Demokratie in Zeiten der Konfusion - Helmut Willke - E-Book

Demokratie in Zeiten der Konfusion E-Book

Helmut Willke

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Beschreibung

Die Entzauberung der Demokratie hat eine systemgefährdende Qualität erreicht. Globalisierung, Wissensgesellschaft und organisierte Komplexität heißen die Herausforderungen, denen sie sich stellen muss. Thema dieses Buches ist die Transformation der Demokratie in dieser Epoche der Konfusion. Konfusionen entstehen aufgrund der kognitiven Überforderung von Personen und Organisationen sowie der Vermischung unterschiedlicher Ebenen und Realitäten in einer kommunikativ globalisierten Welt. Abhilfe verspricht ein differenziertes Modell von Demokratie, das die Delegierung von Aufgaben an kompetente Institutionen ernst nimmt.

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Die Entzauberung der Demokratie hat eine systemgefährdende Qualität erreicht. Globalisierung, Wissensgesellschaft und organisierte Komplexität heißen die Herausforderungen, denen sie sich stellen muss. Thema dieses Buches ist die Transformation der Demokratie in dieser Epoche der Konfusion. Konfusionen entstehen aufgrund der kognitiven Überforderung von Personen und Organisationen sowie der Vermischung unterschiedlicher Ebenen und Realitäten in einer kommunikativ globalisierten Welt. Abhilfe verspricht ein differenziertes Modell von Demokratie, das die Delegierung von Aufgaben an kompetente Institutionen ernst nimmt.

Helmut Willke ist Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Supervision des Staates (1997), Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft (stw 1516), Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft (stw 1559) sowie Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften (stw 1658).

Helmut Willke

Demokratie in Zeiten der Konfusion

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2131.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Helmut Willke

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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eISBN 978-3-518-73817-7

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Einleitung

1. Eine Epoche der Konfusion

1.1 Konfusion der Regime

Exkurs: Global Governance als neue Normalität

1.2 Konfusion der Rationalitäten

1.3 Konfusion der Risiken

2. Bedrohungen der Demokratie

2.1 Die Krise der Legitimität

2.2 Die Krise der Partizipation

2.3 Die Krise der Transparenz

3. Alternative Formen der politischen Steuerung

3.1 Eine Alternative zur Demokratie: Die chinesische Variante

3.2 Die US-amerikanische Variante der Demokratie

3.3 Die EU-Variante politischer Steuerung

4. Demokratie als Steuerungsregime

4.1 Stärken der Demokratie

4.2 Schwächen der Demokratie

4.3 Risiken der Demokratie

4.4 Chancen der Demokratie

5. Konfusion der Konzeptionen

Literatur

7Einleitung

Die Entzauberung der Demokratie als Herrschaftsform hat durch die globalen Krisen der gegenwärtigen Epoche eine systemgefährdende Qualität erreicht. Obwohl für moderne komplexe Gesellschaften Demokratie die beste aller verfügbaren Herrschaftsformen darstellt, ist sie angesichts der neuen Herausforderungen nicht gut genug. Diese neuen Herausforderungen lassen sich in drei Schlagworte fassen: Globalisierung, Wissensgesellschaft und organisierte Komplexität. Sie sind eng mit den drängendsten globalen Krisen verknüpft: Die globale Finanzkrise hat die Kosten der Globalisierung aufgezeigt; die globale ökologische Krise legt die Massivität des Nichtwissens und habitualisierter Ignoranz offen; und die globale Entwicklungskrise belegt das Scheitern der Entwicklungspolitik angesichts der Komplexität einer »Dritten Welt«, in der Armut, Ungleichheit und Ausbeutung nach wie vor Normalzustand sind.

Wenn es nun gerade die entwickelten Demokratien sind, im Wesentlichen die 34 Mitgliedsstaaten der OECD, die an allen drei globalen Krisen konstitutiv beteiligt sind, dann wirft dies unter anderem auch die Frage nach der Viabilität von Demokratie auf. Beschränkt sich die »Intelligenz der Demokratie«[1] auf Zeiten der Prosperität und Übersichtlichkeit, und ist die Leistungsfähigkeit der Demokratie unzureichend, sobald die Verhältnisse unübersichtlich, komplex und konsternierend sind? Wenn Wirtschaftskrisen und Staatsschuldenkrise die Demokratie gleich in mehreren südeuropäischen Ländern ins Wanken bringen, wenn die demokratischen Anstrengungen der arabischen Revolution in neuen Despotien münden, wenn Putins Russland Demokratie offen verachtet und China dies klüger und verdeckter tut, ja wenn selbst die USA nicht vor einer Oligarchisierung gefeit sind,[2] dann ist es an der Zeit, die Grenzen des geltenden Demokratiemodells aufzudecken und den Spielraum für Erneuerung auszumessen.

Dies soll im vorliegenden Text aus einer besonderen Perspek8tive geschehen. Es geht nicht darum, noch einmal die bekannten Defizite der Demokratie aufzuzählen oder ein weiteres Mal direkte Demokratie und mehr Partizipation zu fordern. Leitthema der folgenden Analyse sind die veränderten Kontextbedingungen demokratischer Steuerung in Zeiten der Konfusion. Dem Wortsinn gemäß lassen sich drei Bedeutungsdimensionen unterscheiden: Bei der ersten geht es tatsächlich um Konfusion im Sinne der Vermischung, des Zusammenfließens und des Ineinandergreifens unterschiedlicher Ebenen, divergierender Rationalitäten und heterogener Realitäten in einer technologisch und kommunikativ globalisierten Welt. Konfusion heißt aber auch Verwirrung, womit wir bei der zweiten Dimension sind. Personen und Organisationen sind primär verwirrt infolge einer Überforderung ihrer kognitiven Kapazitäten durch nicht vermeidbares Nichtwissen einerseits und ein Überangebot an kontingentem, möglichem Wissen andererseits. Nationalstaatlich organisierte Gesellschaften sind primär verwirrt infolge einer Überforderung ihrer Steuerungskapazitäten und der damit einhergehenden politischen Impotenz, die durch symbolische Politik überspielt wird. Eine dritte Bedeutungsvariante kann als Folge der ersten beiden Wirkungen von Konfusion gedeutet werden: Verlegenheit. Die Konfusionen der gegenwärtigen Epoche bringen die Demokratie in Verlegenheit. Sie muss sich gewissermaßen ihrer selbst schämen, weil sie ihre Versprechungen nicht einzulösen vermag. Und sie muss sich dafür schämen, dass sie aufgrund ihres Versagens von Konkurrenten bedrängt wird, die in klareren Zeiten schlicht als Oligarchien oder Diktaturen abgetan worden wären, nun aber als ernsthafte Alternativen gehandelt werden.

Von einer Epoche der Konfusion muss gesprochen werden, weil zwei fundamentale Transformationen – Globalisierung und Wissensgesellschaft – konvergieren und eine globale Hyperkomplexität erzeugen, die Ausgangs- und Brennpunkt der Konfusion ist. In vielfältigen Prozessen der Globalisierung verschwimmen die etablierten Grenzen nationalstaatlicher Souveränität, verschränken sich lokale Problemursachen und globale Wirkungen, vermischen sich lokaler Aktionismus und globale Bedeutungslosigkeit. Zugleich bröckeln die Konfigurationen der Industriegesellschaft und machen sukzessive Elementen einer Wissensgesellschaft Platz. Wissen bekommt die Bedeutung eines primären Produktivfaktors, und 9Nichtwissen wird zum übergreifenden Problem für die Gesellschaft und die Demokratie. In völlig ungesteuerter und unbeherrschbarer Weise wirken nun Globalisierung und eine emergente Wissensgesellschaft zusammen und erzeugen für die Nationalstaaten und ihre Demokratien den grand malaise eines Veränderungsdrucks, den sie nicht mehr ignorieren und noch nicht bewältigen können. Das Resultat ist eine tief sitzende Konfusion auf allen Ebenen, von Personen über Organisationen bis hin zu ganzen Gesellschaften.

Die Konfusionen im Sinne des Vermischens erzeugen die Konfusionen der Verwirrung. Eine wohlgeordnete Welt klar getrennter und souveräner Nationalstaaten wird nun überlagert von einem dichten Netz lateraler und transversaler Beziehungen und Abhängigkeiten. Die klassische Architektur der Welt zeigt an allen Ecken und Enden barocke Auswüchse und stillose Wucherungen, die sich noch nicht zu einem kohärenten Gesamtbild fügen, die aber das Gleichgewicht der alten Architektur ins Wanken bringen. Das Resultat ist eine ubiquitäre Verwirrung über Regeln, Rationalitäten, Präferenzen und Risiken, die je nach Referenzebene und Prioritäten anders definiert werden und dementsprechend andere Konsequenzen nach sich ziehen.

Die globalen und kognitiven Konfusionen bringen die Demokratie als Form politischer Steuerung in Verlegenheit. Demokratie ist bislang eng an den Rahmen des souveränen Nationalstaates gebunden, denn es geht in der Politik um kollektiv verbindliche Entscheidungen, die ein bestimmtes und bestimmbares Kollektiv voraussetzen. Und Demokratie setzt voraus, dass wahlberechtigte Bürger und Bürgerinnen einschätzen und verstehen können, worüber sie abstimmen. Beide konstitutiven Bedingungen für Demokratie erweisen sich zunehmend als Fiktion. Sie müssen wohl für den Hausgebrauch als gegeben behauptet werden, aber jede tiefere Analyse zeigt, dass ihre Fiktionalität manifest geworden ist. Die Entscheidungsspielräume nationaler Parlamente sind abhängig von transnationalen und globalen Bedingungen. Das politische Management insbesondere der gewaltigen Probleme – von Finanzkrise über Ökologie bis zu Entwicklung – hängt von internationaler und transnationaler Kooperationsbereitschaft ab und lässt den nationalen Demokratien nur noch den Anschein einer Entscheidungsgewalt. Noch deutlicher ist inzwischen der Mythos des rationalen Wählers entzaubert worden.[3] Mit dieser Entzauberung ist kein Vorwurf impliziert, denn die Geißel des Nichtwissens betrifft alle, auch die Spezialisten und Professionellen, denn gerade sie sind zwar Experten auf Spezialgebieten, hingegen Laien in allen anderen Fragen. Unvermeidbare Ignoranz ist also flächendeckend zu beobachten und bringt eine Demokratie in Verlegenheit, die auf den öffentlichen Diskurs der öffentlichen Angelegenheiten durch kundige und verständige Bürger setzt. Faktisch aber produziert die umfassende kognitive Überforderung der Wähler einen Zwang zur Simplifizierung und Trivialisierung, die einem brandgefährlichen Populismus Vorschub leisten. »Unwissenheit war von jeher und ist noch die Quelle aller Barbarei«, lautet ein immer noch aktueller Aphorismus von Theodor Körner.

Nachfolgend werde ich diese Problemkonstellation in vier Kapiteln entfalten. Kapitel 1 beleuchtet vor dem Hintergrund der Globalisierung eine Konvergenz der Konfusionen, die auf den Ebenen der Regime, der Rationalitäten und der Risiken Modalitäten zusammenspannen, die bislang getrennt und damit überschaubar waren. Diese neue Unübersichtlichkeit ist nicht diejenige von Habermas,[4] die noch den traditionellen Vorstellungen vom Nationalstaat verpflichtet ist, sondern eine Unübersichtlichkeit infolge des Verschwimmens von Grenzen im globalen Maßstab. Kapitel 2 leitet daraus spezifische Bedrohungen politischer Steuerung in Demokratien ab. Probleme der Legitimität, der Partizipation und der Transparenz stehen dabei im Vordergrund, aber den Hintergrund bildet die Dynamik weltweiter Vernetzung und Wissensbasierung, welche die Idee von Demokratie als zwanglosem Diskurs unter Gleichen ad absurdum führt. Damit rückt die Suche nach Alternativen ins Zentrum der Analyse. Kapitel 3 behandelt die chinesische, die amerikanische und die europäische Variante von Demokratie als alternative Modelle politischer Steuerung hochkomplexer Systeme und versucht dadurch Hinweise für eine mögliche Transformation der Demokratie zu gewinnen. Kapitel 4 kontrastiert Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken des demokratischen Steuerungsregimes. Das abschließende Kapitel 5 stellt unter dem Titel 11einer Konfusion der Konzeptionen die übergreifende Problematik der Komplexität in den Mittelpunkt. Zum Prüfstein möglicher Transformationen der Demokratie wird unter gegebenen Bedingungen die Fähigkeit eines Steuerungsmodells gemacht, mit hohen Graden organisierter Komplexität und entsprechend hohen Graden an Ungewissheit und Nichtwissen umgehen zu können.

121.Eine Epoche der Konfusion

Konfusion im Sinne des Vermischens und Zusammenfließens verschiedener Ebenen, Dimensionen und Modalitäten ist zum prägenden Merkmal einer Epoche forcierter Globalisierung geworden. Neue globale Infrastrukturen, soziale Medien, Kommunikationsformen und Netzwerke überbrücken herkömmliche Grenzen. Ideen, Absichten, Präferenzen und Handlungsmöglichkeiten konfundieren zu neuen und überraschenden Konstellationen, von trivialen Moden bis zu global relevanten politischen Aufbrüchen, wie etwa der arabischen Rebellion. Darüber hinaus treibt die Globalisierung eine Konfusion der Regime der unterschiedlichsten politischen Ebenen an und stellt damit die Dominanz des nationalstaatlich organisierten Modells von Demokratie in Frage. Sie treibt eine Konfusion der Rationalitäten voran, indem die Handlungslogiken des Lokalen, des Nationalen, des Regionalen und des Globalen in Interdependenzen zusammengespannt werden und in welcher sich die einzelnen Ebenen in einem neuen Geflecht von Konkurrenz und Kooperation zurechtfinden müssen. Die Globalisierung treibt schließlich eine Konfusion der Opportunitäten und Risiken voran, die noch in hohem Maße unbegriffen ist, und die in globalen Spekulationsblasen und in der globalen Finanzkrise einen ersten destruktiven Höhepunkt erreicht hat.

Konfusion spielt in Form von Entgrenzung nicht nur eine bedeutende Rolle in vielen Prozessen der Globalisierung, sondern auch in der mit Globalisierung eng zusammenhängenden Entgrenzung der Erwerbsarbeit. Neue Technologien und steigende Anforderungen insbesondere an professionelle Arbeit verwischen die Grenzen zwischen Beruf und Familie, zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Zusätzlich kommt es insbesondere durch neue soziale Medien wie Facebook und Twitter, welche Interaktionen unabhängig von Ort und Zeitpunkt ermöglichen, zu einer Entgrenzung von Raum und Zeit. Diese Formen der Konfusion werden im Folgenden weitgehend ausgeklammert, müssen aber als Teil einer umfassenden Konfusion mitgedacht werden.

131.1 Konfusion der Regime

Jedes gesellschaftliche Funktionssystem bildet im Laufe der Geschichte sein eigenes spezifisches Steuerungsregime aus. Die Demokratie ist es für das politische System. Der Markt ist das Regime für das Wirtschaftssystem, die Glaubensordnung das Regime für das Religionssystem, die Wissensordnung das Regime für das Wissenschaftssystem und so weiter. Ebenso bildet jede Ebene der territorialen Organisation der Welt ein je eigenes Steuerungsregime aus, in welchem sich die spezifische Rationalität jeder Ebene spiegelt. Es liegt auf der Hand, dass das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Regime Probleme bereiten kann. Solange die Regime nur lose gekoppelt sind und relativ autonom agieren können, sind die Probleme der Koordination und der Kompatibilität einigermaßen beherrschbar. Dies ändert sich und läuft auf Unregierbarkeit hinaus, wenn Globalisierung und der intensive Einsatz von Wissen bewirken, dass alle Produktions- und Leistungsprozesse vernetzter und enger aneinandergekoppelt werden.

Am deutlichsten lässt sich die Veränderung am globalen Finanzsystem illustrieren. Der Unterschied zwischen der von den Nationalstaaten, ihren Grenzen und ihren souveränen Regulierungs- und Supervisionskompetenzen geprägten Bretton-Woods-Welt und der sich in den 1970er Jahren schrittweise entfaltenden Post-Bretton-Woods-Welt könnte frappierender nicht sein. Diese neue Welt ist geprägt durch Deregulierung, Marktfundamentalismus, Entgrenzung und globale Vernetzung der Finanzfirmen, so dass völlig neue, übergreifende Systemeigenschaften entstehen, die unbeherrschbar geworden sind und zur schwersten Krise seit der Großen Depression geführt haben. Besonders auffällig bei dieser Krise ist das enge Zusammenspiel von Marktversagen und Politikversagen oder, in anderen Worten: eine brisante Konfusion von Finanzsystem- und Demokratiekrise.[1]

Für die klassische Demokratie sind Subsidiarität und Föderalismus tragende Strukturprinzipien im Umgang mit gesellschaftlicher Komplexität. Sie erlauben es, Komplexität in getrennte Bereiche 14und unterschiedliche Regime aufzuspalten und die differenzierten Systeme mit partieller Autonomie und Selbststeuerungskapazität auszustatten. In einer globalisierten Welt werden beide Strukturprinzipien noch wichtiger, gerade weil der Bedarf an übergreifenden globalen Problemlösungen in kritischen Politikbereichen zunimmt. Es kommt daher zu komplizierten Verschränkungen aller Ebenen und ihrer Steuerungsregime – von lokalen Aktivitäten bis hin zu Strategien und Mechanismen globaler Steuerung. Ohne eine Abschichtung der Problemlagen durch Subsidiarität und Föderalismus wären Politikfelder wie Wirtschaft, Finanzen, Gesundheit, Infrastruktur, Energie, Entwicklung und dergleichen heute globale Konglomerate, bei denen jeder Versuch der Steuerung scheitern müsste. Was aber nun unter Bedingungen einer sich verstärkenden Globalisierung deutlicher hervortritt, ist der komplementäre Bedarf an übergreifenden, gesamtheitlichen Steuerungsmodellen und Steuerungsstrategien, ohne die ein Management globaler Problemlagen völlig aussichtslos wäre.

Ein beispielhafter Fall ist die Welthandelsorganisation (WTO). Die WTO ist im Januar 1995 als eine Nachfolgeorganisation des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) gegründet worden. Das GATT hat sich in zwei Verhandlungsrunden – Genf-Runde 1947 und der Uruguay-Runde 1986-1994 – zum Promotor der Liberalisierung des internationalen Handels entwickelt und bewirkt, dass die durchschnittlichen Handelszölle von 40 Prozent im Jahre 1940 auf 5 Prozent im Jahre 1986 gesunken sind. Die dritte Verhandlungsrunde (Doha-Runde), die im Jahre 2000 begonnen hat und bis 2006 beendet sein sollte, zielte darauf, Handelszölle für Industriegüter ganz abzuschaffen. Der Regelungsbereich der WTO umfasst heute drei Materien: erstens den internationalen Warenhandel auf der Grundlage des GATT 1994 und dessen zwölf Zusatzvereinbarungen, zweitens den internationalen Handel mit Dienstleistungen aufgrund des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) als Rahmenabkommen und drittens – mit besonderer Bedeutung für die Zukunft – den internationalen Schutz des geistigen Eigentums auf der Grundlage des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS).

Die WTO besteht heute aus 159 Mitgliedsstaaten, die in Grundsatzfragen nach dem Einstimmigkeitsprinzip entscheiden. Von die15sen sind nur etwa 20 hochentwickelte Staaten, während die Zahl der Entwicklungsländer in der WTO in den letzten Jahren stark angestiegen ist. Für die Frage globaler Steuerung der Wirtschafts- und Handelsregime und der Genese globaler Suprastrukturen ist die WTO vor allem aufgrund ihres Streitschlichtungsverfahrens (Dispute Settlement Understanding, DSU) aufschlussreich. Kommt es zwischen Mitgliedern der WTO über die Frage von Handelshemmnissen zum Streit, dann entscheiden in erster Instanz speziell eingerichtete Gremien von Experten, sogenannte Panels. Die Entscheidung eines Panels kann vor einer Berufungsinstanz, dem Appellate Body, angefochten werden. Die Entscheidungen dieser Instanz sind endgültig. Die WTO ist nicht nur in ihren Streitschlichtungsverfahren beispielhaft regelorientiert und fair; sie hat sich auch in puncto Partizipation und Transparenz verbessert, indem sie bei bestimmten Fällen ausgewählte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Experten als Beobachter zulässt.[2] Das Verfahren des DSU ist zwar nach einem juristischen Muster gestrickt und wie ein Gerichtsprozess organisiert, aber im Kern geht es nicht um juristische Fragen, sondern um Wissen und Nichtwissen. Dies wird deutlich, wenn man die Verflechtung der einzelnen Ebenen betrachtet.

Die WTO steht heute beispielhaft dafür, dass die Entscheidungen scheinbar weit entfernter globaler Institutionen direkte und spürbare Auswirkungen auf Organisationen und Akteure aller Ebenen eines globalen Mehrebenensystems haben. Die Regeln und Regelungen der WTO wirken sich nicht nur auf große Unternehmen aus, sondern auch deutlich auf mittelständische Firmen, denn im internationalen Wirtschaftsverkehr (außerhalb der EU) gilt das Recht der WTO. Da inzwischen auch kleinere und mittlere Unternehmen (KMUs) in den Bereichen Einkauf, Marketing oder Ver16trieb sowie in Fragen des geistigen Eigentums global denken müssen, und dies mit der weiteren Verbreitung von internetbasierten Transaktionen auch tatsächlich tun, sind sie von den Regelungen der WTO unmittelbar betroffen. Zwar können nicht Firmen, sondern nur Staaten Verfahren vor der WTO anstrengen, aber innerhalb der EU ist dieser Grundsatz faktisch mit der EU-Verordnung über Handelshemmnisse außer Kraft gesetzt. Denn danach können einzelne Unternehmen oder Verbände erreichen, dass die EU-Kommission bei Verstößen eines Drittstaates gegen WTO-Recht eine Untersuchung einleitet, mithin erzwingen, dass die EU bei der WTO gegen einen Drittstaat ein Verfahren einleitet.[3] Dies leistet jedoch einer Verschränkung der Ebenen Vorschub, was zusätzlich die Konfusionen steigert. Es wird intransparent, wer welche Frage auf welcher Ebene entscheidet und wie sich diese Entscheidungen auf welchen Teil eines globalen Kontextes auswirken werden.

Überlagert werden die Regelungen der WTO zudem durch eine Vielzahl bilateraler und regionaler Freihandelszonen und Wirtschaftsabkommen, was zu einer kaum mehr überschaubaren Komplexität der ökonomischen Regime, ihrer Regeln und Regulierungen geführt hat. Die gerade anlaufenden Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU lassen die Echtzeitbeobachtung der Entstehung eines transnationalen Regimes mit globaler Bedeutung zu, und sie lassen erkennen, wie schwierig diese Verhandlungen sind, eben weil sich deren Ergebnisse auf die unterschiedlichsten Politikfelder auswirken und so zu einer Konfusion unterschiedlichster Regime führen.

Aus dem ungesteuerten Zusammenspiel von Evolution und Steuerung formen sich in der Überwindung internationaler hegemonialer Regime[4] kompliziertere und gewagtere Architekturen der Abstimmung divergierender Interessen im Kontext globaler Interdependenz. Posthegemoniale Regime entstehen nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, weil aus einer geordneten Kooperation von Konkurrenten nach Meinung einer ausreichenden Zahl von Akteuren ein Mehrwert entsteht, der ohne solche Regime nicht zu haben ist. Bereits für die internationalen Regime der 1980er Jahre konstatierte Robert Keohane: »Wie imperfekte Märkte, so ist auch 17die Weltpolitik durch institutionelle Mängel gekennzeichnet, welche eine wechselseitig vorteilhafte Koordination verhindern.«[5]

Indem Steuerungsregime ein Regelsystem für geordnete Kooperation und geordnete Verfahren der Konfliktlösung bereitstellen, schaffen sie eine Basis für die Kristallisation von Vertrauen als zentraler Ressource für die Stabilisierung von Netzwerken, in deren Rahmen positive Koordination möglich ist. Zudem schaffen sie die Bedingungen für die Möglichkeit der Realisierung eines gemeinsamen Nutzens, indem sie gegenüber Marktlösungen oder Ad-hoc-Koordination die Transaktionskosten je mehr reduzieren, desto stärker die Regeln zur Routine werden. Schließlich bieten sie den häufig unterschätzten oder gar übersehenen Vorteil, dass sie institutionelles Lernen ermöglichen, indem im Rahmen der Genese und Revision der Regelsysteme Erfahrungen gespeichert werden, die aus der Praxis gemeinsamer Kooperation, Konkurrenz und Konfliktregulierung resultieren.

Tatsächlich entsteht mit den neuen Steuerungsregimen ein neues, noch prekäres Gefüge von Macht, Einfluss, Expertise und Legitimität, in dem die territorial begrenzten Nationalstaaten zwar noch eine gewichtige Rolle spielen, zunehmend aber globale Institutionen, Nichtregierungsorganisationen, korporative Global Players und hybride Regulierungsinstanzen die Nationalstaaten und die Nationalökonomien mit einem Netz von Vorentscheidungen, Entscheidungsprämissen, Entscheidungsoptionen und wissensbasierten Entscheidungskompetenzen überziehen, so dass das Leben für diejenigen Personen und Organisationen problematisch wird, die sich in diesem Labyrinth nicht mehr auskennen. Zugleich aber wird auch die Praxis demokratischer Politik komplizierter und zunehmend abhängig von Vorbedingungen und Entscheidungsprämissen, die nicht mehr auf der (traditionellen) Ebene der Nationalstaaten demokratisch entschieden und legitimiert worden sind, sondern sich aus dem Zusammenspiel der Ebenen, Institutionen und Akteure ergeben.[6]

18Die WTO exemplifiziert die Herausbildung eines globalen Steuerungsregimes für den Bereich der Weltwirtschaft und des Welthandels. Vergleichbare Regime gibt es inzwischen für praktisch alle Funktionssysteme einer globalisierten Welt – mit der herausstechenden Ausnahme der Politik: Weltbank (WB) und Internationaler Währungsfonds (IWF) (und viele weitere globale Institutionen) für das Weltfinanzsystem, das IOC für den olympischen Sport, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für das Gesundheitssystem, die Internationale Atomenergie Agentur (IAEA) für Atomenergie, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) für das globale Bankensystem, der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag für globale Schwerstverbrechen, die UNESCO für globale Kultur, das Internationale Panel für den Klimawandel (IPCC) für den globalen Klimawandel. Diese und eine Vielzahl weiterer transnationaler und globaler Institutionen bilden das Gerüst einer funktional differenzierten Selbststeuerung globaler Kontexte. Die Politik ist die Ausnahme, weil es zwar die Vereinten Nationen (UNO) als Diskussionsforum für die Gesamtheit der Nationalstaaten gibt, und für den Extremfall einstimmiger Entscheidungen im Sicherheitsrat sogar eine globale Interventionspolitik; aber es gibt keine Weltparteien, kein Weltparlament und keine Weltregierung, und in diesem Sinne kein globales System der Politik.

Globale Institutionen werden seit drei Jahrzehnten unter dem Stichwort Global Governance verhandelt.[7] Dabei bildet von Beginn an die Konfusion von Steuerungsregimen einen Schwerpunkt der Analyse. Internationale Verträge, dominante Staaten, Marktelemente und insbesondere globale Policy-Netzwerke verschmelzen in undurchdringlichen Konglomeraten der Entscheidungsfindung, in denen die Kriterien formaler Demokratie in aller Regel unzureichend Berücksichtigung finden, dafür aber andere Formen der Herstellung von Folgebereitschaft gefunden und genutzt werden.[8] Besonders bedeutsam sind Verschiebungen in Bezug auf die Schaffung von Legitimität. Zum einen die Verschiebung von 19Input-Legitimität zu Output-Legitimität, also eine Verschiebung von formaler Legitimität hin zu einer Legitimierung durch Leistung – ein Prozess, den Fritz Scharpf bereits für das Politiksystem der EU dargestellt hat.[9] Zum anderen eine Verschiebung von rein rechnerischer Legitimität (Mehrheit/Minderheit) zu einer inhaltlichen Fundierung von Legitimität durch Wissen und Expertise. Unter den Kautelen klassischer Demokratie sind beide Verschiebungen brisant und prekär. Zugleich sind sie allerdings unter den Bedingungen einer globalisierten Wissensgesellschaft wohl unvermeidlich und notwendig,[10] und sie deuten die Richtung an, in die sich die Demokratie in Zeiten der Konfusion entwickeln könnte.

Damit rücken Einsichten aus dem Forschungsfeld der Global Governance ins Blickfeld, aus denen sich weitere Perspektiven für die Zukunft der Demokratie als Steuerungsmodus gewinnen lassen. Hier erschließt sich eine verzweigte Diskussion um die Zukunft des Regierens, das Verhältnis zwischen nationalstaatlicher Demokratie und Global Governance, der Rolle von globalen Policy-Netzwerken, internationalen NGOs und transnationalen Public-private-Partnerships (PPPs) für die Herstellung unterschiedlicher Formen von Legitimität, Partizipation, Verantwortlichkeit und Transparenz und der Rolle globaler Institutionen bei der Konstruktion einer »neuen Weltordnung«[11] und eines globalen Konstitutionalismus.[12] Ich werde in der folgenden Analyse immer wieder auf das reiche Material dieses Forschungszweiges zurückgreifen. Allerdings liegt mein Augenmerk auf den Konfusionen, welche die laufenden Prozesse von Global Governance bewirken und dadurch Idee und Modell der Demokratie herausfordern.

20Exkurs: Global Governance als neue Normalität

In dem Maße, in dem die Globalisierung trotz gelegentlicher Rückschläge irreversibel erscheint, sind Formen und Einrichtungen globaler Steuerung zwingend erforderlich. Damit wird Global Governance zur neuen Normalität in dem Sinne, dass die Notwendigkeiten und Opportunitäten globaler Steuerung, aber auch die Risiken globaler Fehlsteuerung zum Bestandteil nationaler Politik werden und damit – für die OECD-Staaten, die im Wesentlichen demokratische Staaten sind – zum Bestandteil und zur Kontextbedingung für Demokratie. Insbesondere die krassen Fehlschläge globaler Steuerung führen dies vor Augen – in extremer Form die globale Finanzkrise, aber auch das Scheitern der globalen Klima- und Entwicklungspolitik, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Bereits einige der frühesten Konzeptionen globaler Kontexte gehen von einem beobachteten Prozess der Universalisierung von Organisationen und Institutionen aus: das Konzept der Weltgesellschaft von Peter Heintz und das Konzept des Weltsystems von Immanuel Wallerstein. Wallerstein beschreibt in der Tradition von Marx ein kapitalistisches Weltsystem, das sich durch die Dynamik der globalen, von nationalstaatlichen Grenzen sich lösenden Logik des Kapitals bildet. Dieses Weltsystem braucht keine steuernden Akteure, denn es folgt der Logik kapitalistischer Akkumulation, die sich hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Es ist demnach die institutionelle Logik eines kapitalgetriebenen, entterritorialisierten Marktes, des Weltmarktes, die dem Weltsystem seine Form aufzwingt.[13]

Aus einer anderen Perspektive kommt Heintz[14] zu konzeptionell ähnlichen Ergebnissen. Sein Fokus ist nicht die Ökonomie oder das Kapital, sondern die innere Dynamik einer Globalisierung im Spannungsfeld zwischen Erster und Dritter Welt. Auch Heintz 21sieht eine universale Logik am Werk, die auf Modernisierung im Sinne einer globalen Homogenisierung drängt, und die Schritt für Schritt aus einer Welt zergliederter, territorial bornierter und kleinteiliger Einheiten eine Weltgesellschaft herstellt. Allerdings geht es ihm nicht um Weltgesellschaft im heutigen Sinne, sondern eher darum, Spannungen globaler Entwicklung herauszuarbeiten. Seine Perspektive ist von Lateinamerika geprägt, wo er seine soziologische Arbeit begonnen hat. Sein leitendes Konzept ist zwar »strukturelle Spannung«, aber er gelangt zu keinem eigenen Begriff der Weltgesellschaft, sondern er verlängert die traditionellen Kategorien der Soziologie in internationale Kontexte.[15]

Aus heutiger Sicht ist es trivial, diesen frühen institutionellen Ansätzen eine gewisse Naivität und eine Verengung des Blickfelds auf den westlichen Modus vorzuwerfen. Bemerkenswert bleibt dann, dass selbst noch die gegenwärtige Konzeption der globalen Institutionen von John Meyer nahezu ungebrochen diesen Linien folgt. Meyer sieht die Institutionen der Moderne, von Demokratie über Schule und Universität bis zu Kultur und Individualismus, als universal gültig, legitim und attraktiv an. Er erwartet deshalb eine ungebrochene globale Ausbreitung dieser Institutionen und die Entwicklung eines globalen Systems auf der Grundlage dieser Institutionen.[16]

Umgekehrt folgert etwa Stephen Krasner aus einer nationalstaatlich orientierten Perspektive, dass es gerade diese Institutionen sind, die aufgrund ihrer Verankerung in den Nationalstaaten eine Weltgesellschaft verhindern. Nach Krasner sind es nach wie vor die Nationalstaaten, welche die Regeln für Institutionen, nichtstaatliche Akteure und sogar internationale Transaktionsregime setzen, um ihre internen Interessengruppen zu schützen.[17]

Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Es ist gewissermaßen alles im Angebot, um die Konstituierung globaler Kontexte zwischen den Polen Nationalstaat und Weltgesellschaft zu erklären. 22Dabei legen die Autoren das Augenmerk auf nahezu beliebige Ebenen: auf einzelne Akteure, Organisation, Funktionssystem, Kultur oder den Nationalstaat. Bezogen auf spezifische Funktionssysteme ist ebenfalls alles im Angebot, von einer eindimensionalen Beschränkung auf ein einziges Funktionssystem, hier vor allem die Ökonomie, bis zur Einbeziehung aller Aspekte von Gesellschaft in einem mehrdimensionalen Raster. Die Rede ist dabei undifferenziert von Weltsystem oder Weltgesellschaft, ohne Begründung dafür, was die Qualität eines Systems oder gar einer Gesellschaft in globaler Reichweite begründen könnte.

Von Weltgesellschaft lässt sich in einem soziologisch gehaltvollen Sinn erst dann reden, wenn sie als Form von Gesellschaft begründet ist. Dazu reicht weder aus, dass sie aus allen Kommunikationen oder allen Individuen der Welt besteht, das wäre die Gesamtheit des Sozialen. Globale Institutionen als Bedingung für erfolgreiche Globalisierungsprozesse sind ebenfalls nicht ausreichend. Auch liegt eine Weltgesellschaft dann nicht vor, nur weil es transnationale oder globale Handlungskontexte jenseits des Nationalstaates gibt.

Demgegenüber ist die Grundlage dieses Textes die These, dass die Weltgesellschaft sich als spezifische Organisationsform des Sozialen erst dann formt, wenn ein kommunikativ konstituierter Kontext die Fähigkeit der Selbststeuerung ausbildet, also eine »brauchbare« Form politischer Strukturbildung realisiert. Dies meint, dass die Weltgesellschaft in der Lage sein müsste, ihre Ordnungsform als Balance notwendiger Ordnung und möglicher Unordnung selber zu bestimmen. Solange das, was in einem Diskurs als Weltgesellschaft bezeichnet wird, auf allopoietischen (fremden, externen) Prämissen gründet, seien dies Individuen, Nationalstaaten, spezifische Institutionen der Moderne, das Kapital oder was auch immer, liegt zwar ein sozialer Kontext vor, aber keine Gesellschaft. Solange die Fähigkeit zur Selbststeuerung durch ein globales politisches System nicht gegeben ist – und wir sind weit davon entfernt –, solange ist die Rede von einer Weltgesellschaft bloße Metaphorik. Erst wenn klar ist, dass es eben noch keine Weltgesellschaft gibt, sondern nur differenzierte globale Kontexte mit ebenso differenzierten und je spezifischen Steuerungsregimen, wird überhaupt erst das Problem deutlich, das sich für die nationalstaatliche Demokratie aus den Prozessen der Globalisierung ergibt. Eine Welt23gesellschaft müsste sich, um Gesellschaft zu sein, eine politische Ordnungsform geben, sei dies Demokratie, Oligarchie, Diktatur oder eine andere Form. Weil dies nicht der Fall ist, konkurrieren die Formen nationalstaatlich organisierter Demokratie mit einer Vielzahl von globalen Ordnungs- und Steuerungsformen, die zwar alle nicht den Anspruch erheben, politische Ordnungsform zu sein, die aber mit der unvermeidlichen Konfusion von Regimen klare Auswirkungen auf die klassische Demokratie haben.

Welche wirtschaftspolitischen Leitlinien sollen nationale Parlamente entscheiden, wenn die WTO die Rahmenbedingungen des Welthandels vorgibt, und welche demokratische Qualität haben die dann noch möglichen Entscheidungen? Welche gesundheitspolitischen Spielräume bleiben den nationalen Parlamenten, wenn die WHO die verbindlichen Regeln für Pandemien vorgibt? Welchen sportpolitischen Spielraum haben nationale Parlamente, wenn IOC, FIFA und ein Dutzend weiterer globaler Sportverbände die Spielregeln bestimmen? Welche Entscheidungsoptionen stehen nationalen demokratischen Systemen in der Bildungspolitik noch offen, wenn durch den Bologna-Prozess und PISA die relevanten Kriterien definiert werden? Welche Freiheitsgrade haben Griechenland, Italien, Spanien oder Portugal in ihren finanzpolitischen Entscheidungen, wenn die Troika aus Weltbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Union das Sagen darüber hat, ob und wann weitere Tranchen von Hilfskrediten ausbezahlt werden? Dies bedeutet keineswegs, dass globale Organisationen nun die Regie übernommen hätten. Nach wie vor sind die Nationalstaaten relevante und in einigen Hinsichten entscheidende Akteure nationaler Politik und internationaler Beziehungen. Aber sie müssen sich nun auf den Spielfeldern der Politik Einflussmöglichkeiten mit einer Vielzahl von neuen, weiteren Spielern teilen, ohne dass sie sich bereits an die neuen Spielregeln gewöhnt hätten.

Aus systemtheoretischer Perspektive lässt sich noch nicht von einer Weltgesellschaft in einem strengen Sinne reden, wohl aber von funktional ausdifferenzierten globalen Kontexten, die ich laterale Weltsysteme nennen möchte. Laterale Weltsysteme wie die globalen Systeme der Finanzen, des Sports, der Medien, der Forschung und der Gesundheit, aber auch die globale Popkultur, der Tourismus, die Logistik und globale Infrastrukturen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar, gesellschaftsgeschichtlich gesehen, im 24Rahmen und im Schutz des Nationalstaates groß geworden sind, also sich in dem von Max Weber beschriebenen Prozess der okzidentalen Rationalisierung als funktionsspezifische Teile der modernen Gesellschaft herausgebildet haben. Aber sie sind von ihrer je eigenen Logik her nicht an den Nationalstaat gebunden. Anstatt sich in den Rahmen der Nationalstaaten einzupassen, könnten die Funktionssysteme noch stärker auf Selbststeuerung setzen, als sie dies bislang schon tun. Anstatt weiterhin die Rahmenbedingungen von einer nationalstaatlich organisierten Politik setzen zu lassen, könnten sie einen Großteil dieser Kontextparameter in wechselseitiger Abstimmung selbst bestimmen und sich dadurch aus der Vormundschaft der Politik befreien.

Was sich hier herausbildet, ist noch keine Weltgesellschaft, aber immerhin ein Konglomerat lateraler Weltsysteme mit unterschiedlichen Graden der Entwicklung, der Selbststeuerung und der internen Strukturbildung. Für die nationalstaatlich organisierten Demokratien ergibt dies ein komplexes, dynamisches Umfeld, durch das vielfältige und oft schwer durchschaubare Kontextparameter und Entscheidungsprämissen gesetzt werden, die den Entscheidungsspielraum der Demokratien in einem Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten mitdefinieren. Damit gibt es so gut wie kein einziges Politikfeld mehr, in welchem selbst starke Demokratien souverän entscheiden könnten, das heißt ohne erkennbare Rücksichtnahme auf internationale, transnationale und globale Konstellationen. Die globale Finanzkrise und ihre Nachwirkungen haben dies für das Politikfeld der Finanz- und Bankenpolitik überdeutlich und mit gigantischen Kosten vor Augen geführt. Aber Ähnliches lässt sich für Politikfelder wie Umwelt, Wettbewerb, Forschung und Innovation, Wirtschaft, Energie, Infrastruktur, Steuerpolitik und viele andere Bereiche zeigen. Daher stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese veränderten Kontextbedingungen für die Demokratie als territorial und nationalstaatlich gebundenem politischem Steuerungsregime hat und wie diese sich unter diesen Bedingungen verändert und verändern muss, um angesichts der neuen Herausforderungen bestehen zu können.