Deke - Was sich liebt, das checkt sich - Eden Finley - E-Book

Deke - Was sich liebt, das checkt sich E-Book

Eden Finley

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Beschreibung

"Kleiner Tipp: Ein Fremder in einer öffentlichen Toilette ist nicht das ideale Publikum für ein Coming-out. Selbst wenn er charmant und auf süße Art nerdig ist und dir seine Hilfe anbietet." Für Eishockeyprofi Ollie Strömberg steht fest: Ganz egal, wie sehr ihn seine Familie dazu drängt, er wird sich auf keinen Fall öffentlich zu seiner Homosexualität bekennen. Dafür steht für ihn momentan noch zu viel auf dem Spiel. Um den Kuppelversuchen seiner Familie zu entgehen, erfindet er kurzerhand einen neuen Freund. Schließlich hat ihm der nette Fremde im Restaurant angeboten, diese Rolle für einen Abend zu übernehmen. Dumm nur, dass Ollie vergisst, den süßen Nerd nach seinem Namen zu fragen … Lennon Hawkins hatte schon immer eine Schwäche für Athleten – einer der Gründe, warum er Sportjournalist geworden ist. Aber er schreibt über Football, nicht über Eishockey, weshalb ihm viel zu spät aufgeht, wem er da gerade seine Hilfe angeboten hat. Denn Sportler hassen Journalisten – besonders solche, die ihr Geheimnis kennen …

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EDEN FINLEY

DEKE – WAS SICH LIEBT, DAS CHECKT SICH

FAKE BOYFRIENDS 3

Aus dem Englischen von Silvia Fritz

Über das Buch

Für Eishockeyprofi Ollie Strömberg steht fest: Ganz egal, wie sehr ihn seine Familie dazu drängt, er wird sich auf keinen Fall öffentlich zu seiner Homosexualität bekennen. Dafür steht für ihn momentan noch zu viel auf dem Spiel. Um den Kuppelversuchen seiner Familie zu entgehen, erfindet er kurzerhand einen neuen Freund. Schließlich hat ihm der nette Fremde im Restaurant angeboten, diese Rolle für einen Abend zu übernehmen. Dumm nur, dass Ollie vergisst, den süßen Nerd nach seinem Namen zu fragen …

Lennon Hawkins hatte schon immer eine Schwäche für Athleten – einer der Gründe, warum er Sportjournalist geworden ist. Aber er schreibt über Football, nicht über Eishockey, weshalb ihm viel zu spät aufgeht, wem er da gerade seine Hilfe angeboten hat. Denn Sportler hassen Journalisten – besonders solche, die ihr Geheimnis kennen …

Über die Autorin

Eden Finley schreibt heitere Liebesromane voller Herz, die sich wunderbar für kleine Fluchten aus dem Alltag eignen. Ihre Bücher entstehen meist aus einer originellen Idee. Ursprünglich schrieb Eden auch in vielen anderen Genres, doch seit 2018 hat sie in der queeren Romance ihr Zuhause gefunden.

Eden lebt mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn in Australien.

Die englische Ausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Deke«.

Deutsche Erstausgabe März 2021

 

© der Originalausgabe 2019: Eden Finley

© für die deutschsprachige Ausgabe 2021:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Reese Dante

Umschlagmotiv: iStock

(Das Cover dient nur zu Darstellungszwecken, die abgebildete Person ist ein Model.)

Lektorat: Emily Bähr

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-948457-18-1

 

www.second-chances-verlag.de

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Weitere Bücher von Eden Finley

Liebe Leser:innen,

Danksagung

DEKE

Substantiv:

Das Antäuschen eines Spielzugs, um den Gegner zu verwirren

(Eishockey)

 

KAPITEL 1

OLLIE

Irgendwann kommt es einem zu den Ohren raus, dieses ständige »Wenn du dich outest, löst das all deine Probleme«. Als würde mir das Aussprechen der magischen Worte »Ich bin schwul« plötzlich Einhornkräfte verleihen, sodass ich rosa Glitzerwölkchen pupsen und jeden Puck im Kasten versenken kann.

Ich liebe meine Familie, aber beim Leben von Wayne Gretzky, sie müssen endlich über meine Trennung hinwegkommen. Ich hab es schließlich auch geschafft.

Denke ich jedenfalls.

Na gut, vielleicht auch nicht.

Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht, weil er es gehasst hat, immer als mein Mitbewohner vorgestellt zu werden. Und irgendwie macht das aus mir den Bösen. Mir ist schon klar, dass ich nicht unbedingt immer der Gute war, aber letztlich hatten weder Ash noch ich die Absicht, uns gegenseitig zu verletzen. Wir waren einfach nur sehr gut darin.

Meine Familie – besonders meine Mutter – denkt, wenn ich mich vor aller Welt oute, dann würde das zu einem Dominoeffekt führen und ich wäre bald nicht mehr der einzige Schwule im Eishockeysport.

Da stehen die Chancen ja besser, dass ich Regenbogen furze.

Als Matt Jackson vor ein paar Monaten geoutet wurde, ist genau das eben nicht eingetroffen, und ich gehe nicht mal ansatzweise davon aus, dass es im Eishockey besser laufen würde. Ich hab Matts Geschichte verfolgt, und er hatte es nicht leicht.

Zwar war die National Hockey League einer der ersten großen Verbände, die LGBTQ-Spieler mit der Initiative »You Can Play« unterstützt haben, aber bisher hat sich noch kein einziger Spieler vorgewagt, um sich zu outen. Und den zusätzlichen Druck, der erste zu sein, kann ich für meine Karriere gerade auch nicht gebrauchen.

Ich will nicht der Quotenschwule der NHL sein.

Das Letzte, worauf ich Lust habe, ist, eines Tages in der Umkleide mit »Ach, übrigens, ich bin schwuler als ein Treffen von Gay Leather Daddies!« rauszuplatzen.

Doch egal, wie oft ich erkläre, dass ich erst in einer sicheren Ausgangsposition sein muss, bevor ich meine Karriere mit so etwas belaste, bei meiner Familie stößt das auf taube Ohren. Genau wie bei Ash.

Ich stehe nicht offen zu meiner Homosexualität, daher kann ich mir auch so schöne Dinge wie Glück abschminken. Zumindest scheinen sie das zu denken.

Und das ist der Grund, warum ich mich gerade auf der Herrentoilette dieses etwas heruntergekommenen Restaurant-Schrägstrich-Bar-Etablissements verstecke, noch bevor das Essen überhaupt auf dem Tisch steht. Wir haben uns hier im Honey Bee mit der ganzen Familie verabredet. Ma beschwert sich immer, dass sie uns nicht oft genug zu Gesicht bekommt, aber ich muss zu unserer Verteidigung anführen, dass wir fünf Brüder sind, die alle ein eigenes Leben haben. Ich glaube, am meisten macht ihr zu schaffen, dass sie uns nicht mehr bemuttern kann, seit wir erwachsen sind. Und mit »bemuttern« meine ich: sich einmischen.

Denn das ist ihre Leidenschaft, unter der ich am meisten zu leiden habe. Ich bin ihr Baby – das Nesthäkchen – und außerdem der Schwulste von uns. Seit Ma mich, als ich gerade fünfzehn war, vor mir selbst geoutet hat, geht die ganze Familie überfürsorglich mit mir um.

Ja, das ist wirklich passiert, dennMa ist allwissend. Anscheinend.

Heute hat sie jedenfalls den ganzen Abend lang nur davon gesprochen, wie verloren Ash sich ohne mich fühlt und dass man in Beziehungen Kompromisse eingehen muss.

»Sei die Person, die du als junger Mensch gebraucht hättest, um daran zu glauben, dass du sein kannst, wer immer du sein willst«, hat sie mir vor weniger als zehn Minuten um die Ohren gehauen.

Danke, Ma. Zitate von Gus Kenworthy so zu verdrehen, dass sie zu meiner Lage passen, hilft mir jetzt auch nicht weiter.

Als ich Hilfe suchend meine Brüder angesehen habe, haben sich alle schnell einen Schluck von ihren Drinks genehmigt und jeden Blickkontakt vermieden. Auch mein Vater hat brummend genickt, ohne Partei zu ergreifen.

Neutral wie die Schweiz, der Penner.

Na gut, mein Vater ist kein Penner. Ich bin einfach nur gefrustet.

Mit einem Mal öffnet sich die Tür zur Toilette, vermutlich weil Ma einen meiner Brüder losgeschickt hat, damit er nach mir schaut.

»Ich hab schon auf dich gewartet …«, sage ich im Umdrehen und sehe mich jemandem gegenüber, der definitiv nicht mein Bruder ist.

Der Typ ist bis hin zu der eigensinnigen Locke, die ihm in die Stirn fällt, und diesem niedlichen Kinngrübchen das perfekte Ebenbild von Superman – nur in Blond. Aus weit aufgerissenen hellblauen Augen starrt er mich an. Er ist kleiner als ich, trotzdem locker eins achtzig. Ich mustere seinen schlanken Körper, und als sich unsere Blicke wieder treffen, schießt mir noch mal durch den Kopf, was ich gerade gesagt habe und wo wir uns befinden – ein schwulenfreundliches Restaurant mit Bar im South End. Mir geht auf, dass ich gerade zum ersten Mal seit der Trennung von Ash jemanden angebaggert habe. Wenn auch nicht absichtlich.

Ups.

»Nicht auf dich – ich dachte, du wärst mein Bruder.«

Er verzieht das Gesicht. Shit, jetzt denkt er, ich hätte auf der Herrentoilette auf meinen Bruder gewartet, um es mit ihm zu treiben.

»Äh, nein, ich hab nicht … deswegen gewartet«, stammele ich mit brennenden Wangen und bete zu Gott, dass ich nicht schon knallrot angelaufen bin. »Ich hab mich versteckt.«

»Vor deinem Bruder?«, fragt er skeptisch.

»Vor der ganzen Familie.«

Jetzt mustert er mich von Kopf bis Fuß, bis sein Blick an meinen tätowierten Armen hängen bleibt. Während er mich so interessiert begutachtet, regt sich etwas in meiner Leistengegend, das mich daran erinnert, dass ich seit sechs Monaten keinen Sex hatte.

»Lass mich raten, du gehörst zu den hünenhaften nordischen Göttern draußen neben der Bar?«

Meine Brüder und ich ziehen oft die Aufmerksamkeit auf uns, besonders, wenn wir gemeinsam in Erscheinung treten. Mit eins zweiundneunzig bin ich der Kleinste, weshalb sie immer witzeln, ich hätte nur deshalb mit dem Eishockey angefangen, weil ich auf Kufen größer wirke.

Eigentlich sitzen wir in einem der abgetrennten Bereiche des Restaurants, aber ich schätze, sie waren gerade dabei, sich den nächsten Drink zu holen.

»Ja, das sind wohl wir.«

»Kann ich kurz …« Er deutet auf das Urinal hinter mir und rückt den Riemen seiner Schultertasche zurecht.

»Ach so. Klar.« Ich gehe Richtung Waschbecken, damit er nicht auf die Idee kommt, dass ich tatsächlich im Klo herumlungere, weil ich darauf hoffe, jemanden abzuschleppen.

»Und warum musst du dich vor ihnen verstecken?« Keine Ahnung, ob es ihn wirklich interessiert oder ob er einfach versucht, der Situation die Peinlichkeit zu nehmen.

»Sie reden mal wieder wegen meiner Trennung auf mich ein.«

Er zieht den Reißverschluss zu, dreht sich zu mir und mustert mich erneut von Kopf bis Fuß. Ich kann nicht behaupten, dass es mir unangenehm ist. Eigentlich wäre mir jetzt sogar danach, mich in die Brust zu werfen und den Bizeps anzuspannen.

»Wollen sie, dass du wieder mit ihm zusammenkommst?«, fragt er, während er sich die Hände wäscht.

Interessant, wie er direkt davon ausgeht, dass ich schwul bin. Obwohl mein versehentlicher Flirtversuch die Schlussfolgerung natürlich nahegelegt hat. An diesem Punkt sollte ich es wohl abstreiten – normalerweise würde ich das unter allen Umständen tun –, aber aus unerfindlichen Gründen bringe ich es nicht über mich, den schnuckeligen Fremden anzulügen. Außerdem scheint das gar nicht nötig zu sein. Er hat mich gerade so ausgiebig gemustert, dass er mich schon längst als Winger bei der NHL erkannt haben müsste – falls er sich für den Sport interessiert.

»Sie wollen, dass ich mich bei der Arbeit oute, damit er mich zurücknimmt.« Das ist natürlich vage – ist ja nicht so, als würde ich mich vor einem Büro mit zwölf Angestellten outen, sondern vor der ganzen Welt. Die Klatschpresse würde schneller darauf anspringen als auf einen drogensüchtigen Popstar.

Er verzieht wieder das Gesicht. »Oh Mann, das ist hart. So was geht selten ohne böses Blut über die Bühne.«

»Die Sache ist die: Ich bin jetzt vierundzwanzig. Vor mir liegt eine lange Karriere, und ich möchte nicht vorzeitig aus der Bahn geworfen werden. Wenn ich erst fest im Sattel sitze, sieht das Ganze anders aus.«

»Was machst du denn beruflich? Warte, lass mich raten …« Er betrachtet mich mit übertrieben prüfendem Blick und reibt dabei mit dem Zeigefinger über die blonden Bartstoppeln an seinem Kinn. Ob das wohl ein Vorwand dafür ist, mich noch mal in aller Ruhe zu mustern? Immer wieder scheint er an meinen Armen hängen zu bleiben, die so tätowiert sind, dass kein Fitzelchen nackte Haut mehr zu erkennen ist. »Tja, ich denke, dass dein Äußeres irreführend ist. Du bist zwar breitschultrig und tätowiert, aber ich schätze, du arbeitest bei einer Bank. Im Firmenkundenbereich.«

Ich weiß, dass es besser ist, die Wahrheit für mich zu behalten. »So was in der Art. Auf jeden Fall eine echte Männerdomäne.«

»Genau. Und echte Männer stehen nicht auf Schwänze«, erwidert er trocken.

»Echte Männer haben keine Ahnung, was ihnen entgeht.«

Unsere Blicke treffen sich. Grinsend greift er nach einem Papierhandtuch. Es ist das erste Mal seit Langem, dass mir außer Ash ein Mann gefällt. Nicht nur, weil ich ihn heißfinde, sondern weil ich tatsächlich spüre, wie die Schmetterlinge in meinem Bauch ihre Flügel recken. Vor ein paar Monaten hätte ich das noch für alle Zeit ausgeschlossen.

Ich strecke die Hand aus, um mich vorzustellen. »Hi, ich bin …«

Genau in dem Moment geht die Tür auf, und dieses Mal ist es einer meiner Brüder.

Sofort zucke ich zurück.

»Was zum Teufel dauert denn hier so …« Vic hält inne, als er den Typen neben mir entdeckt. »Ach so. Verstehe. Na, dann bringt die Nummer mal schnell zu Ende, ich halte die anderen solange hin.« Mit dieser Bombe macht er auf dem Absatz kehrt und marschiert wieder raus.

»Aha, das war also einer der Brüder«, meint der Fremde schmunzelnd.

»Da kannst du mal sehen, was ich mitmachen muss.«

»Mir erschien er jetzt gar nicht so verkehrt.«

»Soll ich dir sagen, warum wir uns ausgerechnet hier getroffen haben?«

»Im Honey Bee, meinst du?«

»Sie wollen, dass ich mich wohlfühle. Als wäre das in einem normalen Restaurant, das kein Schwulentreffpunkt ist, nicht möglich.«

Obwohl er sich um ein Pokerface zu bemühen scheint, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. »Ist doch super, dass sie dich so lieben, wie du bist.«

»Vielleicht möchtest du ja mit ihnen essen.«

Sein Blick geht kurz zur Tür und dann wieder zurück zu mir. »Okay.«

»Äh … was?« Ich muss mich wohl verhört haben.

Entschlossen kommt er einen Schritt näher. »Du willst, dass sie dich wegen deines Ex in Ruhe lassen, und ich bin völlig fasziniert von eurer Familiendynamik, von der du mir gerade erzählt hast. Außerdem sind deine Brüder ganz schön heiß. Ist vielleicht noch einer von denen schwul?«

»Hey, und was ist mit mir?«, will ich gespielt beleidigt wissen.

Er nimmt mich noch mal unverhohlen in Augenschein. Wenn es mir nicht so gut gefiele, würde ich ihn jetzt darauf hinweisen, dass er ungefähr so subtil ist wie ein Enforcer, der einen anderen Spieler verdrischt.

»Ich bin kein Fan von Männern mit nicht überwundenen Altlasten. Sorry.« Trotzdem starrt er mich immer noch an.

»Ich bin über Ash hinweg!«, protestiere ich. »Meine Familie hat ein Problem, nicht ich.«

Eventuell ist das nicht die ganze Wahrheit. Das Single-Dasein ist noch immer ungewohnt für mich, aber es ist auch nicht so, als ob ich Ash sehnsüchtig hinterhertrauere. Ich habe eine Entscheidung getroffen, jetzt muss ich wie ein Erwachsener damit umgehen. Ash und ich sind zusammengekommen, als ich neunzehn war. Damals habe ich noch bei meinen Eltern gewohnt. Nach meinem Einstieg in die American Hockey League bin ich zu einer Gastfamilie gezogen, und von dort in eine Wohnung, in der sich Ash um alles gekümmert hat. Während der vergangenen sechs Monate habe ich also das erste Mal in meinem Leben allein gelebt.

Ein Teil von mir wird Ash immer lieben. Aber wahr gewordene Kindheitsträume enden nicht immer mit »und wenn sie nicht gestorben sind …«. Stattdessensollten sie uns das in den Märchen erzählen: Kinder, macht euch auf die Realität gefasst, denn am Ende des Märchens stellt euch der Prinz ein Ultimatum!

»Ich hab eine Idee. Stell deiner Familie doch deinen neuen Freund vor.« Er deutet auf sich. »Ich könnte total verliebt in dich sein. Äh, ich meine, ich könnte so tun, als ob … falls es dir hilft, damit sie Ruhe geben.«

Irgendwie gefällt es mir, dass er dabei die ganze Zeit an seiner Tasche herumnestelt. »Das würden sie mir nie glauben. Ich hätte es angekündigt, wenn ich ihnen jemanden vorstellen wollte.«

Er zuckt mit den Achseln. »Erfinde halt was. Sag, du hattest erst geplant, mich mitzubringen, doch dann hätte ich länger arbeiten müssen und gedacht, ich schaffe es nicht mehr. Aber weil ich so ein toller Freund bin, habe ich beschlossen, dich zu überraschen.«

»Was machst du überhaupt beruflich?«

»Was immer du gerne hättest. Dein Freund macht alles, was du willst … Oh, in meinem Kopf klang das lange nicht so anzüglich … Normalerweise kann ich besser mit Worten umgehen.«

Ich muss lachen.

»Wir könnten ihnen sagen, dass ich genau wie du im Großkundenbereich der Bank arbeite«, schlägt er vor.

Ich beäuge seine bis zum Knöchel aufgerollten Chinos und seine Schuhe, die er ohne Socken trägt. Für jemanden aus der Geschäftswelt sieht er viel zu nerdig aus, allerdings ist das gerade Nebensache.

»Warum bietest du mir das an? Oder vielmehr: Warum willst du das? Das ist irgendwie … schräg, und meine Familie ist total durchgeknallt.«

»Ich bin kein verrückter Serienmörder, falls du das befürchtest.«

»Bisher nicht, aber jetzt schon! Wer sagt denn beim ersten Treffen ›Ich bin kein Serienmörder‹? Ich meine, ein Serienkiller würde sich wohl kaum mit den Worten ›Guten Tag, ich würde gern Ihre Haut als Anzug tragen‹ vorstellen.«

»Auch wieder wahr. Drücken wir es so aus: Mein Angebot entspringt einer morbiden Faszination für Familien, die dir nicht einreden wollen, dass du deine Homosexualität verbergen sollst, damit du nicht angreifbar bist. Ich wüsste gern mal, wie das ist.«

Wie immer, wenn ich mich über meine Familie beklage, überrollt mich das Schuldgefühl. Sie würden am liebsten bei jeder Schwulenparade Seite an Seite mit mir mitlaufen und wünschen sich, dass ich ein gutes Vorbild für junge Homosexuelle bin, die in dieser beschissenen Welt noch immer nicht überall akzeptiert werden.

»Super, jetzt fühle ich mich auch noch schuldig, weil ich es leichter habe als viele andere Menschen.«

Er legt mir eine Hand auf den Oberarm, sodass ich seine Wärme durch mein T-Shirt spüre. Dabei umfasst er meinen Bizeps und betrachtet noch mal meine Muskeln und Tattoos, bevor er mich kopfschüttelnd ansieht. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Jeder von uns kann sich aus unterschiedlichen Gründen mit manchen Dingen schwertun. Aber hey, wenn du den Freifahrtschein aus deiner misslichen Lage raus nicht willst, dann mache ich mich jetzt auf den Weg.«

Ich lasse ihn keine zwei Schritte weit kommen, bevor ich, ohne überhaupt darüber nachzudenken, den Arm ausstrecke, um ihn aufzuhalten und zurückzuziehen. Dabei presst sich sein Oberkörper an meinen. Es fühlt sich gut an, endlich mal wieder jemandem körperlich nahe zu sein.

Schon erstaunlich, wie selbstverständlich einem manches in einer festen Beziehung vorkommt. Niemanden mehr zu haben, bei dem man sich jederzeit anlehnen kann, war eine gewaltige Umgewöhnung für mich. Mir war nie bewusst, wie sehr eine kleine Berührung mir manchmal das Gefühl vermittelt, dass alles gut wird, bis ich darauf verzichten musste.

Und ich kann ja schlecht in eine Bar gehen und zu einem Wildfremden sagen: »Ist es in Ordnung, wenn ich mich für ein Weilchen anlehne?«

Was dieser Typ mir hier anbietet, ist eine bescheuerte Idee – die wahrscheinlich nicht mal funktionieren wird. Aber wenn ich der ganzen Familie mit einem kleinen Täuschungsmanöver vormachen kann, dass ich glücklich liiert bin, und es das Ende der »Du wirst nie jemanden finden, solange du deine sexuelle Orientierung versteckst«-Predigten meiner Mutter bedeutet, dann ist es einen Versuch wert. Und sei es nur für den heutigen Abend.

»Danke für das Angebot. Das würde mir in der Tat sehr helfen.«

Lächelnd nimmt er meine Hand, als wir die Toilette verlassen.

Ich kann den Blick nicht von unseren ineinander verschränkten Fingern abwenden. Mich durchfährt ein Kribbeln. Vermutlich sollte ich mir Gedanken darüber machen, ob mich jemand sieht oder gar erkennt, aber die Beleuchtung ist schummrig und das neuartige Gefühl, mit einem Mann in der Öffentlichkeit Händchen zu halten, unwiderstehlich.

Als wir durch das Sichtfeld der anderen Gäste gehen, lasse ich jedoch hastig von ihm ab und führe ihn in den abgetrennten Bereich weiter hinten.

An einem großen Tisch sitzen dort meine Brüder – bis auf Max –, Nics Frau, ihre beiden Kinder und meine Eltern. Mein Begleiter marschiert völlig ungerührt mitten hinein in die Höhle der Löwen. Allerdings kennt er meine Familie auch noch nicht, weshalb er wahrscheinlich denkt, ich übertreibe.

Als wir an den Tisch treten, ruhen alle Blicke auf uns.

»Willkommen im Chaos«, murmele ich.

Bevor irgendjemand ihn mit Fragen bombardieren kann, ergreife ich schnell das Wort.

»Leute, das ist …« Mist. Ich hab völlig verpennt, ihn nach seinem Namen zu fragen, und kann nur daran denken, dass er aussieht wie ein blonder Superman. »Clark.«

Jetzt fällt mir wieder ein, warum es eine blöde Idee war. Die Sache durchzuziehen, erfordert halt doch etwas mehr, als zu sagen: »Hier ist mein Freund, ihr könnt also aufhören, euch so idiotisch zu benehmen.«

Er schaut verstohlen zu mir herüber, woraufhin ich mich am liebsten dafür entschuldigen würde, derart in Panik geraten zu sein. Aber welcher Freund vergisst bitte den Namen seines Partners?

»Aha. Und wer ist … Clark?«, fragt Ma und lässt ihm denselben prüfenden Blick zukommen, mit dem sie auch Amanda bedacht hat, als Nic sie das erste Mal mit nach Hause gebracht hat.

»Clark ist … äh …« Meine Stimme bricht wie damals mit zwölf. Ich muss mich kurz räuspern, um weitersprechen zu können. »Er ist mein Freund.«

Die ganze Familie starrt uns überrascht an, selbst Vic, der uns ja eben noch in der Toilette zusammen gesehen hat.

Der Mann, den alle jetzt als Clark kennen, winkt etwas unbeholfen in die Runde, worüber ich schmunzeln muss.

»Ähm, also, ich wollte euch erst nichts sagen, weil es noch recht frisch ist« – zehn Minuten alt gilt wohl als ziemlich frisch – »und Clark dachte, er müsste arbeiten …«

»Genau, aber dann konnte ich doch früher weg«, erklärt Clark mit einem freundlichen Lächeln. »Außerdem hat dieser junge Mann hier versprochen, mit mir zu einem Footballspiel zu gehen, falls ich es doch schaffe.«

Ach du Scheiße. In meinem Kopf brüllt eine Stimme: Abbrechen! Sofort abbrechen!

Aber dafür ist es zu spät. Ich kann ja schlecht sagen: »Haha. April, April!«

Wie bin ich bloß auf den Gedanken gekommen, bis zum Ende des Abends meinen Beruf verheimlichen zu können?

Jetzt werde ich mir das bis in alle Ewigkeit anhören dürfen. Nicht dass ich sie mit einem neuen Freund überrumpelt habe, sondern dass er Football-Fan ist.

»Football?«, lästert Vic. »Ollie, du musst sofort Schluss machen!«

Wie aufs Stichwort.

»Warum sollte das ein …« Clark verstummt, und ich sehe, wie plötzlich etwas in seinen Augen aufblitzt. Eine Art Erkenntnis. Er fängt sich schnell wieder, aber die ganze Familie starrt uns an, als wollte sie sich gleich auf uns stürzen. »Was denn? Darf ein Eishockeyspieler nicht hin und wieder mal mit seinem Freund zum Football gehen?«

Damit habe ich meine Bestätigung: Er weiß, wer ich bin.

KAPITEL 2

LENNON

Bei allen schwulen Göttern, jetzt bin ich am Arsch.

Ollie sieht aus, als müsse er sich gleich übergeben, und ich könnte mir in den Hintern treten, weil ich ihn nicht früher erkannt habe. Dass ich ihn am liebsten direkt besprungen hätte, war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er Sportler sein muss. Wenn er sich wirklich in der Toilette herumgetrieben hätte, um jemanden abzuschleppen – ich wäre sein williges Opfer gewesen. Nicht geoutete Männer, die so aussehen, als hätten sie mehr Interesse an Sport als an philosophischen Diskussionen, sind mein persönliches Kryptonit. Und offensichtlich muss ich das nicht mal über sie wissen, um mich magisch von ihnen angezogen zu fühlen.

Vielleicht habe ich inzwischen so eine Art Sensor oder Radar für diese Männer entwickelt.

Schlimmer noch ist die Tatsache, dass ich als Sportjournalist Ollie Strömberg nicht sofort erkannt habe, auch wenn ich – zu meiner Verteidigung – überwiegend Football und Baseball abdecke. Für Eishockey ist Kevin zuständig.

Ich kenne mich mit dem Sport nicht besonders gut aus, aber selbst ich weiß, wieso Ollie und sein Mannschaftskollege Tommy Novak als Naturgewalt gelten. Allerdings wird überwiegend Tommy Novak von der Presse dafür bejubelt, da er normalerweise derjenige ist, der letztlich den Puck im Netz versenkt.

Wenn Ollie nur die geringste Ahnung hätte, wer ich bin, wäre ihm wohl nicht nur ein bisschen übel, sondern er wäre längst im vollen Panikmodus. Er hat sich gerade vor mir geoutet. Zwar würde ich das nie publik machen, doch das weiß er nicht. Wenn es um eine gute Story geht, sind meine Kollegen tatsächlich so gnadenlos, wie man uns nachsagt, aber meine Art ist das nicht … jedenfalls meistens nicht. Das eine Mal, dass ich versucht habe, mir Infos zu erschleichen, hat sich das spektakulär gerächt, als Matt Jacksons Freund versucht hat, mich k. o. zu schlagen.

Damals hatte ich es mir selbst zuzuschreiben. Die aktuelle Situation dagegen ist ein grausamer Streich des Schicksals.

Was mache ich jetzt bloß?

»Ich kann nicht fassen, dass du einen Football-Fan datest«, sagt Ollies Vater. »Ich war noch nie so enttäuscht von dir, mein Sohn.«

Sein Ton ist völlig ernst. Ich blinzele und frage mich, ob er das wirklich gerade gesagt hat, denn sein stoischer Gesichtsausdruck gibt nichts preis. Erst als Ollie auflacht, überzieht ein breites Grinsen das Gesicht seines Vaters.

»Bitte vergraul ihn mir nicht direkt wieder mit deinem entsetzlichen Humor. Fremde wissen nie, ob du so was ernst meinst oder nicht.« Ollie dreht sich zu mir um. »Er macht nur einen Witz. Dad hat seinerzeit für das College-Team Football gespielt. Damals, als sie noch diese Lederhelme getragen haben.«

»Pass auf, was du sagst, Junge! So alt bin ich auch wieder nicht.«

Von den versammelten Söhnen tönt ein sarkastisches »Mmmhmm« herüber. Und es sind eine ganze Menge Söhne.

Vier Jungs. Vier.

Ganz zu schweigen von den Wahnsinnsgenen dieser Familie. Ihre Haarfarben reichen von Weißblond bis Rotblond, wobei Ollie von allen die dunkelsten Haare hat. Sein Vater ist schon grau, aber ich würde mein linkes Ei darauf verwetten, dass er auch mal blond war.

Es war mein Ernst, als ich sie alle als nordische Götter bezeichnet habe. Die Gruppe großer, breitschultriger und verdammt heißer Männer an der Bar ist mir sofort beim Betreten des Ladens aufgefallen. Zwei von ihnen – ich tippe auf Zwillinge – sehen aus wie John Cena auf Steroiden.

Der andere ist das komplette Gegenteil: groß und schlaksig.

»Setz dich doch«, fordert Ollies Mutter mich auf, woraufhin mir langsam schwant, was für eine dämliche Idee das Ganze war.

Ein Abendessen lang so zu tun, als wäre man mit jemandem in einer Beziehung, schien mir zuerst nicht so schwierig zu sein, aber mir geht gerade auf, dass wir rein gar nichts voneinander wissen.

Ich stehe unter genauester Beobachtung. Es kommt mir vor, als bestünde die Familie aus lauter Geheimagenten, so sehr bohren sich ihre Blicke unter meine Haut, als wollten sie mich dazu bringen, augenblicklich ein umfassendes Geständnis abzulegen.

Dabei haben sie mich bisher nur ein bisschen gemustert und einen Scherz gemacht.

Doch ich bin jetzt schon eingeschüchtert.

Ich atme hörbar aus – für kalte Füße ist es jetzt zu spät.

Ich. Kriege. Das. Hin.

Sie holen einen freien Stuhl vom anderen Tischende, sodass Ollie und ich nebeneinandersitzen.

»Wie habt ihr euch kennengelernt?«, fragt mich seine Mutter.

Hmm, mal überlegen … »Auf einer Herrentoilette«kommt hier wahrscheinlich nicht so gut an.

»Über einen gemeinsamen Freund«, antworte ich vage.

»Ach was, Ollie hat Freunde?«, stichelt der Bruder, der uns vorhin auf dem Klo erwischt hat.

Ollie beugt sich zu mir herüber. »Sollte es dir noch nicht aufgefallen sein: Ich bin derjenige, auf dem sie gerne herumhacken, weil ich jünger bin und halb so groß wie sie, dabei aber etwa zehn Mal so viel verdiene wie alle zusammen.«

Daraufhin schnellen drei Mittelfinger in die Höhe.

»Ich rufe heute Abend meine Mutter an und sage ihr, sie kann aufhören, sich über meine Schwester und mich zu beschweren«, erkläre ich.

Die Frau am anderen Ende des Tisches hält ein schlafendes Baby im Arm, während sie mit der freien Hand einem Kleinkind das Gesicht abwischt. »Keine Sorge, du gewöhnst dich schnell an ihre Mätzchen.«

Einer der Zwillinge – der, der noch keine klugen Sprüche geklopft hat – steht auf und nimmt ihr mit einem Kuss auf die Stirn den Säugling ab. »Mätzchen. Pff! So was gibt’s bei uns nicht. Wir waren schon als Kinder immer ganz artig.«

Ollies Mutter kontert mit einem lauten »Von wegen!«.

Das Gespräch entwickelt sich zu einer alltäglichen Frotzelei unter Familienmitgliedern, und ich wiege mich in falscher Sicherheit. In dem Moment, als ich beginne, mich zu entspannen, wechselt das Thema plötzlich wieder zu mir.

»Was machst du denn beruflich?«, fragt Ollies Vater. Aha, das Kreuzverhör hat begonnen.

»Äh, ach, Corporate Banking.« Das ist die Lüge, auf die wir uns auf der Toilette geeinigt haben, also bleibe ich dabei.

»Aha, und was genau?«, bohrt er nach.

»Na ja, so das Übliche. Akquisitionen, Rechnungsprüfung. Steuern. Anlagefonds. Dividenden.« Oh Mann, jetzt werfe ich einfach mit Wörtern um mich, die sich nach Big Business anhören. »Total langweilig. Was macht ihr denn eigentlich alle?« Ein guter Freund stellt Fragen – besonders, wenn er selbst keine beantworten möchte.

»Leo ist Basketball-Trainer«, erklärt Ollie, woraufhin der große, schlaksige Bruder nickt. »Die Zwillinge Nic und Vic sind Personal Trainer für Profi-Kampfsportler.«

»Nic und Vic?«

»Nicklas und Victor.« Zur Bestätigung zeigt Ollie auf den jeweiligen Bruder. Eineiige Zwillinge sind sie offenbar nicht, aber trotzdem schwer auseinanderzuhalten. »Ich glaube nicht, dass meine Eltern absichtlich Spitznamen ausgesucht haben, die sich reimen …« Er blickt sich zu seinen Eltern um. »Oder?«

»Wir fanden es süß«, erklärt seine Mutter.

»Ja. Supersüß.« Vic klingt weit weniger begeistert.

»Wir wurden in der Schule auch nie deswegen ausgelacht oder so«, fügt Nic hinzu, woraufhin Vic wiederum fragt: »Was denkt ihr, warum wir auf die Idee gekommen sind, Kampfsport zu lernen?«

»Und Max ist Tätowierer«, lenkt Ollie ab.

»Was, es gibt noch mehr von euch?«

Der ganze Tisch lacht, bis Ollie mich aufklärt: »Wir sind zu fünft.«

»Alles Jungs?«, entfährt es mir. Seinen Eltern werfe ich den mitfühlendsten Blick zu, den ich zustande bekomme.

Ollies Mutter legt sich ihre Serviette auf den Schoß und setzt ein schicksalsergebenes Lächeln auf. »Gott hat uns mit all diesen Jungs gesegnet, weil er weiß, dass ich der Aufgabe gewachsen bin.«

Jetzt lacht Leo auf. »Wenn ich mich recht entsinne, wurde uns immer die Militärakademie angedroht, wenn wir nicht gespurt haben.«

»Und wenn das nicht funktioniert hat«, ergänzt Nic, »hast du immer darüber gejammert, dass Gott dir eine so schwere Prüfung auferlegt hat.«

Ollie lehnt sich zu mir herüber und flüstert mir ins Ohr: »Übrigens, wir sind nicht sonderlich religiös.«

Ich pruste los.

»Egal.« Ollies Mutter klingt, als wäre sie so alt wie ihre Söhne, nicht geschätzt Ende fünfzig. »Wir haben es alle überlebt.«

»Gerade so«, murmelt Vic.

In diesem Moment kommen mehrere Kellner und Kellnerinnen mit Speisen an den Tisch. Mein Magen knurrt. Ursprünglich hatte ich vor, mich vom Herrenklo aus sofort an die Bar zu begeben und mir etwas zu essen zu bestellen.

Sofort ist jetzt allerdings nicht mehr Teil der Planung, ich muss noch das Familien-Kreuzverhör über mich ergehen lassen. Dafür schuldet mir das Karma wirklich eine angemessene Entschädigung. So was wie eine Menge nackter, heißer Kerle, die mich umschwärmen. Ehrlich gesagt war, was das betrifft, in letzter Zeit so wenig bei mir los, dass mir schon ein heißer, nackter Kerl genügen würde. Einer. Merkst du was, Karma? Ich bin kein bisschen gierig! Andererseits – jemandem auszuhelfen, weil man auf eine Gegenleistung vom Karma spekuliert, ist ein Handel, kein Gefallen.

Als die Kellner alle Vorspeisen auf dem Tisch abgeladen haben, stehen drei Teller vor Ollie.

»Magst du auch was?«, fragt er und deutet darauf.

»Hast du vorausgesehen, dass ich noch komme, oder …« Als ich meinen Blick über den Tisch gleiten lasse, merke ich, dass jeder der Männer mindestens zwei Teller vor sich stehen hat. »Esst ihr keine Hauptspeisen?«

Ollie lacht, klingt aber ein bisschen nervös. »Inzwischen solltest du meinen Appetit eigentlich kennen.«

Ach, stimmt ja, da war doch was. Sportler und ihr legendärer Appetit. Das hätte ich mir denken können. Ich glaube, Ollie schlägt mir auf den Verstand, normalerweise stehe ich nicht so auf dem Schlauch.

Dabei wäre es nicht das erste Mal, dass mein Hirn wegen eines gut aussehenden, muskulösen Mannes aussetzt.

Ich wende mich an Ollies Eltern. »Lassen Sie mich raten, Sie geben im Monat mehr für Lebensmittel als für Miete aus?«

»Als der Letzte aus dem Nest war, konnten wir endlich in Rente gehen«, erwidert sein Vater. »Sobald wir sie nicht mehr alle durchfüttern mussten.«

Ollie und seine Brüder grummeln, sind allerdings zu beschäftigt damit, sich über ihr Essen herzumachen. Ich würde ja lachen, aber es ist beinahe unheimlich, ihnen zuzusehen. Fast so, als würde man eine Natur-Doku schauen, in der gerade ein Rudel Löwen seine Beute zerfleischt.

Ich fische mir eine Garnele im Speckmantel und ein paar Calamari von Ollies Teller, nur die Rippchen hat er schon verputzt, bevor ich sie überhaupt probieren konnte.

Als der Hauptgang serviert wird, sollte ich nicht überrascht sein, dass Ollie sich zwei Gerichte bestellt hat. Er versucht, die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu erhaschen, fragt mich jedoch gleichzeitig: »Was davon möchtest du?«

»Mir ist beides recht«, antworte ich.

»Such dir eins aus.«

»Der Lachs sieht lecker aus.«

Ollie schiebt den Teller zu mir herüber und bestellt ihn sich noch mal.

»Ich kann dir gern die Hälfte abgeben«, biete ich ihm an.

»Da komme ich wahrscheinlich drauf zurück.«

Himmel, der Mann ist unersättlich. Ob sein Appetit auf andere Dinge genauso unstillbar ist?

Nein, darüber will ich lieber nicht nachdenken.

Wenn er nicht ausgerechnet Ollie Strömberg wäre, würde ich mir solche Gedanken zugestehen. Aber Sportler und der nerdige Lennon – das war noch nie eine gute Kombination.

Nachdem alle ihre Hauptspeise vor sich haben, herrscht Stille am Tisch. Die Fütterung der Raubtiere hat begonnen.

Gerade denke ich, dass Ollies Familie halb so schlimm ist wie in seinen Schilderungen, als seine Mutter ihr Besteck beiseitelegt und mich anspricht.

»Hat er dir eigentlich die Geschichte von seinem Coming-out erzählt?«

Ollie verschluckt sich beinahe. Mit einem »Oh nein« wendet er sich an mich. »Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir ehrlich, ehrlich leid. Bitte hab mich danach noch lieb.«

»Also, jetzt will ich sie unbedingt hören!«

Ollies Brüder feixen. Er seufzt.

»Also …«, setzt seine Mutter an, »als er fünfzehn war, brachte er seine erste Freundin mit nach Hause.« Ihre grünbraunen Augen blitzen auf, während mein Versuch, mir ein Grinsen zu verkneifen, kläglich fehlschlägt.

»Mir war sofort klar, dass sie sie nicht leiden konnten«, wirft Ollie ein. »Was du über unsere Familie wissen musst: Wenn wir still sind, dann läuft gerade etwas gehörig schief. Ich glaube, das war die schweigsamste Familienmahlzeit aller Zeiten.«

»Ach, Schatz, das hatte doch nichts mit ihr zu tun. Wir waren nur so verwirrt«, fährt seine Mutter fort. »Als sie gegangen war, haben wir die anderen Jungs auf ihre Zimmer geschickt.«

Ollie rutscht auf seinem Stuhl hin und her. »Ich dachte schon, jetzt kommt das Aufklärungsgespräch. Ich wollte am liebsten im Erdboden versinken.«

»Himmel, wir leben ja nicht hinterm Mond. Uns war klar, dass du das alles schon wusstest«, wirft sein Vater ein. »Du hast immerhin vier ältere Brüder.«

»Und dann sagt meine Mutter zu mir, dass es nicht schlimm ist und sie mich auch lieben würde, wenn ich hetero wäre.« Ich muss mir die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszulachen. »Zugegeben, ich hatte so eine Ahnung, dass ich schwul sein könnte. Nur war mir bis zu dem Moment nicht bewusst, wie lächerlich das alles war. Meine Eltern saßen da und beteuerten, dass sie mich so lieben würden, wie ich bin, aber sie waren überzeugt, dass das mit den Mädchen nur eine Phase sei.«

Jetzt sehe ich zu den Eltern hinüber. »Aber … woher … Ich meine, woher haben Sie gewusst, dass …?«

Ollies Mutter schmunzelt. »Als er uns mit vier Jahren sagte, dass er Jungs mag, war das schon ein Wink mit dem Zaunpfahl, ansonsten ist es allerdings schwer, das genau festzumachen. Er hat sich halt nie für Mädchen interessiert. Seine Brüder kamen alle schon in der Grundschule eines Tages heim und erzählten von irgendeinem Mädchen. Ollie nicht. Es war einfach ein Bauchgefühl. Und als er uns plötzlich eine Freundin präsentiert hat, war das ein ziemlicher Schock.«

Ollie schaut mich an. »Also habe ich statt der üblichen Verhütungspredigt die Schwulenvariante davon zu hören bekommen. Im Ernst, das hat mich fürs ganze Leben traumatisiert.«

Seine Brüder fangen an zu lachen, und ich kann nicht anders, als mit einzustimmen. »Darum beneide ich dich nicht.«

Ollies Brüder erzählen, wie sie alle oben an der Treppe standen, gelauscht haben und sich furchtbar zusammenreißen mussten, um nicht laut loszulachen – nicht, weil ihr Bruder schwul ist, sondern weil er sich einen noch peinlicheren Vortrag anhören musste als sie, einschließlich des eindringlichen Hinweises, dass man sich auch schützen muss, wenn der Partner nicht schwanger werden kann.

Mir tränen die Augen vor Lachen, als ein weiterer Volltätowierter mit braunen Haaren zu uns stößt und sich auf den letzten freien Stuhl am Tisch setzt. »Hi. Entschuldigt die Verspätung.«

»Schatz, wir haben schon gedacht, du schaffst es nicht«, meint Ollies Mutter.

Ollie wirkt angespannt. »Max.«

Ah, der andere Bruder. Und der einzige mit dunklen Haaren. Interessant.

Max macht es sich auf seinem Stuhl bequem und schaut Ollie finster an. »Oliver.« Dann fällt sein Blick auf mich. »Und wer bist du?«

»Ich bin … ähm … Clark.« Denn so heiße ich jetzt offensichtlich.

Ollie hat mich gewarnt, dass irgendetwas nicht stimmt, wenn es bei den Strömbergs still wird, und jetzt herrscht eisiges Schweigen. Ollies kleinen Neffen scheint das ziemlich zu verängstigen, denn er brüllt genau in dem Moment los.

Seine Schwägerin wippt den Kleinen auf und ab, während sie versucht, ihn mit sanfter Stimme zu beruhigen.

Ollie, Max und ich starren uns abwechselnd an.

»Ich verstehe das Problem nicht«, ertönt plötzlich Vics Stimme. »Es ist ja nicht so, als würde Ash sich nicht mit so vielen Kerlen wie möglich trösten. Warum sollte Ollie also keinen neuen Freund haben dürfen?« Nun starren die beiden anderen Brüder Vic an, und Ollie fällt klappernd das Besteck aus der Hand und auf den Teller.

Max kneift die Augen zusammen. »Ein neuer Freund? Ist das dein Ernst?«

Ollie ignoriert Max und starrt stattdessen Vic an. »Ash macht was?«

»Du hast doch einen Freund.« Ratlos wirft Vic die Arme in die Höhe, woraufhin er sich einen Klaps auf den Hinterkopf von Nic einfängt.

»Und deswegen bin ich der verheiratete Zwilling. Der hier versteht nämlich nicht, wie Beziehungen funktionieren.«

Vic sieht aus, als wolle er gerade zu seiner Verteidigung ansetzen, kapituliert dann aber. »Da hast du recht. Ich habe gedacht, dass es weder Ollie noch Ash etwas ausmachen würde. Sie gehen doch jetzt getrennte Wege.«

Nur weil eine Beziehung beendet ist, heißt das noch lange nicht, dass man darüber hinweg ist,will ich anmerken, aber das steht mir nicht zu.

Ich kann Ollies Verflossenen sogar verstehen. Mit jemandem zusammen zu sein, der seine Sexualität und seinen Partner verleugnet, ist nicht schön. Ich spreche da aus Erfahrung.

»Ich wusste, ich hätte nicht herkommen sollen«, zischt Max und stürmt davon.

Das Timing ist perfekt – genau in diesem Moment wird Ollies nachbestellter Lachs an den Tisch gebracht. Als der volle Teller gegen den leeren ausgetauscht wird, starrt Ollie ihn aber nur für einen kurzen Augenblick an, ohne ihn anzurühren. »Ich … spreche mit Max.« Dann springt er auf, um seinem Bruder nachzujagen.

Gerade als ich denke, dass jetzt eigentlich ein guter Zeitpunkt dafür wäre, mich meiner Portion zu widmen, wendet seine Mutter sich wieder an mich.

»Ash, Ollies Ex, ist Max’ bester Freund. Sie sind zusammen aufgewachsen, und Max hat das Gefühl, Ash beschützen zu müssen. Wir dachten alle, dass Ollie und Ash eines Tages heiraten würden, aber durch das Eishockey und Ollies Weigerung, zu seiner Homosexualität zu stehen …«

Weigerung? Als wäre er bloß dickköpfig?

»Es ist lieb, dass Sie mir die Lage erklären wollen, aber das ist schon okay. Wie Ollie schon sagte, die Sache mit uns beiden ist noch ganz frisch, und ich wusste, worauf ich mich bei ihm einlasse. Und welche Schwierigkeiten es im Profisport gibt.«

Ich bin zwar nur Sportjournalist, doch das dumme Gerede, das ich mir von meinen Kollegen anhören muss, reicht schon. Wie die ständigen Sprüche, ich solle besser über Mode schreiben, weil schließlich jeder weiß, dass Mode und Schwule zusammengehören. Meistens ist es als Scherz gemeint, nur verstehen sie nicht, wie unsensibel und verletzend solche Bemerkungen sind – vermutlich, weil man sie nie in eine Schublade gesteckt und ihnen dann gesagt hat, dass sie dort hineingehören.

»Aber …«

»Ma!« Leo, der lange, schlaksige Baseball-Coach, unterbricht sie unwirsch. »Lass es gut sein, okay? Du bist schon Helikoptermutter genug. Vergraul jetzt nicht Ollies neuen Partner!«

»So schnell lasse ich mich nicht …«, setze ich an, überlege es mir jedoch anders. Aha, das ist also die Familie, vor der Ollie sich in der Toilette versteckt hat.

»Nicht in diesem Ton«, wird Leo von seinem Vater ermahnt.

»Ich hab es nicht böse gemeint, aber ehrlich …«

Jetzt mischen sich auch Vic und Nic in das Gespräch ein, und am Tisch sind so viele Stimmen mit starkem Bostoner Akzent zu hören, dass ich dem Gespräch bald gar nicht mehr folgen kann.

Als mein Telefon in der Tasche zu vibrieren beginnt, bin ich dankbar, den erlösenden Anruf nicht vortäuschen zu müssen. Ich erkenne die Nummer meines Redakteurs und überlege gar nicht erst, ob ich das Gespräch annehmen soll.

»Entschuldigt mich, da muss ich ran«, sage ich, doch das scheint unterzugehen.

Ich lasse meine Laptoptasche am Tisch stehen, während ich mich auf der Suche nach einer ruhigeren Ecke zum Telefonieren verziehe. Als ich sie endlich gefunden habe, hat Harry schon wieder aufgelegt. Ein paar Sekunden später ertönt jedoch der Nachrichtenton.

Die Pats haben ihre Verletztenliste aktualisiert! Beweg deinen Hintern ins Stadion, aber pronto. Die Pressekonferenz läuft, Johnson fällt aus.

Ich tippe schnell eine Antwort: Bin unterwegs!

Der Star-Quarterback Johnson, den sie zu Anfang der Saison geholt haben, um Marcus Talon zu ersetzen, steht auf der Verletztenliste? Was ist da los?

Ich frage mich, ob der Coach wieder mal in seine bewährte Trickkiste greift. Er ist dafür bekannt, kurz vor einem Spiel plötzlich Spieler auf die Liste zu setzen, um die Strategie des gegnerischen Teams durcheinanderzubringen. Dennoch darf man so eine Entwicklung nicht einfach ignorieren. Sollte Johnson wirklich verletzt sein, könnte das bedeuten, dass die Superbowl-Titelverteidiger die Saison abhaken müssen.

Als ich an den Tisch zurückhechte und mir meine Tasche schnappe, verstummt das Familiengezänk abrupt.

»Oh nein – du brauchst wirklich nicht zu gehen«, sagt Ollies Mutter.

»Das ist lieb. Aber wir haben einen Notfall auf der Arbeit, und ich muss mich darum kümmern.«

Schwer einzuschätzen, ob sie mir die Nummer abkaufen, aber ich kann nicht hierbleiben, um die Stimmung zu retten. Letztendlich ist es ohnehin egal. Nach dem Spiel fliege ich zurück nach Chicago und werde die Strömbergs nie wiedersehen.

Ich rede mir ein, dass es ein eleganter Abgang ist. So muss ich Ollie nicht gestehen, wer ich bin, und da ich nicht über Eishockey berichte, werde ich ihm in absehbarer Zeit auch nicht zufällig über den Weg laufen. Keine Ahnung, ob ich ihm mit unserer kleinen Scharade einen Gefallen getan oder nur ein noch größeres Familiendrama heraufbeschworen habe, aber ich hoffe, sie lassen ihn zumindest wegen seines Ex in Ruhe. So, wie Max vorhin rausgestürmt ist, haben wir womöglich nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen.

»Falls ich Ollie auf dem Weg nach draußen nicht mehr erwische, würdet ihr ihm Bescheid geben, dass ich wegmusste? Das wäre nett.«

Wir verabschieden uns hastig, bevor ich den abgetrennten Bereich verlasse. Das Honey Bee ist einer dieser Bostoner Läden, die im Souterrain liegen, und als ich die Treppe hochsteige, kommt mir Max entgegen. Im Vorbeigehen rempelt er mich »versehentlich« an.

Ich komme mir vor, als wäre ich wieder auf der Highschool, wo die größeren Jungs auf mir rumhacken. Also eigentlich alle. Mein letzter Wachstumsschub kam so spät, dass ich schon befürchtet habe, ich würde auf ewig nur knapp über eins siebzig bleiben. Die eins achtzig habe ich erst erreicht, als es zu spät war – in meinem ersten Collegejahr.

Ollie erscheint auf dem Treppenabsatz. Er lächelt mich an, und wir treffen uns auf halber Strecke. »Tut mir leid wegen Max. Er ist … äh …«

»Ein Idiot? Danke, das ist mir schon selbst aufgefallen.« Die Worte sind kaum heraus, da fällt mir auf, wie harsch sie klingen. »Entschuldige. Immerhin ist er dein Bruder, das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Eigentlich ist er gar nicht so übel. Er ist halt der beste Freund von meinem Ex und immer noch wütend, weil wir uns getrennt haben.«

»Wobei es klingt, als hättest du keine große Wahl gehabt. In deiner Situation …«

»Na ja, es war aber auch nicht Ashs Schuld. Er hatte sich schon längst geoutet und hat seine Homosexualität mir zuliebe vier Jahre lang wieder verleugnet.«

Überrascht reiße ich die Augen auf. »Vier Jahre? Das ist ungefähr zehn Mal so lang wie meine längste Beziehung.«

»Das sagt wohl mehr über dich aus als über mich.«

Darüber muss ich lachen. »Auch wieder wahr.«

»Hast du mich gesucht oder …« Als sein Blick auf meine Tasche fällt, stockt er.

»Es gibt einen Notfall auf der Arbeit. Ich muss los.«

Er senkt den Blick, woraufhin ich am liebsten sofort meinen Job hinschmeißen und hierbleiben würde. Aber eventuell bilde ich mir die Enttäuschung in seinen grünbraunen Augen auch nur ein. Es ist mir in der Vergangenheit schon passiert, dass ich etwas in Situationen hineingelesen habe. Vielen Dank an das Football-Team der Jefferson High School, das mein Radar für soziale Signale so nachhaltig gestört hat.

Im Treppenaufgang ist es eng, wir stehen praktisch Brust an Brust. Ich wünsche mir wirklich, dass ich nicht losmüsste.

Himmel, ich bin aber auch ein unbelehrbarer Magnet für nicht geoutete Kerle.

Ollie wippt nervös hin und her, die Hände in den Hosentaschen, was ihn unwiderstehlich macht. Dieser muskelbepackte Eishockey-Hüne steht hier, wirkt schüchtern und verlegen, und ich bin völlig hingerissen.

Als ich noch einen Schritt auf ihn zugehe, hebt er den Kopf.

Er zieht die Stirn kraus. »Was hast du …«

»Schhh. Ich ergreife eine Gelegenheit beim Schopf.« Keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, denn in der Vergangenheit sind solche Manöver oft schiefgelaufen. Aber ich beuge mich zu ihm hinüber und küsse ihn sanft auf den Mund. Ein schneller, keuscher Kuss, der sich dennoch gut anfühlt. »Mmm. Ich wollte schon immer mal einen Profisportler küssen. Das kann ich jetzt von meiner Liste unerfüllter Träume streichen.«

Genau genommen habe ich es schon einmal getan und mir die Finger dabei verbrannt – ich kann die Brandnarben quasi noch spüren. Aber vielleicht geht es dieses Mal nicht so aus.

Ich rechne förmlich damit, dass die Situation kippt, doch nichts dergleichen passiert.

Stattdessen schaut Ollie kurz in beide Richtungen, als wolle er sich vergewissern, dass wir unbeobachtet sind. »Na, dann soll es sich auch lohnen.« Er umschlingt meine Taille, zieht mich zu sich heran und küsst mich leidenschaftlich.

Keine meiner Teenie-Fantasien, in denen der Mannschaftskapitän irgendeines Sport-Teams mit mir rumgeknutscht hat, kommt auch nur annähernd an die Realität heran, in der Ollie Strömberg mir gerade den Rücken hochstreicht, um mir dann die Hände an die Wangen zu legen und den Kuss zu vertiefen.

Seine Zunge spielt mit meiner, bis wir das Gleichgewicht verlieren. Wir geraten ins Stolpern, wodurch Ollie gegen den Handlauf der Treppe gedrückt wird.

Schwer zu sagen, wer von uns aufstöhnt, aber es löst etwas in Ollie aus. Er zieht so ruckartig den Kopf zurück, dass er ihn sich an der Wand stößt.

»Verdammt, ich wünschte, die Dinge lägen anders«, flüstert er. »Ich würde dich so gern wiedersehen und dich besser kennenlernen.«

»Ich lebe in Chicago.«

Ollie zuckt zurück. »Was?«

»Ich bin nur wegen der Arbeit für ein paar Tage in der Stadt.«

»Oh.« Dieses Mal ist es definitiv Enttäuschung, die ich in seiner Stimme höre, und das gefällt mir viel zu gut.

»Außerdem musst du erst über deinen Ex hinwegkommen und kannst dich als Eishockeyspieler nicht outen, und ich bin – eben ich. Ehrlich, ich würde dich auch gern wiedersehen, aber das Gesamtpaket klingt eher nach einem klaren ›Lieber nicht‹.«

»Wegen der Sache mit dem Eishockey …«

»Ja, apropos …« Sag’s ihm. Sag ihm, wer du bist, und versprich, dass du nichts darüber schreiben wirst. »Du solltest vielleicht wissen, dass …« Sag’s ihm nicht. Warum diesen Moment ruinieren? Du siehst ihn wahrscheinlich nie wieder und kannst ihm die Paranoia ersparen. Schließlich bist du nicht für Eishockey zuständig. Mach dir den perfekten Kuss nicht mit der Realität kaputt.

»Was sollte ich wissen?«

»Dass ich niemandem davon erzähle. Versprochen.«

Er atmet erleichtert auf. »Danke. Du hast mir heute einen Riesengefallen getan und meine Familie ertragen, und jetzt erlege ich dir noch ein Schweigegelübde auf.«

Ich beuge mich vor für einen letzten Kuss – langsam und zärtlich. »Ich verstehe dich voll und ganz. Wahrscheinlich besser, als du denkst. Ich hoffe, dass sich das mit deiner Familie regelt. Zumindest werden sie dir jetzt nicht mehr mit Ash in den Ohren liegen, oder?«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt.«

»Tut mir leid, dass ich nicht bleiben kann.« Mein Telefon vibriert erneut. »Ich muss jetzt los, sonst werde ich noch gefeuert.« Oder jemand anders bringt die Story vor mir.

Als ich oben am Treppenabsatz angelangt bin, ruft Ollie hinter mir her: »Warte!«

Ich drehe mich um und hoffe, dass er mich nach meinem Namen fragt. Den ich ihm eigentlich nicht verraten sollte. Oder nach meiner Telefonnummer, die ich ihm ganz sicher nicht geben sollte.

Stattdessen schiebt er nur wieder die Hände in die Hosentaschen und fragt: »Woher hast du es gewusst? In der Toilette? Woher wusstest du, dass ich schwul bin?«

Ich grinse ihn an. »Pures Wunschdenken.«

Dann drehe ich mich um und verschwinde, bevor ich etwas tun kann, das wir beide bereuen würden. Was mich allerdings nicht davon abhält, Ollie im Internet zu stalken, sobald ich wieder zu Hause bin. Oder davon, mir seine Karriere-Highlights und Spiele anzusehen. Oder davon, eine ungesunde Besessenheit gegenüber einem Eishockeyspieler zu entwickeln, den ich nie wiedersehen werde …

KAPITEL 3

OLLIE

SECHS MONATE SPÄTER

Die »Rainbow Beds«-Spendengala ist sehr gut besucht, die Beleuchtung schummrig und die Musik laut. Man hat mich nicht zum ersten Mal darum gebeten, an einem Fundraiser teilzunehmen, aber diese spezielle Veranstaltung macht mich nervös. Nicht etwa, weil für eine LGBTQ-Organisation gesammelt wird, sondern weil es die von Matt Jacksons Ehemann ist.

Als ich ankam, habe ich draußen erst mal ein Selfie geschossen und es Ma mit den Worten Ich kann die LGBTQ-Community auch unterstützen, ohne mich zu outen geschickt. Das ist vielleicht ein bisschen passiv-aggressiv, aber so habe ich sicher eine ganze Woche Ruhe.

Matt ist der lebende Beweis dafür, dass man auch als schwuler Sportler erfolgreich sein kann, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Als er allen seinen Ehemann präsentiert hat, hatte er gerade den verdammten Superbowl gewonnen.

Im Sport laufen die Dinge schon so lange auf dieselbe Art, weshalb es mich immer ein wenig verbittert und einschüchtert, wenn ich Menschen sehe, die das Leben führen, das ich mir immer ausgemalt habe. Von Neid ganz zu schweigen.

»Du bist der schlimmste verkappte Schwule aller Zeiten«, sagt mein bester Freund zu mir.

Ich würde Tommy auslachen, wäre da nicht etwas dran. »Schrei es doch noch lauter! Ich glaube, es haben noch nicht alle gehört.«

»Stell dich nicht so an, hier hört keiner was, du Dramaqueen.«

Ich tue nur so, als wäre ich beleidigt, denn er hat recht. Alle anderen stehen am gegenüberliegenden Ende der Bar – dort, wo auch die Barkeeper sind. Auf dieser Seite werden wir vermutlich verdursten. »Hast du mich gerade eine Queen genannt?«

Er ignoriert mich, wie immer, wenn ich ihm Empörung vorspiele. »Du guckst jedem Hintern nach, der hier vorbeigeht.«

»Nur weil ich in einem Restaurant nicht essen kann, kann ich mir doch trotzdem die Speisekarte ansehen.« Und Himmel, ich vermisse Sex. Vermisse ihn wirklich. So richtig.

Tommy verzieht das Gesicht. »Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was du damit meinst.«

Ash hat mir einmal vorgeworfen, ich würde mich nur aus Bequemlichkeit nicht outen. Warum zu meiner Sexualität und meinem Partner stehen, solange Sex auch ohne Outing immer verfügbar sei? Ich habe ihm dann immer erklärt, dass er der Einzige sei, mit dem ich intim werden könnte. Mit jedem anderen wäre das Risiko, aufzufliegen und meine Karriere zu riskieren, einfach zu groß. Daran habe ich mich auch nach unserer Trennung gehalten, doch nach einem Jahr im Zölibat fange ich an, seinen Standpunkt zu verstehen.

Vielleicht wird es doch langsam Zeit, ernsthaft über ein Coming-out nachzudenken? Aber noch ist es zu früh. Das geht erst, wenn wir den Pokal gewonnen haben.

Ashs Worte klingen mir noch laut und deutlich in den Ohren. Der Zeitpunkt ist ungünstig? Ach was! Er ist immer ungünstig. Ich höre schon seit Jahren »Der Zeitpunkt ist ungünstig«,Oliver, und ich habe die Nase voll vom Warten und Hoffen auf den Tag, an dem du merkst, dass ich dir wichtiger sein sollte als deine Karriere.

Selbst ein Jahr nach der Trennung gehen mir diese Streitgespräche noch durch den Kopf. Immerhin hocke ich nicht mehr zusammen mit dem Geist einer gemeinsamen Vergangenheit in unserer alten Wohnung, seit ich vor zwei Monaten nach New York gewechselt bin. »Ich find’s immer noch ätzend, dass sie dich aus der Mannschaft genommen haben«, beschwert sich Tommy, als könnte er Gedanken lesen. »Du fehlst mir tierisch. Diese Saison ist echt für’n Arsch.«

»Da behauptest du, ich würde schlüpfrige Sachen sagen, und redest von Ärschen.«

Tommy seufzt auf diese Großer-Bruder-Art, die mich immer so nervt. Er hat mich quasi adoptiert, als ich es nach ein paar Jahren beim Bostoner Farmteam in die NHL geschafft hatte. Seither behandelt er mich wie den kleinen Bruder, den er nie hatte, und ich behandele ihn wie meine vier Brüder zu Hause. Als bräuchte ich noch mehr davon.

»Das Management hat die richtige Entscheidung getroffen.« Die Lüge geht mir nur schwer über die Lippen, während ich versuche, meine Enttäuschung über die Aktion auch jetzt noch zu verbergen. Dass ich Boston verlassen musste, gefällt mir überhaupt nicht, aber Trades gehören nun mal zum Sport dazu, also muss ich damit klarkommen.

Die Freuden einer nicht vorhandenen Transferverbotsklausel im Vertrag.

Wenn man den Medien glaubt, hat Boston dabei mit Ilya Malik für die Verteidigung den besseren Deal gemacht, aber seit Tommy und ich nicht mehr Seite an Seite spielen, haben sie dafür Probleme im Angriff. Wir beide haben uns auf dem Eis wortlos verstanden, als hätten wir eine telepathische Verbindung. Jetzt, wo man uns auseinandergerissen hat, laufen wir nicht mehr zu Höchstleistungen auf, und Tommy hat vollkommen recht: Das nervt.

Dass in angesehenen Sportzeitschriften Schmähartikel von blutsaugenden Reportern wie diesem Lennon Hawkins erscheinen, in denen er behauptet, Tommy sei der alleinige Grund für meine gute Spielstatistik im letzten Jahr gewesen, gießt nur noch Öl ins Feuer.

Was ist das überhaupt für ein Name, Lennon?Vermutlich ein Pseudonym, hinter dem der Autor sich versteckt, um seiner Verbitterung darüber, dass er selbst es im Sport zu nichts gebracht hat, auf so miese Weise Luft zu machen.

Renn du erst mal auf Kufen hinter einem Puck her, du Penner.

Es würde mich nicht überraschen, wenn Lennon Hawkins ein erfolgloser Ex-Sportler wäre, aber vermutlich eher aus dem Baseball oder Football. Ich habe den Typen online gestalkt, und zwar schon haarscharf an der Grenze des moralisch Vertretbaren. Bis vor Kurzem hat er ausschließlich über Football und Baseball berichtet.

Ein Grund für seinen plötzlichen Spartenwechsel wurde nie öffentlich genannt, doch ich tippe darauf, dass er schlicht keine Lust mehr hatte, Ballsportler zu terrorisieren, und sich jetzt auf die Puckjäger stürzt. Und dabei hatte er es, warum auch immer, von Anfang an besonders auf mich abgesehen.

Tommy ist der Meinung, dass ich da etwas hineininterpretiere und ich mir keinen Kopf machen soll – einfach die Website blockieren und das Ganze vergessen –, aber irgendwie geht mir dieser Schreiberling unter die Haut, ohne dass ich genau sagen könnte, warum.

Trotz all meines Stalkings habe ich kein einziges Foto von ihm finden können. Wahrscheinlich ist er ein fetter, glatzköpfiger alter Sack mit einem Gesichtsausdruck, der genauso verbittert ist wie seine Artikel, weshalb die Redaktion auf ein Bild von ihm verzichtet.

»Du verziehst schon wieder so komisch das Gesicht«, bemerkt Tommy.

»Was meinst du damit?«, ranze ich ihn an.

»Als ob du gleichzeitig sauer und beleidigt wärst. Ich hatte keine Ahnung, dass man den Badass- und den Bitch-Look verbinden kann, aber du bist der lebende Beweis.«