Der Schacherzähler - Judith Pinnow - E-Book
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Der Schacherzähler E-Book

Judith Pinnow

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Beschreibung

"Eine wunderbare Lektüre" Annemarie Stoltenberg, NDR Er lebt vor allem in seinen Erinnerungen, der Gegenwart kann er nicht viel abgewinnen. Als er beim Schachspielen unter seiner Kastanie von einem 9-jährigen Jungen angesprochen wird, stellt er sich nur als "Oldman" vor und erklärt dem Kleinen, dass eh alles vor die Hunde geht. Doch Janne ist neugierig und will Schach spielen lernen. Oldman hat wenig Hoffnung, dass der Junge das lernen wird, er kann ja noch nicht mal still sitzen. Aber Janne lernt schnell, und Oldman beginnt zu reden. Erst über Schach, dann über das Leben. Und Janne hört zu und fühlt sich endlich richtig: Beim Schach und bei dem Alten. Doch eines Nachmittags sitzt Oldman nicht mehr da. Auch am nächsten und übernächsten Tag gibt es keine Spur von ihm. Janne ist voller Sorge und beginnt, ihn zu suchen … Ein berührender Roman über die Magie der Freundschaft und des Schachs

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Der Schacherzähler

JUDITH PINNOW, geboren 1973 in Tübingen, besuchte die Schauspielschule in Ulm und studierte am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Als Schauspielerin war sie in Fernsehserien und in Filmen zu sehen. Bekannt wurde sie als Fernsehmoderatorin. Mit ihrem Ehemann und Kollegen Stefan Pinnow und ihren drei Kindern lebt die Autorin in Schwerin.

Ein WUNDERBARER ROMAN über die MAGIE DER FREUNDSCHAFTEr lebt vor allem in seinen Erinnerungen, der Gegenwart kann er nicht viel abgewinnen. Als er beim Schachspielen von einem 9-jährigen Jungen angesprochen wird, stellt er sich nur als »Oldman« vor und erklärt, dass eh alles vor die Hunde geht. Doch Janne ist neugierig und will Schach spielen lernen. Oldman hat wenig Hoffnung, der Junge kann ja noch nicht mal still sitzen. Aber Janne lernt schnell, und Oldman beginnt zu reden. Erst über Schach, dann über das Leben. Janne hört zu und fühlt sich endlich richtig: Beim Schach und bei dem Alten. Doch eines Nachmittags sitzt Oldman nicht mehr da. Janne ist voller Sorge und beginnt, ihn zu suchen …Besonders liebevolle Ausstattung mit Illustrationen von Vivien Thiessen

Judith Pinnow

Der Schacherzähler

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH1. Auflage Januar 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Illustrationen © Vivien ThiessenFoto der Autorin: © Gaby Gerster / laiUmschlaggestaltung: Sabine Kwauka Umschlagmotiv: © gettyimages / Westend61, Valeriya Tikhonova; shutterstock / Ledelena, Hein Nouwens E-Book powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3068-6

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Für meinen Sohn Felix, der immer richtig war, so wie er ist

Prolog

Die Rosen bekommen noch einen Schluck Wasser, dann geht er durch das Gartentor hinaus auf die Straße. Bei jedem Schritt fühlt er das Schachbrett in seinem Beutel an seinem Bein. Es ist wie ein Begleiter. Er kennt jedes Fenster, jeden Bordstein auf dem Weg. Es liegt etwas Trost in all dem Vertrauten. Die Sonne scheint warm auf seine Jacke, die er unnötigerweise angezogen hat. Es sind diese Spätsommertage, bei denen man nie weiß, was man bekommt. Man wird frieren oder schwitzen, so viel ist sicher.

Als er den Park erreicht, wächst seine Aufregung. Er zwingt sich, das Tempo beizubehalten und nicht schneller zu gehen. Tage, an denen sein Tisch frei ist, sind gute Tage. Wobei es keine wirklich guten Tage mehr gibt. Tage, an denen sein Tisch nicht frei ist, sind jedenfalls schlechte Tage. Daran ist nicht zu rütteln. Die Zweige des Kastanienbaums sind noch in seinem Sichtfeld. In drei Schritten wird er es sehen können. Drei. Zwei. Eins. Sein Tisch ist besetzt. Er stößt ein unwilliges Geräusch aus.

Er bleibt stehen und sieht sich um. Es gibt natürlich keine echte Alternative zu seinem Tisch. Er wird einen der schlechten Tische nehmen müssen. Vor sich hin brummelnd nimmt er zwei Tische weiter Platz.

Er stellt seine Thermoskanne auf das Holz und lehnt sich zurück. Die Bank ist nicht so bequem wie seine. Das Holz vom Tisch ist uneben. Er kann keine Unebenheiten leiden. Das Schachbrett muss flach aufliegen können, ohne zu wackeln. Es wird ein richtig mieser Tag werden. Er kann es fühlen. Wenn die Eröffnung nicht sorgfältig ausgeführt wird, ist meist das ganze Spiel verloren. Erste Regel beim Schach: Beherrschung des Zentrums.

Jetzt sitzt mitten in seinem Zentrum diese Person mit der Handtasche und einem Buch in der Hand.

Er hustet, nur um etwas zu tun. Zwei Amseln fliegen vorbei. Der Wind rauscht in den Blättern über ihm. Bald werden sie sich verfärben und abfallen. Ihm fällt seine alberne Hoffnung vom letzten Jahr wieder ein. Eine Kastanie könnte ihn am Kopf treffen und alles beenden. So einfach geht das leider nicht. Sterben ist eine mühselige Angelegenheit. Der Tod wird einem nicht geschenkt.

Kapitel 1

Malu

Es ist halb elf an einem Donnerstag, als ich diese neue Macke an mir entdecke. Während ich die Milch aufschäume, schiebe ich meine untere Zahnreihe über die Oberlippe und lasse dann die Zähne über die Lippe gleiten. Ein kurzes, schönes Gefühl entsteht, und mir wird bewusst, dass es nicht das erste Mal ist, dass ich das mache. Gerade ist nicht so viel los, also kann ich mir etwas mehr Zeit lassen, die Milch einzugießen. Das ist nämlich der beste Moment, wenn Kaffee und Milch aufeinandertreffen und diese cremige Verbindung eingehen. Ich zeichne eine Blüte und reiche die Tasse der Kundin. Sie bedankt sich und setzt sich, ganz wie ich vermutet hatte, an den Tisch in der Mitte vom Raum. Nicht ans Fenster.

»Woher hast du es gewusst?«, brummt Hinnerk, mein Chef, hinter mir, der auf den Fensterplatz gewettet hat.

»Die Schuhe«, sage ich todernst. Hinnerk schaut auf die hellen Sneakers der Kundin, und es dauert eine Weile, bis er merkt, dass ich ihn auf den Arm nehme.

Ich lache, und er bewirft mich mit einer seiner Süßigkeiten, die er jeden Tag für alle mitbringt.

»Du liegst in 98 Prozent der Fälle richtig, warum, was siehst du, was ich nicht sehe?«

Seine blaugrauen Augen sehen mich interessiert an. Hinnerk ist groß, größer als die meisten. Er hat es sich deshalb angewöhnt, sich mit den Ellbogen am Tresen abzustützen, um mit mir auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Ich kann seine Frage nicht beantworten und säubere achselzuckend den Siebträger. »Ich finde, man sieht das einfach. An der Art, wie sie den Kaffee bestellen. Wie sie gehen, die Ausstrahlung.«

Hinnerk schiebt seine Baseballkappe über die Glatze. So sagt er, dass er mich nicht versteht.

Er und ich haben immer Spaß, wenn wir mal zusammenarbeiten, was nicht so oft vorkommt, weil er sich auch um alles andere kümmert, Einkauf, Buchhaltung und angeblich auch Marketing. Vielleicht meint er damit Instagram. Er postet sehr akribisch jeden Tag ein Bild aus dem Coffeeshop, der offiziell Blue Hour heißt, aber ich denke nicht, dass das mit den 26 Followern irgendeinen Effekt auf unsere Gästeanzahl hat. Wir können uns sowieso nicht beklagen. Wir sind der einzige Coffeeshop in Bad Altbach. Die Leute haben keine Alternative, außer sie möchten ihren Kaffee lieber zu Hause trinken oder in der Bäckerei Krösel. Gut, es gibt noch zwei andere Cafés. Aber eben keinen zweiten Coffeeshop. Unser Bananenbrot ist legendär und der Kaffee natürlich sowieso.

Mein Handy zeigt eine Nachricht an, und sofort zieht sich mein Bauch zusammen.

»Was ist es diesmal?«, seufze ich und öffne widerwillig die Nachricht.

Wut steigt in mir hoch. Seit ich Mutter bin, kenne ich Wut anders als vorher. Sie kommt schneller und hat mehr Macht. Sie schießt mir ins Blut und wird in Sekundenschnelle überall im Körper verteilt, bis sogar meine Haare und meine Zehenspitzen wütend sind. Meistens ist das ganz und gar nicht hilfreich, so wie jetzt. An einem Donnerstagvormittag wütend hinter dem Tresen zu stehen, während man Gäste bedienen soll, ist ungefähr so sinnvoll wie ein Pferd auf einem Gäste-WC. Es passt einfach nicht.

Ich klopfe energisch mit dem Milchkännchen herum, in dem sich gar keine Milch befindet. Hinnerk zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich fragend an. Ich schüttle leicht den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass ich nicht darüber reden will. Dann kommt Herr Pelzer rein und drei weitere Gäste. Es gibt etwas zu tun, und das hilft mir, über die blöde Nachricht hinwegzukommen.

Ich habe mir damals Bad Altbach nur aus einem Grund ausgesucht. Hier gab es ein Jobangebot. Hinnerk hatte mir eine Chance gegeben, obwohl er wusste, dass ich schwanger war. Ich glaube, er hat es nicht bereut. Wenn nicht gerade Wut durch mich hindurchrauscht, mache ich einen ganz guten Job. Ich mag den Duft von Kaffee, ich mag die Gäste und finde es spannend, wer was bestellt. Es ist schön, zu sehen, wie viel entspannter sie nach einem Kaffee oder einem Muffin sind. Wir sind die kleine Oase von Bad Altbach. Hier kommen alle hin, wenn sie eine Auszeit brauchen vom Leben. Ich kann mir keinen schöneren Arbeitsort vorstellen.

In Bad Altbach gibt es sehr viele Einfamilienhäuser. Man könnte in manchen Wohngebieten den Eindruck haben, es gäbe hier nur Einfamilienhäuser. Außerdem sehr viel Wald, einen schönen Weiher und unseren Park, der im Verhältnis zu unserer Kleinstadt riesig ist. Es gab vor einhundertachtzig Jahren mal einen Bürgermeister, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, diesen Park anlegen zu lassen, und wir sind ihm bis heute alle dafür dankbar. Der Park ist das Herzstück. Hier findet alles statt. Märkte, Feste und einmal im Jahr sogar ein kleines Konzert.

Obwohl rund um Bad Altbach viel Wald ist, liebe ich besonders die Bäume im Park. Die großen Kastanien, die da so zuverlässig stehen. Egal, wann man kommt. Im Herbst werfen sie ihre Früchte ab, gut verpackt in eine stachelige Hülle. Ich sammle sie mit meinem Sohn Janne jedes Jahr um die Wette und verliere dabei immer, weil ich so viel Zeit damit verbringe, sie aus ihrer Hülle zu holen. Janne tritt drauf, zack, hebt sie auf und wirft sie in seinen Sammelkarton. Aber ich öffne sie vorsichtig und muss sie eine Weile anschauen, wie sie da so glänzend in ihrem weißen, sauberen Bett liegen. Wir lieben beide das Geräusch, wenn wir mit den Füßen durch das Laub laufen, es aufwirbeln und gucken, wer lauter rascheln kann.

Wenn im Winter Schnee liegt, ist der Park ganz still und majestätisch. Obwohl Kinder dann auch dort toben und Schneemänner bauen, schafft er es, sich nicht in seiner Winterruhe stören zu lassen. Diese Ruhe sickert dann in mich hinein, und ich nehme sie mit nach Hause.

Janne ist praktisch in diesem Park aufgewachsen. Ich sage immer zu Liv: Man kann einen Jungen nicht in einer kleinen Wohnung artgerecht halten. Sie stimmt mir zu, obwohl sie gar nicht weiß, wie das ist. Ihr Sohn Vincent ist in einem klassischen Bad Altbacher Einfamilienhaus mit Garten aufgewachsen. Janne und ich wohnen in einer gemütlichen, aber winzigen Dachgeschosswohnung, die ein Stück weit weg vom Park liegt. Zwanzig Minuten läuft man, neuerdings nur fünfzehn, wenn er mit seinem Roller fährt und ich im Stechschritt versuche mitzuhalten.

Der Stechschritt ist eigentlich schon meine normale Gehgeschwindigkeit. Ich könnte Zeit sparen und mit dem Fahrrad fahren. Aber ich erledige immer alles auf dem Weg nach Hause, und dann müsste ich jedes Mal das Fahrrad abstellen und abschließen. Ich laufe auch ganz gerne. Allerdings nicht mit zwei schweren Einkaufstüten. Der Supermarkt ist zwar um die Ecke, aber so eine Ecke ist ganz schön weit weg, wenn einem die Arme länger werden.

Immer wenn Janne nach Hause kommt, lasse ich alles, was ich gerade mache, liegen und schenke ihm eine halbe Stunde ungeteilte Aufmerksamkeit. Dreißig Minuten, in denen er normalerweise bestimmen kann, was gemacht wird. Kuscheln oder reden oder spielen.

Aber heute haben wir beide ein Grummeln im Bauch. Er erzählt nicht wie sonst schon im Flur, wie viele Teslas und Audis er auf dem Heimweg gesehen hat, sondern zieht stumm seine Schuhe aus.

Ich setze mich in dem kleinen Flur auf den Boden, muss dafür aber ein paar von meinen Schuhen beiseiteschieben, um Platz zu haben. Ich ziehe die Beine an mich heran und steige sofort mit der Frage ein, damit wir es hinter uns bringen. »Was war los?«

Ich schaue zu ihm hoch. Janne steht da. Den Schulranzen noch auf dem Rücken. Er schlägt mit seinem Kopf ganz leicht gegen die Wand vor ihm.

»Nichts«, sagt er trotzig.

Ich seufze. »Deine Lehrerin hat mir geschrieben, dass du in Mathe ewig rumgetrödelt hast, statt deine Aufgaben zu machen, und die Hälfte der Stunde unter dem Tisch gesessen hast.«

Sie schreibt mir häufig, und nie teilt sie mir mit, wie großartig Janne einen Fisch gemalt hat oder wie weit er in Sport gesprungen ist. Ich muss mir immer nur anhören, was er wieder falsch gemacht hat.

Jedes Mal denke ich: Was soll ich mit dieser Information anfangen? Ich weiß, dass Janne kein einfaches Kind ist. Keiner weiß das besser als ich. Aber es ist doch wohl ihr Job, ihn daran zu hindern, die Stunde unter dem Tisch zu verbringen. Wie soll ich das denn von hier aus beeinflussen? Ich hatte zu viele Gespräche mit Erziehern und Lehrern über Janne. Und das, obwohl er erst in der dritten Klasse ist. Jedes Mal höre ich den stummen Vorwurf: Erziehen Sie ihn doch besser.

Alleinerziehend zu sein ist ja heute keine Seltenheit. Aber es ist immer noch kein Aushängeschild für einen wilden Neunjährigen, der sich mit dem System schwertut. Dabei ist es streng genommen ja umgekehrt. Das System tut sich mit Janne schwer. Immer ist er für alle zu viel. Zu laut, zu wild, zu unaufmerksam, zu emotional. Eine zu geringe Frustrationstoleranz. Er sollte, er müsste, bla, bla, bla. Und ich soll dann immer mit ihm reden.

Als würden Janne und ich nicht reden.

»Sag was, Janne!« Er hebt die Schultern ein bisschen. Dann wirft er mir einen Blick zu. Scannt mich. Versucht einzuschätzen, wie sauer ich bin. Das Unfaire daran ist, dass ich eigentlich auf die Lehrerin wütend bin und nicht auf ihn. Ich weiß ja, wie er ist und was er braucht.

Aber ohne Diagnose ist er nur ein nerviges Kind. Eins, das den Unterricht stört und viel Aufmerksamkeit braucht. Wenn ich mit ihm lerne, klappt das super. Aber in einer Klasse mit dreißig Kindern müssen alle funktionieren.

»Setz dich.« Ich strecke meine Beine aus und klopfe auf meinen Schoß.

Seine Augen lächeln, als er sich mit der Schultasche auf dem Rücken auf meine Beine fallen lässt. Ich kriege den kastigen Ranzen ins Gesicht. Das tut auf eine seltsame Art und Weise gut. Ich schlinge meine Arme um Janne und halte ihn fest.

»Was hast du heute gut hingekriegt?«, frage ich ihn.

Er überlegt. »Ich hab in Deutsch die Hausaufgaben von der Tafel abgeschrieben. In mein Hausaufgabenheft«, sagt er stolz.

Sein Körper entspannt sich auf mir. Ich halt ihn weiter fest. »Sehr gut«, lobe ich und freue mich, dass wir heute nicht in allen verfügbaren WhatsApp-Gruppen fragen müssen, was er aufhat.

»Was noch?«, frage ich und drücke ihn aufmunternd.

»Ich habe Freddi gesagt, dass Malte mitspielen darf. Der wird immer von allen gedisst und hat niemand in der Pause.«

»Und was hat Freddi gesagt?«

»Freddi wollte das erst nicht, aber dann habe ich gesagt, Malte könnte doch unser Unter-Sheriff sein, und das fand Freddi gut.«

»Das hast du super gemacht! Malte war bestimmt froh.«

Janne nickt.

»Und was lief heute nicht so gut?«

Er lehnt sich an mich, der Schulranzen drückt in meinen Busen, aber ich halte Janne weiter fest. »Mathe. Ich wusste nicht, wie ich die Aufgaben machen sollte.«

»Hast du nicht zugehört?«

Er schüttelt den Kopf.

»Soll ich sie mir nachher mal mit dir angucken?«

Er nickt.

»Und was machen wir morgen?«, frage ich. Diese Frage ist ein Ritual.

Janne sagt die Antwort, die wir uns auf diese Frage immer geben: »Morgen machen wir es besser.«

»Genau.«

Er dreht sich auf meinem Schoß um und umarmt mich kurz, dann steht er auf, wirft seinen Ranzen in den Flur und fragt: »Wann essen wir was Süßes?«

Kapitel 2

Malu

Ich mache die Dienstpläne im Blue Hour. Hinnerk gibt gerne Verantwortung ab, vor allem die Art von Verantwortung, die einen unbeliebt machen könnte. Es ist jedes Mal ein großes Puzzle, alle Wünsche zu berücksichtigen, und meistens ist mindestens einer nicht so glücklich mit dem Plan. Hinnerk wird gerne geliebt. Das Schöne daran ist, er liebt dich ziemlich großartig zurück, von ganzem Herzen, so wie Benjamin Blümchen. Ich glaube, Hinnerk hatte eine richtig schöne Kindheit, und das, obwohl er auch ohne Vater aufgewachsen ist. Das macht mir Mut.

Es gibt Tage, da wächst mir alles über den Kopf. Ob sich jeder ab und zu eine Pause von seinem Leben wünscht? Ich würde es gerne anhalten und von außen betrachten. Noch mal in Ruhe auf die letzten Wochen, Monate und Jahre zurückschauen und begreifen, was da eigentlich passiert ist. Ich würde ganz in Ruhe eine Cola trinken, die bei uns zu Hause streng verboten ist, und mich dann in der Dämmerung davonstehlen. Nur für ein paar Stunden oder Tage …

Janne hat mich zu einer besseren Version von mir selbst gemacht. Aber manchmal wäre ich gerne wieder die alte Version. Die Malu, die die Nächte durchtanzte und morgens verschlief. Die Malu, die kichernd mit Freundinnen über Typen aus der Uni sprach und die lange vor dem Kleiderschrank stand und mit Bedacht ein Outfit wählte, das genau zu ihrer Stimmung passte. Vor allem aber die Malu, die so viel Leichtigkeit hatte.

Liv sagt, wenn sie es noch mal machen könnte, würde sie ihre Kinder auch Anfang zwanzig bekommen. Das kann man leicht sagen, wenn man so wie sie mit der Erziehung fast durch ist. Vincent ist zwanzig und Allegra siebzehn. Ich kann mir Janne in dem Alter überhaupt nicht vorstellen. Es macht mir auch ein bisschen Angst. Allerdings kommt die Leichtigkeit dann vielleicht zurück. Liv hat sie jedenfalls.

Ich sehe ihre rote Lockenmähne schon von Weitem. Als sie ins Blue Hour kommt, habe ich ihr schon einen Milchkaffee fertig gemacht. Mit einem kleinen Kännchen voll extra Milch dazu. Liv liebt es, sich immer wieder Milch nachzuschütten.

Ich halte ihr zur Begrüßung ein kleines Tablett entgegen.

»Hallo, meine Elfe«, begrüßt sie mich. Sie lächelt mich an, und die vielen kleinen Fältchen um ihre Augen lächeln mit.

»Willst du eine Zimtschnecke oder einen Käsekuchen?«, frage ich, während sie begeistert das Tablett entgegennimmt. Ich weiß, sie wird gleich wild den Kopf schütteln und sagen: Ich sollte wirklich nicht.

»Ich sollte wirklich nicht!«, sagt sie und schielt sehnsüchtig auf die Kuchentheke. Am Ende wird sie sowieso ein Stück nehmen. Ich entscheide für sie, dass heute ein Zimtschneckentag ist, und mache sie ihr warm.

Frau Oberförster kommt rein und bestellt umständlich einen schwarzen Kaffee. »Lassen Sie die Milch bitte weg. Und auch sonst nichts in die Tasse geben, ja? Nur den Kaffee, bitte.«

Sie bekommt nur den Kaffee bitte und setzt sich damit in die hinterste Ecke.

Ich nutze die kleine Pause, bringe Liv ihre warme Zimtschnecke und setze mich zu ihr an den Tisch.

Sie wählt immer den Tisch ganz links. Hinnerk und ich nennen ihn den »besten Tisch«. Man hat nämlich einen tollen Blick über die Straße und sieht im Hintergrund unseren schönen Kirchturm. Wenn man zur richtigen Tageszeit dort sitzt, nämlich früh morgens, glänzt die Sonne auf dem Kopfsteinpflaster, und man hat das Gefühl, man könne über diese Straße in ein wundersames, anderes Land kommen.

»Gut, dass sie gesagt hat, sie möchte nichts zusätzlich in ihrer Tasse, du hättest ihr sonst sicher ein Einhorn reingeschüttet!«, flüstert Liv mir zu.

Ihre Locken bauschen sich um ihr Gesicht. Sie trägt Jeans und ein graues ausgeleiertes T-Shirt. Irgendwie sieht an ihr immer alles stylish aus. Vielleicht liegt das heute an der kleinen, silbernen Kette, die sie trägt. Ich verliere meine Ketten ständig, darum trage ich nie welche.

Ich warte gespannt, bis sie ihre Zimtschnecke probiert. Niemand kann so genussvoll essen wie Liv. Ihr dabei zuzusehen, ist so, als würde man einen wirklich guten Song hören. Sie genießt kurz und bietet mir dann auch ein Stück an. Ich nehme es, obwohl ich gerade schon ein Stückchen Käsekuchen hatte, das etwas zerdrückt aussah. Hinnerk lässt uns die nicht so perfekten Kuchenstücke gerne essen, und ab und zu wirft er eine Gabel auf ein perfektes Stück Kuchen, um es mir dann lächelnd zu überreichen.

»Wie läuft es in der Werkstatt?«, frage ich sie.

»Es geht so. Heute komme ich nicht weiter.« Sie zieht ihre Stirn in Falten.

»Wer macht dir Schwierigkeiten?« Ich weiß, dass Liv all ihren dünnen, langen Figuren schon beim Entstehen Namen gibt.

»Firion. Seine Arme passen irgendwie nicht zu ihm.«

»Wie, sie passen nicht? Zu lang? Zu kurz?«

Liv schüttelt den Kopf. »Nein, die Proportionen stimmen, aber das ist nicht Firion. Firionarme müssten irgendwie verletzlich wirken.«

»Wie können denn Arme verletzlich wirken?« Ich lasse meine Arme schlaff an mir herunterhängen. »Mensch, meine Arme, die wirken heute so …«, ich schüttele meinen Oberkörper, sodass meine Arme willenlos um mich herumschlackern, »verletzlich!«

Liv lacht sich kaputt.

»An dir wirkt überhaupt nichts verletzlich, Malu, da kannst du dir noch so viel Mühe geben!«

Wir lachen und reden noch eine Weile, dann kehrt Liv zu ihrem Firion zurück, und ich putze die Tische sauber. Frau Oberförster hat einen Rest schwarzen Kaffee in ihrer Tasse gelassen. Wenn ich genau hinschaue, kann ich ein kleines Einhorn darin seine Runden schwimmen sehen. Livs Satz verfolgt mich bis nach Hause. Keine Ahnung, warum, aber irgendetwas an dieser Aussage kratzt an mir.

Sobald Janne zu Hause ist, gibt es keine Zeit mehr für solche Gedanken. Er will erzählen, was heute in der Pause passiert ist, und er will auf meinem Bett hüpfen, und ganz dringend will er sofort in den Park gehen.

Sein Bedürfnis, sich endlich zu bewegen und auszupowern, endlich laut sein zu dürfen, steht im extremen Kontrast zu meinem Bedürfnis, mich nach der Arbeit mal in Ruhe irgendwo hinzusetzen.

Im Park an der Skaterampe bringen wir beides zusammen. Janne fährt unermüdlich hin und her. Er macht kleine Sprünge auf dem Scooter, und ich darf währenddessen auf der Bank sitzen und ihm zuschauen.

Die Wolken ziehen langsam über den blauen Himmel. Ich halte meine unverletzlichen Arme in die Sonne und gucke durch meine Sonnenbrille hindurch auf Janne und die größeren Jungs. Wie friedlich sie da alle zusammen auf der Rampe fahren. Es ist wie eine endlose Choreografie. Jedes Mal bin ich erstaunt über die geheimen Gesetze, die hier auf der Rampe von allen befolgt werden. Jünger fährt vor Älter, Schneller aber vor Langsamer. Obwohl das ein Widerspruch in sich ist, kriegen die Kinder das super hin, ohne einen Erwachsenen am Rand, der für Ordnung sorgt.

Janne gibt sich alle Mühe, genau so wie die großen Jungs zu wirken. Er schüttelt seine kinnlangen Haare nach jeder Fahrt. Dazu nimmt er den Helm ab und setzt ihn dann wieder auf. Steht cool oben am Rand, bis er fahren darf. Aber dann verrät er, ohne es zu merken, sein Alter, indem er ruft: »Mama, guck mal!« Und ich gucke und zeige ihm danach lässig einen Daumen nach oben. Noch will er gerne, dass ich am Rand sitze und jeden Sprung von ihm lobe. Bald wird er herausfinden, wie uncool es ist, mit seiner Mama aufzutauchen. Irgendwann wird es das letzte Mal sein, dass ich hier mit ihm sitze. Ich werde es nicht wissen. Man weiß so gut wie nie, wenn es das letzte Mal ist.

Mir fällt auf, dass Jannes Blick oft in eine bestimmte Richtung geht. Ich drehe mich um und versuche herauszufinden, wohin er schaut. Etwas unter dem Kastanienbaum erregt seine Aufmerksamkeit. Ich verrenke mir den Hals, um ein Eichhörnchen zu sehen oder einen Hund. Aber ich kann kein Tier entdecken.

Janne

Er guckt mir zu. Immer wenn ich hingucke, schaut er weg. Ich sehe trotzdem, dass er mir zugeguckt hat. Mama guckt auch zu, aber das ist ja normal. Sie findet alles toll, was ich auf der Rampe mache, dabei kann ich noch gar keine coolen Tricks. Drop in, also von oben von der Rampe mit dem Scooter reinspringen. Das kann ich seit letzter Woche. Es ist nicht schwer, man muss sich aber trauen. Ich trau mich ziemlich viel. In der Schule ist das manchmal ein Problem, aber hier auf der Rampe ist es nützlich. Ob er mich mutig findet? Er sitzt da jeden Tag, immer an demselben Tisch. Er ist alt. Ich glaube, er ist ein Opa. Er hat weiße Haare. Es sieht ein bisschen so aus, als hätte er eine Wolke auf dem Kopf. Er lächelt nie, aber er guckt oft zu mir rüber. Gucken ist ehrlicher als Lächeln. Meine Lehrerin Frau Kalau lächelt viel, auch wenn sie blöde Sachen sagt. Ich finde, da könnte sie sich das Lächeln auch sparen.

Mama lächelt nur, wenn sie es auch so meint. Außer wenn sie verstecken will, dass sie traurig ist, dann lächelt sie manchmal auch.

Jetzt guckt er wieder. Ich müsste jetzt losfahren, damit er auch etwas zu sehen bekommt, aber Leander macht gerade einen Trick. Leander ist der beste Fahrer hier. Er ist schon fünfzehn und sieht fast schon aus wie ein Mann, nur der Bart fehlt ihm noch. Aber er behauptet, der wächst schon. Ich hab ihm gesagt, dass ich nix sehe von seinem wachsenden Bart, und er hat gelacht und gemeint, das liegt daran, dass er blond ist. Da sieht man den wachsenden Bart nicht so gut. Leander hat Locken. Immer wenn er seinen Helm abnimmt, schüttelt er sie. Danach sehen sie wieder fluffiger aus als vorher. An den Seiten hat er seine Haare abrasiert, sodass sie aussehen wie ein kurzer Bart. Ich will mir meine auch mal abrasieren, glaube aber nicht, dass Mama das gut findet. Mama mag lange Haare. Sie hat auch ganz schöne lange Haare, so dunkel wie meine. Mama ist die schönste Frau, die ich kenne. Sie hat braune Augen, mit denen sie lachen kann und auch Feuer spucken, je nachdem.

Der Opa guckt immer noch. Leander ist mit seinem Trick fertig, jetzt bin ich dran. Ich springe etwas zu schnell von oben los und verfehle meinen Scooter, lande hart auf den Füßen und falle dann nicht auf meine Knieschoner, was besser wäre, sondern auf die Seite. Und ausgerechnet da sind keine Schoner. Man kann nicht für alle Körperteile welche haben, sonst würde man aussehen wie ein Marshmallow und könnte sich auch nicht mehr bewegen. Der Sturz tut richtig weh, und ich will nicht vor allen weinen, aber die Tränen kommen von selbst.

Mama kommt angerannt.

Leander ist schon an meiner Seite und hilft mir hoch. »Kannst du alles bewegen?«, fragt er.

Ich nicke und hole tief Luft. Das war ein Fehler, denn jetzt fange ich richtig an zu heulen. Mama nimmt mich in den Arm. Leander sagt ihr, dass ich okay bin, so als wäre er ein Arzt. Er ist natürlich kein Arzt, aber Mama beruhigt das trotzdem. Leander ist schon oft gestürzt oder hat andere dabei gesehen, er kennt sich aus. Mich beruhigt das auch, und meine Seite tut schon viel weniger weh. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich fahr noch mal«, sage ich zu Mama. Sie macht ihre Augen klein, und ich weiß, das heißt lieber nicht. Aber dann schaut sie zu Leander, der nickt und sagt, das sei gut, damit ich keine Angst entwickle. Leander kann schon so richtig klug mit Erwachsenen reden. Mama seufzt und nickt dann. Leander drückt mir den Scooter in die Hände. Er fühlt sich gut an. Ihm hat der Sturz überhaupt nicht wehgetan.

»In fünf Minuten gehen wir aber.« Sie will mich gerne berühren, aber das passt jetzt nicht. Ich fahre los, vorsichtiger als vorher, rolle langsam ein bisschen die Rampe hoch, mache eine Kurve und düse wieder runter. Und wieder hoch. Und wieder runter. Nicht bis ganz nach oben. Nur kleine Schleifen, und mit jeder Runde fließt der Schreck vom Sturz aus mir heraus, bis er ganz weg ist.

Als ich nach dem alten Mann gucke, ist er fort.

Kapitel 3

Malu

Von Jannes Vater gibt es nicht einmal ein Foto. Ich hatte ein paar, die ich alle gelöscht habe. Damals war das kleine Leben in meinem Bauch zu abstrakt. Mir kam gar nicht der Gedanke, dass er ein Recht darauf gehabt hätte, zu sehen, wer sein Vater ist. Jetzt bleibt ihm nur der Name. Cooper Goodwin.

Ich weiß nicht, ob er ihn eines Tages finden möchte. Ich weiß nur, dass es die Behörden nicht geschafft haben. Bis nach Australien reicht kein Unterhaltsanspruch. Heute würde ich das alles anders machen, aber vor zehn Jahren ließ ich zu, dass der Mann, der Janne versehentlich zeugte, nach der Nachricht abrupt verschwand und innerhalb von zwei Wochen zurück in seinem Heimatland landete. Ich habe Janne nie das Märchen vom Superheldenvater erzählt. Er kennt die Wahrheit.

»Er hatte Angst davor, Vater zu werden, und er konnte ja nicht wissen, wie großartig du wirst. Wenn er es gewusst hätte, dann wäre er nie im Leben gegangen.« Das habe ich ihm gesagt, und davon bin ich überzeugt. Manchmal kann ich es nicht fassen, dass Cooper das alles verpasst. All die schönen Momente und auch all die traurigen oder anstrengenden. Alles, was dich zu einem Elternteil macht.

Ich finde, den Titel Mama oder Papa muss man sich verdienen. Die Wahrheit ist also, Janne hat keinen Papa. Er hat auch keine Oma und keinen Opa. Keinen Bruder und keine Schwester. Er hat nur mich. Ich bin seine Familie, und er ist meine.

Manchmal ist es hart. Es gibt immer nur diese eine Person, mit der man sich streiten kann und die für alles herhalten muss. Es ist schwer für mich, weil ich die Erwachsene bin, die mit der Verantwortung. Aber es ist auch schwer für Janne. Es ist nicht gut, wenn ein Kind alles für dich sein muss.

Liv sagt dann immer zu mir: »Was ist schon gut für ein Kind? In jeder Familie gibt es nicht so optimale Umstände. Manche streiten sich nur mit ihrem Partner, manche werden von ihren Geschwistern drangsaliert. Wenn man eine Mutter hat, die so wunderbar ist, dann fehlt einem gar nichts, Malu. Merk dir das!«

Ich versuche es.

Wenn das Leben so voll ist, dass man keine Zeit hat, die Akkus wieder aufzuladen, muss man entweder ständig auf Reserve laufen oder Möglichkeiten finden, im laufenden Betrieb zu laden. Ich habe mir angewöhnt, mir meine Lademinuten bewusst zu machen. Morgens zur Arbeit laufen, durch die frische Luft. Eine Tasse heißer Kaffee von Hinnerk. Wir haben die Tradition entwickelt, uns gegenseitig Kaffee zu machen. Wenn man den ganzen Tag für andere Leute etwas macht, ist es einfach so ein schönes Gefühl, wenn jemand zwischendurch etwas für dich macht. Wir schenken uns gegenseitig dieses Gefühl. Manchmal muss ich dann meine Augen verstecken und nehme einen ganz tiefen und langen Schluck.

Eine Tasse Kaffee von Hinnerk lädt fast so gut auf wie das abendliche Geschichtevorlesen für Janne. Wobei das nicht zu toppen ist. Am schönsten ist der Moment, wenn ich fertig bin mit Lesen und das Licht lösche. Es wird dunkel im Zimmer, und wir sortieren einen Moment beide unsere Gedanken.

Janne liegt in meinem Arm. Heute sagt er lange nichts, und auch ich lausche schweigend in die Nacht.

»Ich freu mich auf morgen, wenn ich ihn wiedersehe.«

»Wen denn?«

»Den alten Mann.«

Ich erfahre nicht, welchen alten Mann er meint, weil seine Gedanken springen und er im nächsten Atemzug von einem Trick erzählt, der Brizip heißt. Oder Briwhip? Ich küsse ihn auf die Stirn.

»Ich hab dich lieb, mein Schatz.«

»Ich dich auch, Mama.«

Die Tür bleibt wie immer einen Spalt auf. Wie lange noch? Ob Leander seiner Mama abends noch sagt, dass er sie lieb hat? Ich muss aufhören, mir solche Gedanken zu machen. Ich seufze mich den Flur entlang. Bei dem Anblick der zwei vollen Wäschekörbe seufze ich gleich noch mal. Dann mache ich mir eine Serie an und lege mit schmerzenden Armen alles zusammen.

Unverletzliche Arme. Wenn Liv wüsste!

Oldman

Er wacht jeden Morgen um halb acht auf. Es war früher seine Aufstehzeit, er hat sie beibehalten. Jedes Aufwachen beinhaltete die Enttäuschung, in diesem Leben festzustecken. Energisch wirft er die Bettdecke von sich und dreht sich auf die Seite, um sich aufzurichten. Er schwingt die Beine aus dem Bett und bleibt eine Weile so sitzen. Dann streckt er seine Arme erst nach oben und beugt sich dabei so weit nach unten, wie er kann. Sein Kreuz ist erst verärgert, dann dankbar für diese Dehnung.

Im Bad ist alles so wie immer. Er vermisst die Unordnung von früher. Keine Creme steht herum, und keine Lockenwickler zieren den Waschtisch. Er folgt einem strengen Ritual: Toilette, Zähne putzen, waschen. Im Spiegel sieht er einen alten Männerkörper. Es ist schwer zu glauben, dass das seiner ist. Zwei Tage trägt er seine Klamotten, dann kommen sie in die Wäsche. Er hält an der Schlafzimmertür inne. Versucht sich zu erinnern, ob er das Hemd schon vorgestern getragen hat. Es gelingt ihm nicht. Sicherheitshalber zieht er ein frisches an.

In der Küche läuft alles nach Plan. Radio anschalten, Kaffee kochen, Müsli einfüllen. Nicht zu viel Milch und nicht zu wenig nehmen. Beim Essen Sudokus lösen. Die Tage sind ein ständiger Kampf gegen die Gedanken. Je mehr von ihnen kommen, umso mehr muss er sich beschäftigen. Er schlägt sie tot wie Fliegen. Wenn die Stille zu laut wird, dreht er das Radio lauter. Manchmal dauert es sehr lange, bis es endlich halb elf ist.

Seine Brote liegen längst fertig geschmiert bereit. Der Tee zieht noch. Bald kommt er in die Thermoskanne. Wenn er ihn gegen zehn einfüllt, bleibt er bis drei warm. Die Kanne ist alt, aber gut. Spitzenmäßige Isolation. Immer noch, nach all den Jahren.

»Siehst du, ich habe damals die richtige Kanne gekauft!«

Sie wollte eine andere nehmen. Er ließ sich nicht beirren und kaufte diese. Es passiert ihm oft, dass er laut mit ihr redet. Vermutlich tun das viele einsame, alte Männer auf der Welt und noch mehr einsame Frauen. Er stellt sich kurz alle vor. Jeder in seiner Wohnung, mit einer alten, verbeulten Thermoskanne in der Hand. Er tötet den Gedanken und gießt energisch den Tee in das dunkle Loch. Er fließt ohne Widerstand hinein. Der Flüssigkeit ist es ganz egal, wie dunkel und alt die Kanne ist. Der Alte beschließt, wie die heiße Flüssigkeit zu sein. Ohne Gefühle und Gedanken. Bald erlöst ihn die Uhr. Er nimmt seine Jacke und seinen Beutel und verlässt das Haus, die Tür schließt er sorgfältig ab.

Er vermisst es, irgendwohin zu müssen. Das Haus zu verlassen ist ein Höhepunkt in seinem Tag. Die Rosen bekommen noch einen Schluck Wasser aus der Gießkanne, die genau dafür immer bereitsteht. Da merkt er es: Der Beutel fühlt sich anders an als sonst. Irgendetwas stimmt nicht. Er bleibt stehen und überprüft den Inhalt. Das Schachbrett fehlt. Er hatte es gestern Abend außerplanmäßig noch einmal ausgepackt und auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut. Verärgert dreht er um und schließt das Haus auf. Sein Höhepunkt ist dahin. Er betritt mit Schuhen das Haus, was verboten ist.

»Ja, ich kann es nicht ändern. Ich muss los!«, sagt er laut zu ihr.

Jetzt hat der Beutel das richtige Gewicht. Die Tür wird wieder abgeschlossen, die Rosen bekommen noch einen Schluck Wasser aus der Gießkanne, die dafür immer bereitsteht. Einen kleinen nur, sie hatten ja gerade schon, aber es gehört nun mal zum Ritual beim Verlassen des Grundstücks. Er tritt durch das Gartentor auf die Straße. Atmet ein und geht hinaus in die Welt, den Weg, den er mit verbundenen Augen finden würde.

Malu

»Hinnerk, was ist los?« Den ganzen Tag ist er schon so komisch.

Er schüttelt unwillig den Kopf und hält sich an seiner Tasse Kaffee fest, die ich ihm gerade gemacht habe. »Ach, nichts.«

Freiwillig wird er mir nichts erzählen. Ich überlege, was es sein könnte. »Hat es etwas mit deinem neuen Freund zu tun?«