seltsamerweise ab und zu auch noch blau. Blau mag ich sie am liebsten, weil es mich an meine Mutter erinnert. Maja ist seit zehn Jahren tot, aber ich habe sehr viele Dinge, die mich an sie erinnern. Schließlich lebe ich in ihrem wunderschönen Haus mit dem viel zu großen, inzwischen ziemlich verwilderten Garten. Ich weiß nicht, wie Maja das früher geschafft hat. Kein Mensch kann so einen großen Garten in Schuss halten, deshalb konzentriere ich mich auf den Vorgarten mit den Hortensien und lasse hinten alles wuchern. So eine Sommerwiese hat absolut ihren Reiz zwischen den alten Bäumen. Jedes Mal, wenn mein Bruder Sebastian mit seiner Familie hier ist, sagt er: »Ich komme mal nächste Woche mit meiner Astschere die Bäume schneiden«, aber er kommt natürlich nie, und so bleiben sie, wie sie sind. Von der Terrasse aus kann man die Schaukel sehen, die ich, wie alle glauben, für meine Nichten Liz und Sophie aufgehängt habe. Die Wahrheit ist, dass ich selbst richtig gern schaukle.

Ich stoße mich mit meinen Füßen vom Boden ab und nehme ordentlich Schwung. Meine langen Haare fliegen hinter mir her, und ich fühle mich leicht. Die Seile der Schaukel sind an einem Ast ganz oben in der alten Kirsche angebracht. Mein Nachbar Friedhelm hat sie damals für mich befestigt. Es schaukelt sich anders mit so langen Seilen. Es ist ein bisschen wie fliegen. Ab und zu schaukeln meine Freunde bei mir, aber nie lange, sonst wird ihnen schwindelig. Angeblich kann das Gleichgewichtsorgan mit fortschreitendem Alter solche Bewegungen nicht mehr gut verarbeiten. Kaum einer kann mit vierzig plus noch richtig hoch schaukeln, was doch wirklich schade ist. Bei mir funktioniert es noch, vielleicht ist es auch einfach eine Übungssache.

Geübt bin ich jedenfalls. Jeden Morgen vor der Arbeit, wenn andere Leute laufen, setze ich mich auf meine Schaukel. Ich habe ein kleines Ritual entwickelt: Erst fasse ich die Schaukelseile an, setze mich aber noch nicht hin. Ich gehe einige Schritte rückwärts, so dass das Brett genau auf der Höhe meines Pos hängt. Wenn ich bereit bin, sage ich leise »Guten Morgen, Hanna« zu mir, ziehe mich dann mit den Armen ein Stück nach oben und lande schon im Losschwingen auf dem Brett. Dann schwinge ich konzentriert hin und her und gewinne an Höhe.

Ich brauche genau siebenmal Vor- und Zurückschwingen, um auf eine optimale Schaukelhöhe zu kommen. Dazu gehört allerdings eine gewisse Körperspannung. Auf der perfekten Höhe angekommen, schaukle ich weiter und sortiere im Kopf meinen Tag. Was ist heute wichtig? Wie will ich mich fühlen? Was nehme ich mir heute vor? Die Antworten auf die Fragen sind ganz und gar nicht bedeutungsvoll. Aber mir hilft dieses Morgenritual irgendwie.

Wenn ich mit meinem Sortieren fertig bin, kommt der Genussteil. Ich lege den Kopf so weit in den Nacken, dass alles auf dem Kopf steht, und lasse mich treiben. Manchmal schließe ich dabei die Augen. Heute lasse ich sie offen. Abwechselnd fliegen die Baumkrone und Teile des Gartens an mir vorbei. Baumkrone, Garten, Baumkrone, Garten, Baumkrone, Frau mit bunter Strickjacke.

Ich komme aus dem Rhythmus, weil ich mich abrupt aufrichte. Die Schaukel schlingert, ich drehe mich um, will die Frau mit der bunten Strickjacke sehen, aber die ist verschwunden. Ich rekonstruiere noch einmal, wo im Garten ich sie über Kopf gesehen habe, aber da ist nichts. Vielleicht waren es nur ein paar bunte Wiesenblumen, die mein Gehirn zu einer bunten Strickjacke zusammengesetzt hat. Zögernd schaukle ich weiter. Nach kurzer Zeit höre ich auf. Jedes Schaukeln wird mit einem präzisen Abspringen beendet. Ich springe immer auf die gleiche Stelle. Das Gras weiß das schon und wächst dort nur noch spärlich.

Von der Terrasse aus schaue ich noch mal in den Garten. Keine Frau mit bunter Strickjacke zu entdecken. Dafür sehe ich einen grünen Papagei hinten links auf dem Pflaumenbaum. Ab und zu verirrt sich einer der in unserer Stadt freilebenden Papageien in meinen Garten. In den sechziger Jahren sollen ein paar von ihnen aus dem Zoo ausgebüxt sein, und seitdem haben sie sich fröhlich vermehrt. Ich mag sie gern mit ihrem roten Schnabel und dem immer etwas geneigten Kopf. Tage, an denen ich einen grünen Papagei im Garten entdecke, sind gute Tage, daran wird auch eine Strickjackenhalluzination nichts ändern.

Ich nehme mir immer vor, um Viertel vor acht in der Schule zu sein, aber dann ist doch noch dies und das zu tun. Mal muss ich noch schnell die Spülmaschine einschalten, mal gefällt mir im letzten Moment meine Frisur nicht, und ich mache hastig meinen geflochtenen Zopf auf, um mir die Haare in einem Dutt oben auf dem Kopf zusammenzuknüllen. Je unordentlicher, umso besser. Einer meiner Schüler hat das mal liebevoll als Vogelnest betitelt. Ich bin Lehrerin. An der Art und Weise, wie andere Menschen meine Berufsbezeichnung wiederholen, kann ich sofort erkennen, was sie davon halten. Die meisten haben schlechte Erfahrungen mit Lehrern gemacht. Damals in ihrer eigenen Schulzeit oder, noch schwerwiegender, bei ihren Kindern. Ein wenig besänftigt es sie, wenn ich sage, dass ich Grundschullehrerin bin. Ich falle dann unter die Rubrik »harmlos«. Es dauert oft eine harte halbe Stunde, um aus der »Bastel- und Blümchenschublade« wieder herauszukommen. Dabei bastle ich gar nicht gern. Jeder hat ja Aufgaben in seinem Job, die er nicht so leiden kann. Ansonsten finde ich meinen Beruf jedoch einfach unheimlich sinnvoll, und sinnvolle Dinge zu tun, dazu sind wir schließlich auf der Welt.

Ich schwinge mich auf mein Rad und fahre die zwei Komma vier Kilometer zur Schule. Auf das Komma vier lege ich Wert, denn mit Hin- und Rückweg sind das schon Komma acht, also fast ein ganzer Kilometer mehr, den man nicht unter den Tisch fallen lassen sollte. Wenn es drauf ankommt, kann ich sehr genau sein, auch wenn meine Frisur aussieht wie ein Vogelnest.

Es ist so warm, dass ich ohne Jacke fahren kann. Ich habe einen blöden Ohrwurm im Kopf, einen Song, den ich gestern gehört habe. In dem Text sitzt einer auf dem Bett und isst Steine. Ich finde die Vorstellung, wie jemand in Steine beißt, fürchterlich. Sofort tun mir alle Zähne weh, und ich muss mit der Zunge über meine Zahnreihen fahren, um zu testen, ob sie noch in Ordnung sind. Auf dem Bett sitzen und Steine essen ergibt nun wirklich überhaupt keinen Sinn. Ich versuche, den Text umzudichten in: Sitze auf dem Bett und esse Schokolade. Das sind leider zu viele Silben. Stei-ne hat nur zwei. Vielleicht kann ich etwas anderes nehmen, was sich auf »esse Steine« reimt. Flicke Beine. Sitze auf dem Bett und flicke Beine, singe ich probeweise vor mich hin, leise, weil ich jetzt mit anderen Fahrradfahrern zusammen an einer Ampel stehe. »He, Kollegin«, ruft mir einer von ihnen zu.

»Hallo, Ulli, na, machen wir ein Wettrennen?«

Er lacht etwas verlegen, und bevor er antworten muss, wird die Ampel grün. Ulli ist Sportlehrer und würde niemals ein Wettrennen gegen eine moppelige Frau fahren. Das ist das Gute daran, wenn man Kleidergröße 46 trägt. Man muss der Welt nichts beweisen, kann aber immer schön die Klappe aufreißen. In meiner Vorstellung bin ich gar nicht mollig. Wenn ich an einem Spiegel vorbeikomme, bin ich immer leicht erstaunt, dass ich so rundlich wirke, denn ich fühle mich überhaupt nicht so. Hauptsache, man fühlt sich okay, und da ich die meiste Zeit des Tages ohne Spiegel herumlaufe, bin ich die meiste Zeit des Tages schlank!

Als ich am Fahrradständer ankomme, ist Ulli schon weg. Ich schließe mein Rad an. Der Lehrerfahrradständer ist extra auf der anderen Seite des Gebäudes. Hier kommen nicht so viele Leute vorbei, trotzdem muss man immer abschließen, und ab und zu kommen Klingeln oder Luftpumpen weg. Ich habe ein Zahlenschloss mit meinem Geburtsdatum als Code. Sehr originell, ich weiß. Wer mein Leben knacken will, muss sich keine große Mühe geben. Ich habe ein einziges Passwort für das gesamte Internet. »Schmetterling11«, weil ich am elften Geburtstag habe. Mit Schmetterling11 komme ich super durch. Manchmal soll man ein Passwort eingeben, dass Klein- und Großbuchstaben, Ziffern, Sonderzeichen, das Blut einer Jungfrau und drei Haare von einem Einhorn beinhaltet. Auf solchen Seiten kann ich leider nicht sein. Wenn Schmetterling11 nicht reicht, dann eben nicht. Man muss nicht überall Kompromisse machen.

Ich nehme meine Tasche aus dem Fahrradkorb, drehe mich um und falle beinahe in Herrn Schibalskis Becher, den er mir stolz hinhält. Herr Schibalski ist unser Hausmeister. Viele kommen nicht so gut mit ihm klar, weil seine Antwort immer erst mal »Nein« ist, wenn man ihn um etwas bittet. Von dem Mann kann man echt etwas lernen! Das muss man erst mal bringen, Hausmeister zu sein und dann auf die Frage, ob er bitte den Wasserhahn in der 1 b reparieren könne, knallhart »Nö« zu antworten und ohne weitere Erklärung weiterzugehen.

Von meiner Mutter habe ich gelernt, dass es immer einen Weg gibt, mit anderen zu sprechen. Man muss sich nur auf sie einlassen. Manche Menschen brauchen Lob, andere Aufmerksamkeit, und viele wollen einfach nur Verständnis für ihre Situation haben.

Als Herr Schibalski damals endlich grummelnd in meine Klasse kam, um den (seit drei Wochen) kaputten Hahn zu reparieren, und erst mal lange darüber lamentierte, dass niemand jemals sorgsam mit den Dingen umgehe und schon gar nicht in einer Schule, und er müsse dann dafür geradestehen und das auch noch mit seinem Kreuz, wo er doch sowieso schon seit Jahren Rücken hätte, habe ich ihm erst mal aufmerksam zugehört. Ich bestätigte ihn. Es ist tatsächlich nicht schön, dauernd Sachen zu reparieren und dann zuzuschauen, wie der Nächste wieder daran herumreißt. Und mit Rückenschmerzen gebeugt über einem kleinen Waschbecken zu hängen ist auch keine Freude.

»Ich hasse das …«, stöhnte er.

»Ich hasse basteln …«, sagte ich und zeigte auf die neunundzwanzig angefangenen Laternen, für die ich noch den Draht biegen und die Laschen kleben und alles das tun musste, wofür Erstklässler einfach noch zu klein sind. Die Mütter möchte ich damit auch nicht nerven. Heutzutage arbeiten die meisten und müssten sich dann mühsam freinehmen, um mit einer Heißklebepistole an der Perforation entlang Klebepunkte zu setzen. Das ist fast wie Steine essen.

Herr Schibalski richtete sich auf, schaute auf meine lange Reihe, lächelte und erklärte mir dann, wo genau er im Rücken Schmerzen hatte. Ich kenne diese Stelle, obwohl ich keine Wasserhähne repariere.

»Probieren Sie mal den.« Ich holte aus meinem Pult so einen kleinen Massageball hervor.

»Wie soll ich denn da bitte rankommen?«, fragte er verständnislos und zeigte hilflos Richtung Rücken.

»Herr Schibalski, ich lebe allein, ich hab da so meine Tricks. Sie machen es wie ein Braunbär an einem Stamm.« Ich hielt ihm den Ball zuerst auf Augenhöhe hin, so wie ich das mit meinen schwierigeren Schülern immer mache, und dann an die Wand. »So, und jetzt rollen Sie sich schön über die Stelle, die weh tut!« Ich machte es ihm vor und schubberte mich mit dem Ball im Rücken die Wand entlang. Herr Schibalski versuchte es und machte dabei ein paar Braunbärgeräusche. »Den schenke ich Ihnen!« Er strahlte, und seitdem frisst mir der Braunbär aus der Hand.

»Heute soll es bis zu siebenundzwanzig Grad warm werden, Frau Lambert. Und ich weiß doch, dass Sie die Hitze nicht so gut vertragen. Das ist Eistee, selbstgemacht. Garantiert ohne Zucker!«

»Wie schade!«

Er lacht schallend. »Schmeckt trotzdem, probieren Sie mal!«

Ich muss eigentlich dringend in meine Klasse flitzen, aber er schaut mich so nett an. Ich kann gar nicht anders, nehme den Becher mit Eiswürfeln drin und probiere einen kleinen Schluck. Es schmeckt zitronig und herrlich frisch. Ihm reicht mein Gesichtsausdruck. Er klopft mir zum Abschied auf den Arm, und ich trinke schnell noch einen Schluck, damit mir das Getränk auf der Treppe nicht überschwappt.

Man kann neunundzwanzig Kindern keinen Eistee vortrinken, darum stürze ich den Becher vor dem Klassenzimmer herunter und muss die ganze Schulstunde über auf Toilette.

 

Auf dem Rückweg ist mir heiß. Die Luft ist schwül und warm und hängt an mir wie schwere Lappen. Ich krieche die Straße entlang und stelle mir vor, ich hätte einen Bioteich im Garten, in den ich gleich springen könnte.

Ich würde am liebsten am Meer wohnen, und weil ich Majas Haus ja nicht mitnehmen kann, habe ich tatsächlich mal überlegt, es umgekehrt zu machen und mir etwas Wasser in meinen Garten zu holen. Ich stelle es mir wunderbar vor, einen Schwimmteich im Garten zu haben. Ich würde jeden Morgen zwischen Seerosenblättern meine Runden schwimmen und mich anschließend auf der Schaukel trocken schaukeln. Auch im Winter stelle ich es mir reizvoll vor, auf eine Wasserfläche zu gucken. Ich würde mir einen Schaukelstuhl auf die Terrasse stellen, mich in eine dicke, flauschige Decke hüllen und mit einer Thermoskanne voller Kakao auf mein kleines friedliches Meer schauen. Es war sogar mal ein Schwimmteichbauer hier. Ganz begeistert ist er durch den Garten gestiefelt und hat alles abgemessen. Mir wurde ganz schwindelig bei seinen viel zu schnellen Erklärungen von Regenerationszonen des Teiches und Pumpen und empfehlenswerten Filteranlagen. Das hätte ich aber alles für meine Wasserphantasien in Kauf genommen, nur leider sollte das Ganze am Ende so viel kosten wie zwei neue Mittelklassewagen von teuren Marken.

Bevor ich mir einen Schwimmteich leisten kann, muss ich erst mal die Dachziegel auf dem Haus erneuern.

Als Maja damals starb, rieten uns alle, das Haus zu verkaufen. In dieser Lage mit dem riesigen Garten hätten wir ein kleines Vermögen dafür bekommen. Aber dann wäre es weg gewesen, für immer.

Mein Bruder und ich köpften eine Flasche Wein und sprachen das Ganze unter dem alten Pflaumenbaum durch. Ich würde einziehen und ihm dafür jeden Monat eine Summe überweisen. Vermutlich muss ich die bis an mein Lebensende zahlen, und ich weiß nicht einmal, ob er dann am Ende genug bekommen hat. Aber das ist unser Deal, und damit geht es uns beiden gut. Mir tut das Haus gut und ihm das monatliche Geld. Seit Liz und Sophie auf der Welt sind, kann er sich sowieso nicht mehr vorstellen, das Haus zu verkaufen. Sie sollen es eines Tages erben, und diese Vorstellung finde ich schön. Ich werde vermutlich nie eigene Kinder haben. Inzwischen bin ich vierzig, die Wahrscheinlichkeit sinkt also jeden Tag rapide. Ich hätte gern Kinder gehabt, aber es war nie ein absolutes Muss. Kinder habe ich ja trotzdem mehr als genug in meinem Leben. Zu Hause angekommen, schleppe ich mich die Treppen hoch, ziehe mich vor der Dusche aus und lasse alle Klamotten einfach davor liegen.

Das kühle Wasser ist eine Erleichterung. Während sich fast ganz Deutschland über den frühen Sommer freut, werden wir hier auf eine harte, schwüle Probe gestellt. Die Luft ist so schwer, dass man den ganzen Tag nur auf einer Luftmatratze auf einem See herumdümpeln möchte. Aber wer kann das schon?

Ich öffne mit etwas Mühe mein neues Duschgel. »Ocean irgendwas«. Es riecht tatsächlich nach Meer. Faszinierend, wie die das machen! Ich nehme viel mehr als nötig, um ganz in den Duft einzutauchen. Fast kann ich die Möwen schon schreien hören, so gut riecht das Zeug!

Eingehüllt in die Ocean-Wolke und ein Handtuch, öffne ich das Fenster zur Straße und, damit etwas Durchzug entsteht, auch das Fenster im Zimmer gegenüber. Ich schaue hinunter in den Garten und suche die Baumkronen danach ab, ob ich den grünen Papagei entdecke.

Meine Klamotten lasse ich vor der Dusche liegen und gehe mir nebenan etwas Frisches anziehen. Mein Schlafzimmer ist ein großer, schöner Raum mit einem begehbaren Kleiderschrank. Mein großes Bett habe ich unter das Dachfenster gestellt. So kann ich nachts schön in die Sterne gucken, wenn der Himmel klar ist. Ich ziehe ein leichtes Sommerkleid vom Bügel. Es ist blau mit pinkfarbenen Blumen drauf. Moment mal, habe ich nicht gerade irgendwo ähnliche Farben gesehen? Farben, die dort gar nicht hingehörten. Ich durchsuche mein Gedächtnis, aber es bleibt nur eine verschwommene Erinnerung. In Unterwäsche gehe ich zurück ins Nebenzimmer und schaue noch einmal aus dem geöffneten Fenster. Meine Augen suchen den Garten nach diesen Farben ab. Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken. Gerade als ich das Fenster schließen will, sehe ich es. Über einem meiner Terrassenstühle hängt eine pinkblaugrüne Strickjacke. Das ist die Strickjacke, die ich heute Morgen schon beim Schaukeln gesehen habe, an einer Frau!

Ich rausche runter ins Erdgeschoss. Unten an der Treppe mache ich noch mal kehrt und flitze trotz der Schwüle wieder hoch. Wenn da wirklich eine fremde Frau in meinem Garten ist, wäre es vielleicht von Vorteil, ihr nicht in Unterwäsche zu begegnen. Ich werfe mir das Kleid über den Kopf. Es bleibt an meiner feuchten Haut kleben. Ich zwinge es an die richtige Stelle, renne barfuß bis auf die Terrasse. Friedliches Vogelgezwitscher und mein eigener Atem, sonst ist nichts zu hören und auch nichts zu sehen. Die Strickjacke ist weg. Ich fasse die Stuhllehne an, über der sie gehangen hat, als könnte ich dort noch Faserspuren entdecken.

»Ich weiß, dass Sie da sind!«, rufe ich in meinen friedlichen Garten hinein. »Ich habe Ihre Jacke gesehen!« Wie sich das anhört! Wie in einem Thriller. Ich weiß, dass Sie da sind, Strickjackenfrau. Was suchen Sie in meinem Garten? Wer sind Sie, ein Geist? Ich komme mir blöd vor, so auf meiner Terrasse zu stehen und angestrengt in den Garten zu horchen und zu spähen. Da, hinter dem Stamm des Pflaumenbaums hat sich etwas bewegt! Mit langen Schritten hetze ich zum Baum. Das Eichhörnchen huscht erschrocken den Stamm hoch und verschwindet zwischen den dichten Blättern. Keine Spur vom Strickjackengeist.

 

»Hör auf, Hanna, du machst den Kindern noch Angst mit deiner Geistergeschichte.« Meine Schwägerin sieht mich mahnend an.

»Das ist keine Geschichte, Jule, ich hab sie wirklich gesehen. Erst die Frau und später ihre Strickjacke!«

»Ein Geist mit einer Strickjacke ist überhaupt nicht gruselig«, belehrt uns Sophie. Sie ist acht und weiß schon genau Bescheid. »Geister tragen meistens gar nichts – die haben einfach nur so einen weißen oder grünen Geisterkörper.«

»Geister sind nackig!«, pflichtet ihr ihre kleine Schwester Liz bei. Dabei nickt sie so heftig, dass ihre hellblonden Zöpfe hin- und herschaukeln.

»Ihr seid auch kleine nackte Geister, und wen ich erwische, den tunke ich in das Planschbecken!«

Kreischend rennen die beiden in ihren Badehöschen weg. Ein paar Runden jage ich sie um den Tisch, dann kann ich nicht mehr. Es ist schon wieder so schwülheiß. Sebastian ist mit seiner Familie zum Frühstück gekommen. Das machen sie sonntags oft. Wir können quatschen, und die Mädchen können im Garten toben. Weil es so warm ist, habe ich ihnen gestern schon das Planschbecken aufgebaut. Wenigstens ein kleiner Schwimmteich für die Kinder. Vielleicht lege ich mich heute Abend auch mal rein.

Ich mag es, wenn die vier zum Frühstück kommen. Es ist schön, den Tag zusammen zu beginnen, und Jule und ich verstehen uns sehr gut. Sie ist drei Jahre älter als ich, also genauso alt wie Sebastian. Ich mag ihren Humor und die entspannte Art und Weise, wie sie mit meinem Bruder umgeht. Sie versucht nicht, ihn umzumodeln, wie Frauen das ja gern machen. Sebastian darf so sein, wie er ist, auch wenn das für Jule nicht immer einfach ist.

»Kann ich mal den Schinken haben?«, fragt Sebastian, und ich reiche ihm den Teller. »Du wirst jetzt aber keine wunderliche alte Dame, die Geister in ihrem viel zu großen leeren Haus sieht, oder?«, fragt er provozierend.

»Erstens bin ich nicht alt, und zweitens habe ich den Geist nicht im Haus, sondern im Garten gesehen. Außerdem war das gar kein Geist – es hat sich einfach eine ältere Frau in meinen Garten verirrt.« Hinten am Grundstück ist nur ein hüfthoher Maschendrahtzaun. Wenn man möchte, kann man den leicht überwinden.

»Warum taucht die verirrte Frau immer nur ganz kurz auf und hängt dann auch noch ihre Jacke über deinen Terrassenstuhl?«, will Jule wissen.

»Vielleicht ist sie nicht nur verirrt, sondern auch noch verwirrt«, sagt Sebastian kauend. Er hat sich einen hübschen Berg Schinken auf sein Brötchen gestapelt und obendrauf noch Tomaten gepackt. Jetzt kann er kaum davon abbeißen. »Diesen Sommer muss ich wirklich mal die Bäume schneiden«, sagt er mit einem Blick in den Garten.

»Muss man Bäume nicht im Frühjahr beschneiden?«, fragt Jule und kramt eine Tube Sonnencreme aus ihrer großen Tasche. »Sophie, Liz, kommt mal eben in meine Eincrempraxis!« Die Mädchen kommen angaloppiert und drängeln sich vor ihr, weil jede zuerst drankommen will. »Halt, erst mal müssen Sie im Wartezimmer Platz nehmen.« Das gefällt den beiden. Sie setzen sich auf den Boden und warten, bis Jule sie aufruft. Damit Sophie nicht so lange warten muss, darf sie zu mir ins »Sprechzimmer« kommen, und ich mache eine kleine Hautanalyse mit ihr, bevor sie dann zur »Ärztin« weitergeschickt wird. Liz, die jetzt fertig eingecremt ist, will sich auch noch eine Hautanalyse bei mir abholen. Ich zupfe etwas an ihrer cremigen Haut herum und analysiere, dass das eine sehr gute Haut sei. Mit dieser Haut könne man sicher hundert Jahre alt werden, wenn man sie immer ordentlich eincreme!

Die Mädchen gehen wieder spielen, und ich binde mir die Haare hoch. »Es ist einfach zu warm unter dieser Wolle«, stöhne ich.

»Noch ein Wort«, droht Jule und schüttelt ihre schulterlange blonde Mähne. »Ich nehme deine Wolle sofort, kannst gern meine Schnittlauchlocken dafür kriegen!«

Um meine Haare werde ich oft beneidet. Sie sind relativ dick, dunkelbraun und wellig. Ich mag sie. Im Winter sind sie ein wunderbar warmes Fell, aber im Sommer ist es so, als würde ich die ganze Zeit einen Waschbären auf dem Kopf herumtragen, ganz egal, wie sehr ich auch versuche, sie mit einem Haargummi zusammenzuknüllen.

»Nimmst du auch die Kopfschmerzen, weil sie so schwer sind?«, frage ich Jule und lecke das Marmeladenmesser ab – die Kinder sind ja gerade nicht am Tisch.

Sie nickt eifrig. »Ich würde auch zwei Stunden Haarewaschen in Kauf nehmen für so ein Volumen!«

Sebastian steht auf und setzt sich mit seinem Stuhl ans Planschbecken. Gespräche über Haare sind nicht sein Ding. Die Mädchen begießen seine nackten Beine mit den Gießkannen, die ich für sie ins Planschbecken geworfen habe.

»Jule, deine Haare sind doch super! Liz wäre nie so schön hellblond geworden, wenn du mein dunkles Pferdehaar hättest!« Sie zuckt mit den Achseln, schaut dann aber doch lächelnd ihre jüngste Tochter an. »Wie läuft es denn bei euch im Büro?«, lenke ich vom Haarthema ab. Sebastian arbeitet selbständig als Architekt, und Jule ist bei ihm beschäftigt.

»Mal besser, mal schlechter. Wir haben zwar immer sehr viel zu tun, was aber nicht unbedingt heißt, dass auch genügend Geld reinkommt. Manchmal wünschte ich, wenigstens einer von uns wäre Beamter!«

»Einer von uns ist doch Beamter«, sage ich lächelnd und schenke ihr noch O-Saft nach.

Sie wirft mir einen typischen Juleblick aus ihren hellen Augen zu, dann küsst sie mich schnell auf die Wange. »Sebastian hat wieder Ärger mit seinem Projektleiter, aber wir haben eine neue Studentin, Maggi, die ist sehr gut! Und wie läuft es bei dir? Habt ihr noch den grummeligen Hausmeister?«

»Schibalski, ja, den gibt es noch, neulich hat er mir einen Eistee geschenkt, selbstgemacht!«

»Huiuiui, und sonst, hast du noch andere Verehrer in der Schule?«

»Sieht ganz dürftig aus, was vor allem daran liegt, dass wir ja fast nur Frauen sind! Und wenn sich dann doch mal ein Lehrer bei uns verirrt, fällt Sandra Liebermann gleich über ihn her!«

»Liebermann, ist das nicht die mit den ganz kurzen Haaren?«

»Genau die. Ihre Haare sind raspelkurz, und ihre Libido ist meterlang.«

Jule kichert. »Eine meterlange Libido, ob man die im Garten aufhängen kann? Zum Trocknen?« Ich lache mit bei der Vorstellung. Wobei ich nicht genau weiß, wie ich mir jetzt eine Libido vorstellen soll. Eigentlich möchte ich das auch nicht, schon gar nicht die von der Liebermann!

»Was ist denn mit dem Sportlehrer?«

»Ulli? Nee!«

»Warum nee?«

»Weil …«

Ehe wir das vertiefen können, platscht es so laut, als wäre ein Elefant vom Baum in den Pool gesprungen.

Sophie und Liz springen begeistert um das Planschbecken, aus dem jetzt ihr pitschnasser Vater klettert.

»War das Absicht?«, fragt Jule.

»Ja klar, ich gehe immer mit Handy in der Hosentasche schwimmen.« Sebastian holt sein nasses Smartphone raus. Ich nehme es entgegen und trockne es gründlich ab.

»Ausschalten!«, kommandiert Jule, die mit ihrem trockenen Handy sofort gegoogelt hat, was man bei einem Wasserschaden tun muss. Ich schalte es aus. »Hast du Reis? Wir müssen es in einen offenen Behälter mit Reis legen.« Sophie flitzt schon in die Küche und kommt kurze Zeit später mit einer Reispackung wieder. »Jetzt brauchen wir noch einen offenen Behälter«, liest Jule ab. Ich schüttle die restlichen Brötchen aus dem Brotkorb und den Reis hinein. In dieses Bett legen wir das Handy und decken es ordentlich mit Reiskörnern zu.

»Warum Reis? Warum nicht Nudeln?«, fragt Liz, die Nudeln lieber mag als Reis.

»Der Reis zieht die Feuchtigkeit aus dem Handy«, erkläre ich.

»Und jetzt?«, fragt Sebastian, der immer noch tropfnass neben dem Planschbecken steht.

»Jetzt«, liest Jule weiter, »soll man es zwei bis drei Tage im Reis liegen lassen.«

»Zwei bis drei Tage? Ohne Handy?«, fragt der nasse selbständige Architekt entsetzt. Wir nicken betroffen, und er lässt sich rückwärts zurück ins Planschbecken sinken.

Die Frau in der Strickjacke

Dienstagsnachmittags habe ich frei. Ich habe keine Hausaufgabenbetreuung, keine Konferenz, und ich habe mir angewöhnt, dienstags auch keine Unterrichtsreihen vorzubereiten oder Arbeiten zu korrigieren. Der Dienstagnachmittag gehört mir. Nicht wirklich, weil ich meistens einkaufe, aufräume, putze, was man eben so machen muss.

Heute kann ich die Wäsche nicht im Garten aufhängen, denn es ist kühl und regnerisch. Ich habe so viele Zimmer im Haus, dass ich eins davon locker zum Wäschezimmer machen könnte. In einer Hälfte würde ich Leinen spannen und in die andere einen Tisch stellen, auf dem ich die Wäsche zusammenlegen kann. Das kommt mir aber ziemlich dekadent vor, ein eigenes Zimmer nur für die Wäsche einer Person. Also hänge ich die Wäsche im Keller auf. Leider ist der Keller alt und leicht feucht. Es dauert immer ewig, bis die Wäsche endlich trocken ist. Ab und zu stelle ich mir dann doch einen Wäscheständer ins Gästezimmer, so wie heute. Nachdem ich die Wäsche aufgehängt habe, lege ich mich kurz auf das Gästebett mit der Überdecke. Es ist schade, dass es so selten benutzt wird. Ich bilde mir ein, es tut dem Bett gut, wenn ich mich wenigstens ab und zu mal kurz drauflege. Mein Dutt stört beim Liegen, darum mache ich mir die Haare auf. Es ist ein herrliches Gefühl, wenn die Haarwurzeln von dem Gewicht auf dem Kopf befreit sind. Ich überlege, was noch zu tun ist. Mein Blick streift meine Büroecke, die sich auch im Gästezimmer befindet, aber eigentlich kaum benutzt wird. Meistens bereite ich meine Schulstunden am Küchentisch vor oder im Sommer draußen auf der Terrasse. Eigentlich müsste ich das Bad oben aufräumen. Ich bin weder besonders ordentlich noch besonders unordentlich. Es ist bei mir einigermaßen aufgeräumt, und unangemeldeten Besuch kann ich problemlos hereinbitten. Nur das Badezimmer befindet sich fast immer im Chaos. Ich weiß nicht, warum. Ich lasse ausgezogene Klamotten einfach gern liegen, genauso wie benutzte Haarbürsten oder Zahnpastatuben. Und so summiert sich das dann so lange, bis es gar nicht mehr geht und ich endlich aufräume. »Komm«, motiviere ich mich selbst, »es fühlt sich gleich viel besser an, den Rest des Tages freizumachen, wenn du vorher noch das Bad aufräumst.« Ich folge seufzend meinem eigenen Rat und trödle die Treppe hoch. Im Bad schalte ich erst einmal das Internetradio an, ich stelle einen kanadischen Sender ein, um sicherzugehen, dass sie nicht das Steinelied spielen.

Zwanzig Minuten später sieht das Bad wieder normal aus. Der Boden ist frei begehbar, und auch der Rand des Waschbeckens strahlt.

Wenn ich dienstags mit allem fertig bin, nehme ich mir immer ein bisschen Zeit, um die Gedanken ausruhen zu lassen. Meine Freundin Svenja schafft das mit Yoga. Ich spaziere durch meinen Garten.

Ich schlüpfe in meine blauen Gummistiefel und gehe über die Terrasse nach draußen. Es ist bewölkt, aber bis jetzt noch trocken. Ich betrete die Sommerwiese und entdecke ganz viele Mohnblumen. Die blühen erst seit kurzem hier. Jedes Mal wenn ich durch den Garten spaziere, entdecke ich etwas Neues. Ich gehe an einigen Bäumen vorbei und komme dann zu meinem Lieblingsteil. Man geht durch eine Art Tor. Das Tor gibt es gar nicht mehr, nur noch die alte Backsteinmauer, die es links und rechts eingerahmt hat. Ganz früher war das Grundstück hier unterteilt. Immer wenn ich durch diesen Durchgang schreite, ist es ein bisschen so, als würde ich eine andere Welt betreten, obwohl das Gras und die Bäume auf der anderen Seite der Mauer genauso aussehen wie im vorderen Teil. Svenja hat das auch schon mal festgestellt. Sie meinte, es gebe eine »andere Energie« jenseits der Backsteinmauer. Heute habe ich keine Zeit, die andere Energie groß wahrzunehmen, weil ich mir plötzlich fast sicher bin, die Strickjacke zu sehen, die schon letzte Woche in meinem Garten herumspukte. Die Strickjacke sitzt an einem Campingtisch vor dem alten Wohnwagen, der seit unseren Kindertagen da steht. Maja hatte ihn damals geschenkt bekommen und wollte ihn eigentlich mal fit machen, um mit Sebastian und mir in den Urlaub zu fahren. Das hat sie nie geschafft, und so wurde er unser Geheimversteck im Garten. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn nicht mehr betreten habe. Es steht auf meiner To-do-Liste, ihn eines Tages sauberzumachen und für Sophie und Liz herzurichten. Die zwei haben bestimmt Spaß an dem eigenen Haus, so wie Sebastian und ich damals. Ich befürchte aber, dass da sehr viel Arbeit auf mich zukommt und es mit etwas Abstauben nicht getan ist.

Der Campingtisch gehört jedenfalls nicht hier hin und die ältere Frau, die in der Strickjacke dahinter sitzt und häkelt oder strickt, definitiv auch nicht.

»Hallo?«, sage ich fragend, als ich nah genug bin.

»Hallo!«, antwortet sie freundlich und blickt sofort wieder auf ihre Handarbeit. Sie hält nur eine Nadel in der Hand, dann häkelt sie also.

»Wer sind Sie?«, frage ich.

»Ich bin eine Frau, die vor ihrem Wohnwagen sitzt und häkelt. Und Sie? Wer sind Sie?«

Ich bin etwas perplex, dass sie tatsächlich vor ihrem Wohnwagen gesagt hat. »Ich bin die Frau, die hier wohnt!«, sage ich nachdrücklich.

»In dem Haus?«, fragt sie freundlich und zeigt Richtung Haus.

»Ja, genau.«

»Dann sind wir jetzt Nachbarn. Ich wohne in dem Wohnwagen!«

Die spinnt ja wohl komplett. »Sie wohnen in meinem Wohnwagen?«, frage ich nach. Sie nickt und zieht etwas mehr Faden aus der Wolle, um weiterhäkeln zu können. »Sie wohnen in meinem Wohnwagen in meinem Garten?«

»Ist das auf dieser Seite noch Ihr Garten?«, fragt sie zurück.

»Allerdings!«

»Sie sollten mal den Rasen mähen. Und der eine Ast ist etwas morsch. Nicht, dass der mir eines Tages hier auf den Kopf fällt!«

Sie spricht mit mir, als wäre ich ihre Vermieterin.

»Sie können doch nicht einfach in meinem Wohnwagen wohnen!«, sage ich entrüstet.

»War auch nicht so leicht, da einzuziehen. Hab ihn aber recht hübsch hergerichtet.«

»Sie haben ihn recht hübsch hergerichtet?« Ich bin fassungslos. Entweder ist bei der Alten tatsächlich eine Schraube locker, oder sie ist unglaublich dreist. Sie sieht ganz normal aus. Ihre dunkelgefärbten Haare sind zu einem Bob geschnitten. Sie trägt Make-up. Einen roten Lippenstift passend zu ihrer bunten Strickjacke. Genau so sehen Frauen um die siebzig aus. Maja wäre jetzt etwa so alt. Ein kurzer Schmerz überflutet mich, dann fällt mir wieder ein, dass diese Dame meinen Wohnwagen »hübsch hergerichtet« hat. Ich mache ein paar schnelle Schritte auf die Wohnwagentür zu, die offen steht. Ich zögere. Natürlich ist es mein Wagen, aber kann ich ungefragt eintreten, wenn sie tatsächlich darin wohnt? Rechtlich sicher, aber rein moralisch?

Die Alte bemerkt mein Zögern. »Nur zu!«, macht sie mir Mut.

Ich steige die zwei Stufen hoch. Auf der obersten bleibe ich stehen. Der Wagen ist picobello sauber. Die Fenster sind geputzt, der Boden ist gewischt, ein Glas mit Wiesenblumen steht auf dem Tisch. Wirklich erstaunt bin ich aber über die Sitzpolster, die alle neu sind, und die Gardinen, die durch neue, offensichtlich selbstgenähte, ersetzt wurden. Der Stoff ist mit Farnblättern und grünen Papageien bedruckt. Ich unterdrücke ein Lächeln.

»Wo kommt die Küchenzeile her?«, frage ich stattdessen nach draußen.

»Die hat Wilfried mir eingebaut, wie soll ich mir denn sonst etwas kochen?«

Ich schüttle den Kopf. Ich will gar nicht wissen, wer Wilfried ist und wann er in meinem Garten war, um Küchenzeilen in meinen alten Wohnwagen einzubauen. Das kann doch alles nicht wahr sein! Ein paar Hausschuhe stehen vor dem Eingang. Ich wette, der neue Kühlschrank ist gefüllt, und wenn ich die Schränke öffne, werde ich ihre Socken und Unterhosen finden. Sie ist nicht nur hier eingezogen, sie hat sich den ganzen alten Wagen vorher tatsächlich »recht hübsch hergerichtet«!

»Gefällt es Ihnen?«, fragt sie immer noch häkelnd, als ich rückwärts wieder draußen ankomme.

»Warum haben Sie mich nicht gefragt?«, will ich wissen.

»Sie hätten nein gesagt!«

Wieder muss ich ungläubig den Kopf schütteln. »Warum sind Sie hier eingezogen? Haben Sie keine Wohnung mehr?«

»Sicher habe ich das. Aber ich habe nur einen kleinen Balkon, und der Garten hier ist wundervoll. Es ist Sommer, wissen Sie?«

»Frau …«, beginne ich. Sie hilft mir nicht und nennt mir nicht ihren Namen. »Wir machen Folgendes: Ich bezahle Ihnen das, was Sie in den Wagen investiert haben, und Sie ziehen bis morgen hier aus, einverstanden?«

Sie tut, als würde sie mich nicht hören, und zählt hingebungsvoll ihre Maschen.

»Ich gehe eben Geld holen.«

»Ich möchte kein Geld von Ihnen.«

»Gut, dann ziehen Sie ohne Geld aus.«

Sie überlegt kurz, dann sagt sie knapp: »Nein.«

»Nein?!«, frage ich.

»Nein!«, bestätigt sie noch einmal. Sie lächelt mich freundlich an und häkelt schnell weiter.

»Gut, dann muss ich jetzt die Polizei anrufen.«

»Tun Sie das!«, sagt sie zuversichtlich.

Ich stehe noch eine Weile vor ihrem Tisch. Sie sagt nichts mehr und beachtet mich auch nicht weiter. Seufzend trete ich den Rückweg an. Das gibt es doch gar nicht! Wie kommt sie darauf, in meinen Garten einzuziehen? Und dann investiert sie so viel in einen Wohnwagen, der ihr gar nicht gehört! Ich weiß nicht, ob ich wirklich gleich die Polizei anrufe. Momentan ist mir viel eher danach, Svenja anzurufen. Das hat ja jetzt gar nicht geklappt mit dem Gedankenausruhen, hätte ich doch auch lieber mal Yoga gemacht.

Auf der Terrasse angekommen, drehe ich mich noch mal um und schaue in den Garten. Der Wohnwagen ist von hier aus nicht zu sehen. Es fühlt sich nicht gut an zu wissen, dass dort hinten eine alte Frau in einer Strickjacke sitzt und häkelt. Vielleicht sollte ich doch die Polizei anrufen.

Ich schlüpfe aus den Gummistiefeln und suche das Telefon. Noch bevor ich es finde, klingelt es. Jetzt muss ich nur dem Geräusch nachgehen. Es liegt in der Küche. Ich melde mich und höre sofort die aufgeregte Stimme meiner Nachbarin von gegenüber. Iris neigt dazu, sich schnell aufzuregen. »Hanna«, keucht sie. »Guck schnell aus dem Fenster, nicht aus der Tür, o Gott, mach um Himmels willen die Tür nicht auf!!!«

»Hallo, Iris«, sage ich gelassen. »Hat wieder jemand falsch geparkt?«

»Du hast es noch nicht gemerkt, stimmt’s?« Ihre Stimme kippt fast über vor Erregung. »Hanna, in deinem Vorgarten … Halt dich fest, oder, noch besser, setz dich hin! Sitzt du?«

»Jaja, ich sitze«, sage ich im Stehen. »Was ist in meinem Vorgarten?«, will ich wissen und bewege mich zur Haustür.

»In deinem Vorgarten, da ist, also, da steht eine Giraffe.«

Wer fällt denn auf so was rein? Langweilt die sich? »Du, Iris, ich muss dringend jemanden anrufen, ich habe da jetzt nicht so Zeit für, sag einfach, was du möchtest.«

»Guck aus dem Fenster!! Nicht die Tür!!«

Was soll das denn immer mit »nicht die Tür«? Hat sie mir einen Eimer Wasser davorgestellt, oder was? Ich will jetzt wissen, was los ist, und öffne vorsichtig die Haustür. Nichts passiert, außer dass jetzt hysterisches Geschrei aus dem Telefon kommt, das ich glücklicherweise nicht mehr am Ohr habe. Vor meiner Haustür liegt nichts. Auch auf der Treppe kann ich nichts entdecken. Ich mache einen Schritt aus dem Haus hinaus. Irgendetwas ist anders, aber was? Ein Blick nach links, alles normal, ein Blick nach rechts …

Aus meinen Hortensien wachsen ziemlich hübsche, lange Beine, die einem großen Tier gehören. Ich sehe eigentlich nur Beine und Hals. Der Kopf der Giraffe ist hinter den Blättern meiner Kugelrobinie verschwunden. Das Tier hat mich noch nicht bemerkt, und mein Instinkt sagt mir, dass das auch besser so ist. Am liebsten würde ich zu Iris rüberlaufen, um nicht mit der Giraffe allein zu bleiben. Aber das Risiko, dass sie mich dann entdeckt, ist mir zu groß. Als Erstes lege ich auf, damit die Geräusche aus dem Hörer aufhören. Dann bewege ich mich langsam und hoffentlich unauffällig rückwärts. In Zeitlupe schließe ich die Tür. Geschafft! Ich lehne mich kurz mit dem Rücken an die Wand und erschrecke mich zu Tode, als das Telefon laut klingelt.

»Hast du sie gesehen?«

»Ja, natürlich habe ich sie gesehen, Iris, sie ist ja nicht gerade klein! Seit wann ist sie in meinem Vorgarten?«

»Das weiß ich nicht, hab dich sofort angerufen, als ich sie gesehen habe. Erst habe ich gedacht, du hast dir da eine große Skulptur aufgestellt, was ja gar nicht typisch für dich wäre, aber man weiß ja nie. Hätte ja auch ein Geschenk sein können. Aber als ich dann gesehen habe, dass das eine echte Giraffe ist, Hanna, ich sag es dir …«

»Iris, ich muss auflegen und den Zoo anrufen!«

»Jaja, sicher, du hast recht. Mach das. Ich ruf wieder an, oder ruf du mich an, oder …«

Ich lege auf. Wo ist mein Handy? Ich finde es auf dem Küchentisch, google die Nummer des Zoos und drücke auf »Anruf«. Wenn ich aus dem Fenster gucke, kann ich die Beine der Giraffe und einen Teil von ihrem Po sehen. Sie hat ein richtig niedliches Schwänzchen. Ihr Netzmuster löst sich Richtung Schwanz in immer mehr Punkte auf. Der Schwanz ist ein bisschen zu dünn für so ein großes Tier. Ganz am Ende vom Schwänzchen wachsen schwarze lange Haare, als hätte sich die Natur gedacht, okay, ganz am Ende machen wir doch noch einen Schweif! Die Giraffe steht immer noch in meinen Hortensien und frisst an meiner Kugelrobinie.

»Herzlich willkommen bei der Besucherhotline des Zoologischen Gartens, zur Bestellung einer Tageskarte und zur Information zu den Eintrittspreisen drücken Sie bitte die Taste eins …« Ich werde wahnsinnig. Ich muss mit einem Menschen sprechen, nicht mit einer Maschine! »Für allgemeine Informationen, zum Beispiel zu den Öffnungszeiten und zu Jahres- und Gruppenkarten, wählen Sie bitte die Taste zwei …« Dämlich höre ich mir das Ganze an, obwohl mir schon klar ist, dass in der Auswahl kaum vorkommen wird: »Sollte sich eine Giraffe in Ihrem Vorgarten befinden, drücken Sie bitte die Taste vier!«

Ich entscheide mich schließlich für Taste drei, denn da geht es um Tierpatenschaften, und das passt besser als Geburtstagsprogramme oder Zooführungen.

»Wiesler, Zoologischer Garten. Was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, ich heiße Hanna Lambert und habe eine Giraffe in meinem Vorgarten. Das ist kein blöder Witz, auch wenn es sich so anhört. Sie steht vor meinem Fenster und frisst meinen Baum kahl.«

»Bleiben Sie dran, ich verbinde Sie sofort mit unserem Tierarzt. Unbedingt dranbleiben, ja?«, hakt sie noch mal nach. Ich verspreche es und rede kurze Zeit später mit einem sehr ruhigen Dr. Horse. Ich weiß nicht, ob er wirklich Pferd heißt, vielleicht habe ich das falsch verstanden, vielleicht war es auch Dr. House? Wenn ich die Wahl habe zwischen dem codeinabhängigen Dr. House aus der Fernsehserie und einem Tierarzt, der Pferd heißt, dann nehme ich das Pferd. Er redet mit mir, als sei ich ein verwundetes Tier, und das gefällt mir.

»Frau Lambert, wo genau wohnen Sie?«

»In der Geranienstraße 12.«

Er wiederholt meine Adresse und pfeift dann durch die Zähne. »Hui, da ist sie aber weit gekommen.«

»Fehlt denn bei Ihnen eine Giraffe?«, frage ich.

»Ja, unsere Bibby ist seit zwei Stunden weg.«

»Ist das ein Mädchen?«

»Ja, passen Sie auf. Wir kommen so schnell wie möglich vorbei. Wichtig ist, dass Sie nichts tun, was die Giraffe erschrecken könnte. Bleiben Sie im Haus, öffnen Sie keine Fenster oder Türen, und niemand soll sich dem Tier nähern. Der Tritt einer Giraffe kann tödlich sein!«, warnt er mich. »Wir informieren die Polizei, damit Ihre Straße sofort gesperrt wird. Bitte rufen Sie ihre Nachbarn an, damit keiner das Haus verlässt. Giraffen sind sehr schreckhafte Tiere und rennen manchmal panisch los.«

»Okay. Das mache ich. Dann bis gleich.« Ich habe noch ganz, ganz viele Fragen, aber ich darf ihn nicht aufhalten. Wer weiß, wie lange Bibby noch an meinem Baum frisst. Ich rufe Iris zurück und erkläre ihr, was Dr. Horse gesagt hat.

»Wie heißt der Typ?«

»Horse oder House, keine Ahnung. Meinst du, es ist klug, die anderen Nachbarn anzurufen?«

»Natürlich, das sollen wir doch!«

»Ja, aber überleg doch mal, was die dann machen, wenn wir sagen, hier steht eine Giraffe bei mir im Vorgarten …«

»Keiner bleibt in seinem Haus.« Iris versteht meine Bedenken. »Dir habe ich auch gesagt, du sollst auf keinen Fall die Tür öffnen, und was machst du? Öffnest die Tür! Hätte ja sonst was passieren können! Treten Giraffen denn häufig, hat Dr. House da was drüber gesagt?«

»Das weiß ich nicht. Sag mir lieber, was die Giraffe jetzt macht, du hast den besten Blick auf sie!«

Es folgt eine lange Reportage, in der Iris genau beschreibt, mit welchem Ohr die Giraffe gerade zuckt und wie viele Blätter sie sich auf einmal einverleibt. »Du, die hat da ’ne ganz schicke Technik, wird nicht viel übrig bleiben von deinem Baum!«

»Iris, mach ein Foto! Aber kein Fenster öffnen!« Ich starre immer noch auf die Beine, als mir einfällt, dass ich ja vielleicht aus dem Dachfenster im Badezimmer oben mehr sehen könnte.

»O nein!«, jammert mir Iris ins Ohr.

»Was?«, frage ich alarmiert.

»Ich glaube, sie hat genug gefressen. Sie schaut sich um, sieht so aus, als würde sie gleich gehen!«

Das darf natürlich nicht passieren. Ich flitze zum Kühlschrank. In einem Sachkundeprojekt hatten wir mal das Thema »Tiere in Afrika«. Ich erinnere mich, dass bestimmte Bäume nach einer Weile Bitterstoffe entwickeln, damit sie den Giraffen nicht mehr schmecken. Ob meine Kugelrobinie das auch kann? Wenn ja, dann hat sie ein ganz schlechtes Timing. Ich muss Bibby bei mir im Vorgarten halten, bis Dr. Horse kommt. Ich reiße die Gemüseschublade aus dem Kühlschrank und nehme sie einfach komplett mit nach oben. Keine Ahnung, was Giraffen mögen. Aber mit Gemüse kann ich hoffentlich nicht viel falsch machen. »Iris, ich geh hoch und füttere sie aus dem Dachfenster. Guck mal schnell, komm ich von da oben an sie ran?«

»Bist du verrückt? Wir sollen Fenster und Türen geschlossen halten!«

»Jaja, wir sollen auch die Nachbarn anrufen, aber vor allem soll Bibby im Vorgarten bleiben und hier nicht durch die Straßen rennen. Also sag, komm ich ran?« Ich bin inzwischen selbst oben angekommen und kann auf Anhieb sehen, dass vor dem Fenster ein Giraffenkopf schwebt, der sich leider gerade entfernt. Ich lasse das Telefon fallen, schnappe mir das Erste aus der Gemüseschublade, was mir in die Hände fällt, und öffne unvorsichtig, aber dafür schnell das Fenster. Die Giraffe ist schon auf der Straße. Majestätisch gleitet sie vorwärts. »Bibby!«, rufe ich aus dem Fenster. Sie bleibt stehen und wackelt mit den Ohren. »Bibby, komm, hab was Feines für dich! Lecker Salat!«

Ich kann es selbst nicht glauben, aber Bibby dreht sich tatsächlich zu mir um. Erst nur mit ihrem Hals, dabei dreht sie den Kopf in meine Richtung. Ich weiß nicht, wie gut Giraffen sehen können, aber ihr Gehör ist anscheinend hervorragend. Ihre Augen betrachten mich interessiert. Ich wedele mit dem Salat aus dem Fenster und mache noch ein paar »Lecker, lecker Salat«-Lockrufe. Mein Herz setzt aus, als sie sich wieder in Bewegung setzt und genau auf mich zukommt.

»Die Hufe sind ganz weit unten. Es kann dir nichts passieren …«, flüstere ich mir selbst zu. Das Flüstern macht Bibby noch neugieriger. Sie bleibt stehen und fährt ihren Hals aus. Sie platziert ihren Kopf ziemlich nah an meinem Fenster und schaut mich und den Salat erst mal prüfend an. Ich flüstere weiter und spreche jetzt zu ihr: »Du bist aber ein wirklich schönes Tier, Bibby. So schöne Hörner hast du oben auf dem Kopf. Ich würde ja gern mal deine Zunge sehen. Magst du ein bisschen vom Salat?« Mit einer ganz langsamen Bewegung strecke ich meinen Arm aus und halte ihr ein Blatt hin. Ob Giraffen beißen können? Die haben doch sicher Zähne, oder? »Bibby, bitte nur ganz vorsichtig abbeißen, okay?«

Die Giraffe versteht mich. Erst schnuppert sie, und dann fährt sie ihre lange, dunkle Zunge aus und nimmt mir mit großer Selbstverständlichkeit das Salatblatt aus der Hand. Eine kleine Glückswelle durchströmt mich. Ich füttere eine Giraffe! Beim nächsten Salatblatt werde ich mutiger und Bibby auch. Sie kommt näher heran. Das dritte kann ich ihr gar nicht schnell genug herausreichen. Sie kommt noch einen Schritt näher und streckt ihren Kopf durch das Fenster ins Badezimmer, als ich nicht sofort mit einem Blatt auftauche. Sie frisst mit dem Kopf in meinem Bad. Ihre Schnauze bewegt sich hin und her. Das sieht so lustig und freundlich aus, dass ich mich beim nächsten Blatt traue, sie ganz, ganz vorsichtig am Hals zu berühren. Sie fühlt sich genauso an wie ein Pferd. Ich würde gerne ihre kurze braune Mähne streicheln, aber ich darf sie auf keinen Fall verschrecken. Bibby hat jetzt meine Gemüseschublade auf dem Badezimmerboden entdeckt. Vermutlich denkt sie, das ist eine Art Leckerliversteck, jedenfalls wird ihr Hals immer länger, und ich habe plötzlich immer mehr Giraffe in meinem Badezimmer.

»Bibby, du kannst dich hier nicht so breitmachen, komm, ich gebe dir noch etwas anderes. Magst du Möhren?«

Als Antwort kommt ihre Schnauze schnuppernd näher, noch bevor ich die Tüte aufgerissen habe. Einen Hund würde ich jetzt ein Stück zurückschieben, aber bei einer Giraffe traue ich mich das nicht. Schnell fummle ich eine Möhre aus der Verpackung. Einen Moment lang hat Bibby die Karotte quer im Maul, dann wird sie geschickt und mit vielen lustigen Bewegungen zerkleinert. Möhren mag sie noch lieber als Salat. Ich hoffe nur, Giraffen vertragen die auch. Eine nach der anderen verschwindet, und jedes Mal nimmt sie mir das Gemüse beinahe liebevoll vorsichtig aus der Hand mit ihrer geschickten Zunge. Ich fasse sie noch einmal am Hals an, während sie kaut, und spüre ihre Wärme. Sobald ihre Ohren zucken, nehme ich meine Hand schnell weg.

 

Ich glaube unten Geräusche zu hören. Dr. Horse ist mit seinen Leuten da. Fast bin ich ein bisschen enttäuscht. Ich weiß nicht, ob es okay ist, dass Bibby mit Kopf und Hals in meinem Haus hängt, deshalb versuche ich, sie jetzt wieder vor dem Fenster zu füttern, was sie zu heftigem Ohrenwedeln veranlasst. Ich werfe einen Blick nach unten. Ein Mann mit einem langen Stab kommt langsam auf Bibby zu. Das ist sicher die Betäubungspistole. Das Tier bemerkt ihn gar nicht und will unbedingt mehr von dem leckeren Zeug ohne Bitterstoffe und Äste. Sie schaut mich lieb an und zuckt im nächsten Moment nach hinten. Der Betäubungspfeil hat sie offensichtlich getroffen. »Weiterfüttern«, kommt von unten die Anweisung. Entschlossen halte ich ihr meine letzte Möhre hin.

»Komm, Bibby, eine hab ich noch. Nimm sie dir!«

Die Giraffe überlegt. Etwas hat sie getroffen, aber da ist die leckere Karotte. Sie entscheidet sich für einen letzten Bissen, wickelt ihre Zunge um die Möhre und will dann aber los. Sie macht ein paar unsichere Schritte. Ihr Gang ist nicht mehr majestätisch. Sie merkt, dass etwas seltsam ist, und bleibt stehen. Ihr Hals pendelt hin und her. Plötzlich kommen von überall Zoomitarbeiter und werfen ein paar Seile über ihren Körper. Sie schüttelt sacht den Kopf, dann verzieht sie die Schnauze, als würde sie grinsen. Erst jetzt sehe ich den großen Hänger, in den die Männer Bibby vorsichtig ziehen, schieben und drücken. Sie lässt sich tatsächlich in den Wagen verladen. Streckt dann aber, wie zum Abschied, noch einmal den Hals heraus und schaut zu mir hoch. Alles Gute und danke für die Gemüseleckerlis, sagt ihr Blick.

»Dir auch, Bibby, gute Fahrt nach Hause. War schön, dich kennenzulernen«, sage ich mit den Augen. Dr. Horse ruft mir zu, dass sie sofort losmüssen. »Danke, ich rufe Sie an!« Ich winke zum Abschied und schaue dem großen Wagen hinterher, wie er langsam unsere Straße verlässt. Mein Vorgarten ist auf einmal seltsam leer. Die Kugelrobinie hat eine blattlose Stelle, und meine Hortensien sind verknickt. Trotzdem fehlt mir das große Zootier, das hier nicht hergehörte.

Ich räume die Gemüseschublade, die jetzt um einen Salatkopf und eine Tüte Möhren ärmer ist, wieder zurück in den Kühlschrank. Es klingelt. Iris steht mit zwei Flaschen Bier vor der Tür. »Ich hatte nichts anderes, aber ich dachte, wir zwei brauchen jetzt ein alkoholisches Getränk!«

Ich freue mich, dass sie da ist. Es tut gut, jetzt nicht allein zu sein. Mir ist allerdings eher nach einer eiskalten Cola. Ich habe immer Cola im Kühlschrank, für alle Fälle. Ich liebe diese Koffein- und Zuckermischung. Ich könnte jeden Tag zu allen Mahlzeiten nur Cola trinken, aber dann muss ich meine Klamotten eines Tages wirklich in der Zeltabteilung kaufen, und das will ich dann auch nicht. Aber nachdem man eine Giraffe im Vorgarten hatte, kann man sich schon mal eine Cola gönnen. Ich biete Iris auch eine an, und sie nickt. Das Bier bleibt stehen und wird warm, während wir uns die ganze Geschichte noch einmal aus verschiedenen Perspektiven erzählen. Großartigerweise hat Iris sich auch nicht an die Anweisung gehalten, die Fenster zu schließen. Sie hat ein paar tolle Bilder gemacht von der Giraffe, die mit dem Kopf in meinem Dachfenster verschwindet.

Iris ist um die fünfzig und verheiratet mit Friedhelm. Friedhelm ist das Gegenteil von Iris. Iris ist groß, laut, redet viel und gerne. Friedhelm ist gut einen Kopf kleiner als sie und so still, dass man sich manchmal fragt, ob er vielleicht gar keine Stimmbänder hat, so selten wie er sie mal einsetzt. Ich mag ihn trotzdem oder gerade deshalb. Er ist unheimlich hilfsbereit und freut sich immer über ein Stück Käsekuchen. Jedes Mal wenn ich Käsekuchen backe, bringe ich ihm ein Stück vorbei. Iris natürlich auch, ich kann ja sowieso keinen ganzen Kuchen allein essen.

Friedhelm ist heute beruflich in München, deshalb bestellen Iris und ich uns Pizza. Ich wähle Tomaten mit Rucola, sie nimmt eine Pizza Funghi. Jetzt wäre das Bier passend, aber das ist inzwischen leider sehr warm, darum müssen wir noch eine Cola trinken. »Wenn man schon Pizza isst, dann ist das egal, ob man dazu Wasser trinkt oder Cola.« Ich frage nicht nach, wieso, weil man bei Iris immer mit sehr ausführlichen Antworten rechnen muss. Dr. Horse ruft nicht mehr an, aber wir hoffen, dass die Giraffe wohlbehalten wieder in ihrem Gehege angekommen ist.

Iris und ich verbringen einen schönen Abend zusammen und sprechen die ganze Zeit nur über Bibby.

Erst, als ich viel zu spät im Bett liege, fällt mir die Frau mit der Strickjacke wieder ein, die dreist in meinen Wohnwagen eingezogen ist.

Was war das nur für ein verrückter Tag?

Ich stehe noch einmal auf und starre in meinen dunklen Garten. Ganz hinten, wo der Wohnwagen steht, ist kein Licht zu sehen. Wie soll ich denn schlafen, wenn eine fremde Frau in meinem Garten campiert?

Eine kleine sinnlose Hoffnung keimt in mir auf. Vielleicht hat meine Drohung mit der Polizei ja doch etwas bewirkt? Vielleicht ist sie genauso still und heimlich ausgezogen, wie sie eingezogen ist?

Zögernd lege ich mich zurück in mein Bett, dabei ist mir eigentlich schon klar, dass ich mir gleich einen warmen Pulli über mein Nachthemd ziehen und mit einer Taschenlampe noch mal bis hinten zum Wohnwagen schleichen werde.

Barfuß in den Gummistiefeln fühle ich mich tagsüber okay, aber nicht nachts. Ständig habe ich die blöde Vorstellung, dass zwischen meinen Zehen gleich ein Käfer krabbelt. Ich pirsche mich durchs hohe Gras und brauche meine Taschenlampe dabei gar nicht. Es ist hell genug. Der Himmel ist endlich klar, und der Mond scheint. Im blassen Licht sieht der Wohnwagen nicht heimelig, sondern gespenstisch aus. Mir kommt der absurde Gedanke, dass die Strickjackenfrau gar kein echter Mensch war, sondern tatsächlich ein Geist. Ein häkelnder Geist am helllichten Tag ist zwar nicht gerade gewöhnlich, aber dass tatsächlich jemand in meinen verfallenen Wohnwagen einzieht und ihn vorher hübsch herrichtet, ist auch nicht gerade wahrscheinlich. Ein paar Meter vor dem dunklen Wagen bleibe ich stehen. Was mache ich, wenn ich da jetzt reinleuchte und der alte Strickjackengeist mit Lockenwicklern am Fenster erscheint? Schreien, vermutlich. Und was mache ich, wenn ich da jetzt reinleuchte und der Wohnwagen innen verfallen und schmutzig ist, ohne neue Polster, Blumen auf dem Tisch und Vorhängen, auf denen Farne und Papageien sind? Dann schreie ich auch, beschließe ich. Langsam nähere ich mich dem Fenster. Ich hebe die Lampe hoch und leuchte in den Wagen. Er ist immer noch sauber und »hübsch hergerichtet«, aber ich kann die Strickjackenfrau nirgends sehen. Ich gehe um den Wagen herum. Das Bett hinten ist mit Sofakissen bestückt, die alle einen Häkelüberzug haben. Sie ist definitiv nicht im Wagen, und ich kann auch keine persönlichen Gegenstände entdecken. Sie ist tatsächlich ausgezogen. Die Häkelkissen hätte sie ruhig mitnehmen können! Erleichtert mache ich mich auf den Rückweg. Es ist sicher schon nach eins. Ich komme an der Schaukel vorbei, das Brett fühlt sich trocken an. Ehe ich noch groß überlegen kann, habe ich mich schon draufgeschwungen. Meine Haare fliegen hinter mir her. Ich zähle langsam bis sieben. Optimale Schaukelhöhe erreicht. Ich lasse den Tag aus mir herausfließen. Kopf in den Nacken, Augen schließen.

Svenja

Den ganzen Tag habe ich mich auf Svenja gefreut. Das frühe Aufstehen fiel mir heute Morgen nach zu wenig Schlaf besonders schwer. Wenn man sich meinen natürlichen Biorhythmus und meine Arbeitszeiten anschaut, habe ich den völlig falschen Beruf gewählt. In den Ferien schlafe ich bis zehn, und vor elf bin ich überhaupt nicht ansprechbar. In der Schulzeit quäle ich mich von Montag bis Mittwoch mit dem frühen Aufstehen, Donnerstag und Freitag geht es, weil ich mich bis dahin umgestellt habe. Am Wochenende mache ich mir meinen Rhythmus dann wieder total kaputt, weil ich ewig nicht ins Bett gehe und lange schlafe. So fängt das Spiel jede neue Woche wieder von vorn an: quälen, gewöhnen, kaputtmachen, quälen, gewöhnen, kaputtmachen. Glücklicherweise gibt es ja irgendwann immer Ferien. Das Hauptvorurteil, dass Lehrer nur Lehrer werden, damit sie so viel Ferien haben, stimmt. Gut, wir müssen auch in den Ferien Unterricht vorbereiten und oft auch Arbeiten korrigieren, aber das können wir uns dann frei einteilen. Das ist schon ein echter Luxus.

Heute hatte ich diesen Luxus nicht und wäre bei der Hausaufgabenbetreuung fast eingeschlafen. So viel Kaffee kann ich gar nicht trinken, um wach zu bleiben, bis die kleine Trödeline Alina alle Nomen im Text grün unterstrichen hat.

Zu Hause angekommen, habe ich mir erst mal den Schaden an meinen Hortensien angeschaut. Ich habe die Hälfte von ihnen wegschneiden müssen. So eine Giraffe ist ja nicht gerade leicht. Dr. Horse war auf meinem Anrufbeantworter. Er hat sich bei mir für die gute Zusammenarbeit bedankt. Bibby sei gut wieder im Zoo angekommen und würde sich auch von der »Dröhnung« durch die Betäubungsspritze gut erholen. Sollte ich Schäden im Vorgarten haben, solle ich ihm das melden, der Zoo werde dafür aufkommen. Niemand kann mir Majas Hortensien ersetzen, deshalb hoffe ich, dass sie sich wieder berappeln. Ich habe alle Blüten, die ich retten konnte, auf viele kleine Vasen im ganzen Erdgeschoss verteilt. Es sieht so hübsch aus, das sollte ich eigentlich jedes Jahr machen! Ich schneide sonst nur für Freunde als Mitbringsel mal ein paar Blüten ab.