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Jonas Schaible

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Beschreibung

Wie wir Klimarettung und Demokratie neu denken müssen

Klimaschutz und Demokratie, das passt für viele Menschen nicht zusammen. Den einen geht der Kampf gegen die Klimakrise zu langsam voran, während die anderen sich von einer angeblichen Ökodiktatur bedroht sehen. SPIEGEL-Journalist Jonas Schaible räumt in diesem Debattenbuch mit solchen falschen Widersprüchen auf. Er zeigt, dass Klima und Demokratie sich sogar gegenseitig bedingen: Demokratie gibt es nur auf einem bewohnbaren Planeten – und das Klima wird sich nur mit demokratischen Mitteln retten lassen. Dafür ist aber Umdenken nötig: Demokratie kann nur als Klimademokratie bestehen. Schaible ermöglicht einen neuen Blick auf Politik in Zeiten der Klimakrise und entwirft eine Zukunftsvision, in der sich Freiheit und Klimaschutz gegenseitig stärken.

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Wie wir Klimarettung und Demokratie neu denken müssen

Klimaschutz und Demokratie, das passt für viele Menschen nicht zusammen. Den einen geht der Kampf gegen die Klimakrise zu langsam voran, während die anderen sich von einer angeblichen Ökodiktatur bedroht sehen. SPIEGEL-Journalist Jonas Schaible räumt in diesem Debattenbuch mit solchen falschen Widersprüchen auf. Er zeigt, dass Klima und Demokratie sich sogar gegenseitig bedingen: Demokratie gibt es nur auf einem bewohnbaren Planeten – und das Klima wird sich nur mit demokratischen Mitteln retten lassen. Dafür ist aber Umdenken nötig: Demokratie kann nur als wehrhafte Klimademokratie bestehen, argumentiert Schaible. Er ermöglicht so einen neuen Blick auf Politik in Zeiten der Klimakrise und entwirft eine Zukunftsvision, in der sich Freiheit und Klimaschutz gegenseitig stärken.

Jonas Schaible, geboren 1989, ist Redakteur im SPIEGEL-Hauptstadtbüro. Er studierte Politik- und Medienwissenschaft in Tübingen und Berlin und absolvierte seine journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Er schreibt regelmäßig über die Klimaschutzbewegung und beobachtet Klimapolitik seit 2018. Für seinen Text »Wer von Ökodiktatur spricht, hat das Problem nicht verstanden« wurde er 2020 mit dem Deutschen Reporterpreis für den besten Essay ausgezeichnet.

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Jonas Schaible

Demokratie im Feuer

Warum wir die Freiheit nur bewahren, wenn wir das Klima retten – und umgekehrt

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG,

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30462-1V002

www.dva.de

Für Jirka. Du fehlst.

Inhalt

Ein kurzer Blick in die Zukunft

Einleitung

I Wir werden die Demokratie nur mit Klimaschutz retten

Mitten im Epochenbruch

Die Große Beschleunigung

Glühende Landschaften

Verlust der menschlichen Nische

Leere Kornkammern, leere Brunnen

Jahrhundertkatastrophen im Jahrestakt

Wenn Gummi auf Wirklichkeit trifft

Die Uhr tickt 1: Kipppunkte und Teufelskreis

Die Uhr tickt 2: Enteilende Wirklichkeit

Freiheit wird zum knappen Gut

Traumfabrik in Flammen

Das beste von vielen schlechten Zielen

Das Physikalische ist politisch

Das große Freiheitsprojekt

Bedrohung der Freiheit

Die Instabilität sozialer Systeme

Auch Rom ist untergegangen

Was den Menschen zum Menschen macht

Die Fallhöhe dieser Jahrzehnte

Was wir wissen und was nicht

Das Prinzip Vorsicht

II Wir werden das Klima nur demokratisch retten

Autoritärer Sirenengesang

Diktaturen zerstören die Freiheit

Diktaturen dienen nur den Herrschenden

Diktaturen schützen die Umwelt nicht

Der gefährlichste Job der Welt

Sonderfall China

Kulturkampf ums Klima

Kippt die Supermacht?

Wie der Funke überspringt

Weltklimapolitik

III Ein neues Verständnis von Klimademokratie ist notwendig

Schaffen wir das?

Vom Flugzeug, das nicht fliegen kann

»It’s politics, stupid«

Ist Demokratie zum Scheitern verurteilt?

Die Wandelbarkeit der Demokratie

Das Ende der Geschichte 2.0

Karlsruhe for Future

Das Demokratieparadox

Der Notstand als demokratisches Mittel

Sparzwang in der Verfassung

Hüter*innen des Geldes

Das unvermeidliche Risiko

Der nicht so feine Unterschied

IV Labore der wehrhaften Klimademokratie

Struktur statt Moral

Revolutionärer Reformismus

Institutionen sind nicht alles

Alles auf den Tisch

Systematik der Labore

Die Weisheit der Vielen: Bürgerräte

Der Zukunft Stimmen geben: Wahlrechtsreformen

Der Zwang, an die Zukunft zu denken: Gesetzgebung

Grüne Null: Verfassungsvorbehalte

Im Namen der Freiheit: Verrechtlichung

Auch noch über meine Leiche: Veto-Optionen

Taten statt Worte

Hüter der Zukunft: Neue Klimabehörden

Vom Rohstoff bis zur Arbeiterhand

Von Dienstjahr bis Zentralbank

Schluss

Dank

Anmerkungen

Ein kurzer Blick in die Zukunft

Wie das Leben in dreißig Jahren aussehen könnte

Draußen flirrt die Luft und sie riecht nach brennenden Kiefernnadeln. Seit drei Wochen brennt der Wald südlich, westlich und nördlich von Berlin, der Rauch zieht in die Stadt. Beim ersten Mal sind Sie nachts noch panisch aufgewacht, erst durch die Wohnung gelaufen, dann ins Treppenhaus, dann auf den Hof, um zu sehen, wo es brennt. Mittlerweile haben Sie sich daran gewöhnt.

Drinnen brummt die mobile Klimaanlage. Der Schlauch führt aus dem Fenster, das mit dünnem Stoff notdürftig abgedichtet ist. Trotzdem dringt sofort wieder heiße Luft nach innen. Das Gerät ist nicht darauf ausgelegt, eine Dreizimmerwohnung zu kühlen, aber der Vermieter hat die Wohnung nie mit einer festen Klimaanlage ausgestattet. Manchmal geht sie aus. An der Stille, vor allem aber an der sich rasch aufstauenden Hitze merken Sie, dass der Strom ausgefallen ist. Die Feuer der vergangenen Jahre haben den Windparks Brandenburgs zugesetzt und den Leitungen auch. In Frankreich, wo noch Atomkraftwerke laufen, sieht es nicht besser aus. Entweder es fehlt Kühlwasser oder es ist so warm, dass man es nicht nutzen darf, weil es sich dadurch weiter erhitzen und man Ökosysteme im Fluss zerstören würde. Ab und an wird der Strom abgestellt.

Es ist der vierte Dürresommer in den vergangenen sechs Jahren. Erst hat es drei Jahre kaum geregnet. Im ersten Jahr zog eine mehrwöchige Hitzewelle über Deutschland. Mehr als 45 Grad im Schatten, Jahrtausendhitzewelle. Mehr als Zwanzigtausend Tote. Im zweiten Jahr fiel der Rhein trocken. Die Lieferketten wurden gestört, die landwirtschaftlichen Erträge brachen ein, viele Wälder starben, vor allem im Jahr darauf.

Im dritten Jahr wurde Trinkwasser rationiert, angeordnet von der Landesregierung: eine Dusche alle vier Tage war noch drin. Die Polizei kontrollierte regelmäßig.

Die Niederlande haben es ohne Rationierung versucht, ohne Polizei, nur mit Appellen, bis in den ersten Krankenhäusern das Wasser versiegte und die ersten jungen Mütter und alten Patienten starben.

Dann regnete es ein Jahr wieder etwas mehr. Es fühlte sich an wie ein normales Jahr, so wie Sie es von früher kannten. Das Wasser reichte aber im Ansatz nicht, um die Speicher wieder aufzufüllen. Im vergangenen Jahr regnete es in einigen Landesteilen so viel, dass Sturzfluten Dörfer zerstörten. Die Schnellbahnstrecke Berlin-München: unterbrochen. Die Autobahnen A1 und A9: massiv beschädigt. Ladesäulen. Strommasten. Brücken: zerstört.

Nun also die nächste Jahrtausendhitzewelle. Wieder wird Wasser rationiert. Vorrang haben Agrarbetriebe und Krankenhäuser, aber auch Altenheime und Kitas.

Es ist kein schlechtes Leben. Sie haben Glück, es gab noch keine Hungerrevolte in Deutschland, überhaupt keine Revolution, jedenfalls keine erfolgreiche, wie in so manchen Nachbarländern, sowieso im Globalen Süden, auch keinen Putsch, keinen Krieg. Manchmal gehen Sie ins Kino, ins Stadion, ins Konzert.

In wenigen Wochen steht eine Bundestagswahl an, aber Sie wissen nicht, ob Sie zur Wahl gehen werden. Die Unterschiede zwischen den Parteien sind marginal geworden.

Die Schäden der Fluten aus dem Vorjahr sind noch längst nicht beseitigt. Die Steuern wurden zuletzt deutlich erhöht und keine relevante Partei will sie senken. Die Staatsschulden sind in die Höhe geschossen. Sozialleistungen wurden gekürzt, Renten, die ein paar Jahre staatlich bezuschusst wurden, sinken ständig.

Das Geld, das der Staat hat, braucht er, um zerstörte Infrastruktur wiederaufzubauen, Bewässerungssysteme anzulegen, Bauern zu stützen und durch Subventionen dafür zu sorgen, dass Energie, Wasser und Lebensmittel halbwegs erschwinglich bleiben.

Weltweit sind weit über 700 Millionen Menschen auf der Flucht, weniger, als einst befürchtet worden war, aber so viele, dass es selbst im linken Spektrum keine Partei mehr gibt, die sich ernsthaft gegen die Militarisierung der Grenzen wehren würden. Niemand schaut so genau hin, solange nicht zu oft scharf geschossen wird.

Steuerpolitik, Sozialpolitik, Arbeitspolitik, Migrationspolitik, Infrastrukturpolitik, Agrarpolitik, Verteidigungspolitik, Verkehrspolitik, Finanzpolitik – überall herrscht Alternativlosigkeit.

Es ist das Jahr 2050 und Sie sind ein weitgehend freier Mensch in einem weitgehend freien Land. Manchmal erinnern Sie sich daran, wie es war, als Sie jung waren, als freier Mensch in einem freien Land.

Einleitung

Dieses Buch ist ein politisches Buch. Es geht um den Menschen in der Gesellschaft, um Politik, Institutionen und um das, was sie zu hüten und zu bewahren suchen, wenn sie gute Institutionen sind: die Freiheit. Im Mittelpunkt dieses Buchs stehen drei sehr einfache Fragen. Was bedeutet Demokratie eigentlich in Zeiten der Klimakrise? Lässt sie sich unter diesen Umständen überhaupt noch bewahren? Und wenn ja, wie?

Wenn es um Klimaschutz geht, treffen zwei wahre Aussagen aufeinander. Es geht seit einer Weile extrem viel voran, gemessen am politisch Möglichen. Aber es geht längst nicht schnell genug voran, gemessen am Notwendigen.

Als am 20. September 2019 allein in Berlin mehrere Hunderttausend Menschen für mehr Klimaschutz demonstrierten, einigte sich wenige hundert Meter entfernt im Kanzleramt die damalige Regierung auf ein Klimapaket, das am Notwendigen weit vorbeizielte. Die Kanzlerin, Angela Merkel, sagte dazu einen programmatischen Satz: »Politik ist, was möglich ist«. Sie löste den Konflikt zwischen dem Notwendigen und den Begrenzungen der Politik auf, indem sie die Möglichkeiten aktueller demokratischer Politik absolut setzte: Es geht eben so schnell, wie es geht. Das muss reichen. Das Problem ist: Es reicht eben nicht.

Auf der anderen Seite steht der Verdacht im Raum, ein Teil der Klimaaktivist*innen sei bereit, den Konflikt anders aufzulösen, zulasten der Demokratie, wenn nötig. Es muss so schnell gehen wie nötig. Egal, wie. Aber das kann keine Option sein. Nur: Irgendwie muss man ihn auflösen, diesen Widerspruch.

Glücklicherweise, das wäre die wichtigste Botschaft dieses Buchs, gibt es eine dritte Möglichkeit. Der vermeintliche Gegensatz erweist sich bei genauerem Hinsehen als Scheingegensatz. Die vermeintliche Krise der Demokratie ist in Wahrheit erst einmal nur eine Krise der Demokratietheorie. Demokratie und Klimaschutz hängen sogar eng zusammen.

Die Antworten auf die drei zentralen Fragen lauten daher in aller Kürze: Ja, Demokratie lässt sich bewahren – höchstwahrscheinlich jedenfalls. Aber nur, wenn wir die Klimakrise bremsen, und das wiederum wird nur gelingen, wenn wir umdenken, denn Demokratie in dieser Zeit muss etwas anderes bedeuten können und vielleicht auch anders aussehen können als bisher.

Auf eine einfache Formel gebracht: Wir werden die Demokratie nur retten, wenn wir das Klima retten. Wir werden das Klima nur demokratisch retten. Dazu muss sich unser Verständnis von Demokratie ändern können.

Die zentralen Thesen dieses Buchs lassen sich allerdings nicht diskutieren, ohne eine ganze Reihe anderer Fragen zumindest zu streifen. Was passiert, wenn das Weltklima sich so schnell verändert wie mindestens seit Millionen Jahren nicht? Warum fühlt sich die Welt mit einem Mal wieder so biblisch an? Was ist der Mensch, was macht ihn aus? Was ist Freiheit? Was ist Demokratie?

Tatsächlich entscheidet sich in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich die Zukunft der Menschheit in den nächsten Jahrhunderten, womöglich Jahrtausenden. Auch wenn es sich nicht so anfühlen mag, dies ist ein Epochenbruch.

Aus dieser Diagnose spricht nicht der Narzissmus der Gegenwart, der sich immer schon im Zentrum der größten Beschleunigung, der glorreichsten Entwicklung, der vollkommensten Weisheit, der chaotischsten Krisen vermutet. Auch wenn es natürlich so klingen muss. Aus dieser Diagnose spricht nur eine ziemlich simple Analyse.

Der Mensch sorgt dafür, dass das Klima sich radikal ändert, so schnell wie kaum je einmal. So radikal, wie er es noch nie erlebt hat. Und weil das Klima überall ist, weil es keinen klimalosen Ort gibt, weil Klima alles beeinflusst, deshalb verändert das radikal neue Klima auch alles andere für immer. Also muss man sich Gedanken machen, wie sich die Dinge verändern könnten und sollen. Auch die Demokratie. Es wird sowieso nichts bleiben, wie es war.

Ich wünschte, es wäre anders.

I Wir werden die Demokratie nur mit Klimaschutz retten

Mitten im Epochenbruch

Wie speziell die Bedingungen waren, unter denen Zivilisationen entstanden

Um ermessen zu können, wie einschneidend die aktuelle Klimakrise ist, muss man zunächst zurückschauen. Weiter zurück als bis zum Beginn der modernen Demokratie. Auf all die Jahre davor, in denen der Mensch nun siedelt, Städte baut, Straßen und Wasserleitungen anlegt und komplexe Gesellschaften formt. Und auf all die vielen Jahrtausende vorher, in denen er das nicht tat.

Die ersten Wesen, die wir heute als Menschen bezeichnen, als Angehörige der Gattung Homo, lebten nach aktuellem Wissensstand vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Der Homo erectus entwickelte sich vor rund zwei Millionen Jahren, der moderne Mensch, der Homo sapiens existiert seit mindestens 200 000 Jahren. Womöglich seit 300 000 Jahren oder länger. Über lange Zeit teilte er sich den Planeten mit anderen Menschen: Neandertalern, Denisova-Menschen, Flores-Menschen, Luzon-Menschen. Das ist eine sehr lange Zeit für sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen, um sich Dinge einfallen zu lassen, Gesellschaftsformen zu erproben, Kunst zu schaffen, die Welt zu formen. Feuerstellen, Werkzeuge, Schmuck, Malereien an Höhlenwänden und Monumente aus Elfenbein erzählen von Wesen, die nicht weniger klug, nicht weniger geschickt, nicht weniger anpassungsfähig waren als wir, die aber in Höhlen oder temporären Unterkünften lebten, nicht in Städten.

Frühe Menschen erlebten eine Erde, die heißer war als heute, und verbrachten sehr viele Jahrtausende auf einem viel kälteren Planeten, in Eiszeiten, unterbrochen von wärmeren Perioden, und vor allem auf einem sehr unsteten. Extreme Schwankungen waren die Regel, sich ausbreitende Gletscher, schwankende Meeresspiegel, sogar die Sahara ergrünte immer wieder.

Immer wieder stießen Gruppen des modernen Menschen in neue Weltgegenden vor, nur um irgendwann zu verschwinden, ohne Spuren im Genom heutiger Menschen zu hinterlassen. Sie starben aus, oft wahrscheinlich, weil das Klima sich änderte. Weil sie nicht mehr zurechtkamen, wo sie eben noch ein gutes Leben führten, oder weil Nachfolgern durch Umweltveränderungen der Weg abgeschnitten wurde, sodass der Genpool zu klein wurde.[1]

Vor rund 11 700 Jahren kam der Planet zur Ruhe. Man kann nicht genau sagen, warum, aber das Klima stabilisierte sich. Nicht absolut, doch verglichen mit allem, was vorher war. Die Systeme, die das Weltklima bestimmen, gerieten in einen neuen Zustand. Das Holozän begann und erst in ihm das, was wir Zivilisation nennen. Erstmals wurden Menschen Vollzeit-Ackerbauern, an verschiedenen Orten unabhängig voneinander zu einer ähnlichen Zeit. Diese Ackerbauern verbreiteten sich über die Welt, nach Europa, nach Asien im Osten, immer weiter dorthin, wo das Klima so war, wie sie es kannten, weil sie dort pflanzen konnten, wie sie es kannten. Aus Siedlungen wurden in dieser Zeit erst dauerhaft bewohnte Städte, dann Metropolen. Aus Gruppen wurden Zivilisationen.

Schon vorher haben Menschen womöglich vielfältige und komplexe Gesellschaften gebildet, mit verschiedenen Formen von Macht, Herrschaft, Beziehungen experimentiert.[2] Nicht zwingend nur das, was wir heute menschliche Zivilisation nennen, schafft Raum für Politik, Kunst, Kultur und Freiheit. Und dass das, was wir Zivilisation nennen, mit Schrift, Städten und Staaten, niemals außerhalb des sehr schmalen Klima-Korridors des Holozäns existiert hat, bedeutet nicht zwingend, dass sie ausschließlich unter diesen ganz speziellen Bedingungen blühen kann.

Alle Aussagen über das Leben vor mehr als zehntausend Jahren bergen große Unsicherheit. Aber es spricht doch sehr viel dafür, dass es kein Zufall ist, dass die beinahe unglaubliche Stabilisierung des Weltklimas und die Verbreitung von Sesshaftigkeit, die Bevölkerungsexplosion, die Entstehung von Metropolen, Großreichen und staatlich organisierten Gesellschaften derart parallel aufgetreten sind.

Alles, was wir an überlieferter menschlicher Geschichte kennen, entstand, während jene Klimabedingungen herrschten, die wir gerade verlassen. Alle Schriften und alle uns bekannten Zeichensysteme. Das Bild, das wir uns von der Menschheit machen, ist eines der Menschheit im Holozän.

Wir haben uns in dieses Klima hineingelebt. Seine Strukturen sind deshalb der natürliche Bezugspunkt, wenn man darüber nachdenkt, was Gesellschaften stabilisiert und destabilisiert, wie sie funktionieren, was sie bedroht.

Wir wissen schlicht nicht, ob unsere Zivilisation auch unter anderen globalen Bedingungen existieren kann, die sich noch dazu stark verändern. Sie musste es nie. Für die liberale Demokratie, die sich erst seit rund 250 Jahren wirklich über die Welt ausbreitet, gilt das erst recht. Wir sind dabei, es an uns selbst auszuprobieren. Es ist ein waghalsiges Experiment.

Denn wahrscheinlich war es so: Erst, als sich die Natur stabilisierte, wurde der Mensch in die Lage versetzt, die Natur zu kontrollieren. Sie sich, wie er fortan erzählte, untertan zu machen. Selbst Naturkontrolle gibt es nicht außerhalb der Natur. Es ist diese Voraussetzung, die oft vergessen wird, die tatsächliche neolithische Revolution: Die Natur ermöglichte es dem Menschen, sie zu beherrschen.

Und das tat er. Vor allem, indem er Kohle, Öl und Gas verfeuerte, begann er, alles zu verändern.

Die Große Beschleunigung

Wie wir uns aus dem Holozän herauskatapultieren

Stellen Sie sich vor, Sie schauten in einer Sommernacht in den Himmel. Stellen Sie sich vor, Sie gingen an einer Küste entlang, an die Wellen branden, die Gischt schlägt Ihnen immer wieder ins Gesicht, das Wasser prallt mit einem Grollen an die Felsen. Stellen Sie sich vor, Sie würden im Gebirge von einem Gewitter überrascht, der Himmel zieht sich zu, wird finster, nur Blitze erhellen ihn, Donner wird zwischen den Tälern hin und her geworfen. Oder stellen Sie sich vor, Sie blickten über das, was wir uns ewiges Eis zu nennen angewöhnt haben. Man kann sich sehr schnell sehr klein fühlen als Mensch in der Natur.

Sich den Menschen dagegen als geologische Kraft vorzustellen, das ist viel schwerer. Es klingt schnell nach Hybris, nach einem Gottkomplex. Dieses Gefühl ist verständlich, aber falsch.

Es ist nicht Hybris, zu glauben, dass Menschen ein Klima erschaffen können, in dem Zivilisation, wie wir sie kennen, unmöglich wird. Es ist Hybris, zu glauben, dass alles für immer so weitergehen wird, wie es seit zwölftausend Jahren war, nur weil das dem Menschen zupasskam. Es ist Hybris, zu glauben, nach einer halben Milliarde Jahre, in denen Pflanzen und Tiere entstanden und ausstarben, könnte sich das Klima nicht auch so wenden, dass wir an unsere Grenzen stoßen und dass freiheitliche Gesellschaften zugrunde gehen.

Wir wissen längst, dass das ewige Eis überhaupt nicht ewig ist. Es schmilzt, es tropft, es verfärbt sich grün und lila von Mikroorganismen und schwarz von Ruß und es taut schneller und schneller. Zumindest das in der Arktis, im hohen Norden, wird wahrscheinlich verloren gehen.

Etwas verständlicher wird diese scheinbare Gotteskraft des Menschen, wenn man sich die Erde als System mit vielen Teilsystemen vorstellt: Meeresströmen, Wüsten, Trockenwäldern, Regenwäldern, Winden, Wolken, Eisflächen, Biosystemen, in denen jeweils bestimmte Elemente und Kräfte zusammenwirken und die in sich mehr oder weniger stabil sind. Jedes dieser Systeme für sich kann aber instabil werden, wenn die inneren Kräfte nicht mehr so zusammenspielen können wie zuvor. Und viele hängen miteinander zusammen, beeinflussen sich, können sich manchmal auch gegenseitig ausgleichen, wenn für eine gewisse Zeit eines davon instabil wird. Zusammen ergeben sie einen Planeten, den man auch als System beschreiben kann. Über einige Tausend Jahre war es bemerkenswert stabil, aber es ist eben sehr viel weniger stabil, als man annehmen würde, wenn man die Erde als Ganzes denkt.

Es war schon einmal 13 oder noch mehr Grad heißer als heute, nur lebten da keine Menschen, auch noch keine Dinosaurier. Das war vor hunderten Millionen Jahren. Es war schon etwa 6 Grad kälter, während der Eiszeiten. Meteoriteneinschläge, Vulkanausbrüche, Pflanzenwachstum oder Schwankungen der Sonneneinstrahlung haben das Klima immer wieder extrem verändert. Wenn nur große Kräfte wirken, dann kann sich das Klima wandeln: So ist es in der Geschichte immer gewesen. Und die Kräfte, die der Mensch freisetzt, sind enorm. Das Tempo, in dem er es tut, ist sogar historisch einzigartig.

Theoretiker des Anthropozäns, des von Menschen geprägten Erdzeitalters, sprechen von der »Great Acceleration«: der Großen Beschleunigung seit Mitte des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit fallen extreme Steigerungen im Stoffdurchsatz, etwa Energieverbrauch, Wasserverbrauch, Düngereinsatz zusammen mit der Anreicherung von Kohlendioxid, Methan und Lachgas in der Atmosphäre, von Stickstoff in Gewässern, mit einer Versauerung der Ozeane.

Seit 1900, also etwa seit der Eiffelturm steht, hat sich die CO2-Konzentration so schnell erhöht wie in 56 Millionen Jahren nicht. Wahrscheinlich sogar viermal so schnell wie in der bisherigen Rekordphase. Die Hälfte der Treibhausgase, die die gesamte Menschheit bis heute ausgestoßen hat, kam seit dem Fall der Berliner Mauer dazu, in nur drei Jahrzehnten.

Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre liegt in den Monaten, in denen dieses Buch entsteht, bei etwa 419 ppm, also Teilchen auf einer Million Teilchen. So hoch war sie zuletzt vor rund 3,6 Millionen Jahren, im Pliozän. Damals hatten sich die Entwicklungslinien von Menschen und Schimpansen schon getrennt, aber von Menschen im modernen Sinn war noch lange nichts zu sehen. Die Welt war damals 3 bis 4 Grad wärmer als heute.

Schon Mitte des Jahrhunderts könnten wir eine CO2-Konzentration erreicht haben wie zuletzt vor 15 Millionen Jahren, lange bevor die ersten Menschen sich entwickelten.

Die Konzentration von Methan, das ein kurzlebigeres, aber viel stärkeres Treibhausgas ist als CO2, liegt aktuell bei etwa 1892 Teilchen pro Milliarde Teilchen in der Atmosphäre. Etwa dreimal so hoch wie vor der Industrialisierung. Ähnlich sieht es mit Lachgas aus.

Das fossile Zeitalter begann in Fabrikhallen und kohleverrauchten Arbeiterquartieren, aber die eigentliche Entfesselung fand viel später statt und sie beschleunigte sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Nicht die Erfindung der Dampfmaschine markiert ihren Beginn, sondern das Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Anthropozän ist gerade einmal so alt wie US-Präsident Joe Biden.

In kaum mehr als 70 Jahren haben moderne Gesellschaften die biologischen, chemischen, physikalischen Ströme aus der Balance gebracht. So etwas ist immer wieder passiert, aber wohl noch nie in dieser Geschwindigkeit und nicht in so vielen Systemen gleichzeitig. Ganz sicher nie, seit Menschen Städte bauen.

Für die politische Bewertung ist das ein ernstes Problem, weil es so schwerfällt, die extreme Beschleunigung überhaupt zu sehen. Aus der Sicht eines einzelnen Menschen sah das Leben auf der Erde in dieser Zeit ganz betulich aus. Als Vergleich bietet sich ein fahrendes Auto an: Man kann seelenruhig auf der Rückbank eines Autos Karten spielen, während es mit 200 Stundenkilometern über die Autobahn rast.

Die Nachkriegsordnung ist der Bezugsrahmen für unser ökonomisches und politisches Denken. So, wie der Holocaust den ultimativen Zivilisationsbruch markiert, markiert der Sieg über den Faschismus den Beginn unserer Epoche. Danach entstanden aus den Trümmern des Krieges die Vereinten Nationen, die Europäische Gemeinschaft, die NATO, das moderne Weltwirtschaftssystem, also die Welt, wie wir sie kennen, ganz sicher im Westen und der Bundesrepublik: Aus der Barbarei erwuchs der Frieden, aus der völligen Auflösung jeder Ordnung erwuchs Erwartungssicherheit.

Mindestens drei Generationen in den westlichen Gesellschaften erlebten diese Zeit als verlässliche Normalität. Ausgerechnet diese Zeit ist aber in Wahrheit die Zeit der außergewöhnlichsten Veränderung der menschlichen Umwelt. Gleich mehrere Großkrisen fallen zusammen, darunter das größte Artensterben seit 65 Millionen Jahren und eben die Klimakrise.

Die Große Beschleunigung mündet im Epochenbruch, an dem unsere Normalität schlimmstenfalls für immer von einer neuen Realität abgelöst wird, in der sich so etwas wie eine stabile Normalität gar nicht mehr einstellt.

Nach dem Mauerfall versprach Bundeskanzler Helmut Kohl den Menschen in Ostdeutschland blühende Landschaften. Was nun aber droht, sind glühende Landschaften.

Glühende Landschaften

Wie extrem es werden kann und warum es nicht mehr besser wird

Schon jetzt ist die Welt so warm, wie sie es seit dem Beginn der Zivilisation, wie wir sie kennen, nie war: etwa 1,09 Grad wärmer als zu Beginn der Industrialisierung. Es ist sehr gut möglich, dass schon Mitte oder spätestens Ende dieses Jahrhunderts auch die 2-Grad-Marke erreicht wird. Die Welt wäre dann so heiß, wie es noch nie ein Homo sapiens erlebt hat. Weder die Menschen, die als Erste nach Asien auswanderten, noch jene, die im Nahen Osten und Europa auf Neandertaler stießen, noch jene, die erstmals Bronze gossen, und auch kein Mensch nach ihnen.

Sich vorzustellen, was eine 1,5 oder 2 oder 3 oder 5 Grad heißere Welt bedeuten würde, ist auch deshalb eine immense Herausforderung. Weil all das eben noch kein Mensch erlebt hat, weil es also keinen Präzedenzfall gibt. Und natürlich auch, weil es sich im Detail nicht sagen lässt. Versuchen muss man es trotzdem.

An dieser Stelle eine kurze Vorbemerkung: Es wird in den nächsten Abschnitten um die Wirklichkeit der Klimakrise gehen, um das, was unweigerlich kommt, und das, was droht, wenn Klimaschutz weiter verschleppt wird. Wenn Sie nur für das Politische mitlesen, wenn Sie sich viel mit dem Thema beschäftigen, wenn Sie selbstverständlich wissen, wie viel wärmer die Erde über Land wird als über Wasser, wie stark der Albedo-Effekt wirkt und warum er bedeutsam ist, wie außergewöhnlich die gegenwärtige Dürre in Teilen der Welt ist, wie vielen Menschen das Trinkwasser ausgehen könnte, was Weizen und Reis droht und ab wann Hitze und Feuchtigkeit für den Menschen wirklich lebensgefährlich werden, was genau es mit den Kipppunkten auf sich hat und warum in dieser Krise nichts so entscheidend ist wie Zeit – wenn Ihnen all das nicht nur lose bekannt ist, sondern wirklich bewusst, dann könnten Sie jetzt etwas vorblättern, wenn Sie mögen. Dann könnten Sie zum Beispiel einfach im Kapitel »Das Physikalische ist politisch« weiterlesen.

Denn es ist eben so, dass man das Politische, um das es in diesem Buch geht, nicht diskutieren kann, ohne die Wirklichkeit der Klimakrise vor Augen zu haben. Wenn Sie unsicher sind, ob Sie das tun, oder so oder so gern allen Gedanken folgen wollen, lesen Sie einfach normal weiter. Schaden wird es auf keinen Fall.

Was bedeutet also die Erhitzung? Was bedeutet eine Erderwärmung um 1,5 Grad, 2 Grad oder 3 Grad? Und wie machen wir uns davon einen Begriff, wenn doch niemand je in einer solchen Welt gelebt hat?

Es gibt ein paar Faustformeln, die dabei helfen: Über Land, also dort, wo Menschen wohnen, wird es deutlich wärmer als im globalen Mittel. Der Grund ist simpel: Der Großteil der Erde ist von Wasser bedeckt, das Wasser erwärmt sich langsamer. Aktuell sind es etwa global 1,09 Grad mehr, über Land aber schon 1,59 Grad, in Europa eher noch mehr. Also bedeuten 2,2 Grad globale Erwärmung in Europa wahrscheinlich mindestens 3 Grad zusätzlich. Das entspricht heutzutage grob dem Temperaturunterschied zwischen Berlin und Florenz oder zwischen Florenz und Damaskus.

An den Polen erwärmt sich die Erde noch schneller, messbar und sehr viel schneller im Norden. Eher dreimal so schnell wie im globalen Mittel. Das ist dort, wo große Teile des Permafrostbodens liegen (dazu später mehr, wenn es um Kipppunkte geht).

Als die Welt zuletzt gut 3 Grad heißer war und die CO2-Konzentration auf dem heutigen Niveau lag, lag der Meeresspiegel bis zu 22 Meter höher, die Datenlage ist nicht ganz eindeutig. Es kommt hier aber auch nicht auf den Meter an. Jedenfalls: sehr, sehr viel höher. Er würde nicht sofort auf diese Höhe anschwellen, sondern über Jahrtausende steigen. Aber das gibt uns eine erste Vorstellung davon, was solche Temperaturen für das Eis, die Meere und die Küsten bedeuten.

Man muss sich manchmal zwingen, die längere Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren. Die meisten Klimaprognosen reichen bis ins Jahr 2100, die meisten Ziele auch, nur wird die Welt danach nicht enden. Ein Kind, das heute geboren wird, wird dann so alt sein wie die Große Beschleunigung heute. Oder, erneut, wie Joe Biden, als er das Amt des US-Präsidenten übernahm: 78 Jahre, nicht mehr jung, aber noch jung genug für den mächtigsten Job der Welt.

Und danach? Danach endet nur der Horizont der bisherigen Prognosen und damit auch oft die Vorstellungskraft der Menschen, aber nicht die Klimakrise.

Eine Erwärmung der Erde um mehr als 3 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts ist selbst in schlimmsten Szenarien kaum mehr wahrscheinlich. Aktuell steuern wir auf 2,7 bis 3 Grad bis Ende des Jahrhunderts zu. Wenn alle politischen Vorhaben umgesetzt werden, die Staaten schon versprochen haben, dann erwarten Expert*innen bis Ende des Jahrhunderts eher eine Erwärmung um 2,3 Grad. Mittlerweile würde das Erreichen der beschlossenen Klimaneutralitätsziele wahrscheinlich eine Erwärmung um 1,9 Grad bedeuten. Aber nur, wenn sie umgesetzt werden. Ein sehr großes Wenn, für das es zu kämpfen gilt.

Aber sollte es anders kommen, würde es nach dem Ende dieses Jahrhunderts beschleunigt weitergehen, dann wäre schnell ein Plus von 4 oder 5 oder 6 Grad denkbar, und zwar in der Zeitspanne, die Kinder heute geborener Kinder noch erleben könnten.

Wenn wir also von einem Ziel bis Ende des Jahrhunderts ausgehen, dann heißt das noch nicht zwingend, dass diese Temperatur dann auch das Ende der Erwärmung bedeutet. Nur, wenn wir bis dahin längst in einer Netto-Null-Welt leben, ist das Jahr 2100 eine relevante Größe. Nur dann ist ein 1,5-Grad-Pfad auch ein 1,5-Grad-Pfad. Tun wir das nicht, ist 2100 einfach nur ein Jahr in einem Prozess permanenter Erhitzung. Und die prognostizierte Schere geht erst danach so richtig auseinander.

Der Weltklimarat, das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), weist in seinem sechsten Sachstandsbericht auch dafür Schätzungen aus. Wenn wir, was gerade so noch vorstellbar ist, in diesem Jahrhundert unter 2 Grad bleiben, könnten es im Jahr 2300 wieder um die 1,5 Grad sein. In einem anderen Szenario aber, in dem wir Ende des Jahrhunderts bei mehr als 3 Grad landen, sind zweihundert Jahre später 8 Grad mehr zu erwarten. Das würde vielleicht sogar das Aussterben des Menschen bedeuten, mit Sicherheit aber den Zusammenbruch der Zivilisationen, wie wir sie kennen.

Aktuell befinden wir uns irgendwo zwischen diesem Szenario und einem, das für das Jahr 2300 eine Erwärmung von etwas mehr als 3 Grad errechnet. Also auf dem schmalen Grat zwischen unvorstellbarem Chaos und dem wahrscheinlichen Ende des Homo sapiens.

Schon jetzt sind die Folgen dieser Erhitzung kaum mehr zu verdrängen. Vier von zehn US-Amerikaner*innen leben in Counties, also so etwas wie Gemeinden, die im Jahr 2021 von Extremwetter getroffen wurden: von Bränden, Überflutungen, schweren Stürmen, Hurrikans, Erdrutschen. Im Juli 2022 gab es für einen Moment kein einziges US-Gebiet, in dem nicht irgendwo Dürre herrschte, von Kalifornien bis New York, von Alaska bis Florida, von Hawaii bis zu den Jungferninseln.

Die Frage, wie schlimm es werden kann, führt etwas in die Irre. Die Frage ist eher, wie schnell es passiert und wie schlimm es schon ist.

Verlust der menschlichen Nische

Wann menschliches Leben unmöglich wird

Wie erträglich Hitze für Organismen ist, hängt nicht nur an der Temperatur, sondern auch an der Luftfeuchtigkeit. Ist die zu hoch, kann der Körper durch Schwitzen nicht mehr auskühlen. Beides, Temperatur und Feuchtigkeit, werden in der sogenannten »Wet-Bulb Temperature« zusammengefasst, zu Deutsch Kühlgrenztemperatur oder Feuchtkugeltemperatur, die so heißt, weil sie ermittelt wird, indem man einem Thermometer einen feuchten Stoff überzieht.

Wenn sie über 35 Grad steigt, wird bloßes Existieren nach einigen Stunden für Menschen tödlich. Das einzige, was dann noch hilft, ist Kühlung. Tatsächlich droht wohl schon deutlich früher Lebensgefahr, weil der Körper seine Temperatur nicht mehr halten kann. Einer Studie zufolge geschieht das schon bei knapp unter 31 Grad (»Wet-Bulb«).[3] Schon jetzt werden solche Wet-Bulb-Temperaturen beispielsweise in Indien immer wieder einmal erreicht. Wenn auch noch selten über einen längeren Zeitraum. Doch auch Temperaturen knapp darunter lösen Hitzekrämpfe aus und führen zu Erbrechen und Herzinfarkten.

Hitzetote sind nicht leicht zuzuordnen, weil sie zumeist an Herzversagen sterben, jedenfalls an Leiden, die auch andere Gründe haben können. Wirklich verlässlich lassen sich Zahlen nur abschätzen, indem man vergleicht, wie viele Menschen in einem bestimmten Zeitraum starben und mit wie vielen Toten man gerechnet hätte, ausgehend vom langjährigen Mittel. Das ist die sogenannte Übersterblichkeit. Wenn Länder und Menschen gut vorbereitet und angepasst sind, kann sie gering sein, so wie in Indien im Frühjahr 2022. Sie kann aber auch enorm sein, erst recht in alten Gesellschaften wie unserer und denen der westlichen Demokratien.

Eine Hitzewelle 2003 tötete Schätzungen zufolge mehr als 70 000 Menschen in Europa. Eine in 2010 kostete wohl mehr als 50 000 Russ*innen das Leben. Im Juli 2022 tötete Rekordhitze in Spanien und Portugal in einer Woche wohl mehr als 2000 Menschen und in Deutschland teilweise mehr als 800 Menschen am Tag. Solche Hitzewellen werden zunehmen. Sie treten jetzt schon verdächtig oft auf. Es sieht so aus, als kämen sie häufiger, als man bisher annahm.

In den vergangenen 6000 Jahren haben sich Menschen bemerkenswert beharrlich in Gegenden mit ähnlichen Klimabedingungen konzentriert. Einige Autor*innen sprechen von einer »menschlichen Nische«.[4] Wir sind gerade dabei, sie für immer zu zerstören.

Jene Regionen in Asien, wo etwa die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, werden besonders hart getroffen werden. Aber die Temperaturen steigen überall. Kein Ort ist sicher.

British Columbia etwa, im kanadischen Südwesten, ist zwar an heiße Sommer gewöhnt. Dass eine Hitzewelle mit fast 50 Grad dort wüten, Milliarden Meerestiere töten und Feuer entfachen würde, die ganze Orte vernichten, gehörte lange nicht zum Vorstellbaren. Bis es im Jahr 2021 passierte. Ende Juni 2022 sanken die Temperaturen in Nikel, im Norden Russlands, dort, wo Russland auf Finnland trifft, nachts nicht unter 24,3 Grad. Nikel liegt drei Breitengrade nördlich des Polarkreises und erlebte schon jetzt eine Tropennacht.

Selbst in Szenarien mit mehr Klimaschutz werden Ende des Jahrhunderts ein bis zwei Milliarden Menschen unter Bedingungen leben, denen sich bisher Menschen kaum einmal dauerhaft ausgesetzt haben. Bei rund 3,2 Grad Erwärmung wäre es im Mittel sogar auf etwa einem Fünftel der Erde so heiß wie heute nur an einigen Flecken der Welt, die größtenteils in der der Sahara liegen. Weil zu diesem Fünftel auch große Teile Südasiens gehören würden, wären bis zu 3,5 Milliarden Menschen betroffen.

Das sind die unmittelbaren Folgen der Hitze. Noch anfälliger als menschliche Körper sind aber die Systeme, die unsere Körper mit Nahrung und Wasser versorgen.

Leere Kornkammern, leere Brunnen

Warum die Nahrungsmittelversorgung gefährdet ist

In französischen Supermärkten bekommt man im Sommer 2022 schon mal mitleidige Blicke, wenn man nach Senf fragt. Senf? Sie machen Scherze. Dijon im Osten des Landes ist berühmt für seinen Senf, hergestellt aus braunen Körnern, aber auf einmal herrscht Knappheit. Das Land produziert nicht genug Saaten, um die Senfproduktion aufrechtzuerhalten, deshalb importiert es sie, vorzugsweise aus Kanada. Dort aber herrschte im Vorjahr Dürre und die Ernte der Pflanzen, die man für Dijon-Senf benötigt, brach um die Hälfte ein.

Nun also herrscht Senfknappheit, und das allein wäre für alle außerhalb von Dijon nicht so tragisch, denn Senf ist kein Grundnahrungsmittel. Doch so wie dem Senf geht es auch Obst, Gemüse und Getreide: Wenn das Wasser versiegt, verdorren die Pflanzen. Und wenn das Wasser versiegt oder das Getreide verdorrt, sind Gesellschaften aufgeschmissen.

In vielen Weltregionen erhöht die Erderhitzung schon längst die Gefahr von Dürren. Der Westen der USA befindet sich seit der Jahrtausendwende in der heftigsten Dürreperiode seit 1200 Jahren. In Teilen von Spanien und Portugal herrschte 2022 ebenfalls das trockenste Wetter seit 1200 Jahren. Europa steckt in der stärksten Dürre seit 500 Jahren, China in der schlimmsten aller Zeiten, so weit rekonstruierbar. Und dabei hat die Erde sich erst um 1,09 Grad erwärmt.

In den 1930ern wurde im Südwesten der USA der Hoover Dam errichtet, ein gewaltiger Damm, der einen ebenso gewaltigen Stausee erzeugt, den Lake Mead, das größte künstliche Wasserreservoir der Vereinigten Staaten. Der dient zur Stromerzeugung und als Speicher für Trinkwasser und Bewässerung der Landwirtschaft im Südwesten der USA. Doch wegen der Dürre nimmt der Zufluss ab, im Winter fiel kaum Schnee in den Bergen, weiter flussaufwärts wird mehr aus dem Colorado River abgeleitet, um einen anderen Stausee zu retten, und der Wasserspiegel des Lake Mead fällt und fällt.

Anderswo sieht es nicht anders aus: Im Sommer 2022 musste die mexikanische Fünf-Millionen-Einwohner-Metropolregion Monterrey die Wassernutzung auf sechs Stunden am Tag beschränken. Die Stauseen, von denen die Stadt abhängig ist, waren weitgehend ausgetrocknet. In China wurden Fabriken und Läden geschlossen, weil die Flüsse schwinden und die Wasserkraft mit ihnen. Chile erlebte bis 2022 zwölf Dürrejahre in Folge. In der Hauptstadt Santiago wurden Pläne zur Wasserrationierung erarbeitet. Die Himalaja-Gletscher schmelzen ab. Gehen sie verloren, verschwinden die Trinkwasserquellen von Hunderten Millionen Menschen in Asien.

Schon bei 2 Grad Erhitzung droht zusätzlichen 800 Millionen Menschen chronische Wasserknappheit, dann wären insgesamt rund drei Milliarden betroffen. Stiege die Temperatur noch einmal um 2 Grad, auf dann 4 Grad Erhitzung, würde einer weiteren Milliarde Menschen das Wasser ausgehen.

Da es in diesem Buch um unsere Demokratie geht: In den besonders von Wassermangel betroffenen Regionen liegen unter anderem die USA, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Chile, Indien, Südafrika und Botswana, die Mongolei und Australien. Auch Demokrat*innen müssen trinken, duschen, spülen, Industrieanlagen kühlen und sie müssen Lebensmittel anbauen. Und ohne Wasser kann es keinen Ackerbau geben.

Auf der Nordhalbkugel hilft eine gewisse Erwärmung der Landwirtschaft teilweise (aber nur in wenigen Regionen), und mehr CO2 sorgt für mehr Pflanzenwachstum, wie Klimawandelleugner*innen gern betonen. Aber nur bei einer Erwärmung von bis zu einem Level, das wir teilweise schon überschritten haben. In fast allen Weltregionen sind schlechtere Ernten von den wichtigsten Nutzpflanzen zu erwarten, weil es heißer wird, mehr Wasser verdunstet, seltener Regen fällt. Und wenn es doch regnet, dann zu oft zu viel auf einmal.

Der Weltklimarat IPCC, für dessen Berichte alle paar Jahre Tausende Wissenschaftler*innen akribisch den Stand der Forschung zusammentragen und bündeln, errechnet für verschiedene Szenarien die Zahl an zusätzlichen unterernährten Menschen. Er kommt auf 20 bis 180 Millionen zusätzliche Unterernährte allein bis 2050, räumt aber ein, dass die verwendeten Modelle nur langfristige Klimaveränderungen einberechnen können, keine Schocks durch Extremwetter. Die Ernteausfälle dürften in Wahrheit also sehr viel höher ausfallen.

Vom Klima hängt ab, wann ausgesät und wann geerntet werden kann. Sowohl die Sonne als auch die Temperatur als auch die Verfügbarkeit von Wasser in bestimmten Phasen beeinflussen das Pflanzenwachstum. Ein Drittel aller Kalorien, die mithilfe von Bewässerung erzeugt werden, hängen vom am meisten bedrohten Zehntel der Wasserreservoirs ab.[5]

Schon jetzt lassen Klimaveränderungen die Erträge von Mais, Soja und Weizen global etwa ein Zehntel niedriger ausfallen, als sie andernfalls wären. Die Ernährung der Menschheit hängt von wenigen Grundnahrungsmitteln ab, die maßgeblich in einigen besonders ertragreichen Gegenden angebaut werden, die deshalb Kornkammern genannt werden.