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Versprich mir, dass es großartig wird E-Book

Judith Pinnow

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Beschreibung

Damals schien die Welt auf uns zu warten. Mit viel Gefühl für die Bruchstellen in einer Freundschaft erzählt Judith Pinnow in ihrem neuen Roman von alten Jugendträumen und neuen Plänen. Franzi und Lena sind mit Anfang zwanzig nach New York gegangen, den Traum vom großen Ruhm als Schauspielerin im Gepäck. Eine großartige Zeit bricht an, voller hochfliegender Pläne und neuer Abenteuer. Hinter jeder Ecke wartet ein neues Versprechen. Doch dann trennen sich ihre Wege. Unterschiedliche Lebensentwürfe und unterschwelliger Neid zerstören die Freundschaft. Erst nach dreizehn Jahren Funkstille sehen sie sich wieder. Es ist Zeit, ihre Geschichte noch mal umzuschreiben.

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Seitenzahl: 587

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Judith Pinnow

Versprich mir, dass es großartig wird ...

Roman

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Inhalt

Für die »Lenas« in [...]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Herzlichen Dank an: [...]

Für die »Lenas« in meinem Leben, für meine Freundinnen

Kapitel 1

Ich erkenne die Stimme sofort. »Hi, hier ist Lena«, sagt sie. Der Satz schießt mir in den Bauch, macht dort eine Menge Unordnung und steigt mir dann in den Kopf. Hitze breitet sich auf meinem Gesicht aus.

»Lena?!«, wiederhole ich, weil keine anderen Wörter zur Verfügung stehen. Sie lacht ihr Lachen. Es klingt genau wie vor zwanzig Jahren, als wir jung und wild waren und noch genau wussten, was wir vom Leben wollten.

Lena und ich – wir waren einfach unschlagbar.

Wir lernten uns 1995 in New York kennen, als Schauspielschülerinnen am Lee Strasberg Theatre Institute. Großes Kino also, oder besser gesagt: großes Theater.

 

Ich brauche dringend einen Stuhl. Leider stehen in unserer kleinen Küche keine, also lasse ich mich einfach auf die Fliesen sinken. Der brummende Gefrierschrank im Rücken gibt mir etwas Sicherheit.

Die Pause nach meinem »Lena?!« dauert jetzt schon viel zu lange. Gleichzeitig fangen wir an zu reden: »Was machst du, wie …« – »Franzi, ich dachte, ich …«

Wir brechen ab und lachen gemeinsam ein kleines, nervöses Lachen. Aber jetzt haben wir eine Mini-Gemeinsamkeit, an der wir uns entlanghangeln können wie an einem dünnen Seil. »Wie geht es dir?«, fragt sie.

Wie fasst man dreizehn Jahre in einer Antwort zusammen?

»Gut, doch, wirklich gut«, sage ich. »Und dir?«

»Auch, ich … weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Du fragst dich sicher, warum ich plötzlich anrufe.«

»Es ist schön, dass du anrufst«, sage ich schnell. Ich bin nicht bereit, Entschuldigungen zu hören oder womöglich selbst welche aussprechen zu müssen.

»Ich wollte mich so lange schon melden, aber …« Sie bricht unsicher ab.

»Wo wohnst du? Was macht die Schauspielerei?«, helfe ich ihr zurück zu unserem dünnen Seil.

»Ich wohne immer noch in Berlin. Ich bin so froh, dass deine Nummer noch stimmt!«

Lena hat mich auf dem Handy angerufen. Meine Handynummer hat sich noch nie geändert. Es ist immer noch die allererste, die wir damals bekamen, als Bernd und ich unser erstes Handy hatten, eins für uns beide.

»Bist du noch mit Bernd zusammen?«, fragt sie.

»Ja! Und wir …« – sind glücklich, will ich sagen, aber das kommt mir so pathetisch vor – »… wir verstehen uns sehr gut.«

»Schön«, sagt sie. »Was macht Mia?« Sie weiß den Namen meiner Tochter noch. »Wie alt ist sie jetzt?«

»Sie ist gerade vierzehn geworden.«

»Vierzehn?!!!«, wiederholt Lena ungläubig. »Wahnsinn.«

Wahnsinn, wie lange wir nicht gesprochen haben, denke ich.

»Und habt ihr noch mehr Kinder?«, will sie wissen.

»Lukas. Er ist neun.« Wieder eine Zahl, die klarmacht, dass dreizehn Jahre zwischen uns stehen. »Und du? Hast du Kinder?«, frage ich, obwohl ich die Antwort ahne. Ich hätte vermutlich mitbekommen, wenn Lena ein Kind bekommen hätte. In irgendeiner Zeitung wäre es sicher eine kleine Randnotiz gewesen.

»Nein. Keine.« Die Antwort kappt unser dünnes Seil. Ich hätte das nicht fragen sollen, noch nicht. Dafür fällt es ihr jetzt leichter, ihr Anliegen vorzubringen. Ich habe das Gefühl, ihr nun etwas schuldig zu sein, und sage deshalb sofort zu. Als ich schließlich auflege, habe ich Kopfschmerzen.

 

»Wer ist Lena?«, fragt Mia, als ich Bernd beim Abendessen von dem Anruf erzähle.

»Deine Patentante«, sagt Bernd.

Mia überlegt. »Die mit der Kette?« Ich nicke.

Lena hatte Mia zur Taufe eine silberne Kette geschenkt mit kleinen Flügeln als Anhänger. »Trag du sie, bis sie selbst groß genug ist. Lad sie auf mit Liebe!«, hatte sie zu mir gesagt. Mia hat die Kette zum zwölften Geburtstag von mir bekommen. Viel weiß sie nicht von Lena.

»Wie alt war ich, als ich sie das letzte Mal gesehen habe?«, will sie wissen. Bernd schaut mich grübelnd an.

»Zehn Monate«, sage ich.

»Das weißt du aber ganz schön genau«, sagt Lukas beiläufig und schaufelt sich schnell noch die letzten drei Baguettescheiben auf seinen Teller. Mia merkt es und nimmt ihm kommentarlos zwei weg. Bevor er protestieren kann, nehme ich eins von Mias Teller und platziere es bei Bernd. Der wiederum legt es lächelnd auf meinen Teller.

»Und was genau sollst du jetzt bei diesem Interview sagen?«, fragt er.

Lena spielt demnächst in einer Serie die Hauptrolle. Das ist nichts Besonderes, sie spielt seit Jahren Hauptrollen. Sie ist der geborene Hauptrollentyp, während es bei mir gerade mal zu winzigen Nebenrollen gereicht hatte. Miniwinzige Nebenrollen, die leider auch immer nur ein einziges Mal auftauchten. Lenas neue Serie spielt in einer Schauspielschule. Sie ist die Lehrerin, die ihren Schülern nicht nur die Kunst des Schauspielens beibringt, sondern sie auch alles über das Leben lehrt, oder so ähnlich.

»Der Sender fand das witzig, ein Backstage-Bericht über Lena und ihre eigenen Anfänge auf der Schauspielschule. Ich soll erzählen, dass sie schon immer hervorragend war und dass man damals schon erahnen konnte, dass sie Karriere machen wird.«

»Das hat sie so gesagt?«, fragt Bernd.

»Nein, natürlich nicht.« Ich malträtiere meine Baguettescheibe mit der zu harten Butter. »Aber so läuft das doch. Die wollen sicher nicht hören, dass sie sich vor jeder Szene auf der Bühne erst mal dreißig Minuten im Klo einschloss, weil sie Dünnpfiff hatte.«

Lukas lacht laut. Das trifft genau seinen neunjährigen Humor. »Warum hast du da zugesagt?«, fragt Bernd, der merkt, dass mich die ganze Sache nicht gerade glücklich macht.

»Ja, was hätte ich denn sagen sollen?«, fahre ich ihn an. »Hätte ich sagen sollen, nein, ich mache beim Interview nicht mit, aber nett, dass du dich nach dreizehn Jahren mal wieder meldest?«

Mia schaut mich an. »Meinst du, sie hätte sich auch so gemeldet?«

»Ich denke nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Aber nach dreizehn Jahren braucht man auch schon einen Grund, um anzurufen.«

»Und ich bin kein Grund?«, fragt sie.

Ich muss aufstehen und rausgehen. Ich schnappe mir Bernds Jacke, die auf der Sessellehne rumlümmelt, und gehe auf die Terrasse. Die hellen Fliesen glänzen im Mondlicht. Der Aprilhimmel zeigt keine Sterne, aber der Mond hat sich ein kleines freies Stück zwischen den Wolken erkämpft, durch das er scheinen kann. Durch die Terrassentür kann ich sehen, wie meine Familie den Tisch abräumt. Erst noch alle zusammen, kurze Zeit später nur noch Bernd. Ich ziehe die Jacke an und gehe ein paar Schritte durch den kleinen Garten. Meine Hausschuhe werden feucht vom nassen Gras, aber ich gehe immer weiter. Vielleicht kann ich so den Tränen entkommen. Am Apfelbaum bleibe ich stehen. Eine große Kastanie wäre jetzt gut, mit einem dicken Stamm, den man umarmen kann. Stattdessen halte ich mich an einem dünnen, kleinen Bäumchen fest. Sobald ich stehe, haben sie mich. Die Tränen laufen mir über die Wangen. Ich versuche, so zu heulen, dass möglichst wenig Wimperntusche verläuft. Was lernt man nicht alles als Frau in über vierzig Jahren. Plötzlich wünsche ich mir zu rauchen, meinen Fingern eine Aufgabe zu geben. Ich würde meine Taschen abklopfen nach der Zigarettenschachtel. Sie erleichtert finden, eine aus der Packung schütteln, anzünden, den scharfen Rauch einatmen und etwas husten. So wie Lena und ich früher auf der Feuertreppe im East Village in New York …

Die Treppe ist so eng, dass wir nicht nebeneinander, nur hintereinander sitzen können. Wenn es hier echt mal brennt, hat man richtig Pech, wenn ein Lahmarsch vor einem die Treppe runterklettert. Überholen kann man jedenfalls nicht. Eigentlich ist es verboten, die Feuertreppen ohne Notfall zu betreten, oder, wie wir es tun, zu »besitzen«. Wir sind Anfang zwanzig und leben von Verboten, wir ernähren uns geradezu davon. Mein Apartment liegt im East Village, einer bunten, von Künstlern inspirierten Gegend. Also, jetzt nicht so schick und cool wie SoHo, mehr so undergroundmäßig. Im East Village wohnst du, wenn du dein Talent entdeckt hast und entwickelst, in SoHo, wenn du es dann geschafft hast.

Mein kleines Apartment ist ein Riesenglück. Kein Mensch kann es sich hier leisten, allein zu wohnen. Ich habe die Wohnung von Winnie bekommen.

Winnie hat mich auch auf die Idee gebracht, in New York auf die Schauspielschule zu gehen. Als wir uns beim Abitreffen wiedersahen, hatte sie gerade zwei Jahre Lee Strasberg hinter sich und war begeistert. Den ganzen Abend hat sie mir von der tollen Schule vorgeschwärmt, was man da alles lernt und wie cool die Lehrer sind, und natürlich, wie genial es ist, in New York zu sein. Sie erzählte so begeistert, dass ich sogar meinen Plan vergaß, mit Hannes zu knutschen, obwohl ich mir das fest vorgenommen hatte.

In den letzten zwei Jahren nach dem Abi hatte ich blöde Jobs angenommen, um Geld zu verdienen. Eigentlich wollte ich mit dem Geld eine Weltreise machen, aber da mir meine Eltern im Nacken saßen mit der großen Frage, wann ich denn nun endlich ein Studium oder eine Ausbildung beginnen würde, traf Winnies Vorschlag genau ins Schwarze. Die Welt sehen, also New York UND ein Studium anfangen. Perfekt. Ich hielt mich nicht für eine geborene Schauspielerin, obwohl ich natürlich in der Schultheatergruppe war und da auch die eine oder andere Hauptrolle bekommen hatte. Es machte mir Spaß, auf einer Bühne zu stehen, und auf ein Hochschulstudium hatte ich so gar keine Lust. Wieder rumsitzen und lernen? Und was sollte ich bitte studieren? Ich habe weder besondere Fähigkeiten noch besonderes Interesse an den üblichen Fächern, die meine Klassenkameraden alle belegen.

Winnie brauchte nicht lange, um mich zu überzeugen. Meine Eltern waren zwar nur mittelmäßig begeistert, erklärten sich dann aber doch bereit, mir die Flüge zu bezahlen. Wenn ich gut haushalte, müsste mein Geld für neun Monate hier reichen. Zur Not ziehe ich einfach zu Lena.

Lena wohnt auf der Upper West Side, bei einer durchgeknallten Frau. Sie heißt Lorie, aber wir nennen sie nur Messie. Lena muss abends ihr Zimmer abschließen und sich das Telefon neben das Bett legen. »9-1-1, du wählst sofort 9-1-1, wenn sie nachts mit einem Messer in der Hand bei dir im Zimmer steht!«, bläue ich ihr ein. Lena lacht ihr Lachen. Es purzelt aus ihr heraus, viel tiefer als ihre Sprechstimme. »Nein, im Ernst, die Frau macht mir Angst!«, sage ich und blase den Rauch links durch das Gitter der Feuertreppe, um es ihr nicht in die Haare zu pusten.

Sie sitzt vor mir, so dicht, dass wir uns berühren. Meine Knie an ihrem Rücken. Unser Blick schweift über die Straße und die gegenüberliegenden Häuser. Im East Village gibt es keine Wolkenkratzer. Ich wohne im dritten Stock. 506 East 5th Street, zwischen Avenue A und B, Apartment 3 b.

Winnie hat mir lange Listen geschrieben, wo ich was einkaufen kann und wo man abends hingeht und sogar, wen ich anrufen soll, wenn ich Pot rauchen will. Dann kommt angeblich so ein Pizzatyp und liefert das.

Einmal haben Lena und ich da angerufen, haben aber nur einen Anrufbeantworter erreicht. Kichernd haben wir dann meine Nummer hinterlassen, und der Idiot hat mich mitten in der Nacht zurückgerufen. Nachts aufzuwachen ist immer scheiße, weil man so lange braucht, um wieder einzuschlafen, überall jaulen die Sirenen. Kein vernünftiges Tatütata wie in Deutschland, sondern ein unregelmäßiges Uuuuuuip, uip, uiupipipipipip, uuuuuuuuuuip. Als würde man ein Kind mit einer kaputten Hupe spielen lassen.

»Lorie ist schon okay«, sagt Lena. Okay ist jetzt nicht das Wort, das mir als Erstes zu ihr einfällt. Obwohl sie schon einen sehr guten Eindruck machen kann, wenn sie will. Ich war dabei, als Lena sich das Zimmer anschaute. Man kann sich in New York nicht allein mit jemandem, den man nicht kennt, in einer fremden Wohnung treffen, das weiß jeder, auch Lorie. Sie hatte aufgeräumt, und ihre winzige Zweizimmerwohnung sah top aus. Also, sie war jetzt nicht supersauber, das nicht. Aber aufgeräumt. Lenas Zimmer überzeugte uns sofort. Es hat ein großes Fenster zur Straße raus im ersten Stock. Also hoch genug, dass niemand einsteigen kann. Das Bett steht auf einem Podest, man muss ein bisschen hochklettern, dann liegt man da wie eine Prinzessin. Vor einem die Zimmertür, was gut ist, falls die durchgeknallte Messie echt mal nachts reinkommt, rechts vom Bett das schöne Fenster, und links gibt es eine Nische in der Wand, auf der Lenas ganzer Kram steht. Lippenbalsam, ohne den sie keinen Schritt macht. Wahrscheinlich schleppt sie das Zeug sogar immer mit auf die Toilette. Fotos, Textbücher, Haargummis, Wasserflaschen.

Beim Besichtigungstermin hat uns Messie Kekse angeboten, Tee gekocht, es brannte sogar eine Kerze auf dem winzigen Tisch in ihrem Zimmer. Sie nannte Lena dauernd »Dear« und »Darling« und »Sweetie«, was jetzt nicht furchtbar unüblich ist in New York, aber von einer älteren Frau, ich glaub Messie ist so Mitte dreißig, war das irgendwie spooky. Sie war jedenfalls hin und weg von Lena, das kannte ich ja schon. Das geht jedem so, sogar mir.

Auf Lena passt das Wort amazing. Sie ist groß, das bin ich auch, und blond, auch das bin ich. Sie hat eine tolle Figur, sogar da kann ich mithalten, aber alles an ihr ist irgendwie sinnlich. Die Art, wie sie redet, wie sie den Kopf schief hält. Wie sie gedankenverloren mit den Eiswürfeln in ihrem Glas spielt. Einfach alles. Bis ich Lena traf, dachte ich immer, ich hätte das gewisse Etwas, aber wenn man das dann an einer anderen Person plötzlich sieht, kommt man schon ins Zweifeln.

»Hast du in letzter Zeit mal wieder in ihr Zimmer geschaut?«, frage ich und schaue zu, wie meine Zigarette wegglimmt. Lena und ich rauchen nicht richtig, aber wir finden, es gehört zum New-York-Feeling, ab und zu auf der Feuertreppe zu sitzen und zu rauchen. In allen Filmen tun sie das, also müssen wir das auch. Wenn man selten raucht, braucht man auch nur ein, zwei Züge, die man mühsam in der Lunge behalten muss, damit es wirkt. Dann macht einen das Nikotin ein bisschen schwindelig und leicht. Genauso sollte man sich in New York fühlen, finden wir.

Sie legt den Kopf zurück, so dass er auf meinem Schoß liegt, und blinzelt mich unter ihrem langen Pony an.

»Nö. Ich will es gar nicht sehen.«

»Ich wette, sie hat wieder alle Schuhe auf dem Bett!«, sage ich und streiche Lenas weiche Haare zur Seite, damit ich ihre Augen sehen kann. Braune Augen mit dichten schwarzen Wimpern, in krassem Kontrast zu ihren hellen Haaren.

»Ob sie die Pflanzen wieder eingetopft hat?«

Als wir das letzte Mal durch einen Türspalt in Messies Zimmer gelinst hatten, sah es aus, als hätte ein Drogenabhängiger nach Stoff gesucht. Herausgerissene Topfpflanzen lagen in einem wilden Durcheinander aus Klamotten, Schuhen und sogar Bratpfannen auf dem Boden, dem Tisch und auch auf dem Sofa, auf dem Messie schläft. Wie sie in all dem Chaos überhaupt schlafen kann, ist uns ein Rätsel.

Lena dreht sich zu mir um. Sie will nicht länger über ihre durchgeknallte Vermieterin sprechen. »Gehen wir los?«, fragt sie und steht auf.

Ich frage nicht, wohin, und klettere durch das Fenster in meine kleine Wohnung.

In New York brauchst du kein Ziel. Egal, wo du ankommst, es lohnt sich, dort zu sein.

»Franzi?« Bernd steht in der Terrassentür und späht angestrengt in den dunklen Garten. Der Mond ist weg, hat sich hinter die Wolken verzogen. Ich antworte nicht, gehe aber langsam mit meinen nassen Hausschuhen auf ihn zu. Er will etwas sagen, irgendeine Familieninfo. Vielleicht sucht Mia ihr Französischbuch, oder Lukas braucht noch einen Gutenachtkuss. Als er mich sieht, sagt er nichts und umarmt mich stattdessen lange und fest. Dann hebt er mich ein kleines Stück hoch und schleppt mich über die Kante der Terrassentür ins Wohnzimmer. Dabei schnauft und stöhnt er, als müsste er eine Elefantenkuh tragen.

»Wer braucht noch was?«, frage ich, als ich mich von ihm löse.

»Lukas möchte, dass du ihm vorliest.« Er schaut mich fragend an.

Ich weiß, ich könnte nein sagen, und er würde für mich einspringen. Aber manchmal sind die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär genau das, was man braucht, um runterzukommen. Wenn ich schon nicht rauchen kann.

Ich gehe rüber in den »Kindertrakt« unseres Bungalows. Unser Haus ist in L-Form gebaut. Die beiden haben ihr Zimmer im unteren L-Ende. Erst kommt Mias Zimmer. Es ist ein bisschen größer als das von Lukas. Dann kommt das Kinderbad, in dem es keine Badewanne, sondern nur eine Dusche gibt, und die dritte Tür führt in Lukas’ Zimmer. Er sitzt auf dem Boden und baut an einem Legoding. Könnte ein Raumschiff sein oder ein Kran. Ich frage nicht nach, um keine ausführliche Erklärung zu bekommen, sondern scheuche ihn ins Bett und kuschele mich daneben in seine Meerbettwäsche. Kleine Krabben, Fische und Leuchttürme umhüllen uns. Lukas ist im Meeresfieber. Über seinem Bett hängt ein echtes Fischernetz. Er hat es im Urlaub in Holland zerrissen am Strand gefunden. Am liebsten hätte er es noch mit toten Krebshüllen dekoriert, aber das Netz stank so schon genug. Nach zweimal Waschen ging es, aber ich bilde mir ein, immer noch was zu riechen, wenn ich bei ihm im Bett genau darunterliege. Während ich lese, fuchtelt Lukas mit seinem Kescher, der immer griffbereit neben dem Bett liegt, in der Luft herum. Ich bin daran gewöhnt, dass er immer rumhampelt.

Mia war ganz anders. Schon als Baby liebte sie es, wenn man ihr Bücher vorlas. Andächtig saß sie auf meinem Schoß und tippte mit ihrem kleinen Finger die Seiten an. »Dida«, forderte sie mich auf, die Seite zu lesen. Bei Lukas versuchten wir es gar nicht erst. Bücher musste man ganz weit oben verstecken, weil er mit großer Begeisterung die Seiten herausriss. Stillsitzen und zuhören ist nichts für ihn. Als er fast drei war, sagte ich zu Bernd, dass das so nicht geht. Man müsse dem Kind doch auch mal was vorlesen. Also nahm ich eins der Traktorbücher, die Lukas sonst zum Weitwurf benutzte, setzte mir den kleinen Typ auf den Schoß und begann zu lesen. Nach zwei Sätzen versuchte er, von meinem Schoß zu klettern. Ich hielt ihn fest und las weiter. Es wurde ein richtiger Ringkampf daraus. Mit einer Hand bekämpfte ich meinen Dreijährigen, mit der anderen hielt ich das Buch und las.

Dagegen ist das heute schon tiefenentspannt, wenn man nur ab und zu ein von Lukas im Kescher gefangenes Stofftier auf den Kopf bekommt.

Ich lese seitenlang, wie der Blaubär von der furchterregenden Waldspinnenhexe verfolgt wird.

»Lukas?«

»Hm?«

»Wenn ich dich jetzt gleich die letzte Seite im Kapitel lesen lasse, kannst du dann heute mal das Stöhnen und Jammern weglassen?« »Aber warum MUSS ich denn immer lesen?«, jammert er.

»Da ist schon das Jammern«, stelle ich fest. »Kommt jetzt das Stöhnen?«

Er stöhnt und kichert dabei. Ich kitzele ihn, und das Kichern wird ein Kreischen. Wir toben eine Weile auf der Meerbettwäsche herum, bis er sich ausgezappelt hat. Dann nimmt er anstandslos das Buch und liest fast flüssig die letzte Seite von Kapitel sieben.

Ich mache das Licht aus, küsse ihn auf die Stirn, checke, ob sein Wecker gestellt ist, und umlaufe all seine Legobauwerke auf dem Boden.

»Pass auf, dass du nicht in ein Dimensionsloch fällst!«, sagt Lukas.

»Ich gebe mir Mühe. Obwohl wir ja gerade gelesen haben, dass das sehr praktisch ist, wenn man vor der Waldspinnenhexe flüchten muss.«

Er spielt nach, wie er auf der Flucht in ein Dimensionsloch fällt, und lässt sich krachend auf seine Matratze plumpsen.

»Schlaf!«, befehle ich und verlasse sein Zimmer.

Mia höre ich durch die geschlossene Zimmertür leise reden. Sie telefoniert, also gehe ich ohne Zwischenstopp bei ihr direkt ins Wohnzimmer.

 

Bernd hat uns Tee gekocht. Er kocht uns jeden Abend Tee. Wir trinken selten Alkohol. Er mag ihn nicht, und ich vertrage ihn nicht so gut. Trotzdem hätte ich jetzt lieber ein Glas Wein. Ich nehme den Kräutertee entgegen und setze mich auf unser neues Sofa. Früher hatten wir eine große Liegewiese, auf der Kinder erst gezeugt und später dann gestillt wurden. Der Bezug war waschbar, was praktisch ist, aber irgendwann wollten wir kein praktisches, waschbares Sofa mehr, keine lümmelige Liegewiese, auf der man mit Freunden kaum sitzen kann.

Die Kinder sind jetzt groß, und wir fühlten uns alt genug für eine Couch, die nicht von Ikea ist. Im Internet fand ich den hilfreichen Hinweis, dass ein Sofa zu deiner Lebenssituation passen muss. Ich machte also eine Tabelle zu unserer Lebenssituation:

Person:

Braucht das Sofa überwiegend für:

Franziska, 43 Jahre, 1,75 m, 66 kg

– lesen, fernsehen, um mit Freunden drauf zu quatschen

Bernd, 44 Jahre, 1,88 m, 90 kg

– fernsehen, Laptop benutzen, zum Vögeln

Mia, 14 Jahre, 1,69 m, 52 kg

– chatten, Filme gucken, telefonieren, chillen

Lukas, 9 Jahre, 1,36 m, 35 kg

– rumkrümeln, toben, um über die Prärie zu reiten, Höhlen bauen, Kissenschlachten

Der Liste nach habe ich das langweiligste Leben. Bernd hat noch handschriftlich »zum Vögeln« hinzugefügt, und ich schrieb dann wenigstens noch »zum Nägel lackieren« in meine Spalte, um nicht so völlig spießig dazustehen.

Wir zogen los, um ein Sofa zu finden, auf dem man mit Freunden gut sitzen kann und auf das wir auch alle vier passen, wenn wir zusammen Filme gucken.

Nach vielem Probesitzen bestellten wir »Gortan«. Bernd störte, dass der Name doch wieder nach Ikea klang. Mich störte eher die lange Lieferzeit von Gortan – acht bis dreizehn Wochen –, aber der Verkäufer versprach uns, dass es eigentlich doch immer schneller gehe. Nach fünfzehn Wochen warten wurde Gortan endlich geliefert, und die Lümmelwiese flog raus. Jetzt sitzen wir kerzengerade auf der hellblauen Couch und vermissen unser altes Ikeading. Das können wir natürlich nicht zugeben, weil wir viertausend Euro gezahlt haben für Gortan. Und das bei zwanzig Prozent Abzug wegen des »Frühbucherrabatts«. So hat es Bernd genannt. Eigentlich war das Jahresschlussverkauf oder so etwas. Man fragt nicht so genau nach, warum, wenn man zwanzig Prozent angeboten bekommt. Viertausend Euro für eine unserer Lebenssituation angepasste Couch. Vielleicht hätten wir lieber unsere Lebenssituation an die alte Couch anpassen sollen.

»Zu spät«, sage ich laut.

»Wofür?«, fragt Bernd.

»Für alles«, sage ich theatralisch.

»Wirft dich das so um?«, fragt er.

»Was?«

»Na, die Sache mit Lena?«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll.

»Was ist denn das für ein Tee?«, frage ich.

»Schlaf-gut-Kräutermischung.«

»Schmeckt wie alte, nasse Handtücher.«

»Den hast du gekauft«, brummt Bernd. Schweigend sitzen wir auf Gortan und schlürfen alte, nasse Handtücher.

»Ich komme mir einfach blöd vor bei dem Interview.«

»Dann mach’s nicht.«

Ich seufze. Für Bernd ist immer alles so einfach. »Ich kann das Interview nicht absagen. Ich hab da heute zugesagt, und dann mach ich das auch.« Entschlossen stehe ich auf und kippe den furchtbaren Tee in den Ausguss. Bernd trottet mir hinterher und macht das Gleiche. Die Verpackung liegt neben dem Wasserkocher. Den Tee habe tatsächlich ich gekauft: »Schlaf gut«. Unter dem Schriftzug ist ein Kissen mit Lavendelblüten bestreut. Über dem Kissen wehende Vorhänge. Sieht wirklich beruhigend aus. Das nächste Mal nehme ich mir eine Thermoskanne mit heißem Wasser mit in den Supermarkt und nehme Proben. Und wenn dann ein Verkäufer im Kittel kommt und mich fragt, was ich mache, antworte ich ganz cool: Wonach sieht’s denn aus? Und der Kittelmann stottert dann rum, dass ich hier nicht einfach die Teebeutel testen kann. Und dann halte ich ihm meinen Becher hin und sage: Trinken Sie das! Er traut sich nicht, zu widersprechen, trinkt und sagt: Mein Gott, das schmeckt wie alte, nasse Handtücher. Eben, werde ich sagen. Eben. Und dann den Laden verlassen und mein Teewasser noch wortlos vorne an der Kasse in die Schnittblumen schütten.

Ich werfe die ganze Packung weg, einfach in die Mülltonne für alles.

Bernd holt sie wieder raus und wirft die Teebeutel in den Biomüll, den Karton in den Papiermüll.

»Da sind kleine Metallklammern dran, an den Beuteln. Und auch noch ein Papierzettelchen.«

»Das passt schon«, sagt Bernd entspannt. »Und dein Interview wird auch gut laufen.« Er küsst mich kurz auf den Mund, dann lässt er mich in meinen immer noch nassen Hausschuhen in der Küche stehen. Kurze Zeit später höre ich, wie im Wohnzimmer der Fernseher angeht.

 

Ich wollte nie ein Schlafzimmer im Keller. Als wir den alten Bungalow vor zehn Jahren kauften, wollten wir unser Schlafzimmer in Lukas’ heutigem Zimmer einrichten. Kurze Zeit später war ich schwanger. Jedes Kind sollte ein eigenes Zimmer bekommen, also gab es plötzlich eins zu wenig. Wir überlegten hin und her. Schließlich schien es am vernünftigsten zu sein, wenn wir in den Keller ziehen. Es ist auch ganz hübsch geworden hier unten. Wir haben große Fenster, und der Lichtgraben ist schön bewachsen. Außerdem haben wir jetzt ein eigenes Bad, was besonders vorteilhaft ist, wenn man eine Tochter im Teenageralter hat. Lukas badet oft unten, und ich habe eine zweite Zahnbürste für ihn bei uns geparkt, weil Mia oben oft stundenlang das Badezimmer besetzt. Mit dieser Version, drei unten, eine oben, leben wir sehr gut. Problematisch wird es erst, wenn Lukas auch anfangen sollte, stundenlange Badezimmersessions einzulegen. Da kauft man sich ein Haus, und es endet damit, dass man keins der zwei Badezimmer, die man hat, benutzen kann und selbst im Keller schlafen muss.

Heute Nacht nutze ich den Vorteil, den Kellerschlafzimmer haben, sie liegen direkt neben der Vorratskammer. Zwischen Dosentomaten, Apfelmus und Marmeladengläsern finde ich eine Flasche Rotwein, die uns irgendwann mal irgendjemand geschenkt hat. Auf dem Etikett sind kleine Rosen.

»Roses«, so heißt die Bar, in die Lena und ich manchmal gehen. Alle Welt trinkt Cosmopolitan, als wäre man selbst automatisch ein Kosmopolit, wenn man das bestellt. Alkohol ist echt teuer, deshalb haben Lena und ich einen voll coolen Trick. Wir bestellen Rotwein. Eine kleine, hübsche Kellnerin mit kurzen braunen Haaren bringt uns die großen bauchigen Gläser. Sie sieht aus wie Winona Ryder. Wer weiß, vielleicht ist sie es auch. Offenbar sehen wir alt genug aus, denn uns hat noch nie jemand nach unserem Ausweis gefragt. Es ist nie wirklich voll hier, man bekommt immer einen Platz in den plüschigen Sesseln. Es ist so witzig, dass manche Orte in Manhattan ganz genauso aussehen, wie man sie sich vorstellt. Wir sitzen also tatsächlich in roten Plüschsesseln, Wände und Tische sind ganz schwarz. Große Kronleuchter hängen von der Decke, und es gibt sogar eine Galerie. Aber da oben waren wir noch nie. Wir suchen uns immer einen Tisch mitten im Raum aus, so kann man alles am besten sehen. Die Bar ist auch schwarz und natürlich beleuchtet. Auf unserem Tisch steht eine kleine Kerze, an der Lena ständig rumspielt. Sie hat auf jeder Fingerspitze einen kleinen Wachshut, als Winona Ryder uns den Wein bringt. Blitzschnell stellt sie die Gläser ab, weist uns an, das Getränk zu genießen – enjoy –, und ist sofort wieder weg. Lena greift mit den Wachshütchen an den Fingern nach dem Glas, kann es aber nicht richtig halten und stellt es wieder ab. Es wird sowieso nicht sofort getrunken. Erst mal riechen wir nur dran und fahren mit nassen Fingern über den Rand, um ein Geräusch zu erzeugen.

»Triffst du dich noch mit Daniel?«, fragt sie mich. Sie spricht seinen Namen englisch aus – Däniel. Daniel ist aus Texas. Er ist mir irgendwie zugelaufen. Wie ein kleines Hündchen, das man nur schwer wieder loswird. Er ruft mich ständig an oder wartet vor meinem Haus und tut dann so, als wäre er nur gerade zufällig dort langgekommen.

»Gestern waren wir zusammen im Riverside Park picknicken. War ganz okay.«

»Knutscht ihr noch?«

»Nur wenn’s dunkel wird«, sage ich und grinse. Daniel küsst ziemlich gut, und solange er sich damit zufrieden gibt, warum nicht?

»Woll’n wir?«, fragt Lena und hebt erwartungsvoll ihr Glas. Die Wachsdinger hat sie sich inzwischen abgeknibbelt. Wie kleine Schiffe liegen sie halbrund um die Kerze herum.

»Auf was trinken wir?«, frage ich. Wir trinken immer auf irgendwas, weil das viel feierlicher ist, als einfach nur so anzustoßen.

»Auf …«, überlegt Lena.

»Auf die Waffeln im Seven A!«, fällt mir ein. Das Seven A ist ein Café auf der Siebten Straße, Ecke Avenue A, also ganz bei mir in der Nähe. Ab und zu gönnen wir uns sonntags ein Frühstück dort. Die Waffeln mit Erdbeeren sind bombastisch.

»Auf die genialen Waffeln im Seven A!«, wiederholt sie.

Wir stoßen an, halten kurz inne, zählen bis drei und kippen das ganze Glas Rotwein auf einmal runter. Wenn man das macht, passiert erst mal nix. Außer, dass es sich im Bauch ein bisschen komisch anfühlt. Und ein paar Minuten später – WOOOSH – bist du von einer Sekunde auf die andere tipsy. Ich mag dieses Wort. Ich glaube, es ist mein Lieblingswort in Englisch. Tipsy heißt angetrunken, »angetüddelt« ist vielleicht die beste Übersetzung. Wenn du mit unserem Trick tipsy wirst, ist alles lustig, und Küssen macht noch mehr Spaß. Trotzdem hat man am nächsten Tag keine Kopfschmerzen, weil es ja nur ein einziges Glas Wein war. Hält auch nicht so super lange, aber auf dem Weg zur U-Bahn wieder nüchtern zu sein ist auch nicht das Schlechteste.

Lena nimmt mit einer geübten Bewegung ihr Lippenzeug aus ihrer Tasche und schmiert es sich auf den Mund. Ich wette, sie hat nicht mal bemerkt, dass sie das gerade gemacht hat.

»Du bist süchtig!«, sage ich.

»Wonach?«, fragt sie und schaut auf ihr leeres Weinglas.

»Nach deiner kleinen Carmex-Dose da.« Ich zeige auf das kleine gelbe Döschen, das sie nicht wieder in ihrer Tasche verstaut hat.

»Absolut«, gibt sie zu, öffnet es und riecht andächtig dran. »Und nach dir!«, sagt sie, und da passiert es. Das »WOOOSH«, mein Rotwein haut rein. Lenas Hand liegt auf meinem Arm. Ich schaue in ihre braunen Augen, die sich plötzlich verändern, weicher werden. Auch ihr WOOOSH ist angekommen. Wir nehmen uns an den Händen und kichern rum. Winona sieht etwas irritiert zu uns rüber, dabei machen wir genau das, was sie uns empfohlen hat. Enjoy.

Ob ich mich traue, ein ganzes Glas Rotwein zu kippen? Da macht mir sicher mein Magen Probleme. Der ist ja schon angesäuert, wenn ich mal im Restaurant ein Glas zum Abendessen trinke. Ich könnte aber so gut ein WOOOSH brauchen.

Das ganze Haus schläft, und ich schleiche lautlos mit meiner Flasche die Treppe hoch. Komme mir vor wie eine alte Alkoholikerin, die im Nachthemd heimlich ihren Stoff nach oben transportiert, um ihn dann an diversen Stellen im Erdgeschoss zu verstecken. Unheimlich, so durch das dunkle Haus zu schleichen. War da ein Geräusch? Ich bleibe stehen und lausche. Hört sich fast so an, als ob da einer langschlurft.

Die Flasche in meiner Hand fühlt sich wie eine Waffe an. Falls hier ein Einbrecher rumgeistern sollte, könnte ich ihn ausknocken. Oben angekommen, mache ich im Flur probeweise ein paar Schwünge.

Als ich dann in der Küche wirklich eine schmale Gestalt sehe, setzt mein Herz aus. Völlig bewegungsunfähig bleibe ich in der Türöffnung stehen, was sicher dumm ist, weil ich dem Einbrecher so den Weg in die Freiheit abschneide. Der dreht sich um, sieht mich und kreischt wie eine Vierzehnjährige.

»Mia! Pschschscht! Du weckst alle auf! Ich bin’s nur – Mama!«

Erleichtert fällt sie mir in den Arm.

»Ich dachte, du wärst ein Einbrecher!«, flüstert sie in meine Haare.

»Ja, dachte ich auch, als ich dich gesehen habe. Was machst du hier?«

Wir sind keine Familie, die nachts rumgeistert. Normalerweise schlafen wir alle wie Bären im Winterschlaf. Jedenfalls seit ein paar Jahren. Mit kleinen Kindern war das natürlich anders. Nächtliche Ausflüge über Flure, in andere Betten oder auf die Sofalümmelwiese waren normal.

»Ich hab schlecht geträumt und wollte mir ein Glas Wasser holen. Und du?« Sie zeigt fragend auf die Weinflasche, die man im Mondlicht gut erkennen kann.

»Ich konnte nicht schlafen«, sage ich wahrheitsgemäß und verschweige meinen Wunsch nach einem WOOOSH. Ich stelle die Weinflasche weg und nehme mir auch ein Glas Wasser. Mia füllt ihres noch mal neu, die Hälfte hat sie vor Schreck, mich zu sehen, auf die Fliesen verschüttet. Halbherzig wischt sie mit einem Küchentuch den Boden.

»Ist nur Wasser«, sage ich, und sie hört auf.

»Kommst du noch kurz mit zu mir?«, bittet sie mit großen Augen.

Nachts ist sie viel kleiner als tagsüber. Wir balancieren unser Wasser über den Flur bis zu ihrem Zimmer. Ihre Lichterkette über dem großen weißen Metallbett ist an und verströmt ein gemütliches, warmes Licht, das an Weihnachten erinnert. Ich lasse sie zuerst ins Bett schlüpfen und lege mich dann neben sie. Eifrig baut sie mir ein paar Kissen in den Rücken.

Als sie zehn wurde, haben wir die Tapeten mit den kleinen Elfen abgerissen und stattdessen blaue Wellen an die Wände geklebt. Die neue Tapete hat einen leichten 3-D-Effekt. Dir wird etwas schwindelig, wenn du zu lange hinschaust. Mia hatte nie Probleme mit Schwindel, weil sie die Wände sowieso zuhängt. Ich schaue mich um und sehe, dass fast alle Tierposter durch Popstars ersetzt wurden in letzter Zeit. Ich kenne fast keinen von ihnen. Über Mias Bett hängt kein Fischernetz, aber kreuz und quer sind Schnüre gespannt, an die sie mit meinen Wäscheklammern – aha, jetzt weiß ich auch, wohin die alle verschwinden – Postkarten, Zettelchen und kleine Dinge klammert, die ihr wichtig sind. Ich entdecke den Schuhanhänger, den Lukas ihr mal zum Geburtstag geschenkt hat, und bin etwas gerührt, dass sie ihn aufgehoben hat.

»Was hast du denn geträumt?«, frage ich sie.

Sie lehnt den Kopf an meine Schulter und sagt: »Weiß ich gar nicht mehr.« Ich gebe ihr einen Kuss auf ihre gelockten Haare. Die wilden Haare ihres Vaters. Ich liebe die Locken von Bernd und Mia. Was würde ich für Locken geben. Wenn ich ihr das sage, beschwert sie sich nur über ihre »Scheißfarbe«, ein helles Braun, an dem nichts auszusetzen ist. »Und warum kannst du nicht schlafen?«

»Ich denke an Lena.«

»Wart ihr gute Freundinnen früher?«

»Die besten!«

»Wie habt ihr euch kennengelernt?« Ich trinke einen großen Schluck Wasser und erzähle es ihr.

Ich hatte echt keine Ahnung, wie teuer New York ist. Als Winnie mir ihre Wohnung anbot und ich den Preis hörte, dachte ich an eine Dreizimmerwohnung, die absolut phantastisch sein musste. So mit Whirlpool und Dachterrasse und einer Küche, die mit Glasbausteinen abgetrennt ist vom Wohnzimmer. Als ich dann schließlich aufgeregt die Tür aufschloss und mit einem Schritt schon in der Mitte des Raumes stand, konnte ich es nicht glauben. Ich war mir sicher, es musste irgendwo noch eine Tür geben. Dieser kaum zwanzig Quadratmeter große Raum mit einer wackeligen Küchenzeile drin konnte unmöglich alles sein. War es auch nicht. Es gibt schließlich noch ein ganz kleines Bad, in dem die Heizung immer auf Volldampf läuft und der Wasserhahn kaputt ist. Er tropft nicht. Er läuft praktisch. Die ersten Wochen habe ich dann immer den Haupthahn zugedreht, wenn ich ging, aber weil man dazu sehr unbequem unter das kleine Waschbecken kriechen muss, habe ich das irgendwann aufgegeben. Es stank auch seltsam in der kleinen Wohnung. Trotzdem fühlte ich mich nach dem ersten Schock über die »Größe« ziemlich wohl, was sicher an Winnies schöner Möblierung lag. Sie hat es geschafft, dem kleinen Zimmer mit einem herrlichen Durcheinander aus Flohmarktmöbeln einen ganz eigenen Charme zu verleihen. Das breite Bett steht mit der Stirnseite zur Wand, links vom Bett kommt dann bald das Fenster, aus dem wir immer auf die Feuertreppe klettern, daneben der kleine blaue Schreibtisch, an dem ich esse, aber niemals lerne, und gegenüber vom Bett gibt es ein barock geschwungenes, beigefarbenes Sofachen mit braunen Holzverzierungen. Dazu ein knallrotes Regal rechts neben dem Bett, in dem all meine Klamotten lagern. Das war’s. Das reicht auch. Obwohl ein Whirlpool und eine Dachterrasse natürlich schon cool gewesen wären.

Bei meiner Ankunft in New York lagen auf dem blauen Schreibtisch seitenweise Tipps und Hinweise von Winnie. Jede Seite hatte einen Titel – Where to go, What to eat, How to pay your rent. Leider gab es keine Seite mit dem Titel How to order at a coffee shop.

Dass man vorne an der Theke bestellen muss, habe ich dann bald gemerkt. Erst mal hab ich mich natürlich wie eine Idiotin an einen Tisch gesetzt und gewartet, bis mir ein älterer Typ etwas in kryptischem Englisch zuraunte, das ich nicht verstand, aber die Handbewegung zur Theke war eindeutig.

Während der ersten Tage hier dachte ich, mein Englisch sei so unterirdisch schlecht – und das trotz Englisch-Leistungskurs –, dass ich sofort wieder nach Hause fliegen müsse. Nach und nach merkte ich dann aber, dass in New York eigentlich kaum jemand perfekt Englisch spricht. Akzente aus aller Welt mischen sich. Taxifahrer verstehst du generell nie, die Typen in den kleinen Läden (Delis) auch nicht. Trotzdem reden alle miteinander. Ich erinnere mich noch an einen Mann, mit dem ich an einer Ampel wartete und der mich anquatschte. Ich habe wohl etwas pikiert geschaut, jedenfalls sagte er zu mir: »This is New York, we communicate!« Und nach und nach traute ich mich auch, mit meinem deutschen Akzent mitzumischen. Ryan, der Verkäufer aus dem Deli auf der Avenue A, und ich, wir quatschen immer, obwohl ich ihn überhaupt nicht verstehe. Er ist Inder, und ich kann nur jedes achte Wort erraten. Vielleicht geht es ihm mit mir genauso?

Das half mir aber alles nichts, als ich vorne an der Theke stand und einfach einen Kaffee bestellen wollte. Auf den großen Tafeln konnte ich zwar alles Mögliche lesen, verstand aber nichts davon. Moccachino, Java Chip Frappuccino, Decaf Pike Plate Roast, Chai Tea Latte, eigentlich verstand ich nur Hot Chocolate, aber da ist ja nun gar kein Kaffee drin.

Eine dicke farbige Frau forderte mich viel zu schnell auf, etwas zu bestellen. Sie klang, als hätte sie gerade drei Donuts im Mund, aber ich konnte immerhin das Wort order aufschnappen.

»One coffee, please«, versuchte ich mein Glück.

»Hot or mellow?«, glaubte ich zu verstehen. Gott, was hieß jetzt mellow noch mal?

Ich nickte einfach vorsichtig, was der Dame gar nicht gefiel.

»Today or Idaho?!«, fragte sie nachdrücklich, und ich kam ins Schwitzen. Ich beschloss einfach, das erste Wort nuschelig zu wiederholen. »Today.« Sie nickte zufrieden, und die nächste Frage verstand ich sogar. Leider konnte ich sie nicht beantworten. Welchen Kaffee ich möchte?

»Einen mit Milch?«, fragte ich vorsichtig zurück und bekam als Antwort eine Salve aufgesagter Wörter von den Tafeln entgegengeworfen. Ich wiederholte einfach das letzte davon. Mit dieser Technik kam ich dann auch durch die letzten drei Fragen, bezahlte und bekam nichts.

Meine Verkäuferin, die jetzt ganz glücklich war, weil wir die Bestellung so gut zusammen geschafft hatten, schenkte mir noch einen Satz, der mit Darling anfing und wieder eine hilfreiche Handbewegung enthielt, die mir zeigte, dass ich mein Getränk irgendwo am Ende der Theke abholen konnte.

Völlig erschöpft kehrte ich zu meinem Platz zurück. Neben mir saß jetzt eine Frau in meinem Alter. Sie hatte sich anmutig in ihren Sessel gefaltet und las ein Buch.

Sie trug eine enge Cargohose, braune Stiefel und einen Kapuzenpulli in derselben Farbe. Perfekt abgestimmt auf ihre Augen, die hinter einem viel zu langen, hellblonden Pony verschwanden. Ihre Haare waren schulterlang und fransig geschnitten. Eins ihrer langen Beine hatte sie hochgezogen, was ich mich niemals getraut hätte, denn so lag ihr Stiefel auf dem Sessel, was ja sicher nicht erlaubt war. Ich stellte meinen hart erkämpften Kaffee, falls es überhaupt einer war, auf dem Tisch vor uns ab und ließ mich in meinen Sessel fallen, unsicher, ob ich die Frau grüßen sollte oder nicht. In New York kommuniziert man, aber man lässt sich auch in Ruhe, wenn man spürt, dass der andere gerade für sich sein möchte.

Die Frau schaute erst mich an, dann mein Getränk. Ich nahm einen Schluck. Es war sehr heiß, aber richtig lecker. Was auch immer ich da bestellt hatte, es war eine gute Wahl gewesen. Blöd nur, dass ich den Namen nicht mehr wusste, den ich einfach der Dicken nachgeplappert hatte.

Die Frau neben mir schaute mich immer noch an und fragte dann auf Englisch, was ich da trinke.

»I have no idea«, gab ich zu, und sie lachte. Ein tiefes albernes Lachen. Ich fing an sie zu mögen.

»I never manage to … was heißt: bestellen …«, fragte sie sich selbst auf Deutsch, und ich sagte:

»Bestellen heißt: to order.«

»Ah ja, danke! I never manage to order here …«, dann fiel ihr auf, dass ich deutsch gesprochen hatte.

»Du bist Deutsche?«

»Ich bin Franzi.«

»Lena.« Wir gaben uns die Hand.

»Das war harte Arbeit, den Kaffee zu bestellen«, gab ich zu. »Ich hab die Hälfte der Fragen nicht verstanden.«

Sie nickte eifrig. »Nie verstehe ich die. Ich hab es einmal probiert, und das war mir so peinlich, dass ich jetzt immer Angst vorm Bestellen habe.«

»Dann sitzt du nur hier und liest.«

»Genau.«

»Magst du?«, fragte ich sie und bot ihr mein Getränk an.

Ihre Augen blitzten dankbar auf, und sie sagte sofort ja. Auch Lena schmeckte mein namenloser Kaffee.

Wir teilten ihn und stellten fest, dass wir beide auf dieselbe Schule gingen. Als wir den Coffeeshop schließlich verließen, war es fast Mitternacht.

»Und von da an wart ihr Freundinnen?«, fragt Mia.

»Ja«, sage ich und wundere mich, wie einfach das damals ging.

»Habt ihr es dann noch gelernt, wie man einen Kaffee bestellt?«, will sie wissen.

»Ja, haben wir. Als wir das nächste Mal in den Coffeeshop gingen, haben wir uns an einen Tisch ganz nah an der Theke gesetzt und den anderen Leuten beim Bestellen zugehört. Irgendwann haben wir dann auch verstanden, dass die erste Frage nicht »hot or mellow« oder »today or Idaho« lautet, sondern …«

»To stay or to go?«, vervollständigt Mia.

»Damals gab es noch keine Coffeeshops in Deutschland«, erkläre ich.

»Wie war Lena? Was mochtest du an ihr, als ihr euch kennengelernt habt?«

Ich muss kurz überlegen. »Sie war so natürlich. Sie passte einfach immer genau dahin, wo sie gerade war. Wenn sie in einem Sessel saß, dann hatte man das Gefühl, jemand hätte ihn genau für sie gebaut. Und sie lachte immer, auch wenn es gar nicht passte. Kennst du das, wenn Leute dich so anschauen, als ob du der wichtigste Mensch auf der Welt wärst?« Mia nickt. »So hat Lena einen angeschaut. Ihre ganze Aufmerksamkeit war dann bei dir. Und sie hat immer eine riesige Tasche mit sich rumgeschleppt.«

Mia beugt sich über mich und stellt ihr leeres Glas auf dem Nachttisch ab. »Was war da drin?«, fragt sie interessiert.

»Kram. Jede Menge Kram. Und immer eine große Flasche Wasser und Lippenbalsam.« Ich schaue auf die Uhr. Es ist halb zwei. »Superspät, Mäuschen. Schlaf jetzt!«, ordne ich an und steige aus dem Bett.

Mia sieht überhaupt nicht müde aus. Ihre Locken umrahmen ihr junges Gesicht, und ihre grünen Augen sind fragend auf mich gerichtet.

»Aber ich will noch mehr von Lena wissen! Warum ist eure Freundschaft auseinandergegangen?«

»Morgen!«, vertröste ich sie und beuge mich zu ihr runter, um ihr einen Kuss zu geben.

Morgen, denke ich auf dem Flur, als ich ihre Tür leise geschlossen habe. Als ob ich morgen eine Antwort darauf hätte.

Kapitel 2

Die Sonne scheint, und der Himmel ist knallblau. Glaube ich jedenfalls, so viel sieht man ja nicht von ihm.

Ich springe unter die Dusche, und spätestens jetzt weiß ich, es wird ein guter Tag, das heiße Wasser geht nämlich! Mit nassen Haaren stelle ich mein kleines Radio auf 95,5 ein. Der Sender PLJ spielt klasse Musik. Ich frühstücke Lucky Charms und stelle entsetzt fest, dass die Packung fast leer ist. Ich muss mir also ganz dringend Nachschub von meinen Lieblingscornflakes besorgen. Lucky Charms gibt es leider nicht in jedem Deli, dafür natürlich zwölftausend andere Sorten. Ich hab sie nicht alle probiert, aber es geht nix über meine Luckys. Da sind so kleine Marshmellows drin. Wenn man sie lange genug in der Milch schwimmen lässt, schmelzen sie einem auf der Zunge.

Ich bin schon etwas spät dran, möchte aber trotzdem lieber laufen als den Bus nehmen. Ich mag die Busse nicht. Sie sind immer total voll, und man muss sich fast prügeln, um an der richtigen Haltestelle rauszukommen. Meine Schule ist am Union Square, 115 East 15th Street. Die zehn Blocks kann ich gut laufen. Ich ziehe meine Jacke an und werfe mir den Gurt meiner Tasche über die Schulter.

Ich klettere die enge schwarze Treppe mit den ausgetretenen Stufen runter. Drei Stockwerke, dann bin ich unten. Von der letzten Stufe falle ich praktisch aus der Haustür. Ich gehe links die East 5th Street entlang, bis ich auf die Avenue A komme. Vorbei am Waschsalon, der mich daran erinnert, dass ich dringend mal wieder waschen müsste, ich hab kaum noch was anzuziehen. Es gibt viele Wege, um zur Schule zu kommen, ich nehme immer gerne die 7th Street, weil es dort ganz verrückte Läden gibt, die um diese Uhrzeit zwar alle noch zu haben, aber man kann die Graffiti an den Häuserwänden bewundern, und ich mag die schweren eisernen Rollläden, die mit mehreren Schlössern gesichert sind. Es gibt Manhattan so was Verwegenes, Gefährliches.

Ein vertrauter scharfer Geruch steigt mir in die Nase. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, was das ist. Man riecht ihn nämlich nur am Anfang oder ganz am Ende eines langen Tages in New York. Früh morgens kommen Reinigungsfahrzeuge, die die Straßen mit einem vermutlich ätzenden Zeug reinigen. Es riecht, als würde es alle Bakterien der Welt killen. Hinterher sehen die Straßen noch genauso schmutzig aus wie vorher. Dafür sind sie aber nass und glänzend, mit diesem speziellen Geruch.

 

Ich biege um die Ecke auf die Second Avenue ein und bin plötzlich mitten im Trubel. Die Straße ist voller Fußgänger, und die Autos rauschen an uns vorbei. Ich frage mich immer, welche Idioten tatsächlich glauben, sie könnten mit einem Auto durch die Innenstadt fahren. An die gelben Taxis habe ich mich immer noch nicht gewöhnt. Jedes Mal wenn ich sie sehe, wie sie da so selbstbewusst zwischen den anderen rumfahren, als wäre die Straße nur für sie da, muss ich an all die Filme denken, die in New York spielen. Vielleicht werden Lena und ich auch mal in einem mitspielen. Das wäre schon sehr cool!

Ich wechsele die Straßenseite, um an der schönen alten Kirche vorbeizugehen. An der Ampel warte ich, dass das lustige Männchen von Don’t walk auf Walk umspringt. Man sieht dann einen kleinen grünen Typ, der walked. Sobald er zu sehen ist, setzt sich der ganze Pulk Menschen um mich herum in Bewegung, und ich werde automatisch auf die andere Seite gespült. Jede Stadt hat einen bestimmten Beat. In New York ist er schnell und laut. Aber wenn du ihn zu deinem Herzschlag machst, dann bist du plötzlich ein Teil dieser Stadt.

Kurz vor neun bin ich an der roten Tür, vor der alle Schüler mindestens ein Foto von sich gemacht haben. Immer mal wieder sieht man auch Touristen, die das kleine Schild knipsen, auf dem zwei Masken zu sehen sind und die Schrift: The Lee Strasberg Theatre Institute, INC.

Die gucken uns dann immer ganz ehrfürchtig an, weil wir da raus- und reingehen, und dann kommen wir uns vor wie Stars. Ist schon mal ’ne gute Übung für später!

Jetzt ist aber erst mal Speech Class dran, dazu muss ich die Treppen hoch bis ganz unters Dach. Ein schöner Raum mit einer Holzbühne, alles in Blautönen gestrichen. Unser Speech-Lehrer heißt Marc Winter. Mr Winter ist total nett, und sein Unterricht macht Spaß. Ich sehe mich schnell um, keine Spur von Lena. Die Tröte kommt bestimmt wieder zu spät. Ich ziehe Jacke und Schuhe aus und suche mir schon mal einen guten Platz.

Lena kommt tatsächlich erst zehn Minuten später, als wir alle schon auf dem Boden liegen und »Patica-Bodega, Patica-Bodega« rufen, um unser Zwerchfell zu lockern. Ich rutsche ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen.

»Verschlafen?«, flüstere ich zwischen »Patica-Bodega« zu ihr rüber.

Sie schüttelt, auf dem Rücken liegend, den Kopf und fängt auch an, die zwei Wörter zu rufen. »Stress mit Messie«, flüstert sie nach einer Weile zurück.

Ich bin jetzt superneugierig und will sofort wissen, ob Messie nachts mit einem Messer an Lenas Bett stand, aber wir haben keine Zeit zu quatschen, müssen aufstehen, uns im Kreis aufstellen, »Ha!« und »Ho!« schreien und uns dabei ein Kissen zuwerfen.

Erst in der Pause haben wir Zeit zu reden.

»Ich will alles wissen! Aber können wir schnell rüber ins Corrado’s gehen? Ich brauch unbedingt ein Egg Sandwich!« Lena ist einverstanden. Wir traben nebeneinander die Treppe runter.

»Erzähl!«

»Heute Nacht wache ich auf, weil ich so ganz komische Geräusche höre …«

»O Gott!«

»Ja, es klang, wie wenn jemand schluchzt und dann wieder schreit.«

»Messie?«

»Ja, wer denn sonst?«

»Keine Ahnung, wer da nachts bei euch schreit und schluchzt! Okay, Messie also, und was hast du gemacht?«

»Ich bin vorsichtig aus meinem Zimmer raus, Messies Tür war zu und abgeschlossen. Eine Weile lang war kein Geräusch zu hören, deshalb hab ich vorsichtig an ihrer Tür geklopft.«

»Bist du denn bescheuert?!« Wir überqueren die Straße und gehen die paar Meter rüber zu dem Selbstbedienungscafé.

»Ich dachte, ich kann ihr vielleicht helfen.«

»Helfen???« Jetzt rege ich mich echt auf. »Lena, du weißt, die Frau ist nicht normal! Wenn die da nachts in ihrem Zimmer einen Anfall hat, dann ist es nicht besonders schlau, anzuklopfen und sie auf die Idee zu bringen, dass sie dir ja was antun könnte.«

»Ich glaube nicht, dass Messie mir was antun würde.«

»So schräg, wie die drauf ist, wäre ich mir da mal nicht so sicher! Hat sie denn aufgemacht?«, frage ich leiser, weil wir jetzt in der Schlange stehen.

»Nein.«

»Gott sei Dank!«

»Sie hat noch eine Weile lang geschluchzt und geschrien, und dann war Ruhe. Heute Morgen war sie schon weg, als ich aufgestanden bin.«

»Na, dann ist doch alles okay«, sage ich und freu mich auf mein Egg Sandwich.

»Eben nicht. In der Küche habe ich ein paar rote Flecken auf dem Boden gefunden.«

»Blut?«, frage ich entsetzt.

Lena kann nicht gleich antworten, weil ich dran bin und mein Sandwich bestellen muss. Dann ist sie dran und bestellt das Gleiche.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht war es auch Traubensaft. Jedenfalls war das voll gruselig!«

»Glaubst du, sie kommt wieder?«, frage ich.

Unsere Pause ist leider gleich vorbei. Wir müssen zurück durch die rote Tür. In der Schule darf man nichts essen, also beißen wir nur einmal ab und stecken unsere Sandwiches in Lenas Riesentasche.

»Vielleicht hat sie sich verletzt in den Riverside Park geschleppt, um dort zu sterben?«, überlegt Lena.

»Klar, idealer Ort, um zu sterben«, bestätige ich. »Oder«, phantasiere ich, »das Blut war von jemand anderem, und sie ist jetzt auf der Flucht! Stand die Haustür offen?«

Lena lacht laut: »Nein!«

»Hast du nachts noch was gehört? Rumpeln? Türenschlagen?«

»Kann sein …«, sagt sie zögernd.

Unser Gespräch wird von einer dicken, kleinen Frau unterbrochen. Mrs Chanderline, unsere »Singing«-Lehrerin. Die gibt immer richtig Gas, hält sich nicht auf mit Good morning und Smalltalk. Noch bevor wir alle auf der Bühne stehen, geht es schon los. Der Klavierspieler fängt an zu spielen, und wir singen uns ein, während die Hälfte der Klasse noch damit beschäftigt ist, Taschen und Jacken abzulegen.

Der Raum ist groß und ganz schwarz gestrichen. Boden, Wände, Decke, alles schwarz, wie in einer Black Box. Eine Hälfte des Raumes ist mit ansteigenden Stühlen möbliert. So richtige schöne Theaterstühle mit Samtbezug, die sich automatisch zuklappen, wenn keiner auf ihnen sitzt. Der Boden des Raumes wird durch die Stühle automatisch zur Bühne. Auf der Bühne steht fast nichts. An den Wänden lehnen Klappstühle, in der Ecke steht ein Klavier.

Nach dem Einsingen ist Cinzia dran mit Vorsingen. Ich freue mich darauf, denn mit Cinzia haben wir alle immer einen Riesenspaß. Sie ist eine ein Meter fünfzig kleine Italienerin. Etwas pummelig mit einem harten Gesicht, das sie unheimlich gut in empörte Mienen verziehen kann. Braune, lange Locken, die Hände ständig in den Hüften.

Als Cinzia hier ankam, habe ich sie in ihrer WG besucht und konnte nicht glauben, was ich sah, obwohl sie es mir vorher mit ihrem lustigen italienischen Akzent erzählt hatte. Cinzia war mit sechs Koffern angereist. Mit SECHS! Ich weiß nicht, ob ihre Familie in Italien sie loswerden wollte und ihr deshalb alles eingepackt hatte, was sie besaß, oder ob sie selbst wirklich so bescheuert war. Vermutlich Letzteres. Italienische Familien wollen niemanden loswerden. Die liegen sich doch bei jedem Abschied heulend in den Armen.

Es war für Cinzia also schon echt ein Ding, am JFK-Flughafen einen Cab Driver zu finden, der sie mit sechs Koffern mitnahm. Die passen nämlich unmöglich in den Kofferraum. Sie hatte dann wohl Glück, und ein Grieche erbarmte sich. Der griechische Taxifahrer schleppte ihr dann sogar die sechs knallvoll gepackten Riesenkoffer hoch in den sechsten Stock.

Es gibt zwar in Cinzias Haus einen Aufzug, aber den kann man sinnvollerweise nur ohne Gepäck benutzen oder höchstens mit einer winzigen Einkaufstasche. Ich nehme den nie, ich bekomme darin Platzangst. Cinzia hatte natürlich, genau wie ich vorher, keine Vorstellung von der Größe New Yorker Apartments. Sie bekam in der WG ein Zimmerchen zugewiesen, das nicht mehr als acht Quadratmeter hatte. Und auf zwei Quadratmetern stand schon das Bett. Also stellte Cinzia alle Koffer der Reihe nach auf die restliche Fläche, und damit war das Zimmer voll. Wenn sie jetzt ins Bett wollte, musste sie über die Koffer kriechen. »Ich kann nicht mal auspacken!«, beschwerte sie sich. »Kein Platz!« Eine Weile lang lebte sie dann aus einem Koffer, den sie irgendwie auf die übrigen gezerrt und geöffnet hatte. Ich bot ihr an, gemeinsam das Kofferproblem anzugehen. Deutsch und lösungsorientiert erklärte ich ihr, wie wir in der winzigen Küche alles auspacken und dann im Zimmer stapeln könnten. Aber sie schüttelte nur den Kopf und machte eine typisch italienische Handbewegung. »Passte mir sowieso nix mehr«, seufzte sie und klopfte sich auf ihre ausladenden Hüften.

Cinzia hat sich ein sehr passendes Lied ausgesucht. »I will survive« von Gloria Gaynor. Der Reihe nach sind wir alle mal dran mit Vorsingen. Die Lieder suchen wir uns selbst aus und besorgen uns dann die Noten dazu. Der Pianist spielt uns das Lied vor, und wir nehmen uns das auf einer Kassette auf. So können wir dann zu Hause üben.

Cinzia hatte wohl nicht genug geübt, vielleicht steckt ihr Kassettenrecorder auch noch in den Koffern fest, jedenfalls macht sie heute auf der Bühne gar keine gute Performance. Mrs Chanderline gibt ihr diesen und jenen Tipp, dann dreht sie sich zu uns auf unseren Stühlen um und fragt: »Can we help her?« Und das können wir.

Wir stürmen alle auf die Bühne und singen mit.

Cinzia macht die perfekten Gesten zum Text, und wir singen wie die Wahnsinnigen, nicht schön, aber so laut, dass man den Klavierspieler gar nicht mehr hört. Mrs Chanderline schüttelt nur lachend den Kopf, und als wir fertig sind, beknien wir den Klavierspieler, noch Fame anzustimmen. Die Hymne aller Schauspielschüler.

Ich schaue Lena an, die ganz rote Wangen hat vom Singen. Plötzlich weiß ich, dass dies ein ganz besonderer Moment ist, weil ich gerade nirgends lieber wäre als hier in dieser Stadt, in dieser Schule, auf dieser Bühne, zusammen mit Lena.

Ich weiß, dass wir es schaffen werden. Aus uns wird mal was ganz Großes, und dann werden wir uns erinnern, wie wir angefangen haben, mit einem angebissenen Egg Sandwich in der Tasche.

Lena und ich schauen uns an und zeigen mit dem Zeigefinger aufeinander, bevor wir bedeutungsvoll die letzten Worte singen: »Baby, remember my name!«

Ich kann mich weder an den Namen erinnern, noch finde ich den Zettel, auf dem ich ihn notiert habe.

Das gibt es doch nicht! Kommt davon, wenn das Bürotelefon auf mein Handy umgestellt ist und ich dann auch noch drangehe, obwohl ich gerade nass aus der Dusche komme. Bernd ist schon im Büro, und da muss ich auch ganz dringend hin, kann aber den verflixten Zettel nicht finden! Dann muss er eben noch mal anrufen, wenn er unsere Gummiringe unbedingt haben will. Bernd ist Ingenieur und hat eine kleine Firma, die Sanitärfachbetriebe beliefert. Außerdem vertreibt er diese speziellen Dichtungsringe für Rohrverschraubungen, die besser abdichten und viel haltbarer sind als die herkömmlichen. Es spricht sich langsam rum, dass wir diese Ringe verkaufen, und wir bräuchten dringend einen Onlineshop dafür. Stattdessen bin ich jetzt, obwohl ich mit dem normalen Bürokram schon genug am Hals habe, auch noch der Onlineshop. Ich berate die Kunden so gut ich kann, nehme die Bestellungen auf und leite sie weiter an unseren Einkäufer.

Ich fahre die kurze Strecke zur Arbeit mit dem Auto, obwohl ich mir vorgenommen hatte, immer das Fahrrad zu nehmen. Aber es ist einfach schweinekalt heute Morgen. Die Bäume und Sträucher sind mit Raureif überzogen. Ich stelle die Heizung auf volle Pulle und wünsche mir Schnee. Diesen Winter hatten wir noch gar keinen.

Unsere Firma liegt mitten im Gewerbegebiet Hürth-Kahlscheuren. Das ist genauso unsexy, wie es klingt.

Ich parke auf dem Hof vor dem großen Gebäude mit der Nummer 14 und gehe um das Haus herum auf die Hinterseite. Unser Büro liegt, genau wie unser Schlafzimmer, im Keller. Eine ungewöhnlich breite Treppe führt zur Eingangstür. Ich schließe auf und betrete einen langen, schmalen Flur. Ganz am Ende des Flures öffne ich die große Feuerschutztür. Der kleine Vorraum führt direkt in die Küche.

Ohne Bernd und die anderen hinter der Glastür zu begrüßen, gehe ich direkt in die Miniküche und mache mir einen Latte macchiato. Zu Hause haben wir nur eine alte Filterkaffeemaschine. Aber hier steht ein tolles Teil, mit dem man Milch aufschäumen und jede Menge Müll produzieren kann.

Wie erwartet, quillt der Mülleimer über vor leeren Kaffeepads, in denen ein Rest Flüssigkeit schwimmt. Wie winzige Swimmingpools sehen sie aus. Ich muss an Mimi und Murks denken. Mimi und Murks waren Mias Freunde, als sie klein war. Imaginäre Freunde und außerdem Mäuse. Als Mia vier war, ging nichts ohne die beiden. Zum Essen stellten wir ihnen winzige Schälchen hin, und sie schliefen auf gefalteten Kleenex-Tüchern auf Mias Kopfkissen. Jeden Abend brauchten die beiden ein frisches Kleenex-Tuch zum Schlafen. Was hätten sie sich über diese kleinen Swimmingpools gefreut, die wir jetzt in rauen Mengen wegwerfen. Mia hätte sie ihnen mit Wasser gefüllt und vermutlich unsere Waschlappen zerschnitten, um ihnen winzige Handtücher an den Rand zu legen, damit sie nicht frieren, wenn sie aus dem Pool kommen. Seltsam, dass mit älteren Kindern plötzlich einige Dinge wertlos werden. Ich werfe noch zwei Pads oben auf den Stapel, wohl wissend, dass am Ende doch ich diejenige sein werde, die den Müll rausbringt, aber so muss ich das wenigstens nicht vor dem ersten Kaffee erledigen.

Die Spüle steht wieder voller Geschirr. Es ist offensichtlich niemandem zuzumuten, die saubere Spülmaschine erst auszuräumen, um dann das schmutzige Geschirr da reinzustellen. Noch ein Job, den ich mir für später aufhebe.

Mit dem Kaffee setze ich mich an meinen Schreibtisch am Fenster. Freie Sicht auf eine Betonmauer, das Fenster wird nur von einem Lichtschacht erhellt. Ich angele mir einen Keks aus meiner Schreibtischschublade. Am Anfang unserer Bürozeit hatte ich die Kekse in der Küche, und immer, wenn ich mir einen nehmen wollte, war die Packung leer. Ich frage mich, wie viele Menschen in ihren Schreibtischschubladen geheime Vorräte aufbewahren. Wer weiß, was da alles gelagert wird. Sicher nicht nur Kekse. Frauen horten dort vielleicht Notfalltampons, Lipgloss, Diätpläne oder gute Romane. Männer vielleicht Zweitrasierapparate, Kondome, Deo und Taschenmesser. Ich hätte gerne etwas Spannendes in meiner Schublade. Am liebsten ein kleines Universum, wie bei Men in Black. Dann würden mich so kleine Wurmwesen anschauen, mit großen Stielaugen. Einmal die Woche müsste ich sie wässern mit einem Wasserzerstäuber, damit sie schön frisch blieben. Ich würde ihnen Namen geben, die keiner aussprechen kann. Nawhgschprki oder Zwng.

Ich packe die Kekspackung zurück in die Schublade, in der ich auch ein Notreservoir an Kaffeepads habe. Die kauft natürlich außer mir auch keiner nach, und so kann ich die Männer im Büro wenigstens ein klein bisschen darben lassen, während ich noch für ein paar Tage Pads übrig habe. Die Männer sind Bernd und unsere zwei Mitarbeiter Werner und Michael. Werner ist unser IT-Spezialist und außerdem für den Einkauf zuständig. Michael ist zusammen mit Bernd im Vertrieb, und ich mache den Rest. Den ganzen Rest.