Komplexe Freiheit - Helmut Willke - E-Book

Komplexe Freiheit E-Book

Helmut Willke

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Beschreibung

Was kann Freiheit heute heißen? Ein soziologischer Blick auf Freiheit kann diese Frage nur vor dem Hintergrund der beiden fundamentalen Transformationen erörtern, denen sich gegenwärtige Gesellschaften ausgesetzt sehen: die Prozesse der Globalisierung und der Digitalisierung. Neue Begrenzungen von Freiheit durch Globalisierung und neue Entgrenzungen von Freiheit durch Digitalisierung setzen ambivalente und paradoxe Dynamiken in Gang, die zugleich eine Gefährdung der Demokratie darstellen. Nur eine Demokratie jedoch, die auch institutionell lernfähig ist und diese Lernfähigkeit zur Resilienz ausbaut, hat Chancen, politische Freiheit und damit auch die Freiheit des Individuums zu bewahren. Nicht weniger als die Zukunft der Freiheit hängt davon ab, dass eine Konzeption von Freiheit entwickelt wird, welche die gesellschaftlichen Umbrüche des 21. Jahrhunderts reflektiert und daraus die Aufforderung zum Widerstand gegen neue Tendenzen der Negation von Freiheit folgert.

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Helmut Willke (Prof. Dr.), geb. 1945, war ab 1983 Professor für Planungs- und Entscheidungstheorie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. 2002 wechselte er dort auf die Professur für Staatstheorie und Global Governance. Seit 2008 hat er den Lehrstuhl für Global Governance an der Zeppelin- Universität Friedrichshafen inne. 1994 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte (darunter auch Einführungen zum Systemischen Wissensmanagement und zur Global Governance) liegen in den Feldern der Systemtheorie, Staatstheorie, politischen Steuerung, des Wissensmanagements, der kollektiven Intelligenz sowie der Demokratietheorie.

HELMUT WILLKE

Komplexe Freiheit

Konfigurationsprobleme eines Menschenrechts in der globalisierten Moderne

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Julia Bauer, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-4564-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4564-8 EPUB-ISBN 978-3-7328-4564-4https://doi.org/10.14361/9783839445648

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Inhalt

1Einleitung

2Globalisierung als Begrenzung von Freiheit

2.1Das Problem der Semi-Souveränität

2.2Das Problem systemischer Risiken

2.3Das Problem misslingender politischer Steuerung

3Digitalisierung als Entgrenzung von Freiheit

Exkurs: Digitale Freiheit als Kontingenzkontrolle

4Eine neue Grammatik der Freiheit

4.1Zur Antinomie von Freiheit und Gleichheit

4.2Zur Antinomie von Freiheit und Sozialität

4.3Zur Antinomie von Freiheit und Sicherheit

4.4Zur Antinomie von Freiheit und Toleranz

5Komplexitätsmanagement als Dispositiv der Freiheit

5.1Politische Intervention als Form des Komplexitätsmanagements

5.2Kontingenzkontrolle als Selbstbehauptung der Demokratie

5.3Resilienz als Strategie des Komplexitätsmanagements

6Zur Tiefenstruktur komplexer Freiheit

6.1Aporien der Meinungsfreiheit

6.2Aporien der Wahlfreiheit

6.3Aporien der Kommunikationsfreiheit

Exkurs: Freiheit in System und Lebenswelt

7Freiheit in Zeiten der Konfusion

8Ausblick

Bibliographie

1Einleitung

Freiheit ist nur in Gesellschaft möglich.1 Als reale Freiheit setzt sie Demokratie voraus. Sie ist daher zwingend politisch begründete Freiheit, und sie wird durch die Teilnahme an der Demokratie wirksam.2 Der Ruf nach Freiheit ist vermutlich so alt wie die Menschheit, aber Freiheit im Kantschen Sinne als selbstverantwortete Mündigkeit setzt Demokratie als gesellschaftlichen Kontext für Freiheit voraus. Deshalb erscheint es wenig sinnvoll, in archaischen, traditionalen, despotischen, theokratischen oder charismatisch geführten Gesellschaften von Freiheit zu reden. Vielleicht gibt es Freiheit auch in einem Karmelitinnenkloster oder in den Hütten der Mbuti im Kongo, aber das steht hier nicht zur Debatte. Im Folgenden geht es um Freiheit in modernen Gesellschaften. Diese ist immer politisch konditionalisierte Freiheit, und alle anderen Formen von Freiheit sind Derivate politischer Freiheit.

Dies gilt auch für moderne, funktional differenzierte Gesellschaften, in denen die Funktionssysteme mit ihrer operativen Eigenständigkeit und funktionsspezifischen Eigenlogik eine gewisse Autonomie realisieren und damit auch eigene Freiheitsräume beanspruchen können. Denn auch diese Freiheitsräume sind politisch bedingt und ausschließlich politisch garantiert. Das politische System – als einziges Funktionssystem moderner Gesellschaften, welches aufgrund seiner Kompetenzkompetenz für das Ganze von Gesellschaft verantwortlich ist – kann und muss die Freiheitsautonomien der gesellschaftlichen Subsysteme definieren und regulieren. Beispielhaft lässt sich dies am Familiensystem einer Gesellschaft zeigen. Dies ist der wohl privateste Bereich, in dem eigene Autonomieräume plausibel und unabdingbar sind. Dennoch greift die Politik – in Form umfangreicher Familienrechtssysteme – in den Bereich Familie ein, etwa um Kinder zu schützen oder Bildungsgebote durchzusetzen.

Allerdings wird in der nachfolgenden Argumentation ausführlich begründet, dass die zur Hyperkomplexität gesteigerte Systemkomplexität moderner Gesellschaften die Steuerungskompetenz der Politik vor deutliche Probleme stellt. Dadurch entstehen in den gesellschaftlichen Funktionssystemen, von der Ökonomie über das Gesundheitssystem bis zum Wissenschaftssystem, Spielräume für Autonomie und Selbstbestimmung, die in der Logik der jeweiligen Subsysteme genutzt werden können oder aber innerhalb überkommener Machtstrukturen zu verschärfter Ungleichheit und Unfreiheit führen.

Wie prekär und politisch abhängig die Autonomieräume der Funktionssysteme tatsächlich sind, lässt sich überdeutlich an autoritären Regimen (ob Ungarn, Polen, Türkei oder vielen weiteren Staaten) zeigen. Hier schränkt die Politik die vorher gegebenen und oft sogar verfassungsrechtlich garantierten Autonomieräume der Funktionssysteme ein, beschneidet die Pressefreiheit, die Autonomie des Justizsystems, die Meinungsfreiheit, die Freiheit der Kunst, die Religionsfreiheit etc. und demonstriert in perverser Form den Steuerungsprimat der Politik.

In global vernetzten Kontexten ist Freiheit heute darüber hinaus komplex verschachtelt und prekär. Der traditionelle Begriff von Freiheit als demokratische Selbstbestimmung wird mit einer gegenwärtigen Zukunft konfrontiert, die durch globale Vernetzung und umfassende Digitalisierung geprägt ist. Anstatt – wie Höffe3 – Freiheit noch einmal optimistisch zu zelebrieren, geht es hier darum, die Aporien erweiterter und bedrohter Freiheit in einer globalisierten Welt auszudenken, um auf dieser Basis eine neue Grammatik der Freiheit zu entwerfen. Ein der gesellschaftlichen Komplexität angepasster und insofern adäquat komplexer Begriff von Freiheit muss berücksichtigen, dass die indirekten Begrenzungen individueller Freiheitsräume, die aus kontextuellen Bedingungen der Eingrenzung von Freiheit folgen, sich faktisch genauso massiv auswirken wie direkte Verletzungen von Freiheitsrechten. Es erweist sich, dass die in hyperkomplexen Gesellschaften notwendig parzellierte und verteilte Freiheit nicht der Logik eines Nullsummenspiels folgt, sondern neue Freiheitsräume für eine Gruppe mit gleichzeitig eingeschränkten Freiheiten für andere Gruppen einhergehen und daher vielschichte Abwägungen erfordern.

Auffällig an der klassischen Konstruktion ist der Fokus auf die Person. Das ist historisch verständlich, weil Locke das Individuum geradezu erfinden und verteidigen musste gegenüber der Dominanz der »Anciens Régimes« von Kirche und Absolutismus. Heute bedrängen die »Nouveaux Régimes« einer globalisierten und hyperkomplexen Welt dieses Individuum in vergleichbar dominanter Weise, allerdings versteckter und indirekter. Die klassische Bedrohung von Freiheit ist Zwang, letztlich ausgeübt durch den Einsatz physischer Gewalt. Die moderne Bedrohung von Freiheit dagegen ist Manipulation,4 letztlich ausgeübt durch anonyme Systemzwänge und scheinbar alternativlose Operationslogiken, und ausgeübt in Formen, die möglichst unbemerkt und verdeckt wirken. Wenn die freiwillig/fahrlässig hergegebenen Daten und Profile von fünfzig Millionen Nutzern von Facebook gestohlen oder gehackt und von einer Analysefirma und möglicherweise von anderen Interessenten missbraucht werden, dann ist die Beeinträchtigung der Freiheit der Nutzer indirekt und verdeckt, aber potentiell real und brisant.

Freiheit wird hier primär als politisch konstituierte und politisch zu sichernde Freiheit verstanden, welche die Grundlage für alle nachgeordneten privaten Seiten von Freiheit darstellt. Zielpunkt der Überlegungen ist eine politische Theorie der Freiheit, die sich dezidiert von phänomenologischen oder philosophischen Individualkonzeptionen von Freiheit absetzt. Damit ist das hier zugrunde gelegte Freiheitskonzept eng an Demokratie als Steuerungsmodell moderner demokratischer Gesellschaften gebunden.5 Wenn Großereignisse wie die globale Finanzkrise, die arabische Revolution,6 das Management der Griechenlandkrise oder der Umbau der türkischen oder ungarischen Demokratie zu autoritären Regimen zeigen, dass Freiheit im Sinne demokratischer Selbstbestimmung für ganze Gesellschaften nur noch pro forma gilt, dann ist die Frage aufgeworfen, welche Zukunft der Freiheit bevorsteht. Der Schlachtruf »Enduring Freedom« brachte für eine ganze Weltregion Chaos und Terror. Facebook7 und Google wetteifern darum, einem Milliardenpublikum das als grenzenlose Freiheit der Kommunikation zu suggerieren, was auf Entmündigung im Dschungel von Big Data hinausläuft. Den offiziellen Verteidigern der Freiheit in NSA und CIA gilt die Freiheit der anderen nichts.

Die tiefe Verwirrung um Freiheit beginnt aber schon früher und grundsätzlicher als Erosionsprozess der formalen Demokratie. Freiheit ist wie Demokratie an die Territorialität des Nationalstaates gebunden und beide zivilisatorischen Errungenschaften sehen sich von den technologischen Errungenschaften einer globalisierten Welt im Kern bedroht.8 Es liegt auf der Hand, dass die Demokratie in Legitimationsprobleme gerät, wenn grundlegende Fragen nicht mehr in nationalen Parlamenten entschieden werden, sondern in internationalen oder transnationalen Institutionen/Organisationen. Verwirklichte Demokratie ist der beste Schutz substantieller Freiheit. Gefährdungen der Demokratie sind damit Gefährdungen möglicher Freiheit. Dabei ist vorausgesetzt, dass es unterschiedliche Ausprägungen realer Demokratie gibt, und dass Selbstgefährdungen der Demokratie – z.B. durch eine »Diktatur der Mehrheit« (Mill) – immer möglich sind. Eine erste Ebene der Analyse zielt daher darauf, den Zusammenhang zwischen einer Revision des Demokratiemodells unter Bedingungen globalisierter Kontexte und einer Revision des Freiheitskonzepts als Kernelement von Demokratie zu untersuchen.

Die Zukunft der Freiheit entscheidet sich aber nicht nur auf den Feldern Demokratie und Politik. Freiheit ist auch in – zunächst apolitischen – transnationalen Räumen und in globalen Netzen als Qualität einer erweiterten Lebenswelt relevant, aber faktisch ist sie dort bedrohter und prekärer, weil die etablierten Schutzmechanismen fehlen. Freiheit hängt hier von innovativen Formen des Schutzes ab, weil sie in globalen Kontexten von den ungezügelten Eigenlogiken der Funktionssysteme erdrückt wird. Ein Beispielsfall ist die Funktionslogik des globalen Finanzsystems, welches die Entscheidungsfreiheit auch noch der scheinbar mächtigsten nationalstaatlichen Regierungen drastisch beschränkt. Konkret wird dies bei systemischen Risiken, die Regierungen auch gegen ihren Willen zum Handeln und zu problematischen Rettungsaktionen zwingen – beispielhaft im Fall der griechischen Schuldenkrise, die faktisch den Freiheitsgrad der griechischen Regierung minimiert hat. Die Analyse zielt auf die Verbindung von personaler und systemischer Freiheit, indem souveräne demokratische Entscheidungsfreiheit als kritische Dimension individueller Freiheit verstanden wird.

Dieser Aspekt verlässt die individuelle Ebene und zielt auf die systemische Ebene. Welche Anpassungen des Demokratiemodells sind nötig, wenn demokratische Regierungen dem Druck globaler Funktionslogiken ausgeliefert sind? Sind lokale und nationale Freiheit noch von Bedeutung, wenn sie von globalen Zwängen eingeschnürt werden? Welche institutionellen Formen und Mechanismen des Schutzes systemischer Freiheit sind denkbar und plausibel? Aus einem komplexen Freiheitsbegriff zielt die Dimension der institutionellen Formung auf die Suprastruktur von Freiheit.

Ziel der Analyse ist die Konstruktion eines komplexen Freiheitsbegriffs, der einerseits die gesellschaftliche (demokratische) Suprastruktur umfasst und andererseits die informationelle Tiefenstruktur der Individuen. Dieser Mehrebenen-Ansatz umschließt auf der transpersonalen Ebene ein mehrstufiges Sozialsystem, welches heute reale Wirkungen globaler Kontexte auf Gesellschaft und Individuum einschließt. Dieser Aspekt wird hier unter dem Begriff der Suprastrukturen der Freiheit zusammengefasst. Am Beispiel des globalen Finanzsystems soll dies verdeutlicht werden, indem einige Faktoren der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheiten demokratischer Regierungen durch globale Zwänge thematisiert werden. Auf der individuellen Ebene geht es darum, was Nichtwissen und kognitive Überforderung durch die Komplexitäten einer globalisierten Wissensgesellschaft für die Praxis der Nutzung von Freiheitsräumen bedeutet. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der Tiefenstrukturen der Freiheit. Der Begriff der Tiefenstruktur umfasst hier die mentalen und kognitiven Voraussetzungen für die Möglichkeit einer Person, Freiheitsräume tatsächlich wahrzunehmen.

Damit setzt sich die hier entwickelte Theorie von klassischen Konzeptionen der Freiheit im Spannungsfeld von Determinismus und freiem Willen ab. Bei Hume, Locke und Kant steht im Vordergrund die Frage, ob der Mensch in seinem Handeln frei sei oder aber durch seine Leidenschaften, Triebe, durch Umstände oder »Naturursachen« in seinem Wollen und Handeln determiniert sei. Dem gegenüber setze ich die empirische Evidenz voraus, dass der Mensch strategisch handeln kann, also über alle möglichen Festlegungen durch nebenher auch wirksame Determinanten seines Handelns jedenfalls diese durch Gebrauch seines Verstandes9 überdeterminieren kann. Damit rückt der Gebrauch des Verstandes – und mithin die Ressource Wissen – in eine zentrale Position der Freiheitstheorie ein. Die eigentliche Begrenzung von Freiheit folgt aus Nichtwissen. Wenn ich nichts über Alternativen und Optionen weiß, dann sind sowohl Willensfreiheit wie auch Handlungsfreiheit irrelevant. In einem politisch strukturierten Kontext, wie es in modernen Gesellschaften der Fall ist, geht es zunächst und primär um politische Entscheidungen (welche dann Konsequenzen für andere Bereiche der Freiheit haben können), und mithin um die Frage, in welcher Topologie von Wissen und Nichtwissen über politisch relevante Themen sich Personen bewegen.

Insgesamt geht es um eine demokratietheoretisch fundierte Beschreibung der Gefährdungen politischer Freiheitsräume durch Entwicklungen, von denen das klassische Demokratiemodell noch nichts wissen kann, und die daher im Interesse der Freiheit in einer komplexen vernetzten Welt Modifikationen des Demokratiemodells erfordern. Die Studie zielt darauf, ein individualistisch-moralisch begründetes Freiheitskonzept durch eine »System-Ethik« der Freiheit, eine komplexere Grammatik der Freiheit10 zu ersetzen. Dies schließt die personale Referenz ein (wie ein primär moralischer Begriff von Freiheit), geht aber darüber hinaus in Richtung auf einen komplexen Freiheitsbegriff, der die Operationslogik hochdifferenzierter Gesellschaftssysteme ernst nimmt. Die Zukunft der Freiheit könnte davon abhängen, so die hintergründige Leithypothese, dass eine Konzeption von Freiheit entwickelt wird, aus der in einer globalisierten Welt die Aufforderung zum Widerstand gegen neue Tendenzen der Negation von Freiheit folgt. Wenn sich aus dieser Analyse Optionen für dann doch noch mögliche Freiheitsräume ergeben, dann wäre dies die Minimalvoraussetzung für eine plausible Beschreibung resilienter Freiheiten im Kontext globaler Abhängigkeiten.

Theoretischer Hintergrund des hier verfolgten Ansatzes ist eine systemtheoretisch fundierte Steuerungstheorie komplexer Gesellschaften. Die Systemsteuerung moderner, funktional differenzierter Gesellschaften obliegt dem Politiksystem, welches als einziges Funktionssystem über eine Kompetenzkompetenz verfügt, also die Grundregeln für die Grenzen und für das Zusammenspiel aller Subsysteme einer Gesellschaft setzt. Ohne dies hier im Einzelnen auszuführen11 ist damit gesagt, dass gegenüber individualistischen Ansätzen der Freiheitstheorie hier die Betonung auf gesellschaftlich-systemischen Bedingungen möglicher Freiheit liegt. In keiner Weise wird damit die Bedeutung individueller Freiheitsmomente gering geschätzt. Vielmehr soll die komplementäre systemische Seite der Freiheit, die allerdings bislang in der Freiheitstheorie vernachlässigt ist, in den Vordergrund rücken. Die Operationsform moderner Gesellschaften als funktional differenzierte Systeme bedeutet, dass innerhalb der verschiedenen Funktionssysteme unterschiedliche Bedingungen möglicher Freiheit im Rahmen unterschiedlicher Konzeptionen von Gerechtigkeit12 vorherrschen. Freiheit im Wirtschaftssystem ist eine andere als diejenige im Erziehungssystem, und diese ist eine andere als die Freiheit im Kunstsystem. Demokratie als übergreifendes Steuerungsprinzip ist mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, die Vereinbarkeit der Unterscheide zu gewährleisten.

In einer systemtheoretischen Perspektive ist erkenntnisleitend, dass das Zusammenspiel der Individuen emergente Eigenschaften einer Gesellschaft erzeugt, die ihrerseits dann auf die Ebene der Individuen zurückwirken und in rekursiven Prozessen die Bedingungen definieren, in denen sich Individuen wiederfinden. Die wohl wichtigste emergente Eigenschaft der Sozialität von Menschen ist die tragende Bedeutung von (sprachbasierter) Kommunikation für die Konstituierung sozialer Systeme. Die vielleicht provokanteste Weichenstellung in Luhmanns Systemtheorie war, Personen nicht als Teil von Organisationen zu verstehen, sondern als Umwelt sozialer Systeme. Luhmann schockierte mit dem Satz: Soziale Systeme bestehen »aus Kommunikationen, und aus deren Zurechnung als Handlung.«13 Dabei ist der Satz gar nicht so frappierend, wenn man genauer hinsieht. Für die Moderne ist es ja gerade kennzeichnend, dass Personen eben nicht mit Haut und Haaren einer Organisation angehören wie etwa einem Stamm, einer Kirche oder einer Kultur. Vielmehr sind Personen heute an ganz verschiedenen Systemen beteiligt, in denen sie nicht gänzlich aufgehen, sondern stets nur in einer bestimmten Rolle aktiv sind. Genau das ist Bedingung möglicher Freiheit und Autonomie von Personen, dass sie nicht von Organisationen oder von ihrer Gesellschaft insgesamt vereinnahmt werden.

Aber was bedeutet dann der Satz, dass Organisationen (und andere soziale Systeme) nur aus Kommunikationen bestehen? Zunächst einmal wird damit deutlich, dass Luhmann der Kommunikation – und den Folgen der Kommunikation – eine ausschlaggebende Bedeutung sowohl für das Verstehen wie für die Analyse aller sozialen Phänomene beimisst. Kommunikation, und nicht etwa Handlung, ist für Luhmann die elementare soziale Operation, und aus der einfachen sprachbasierten Kommunikation bauen sich die komplexesten sozialen Systeme auf. Dies lässt sich am Beispiel eines Start-ups nachvollziehen. Gründet eine kleine Gruppe von Leuten eine neue Firma (oder einen Verein oder eine Partei etc.), dann sind da zunächst nur Leute, die miteinander kommunizieren. Es gibt noch keine Organisation. Die Kommunikationen verfestigen sich allmählich in Erwartungen, Erwartungserwartungen, Geschichten, Episoden, Festlegungen, Entscheidungen über Rollen, Arbeitsteilung, Zuständigkeiten und Verantwortungen, die erinnert, dann in der Regel dokumentiert und so festgehalten werden. Nun entstehen über Entscheidungen Strukturen, Prozesse und Regeln, welche die Kernkomponenten der sich (aus den sedimentierten Kommunikationen) bildenden Organisation darstellen. Am Anfang, und zunächst, besteht also ein enger Zusammenhang zwischen Personen und Organisation, und es sind immer und notwendig Personen, welche Organisationen auf den Weg bringen. Aber bald trennen sich die Wege. Die Organisation wird eigenständig und eigensinnig, ganz so, wie Kinder sich irgendwann (hoffentlich) selbständig und relativ unabhängig vom Elternsystem machen. Nach dieser Trennung wird das entstandene Sozialsystem zum Rahmen für die dann darin gegebenen Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten.

Am einfachsten lässt sich diese Eigenständigkeit sozialer Systeme anhand der jeweiligen »Organisationskultur« zeigen. Organisationskultur entsteht aus Myriaden von Kommunikationen, die sich allmählich zu einem Gerüst verfestigen, in das sich die Personen durch Rekrutierung, Sozialisation und Professionalisierung einfügen. Alte Institutionen wie etwa die katholische Kirche, das Schulsystem oder traditionelle Unternehmen zeigen dies in aller Deutlichkeit. Berater und Manager, die Mergers & Acquisitions (Unternehmenskäufe, -fusionen, -kooperationen etc.) begleitet haben, können ein Lied von der Penetranz und Eigensinnigkeit von Unternehmenskulturen singen. Auch die Kulturen einer Gesellschaft entstehen aus nichts anderem als aus Kommunikationen, die in der Frühzeit mit der endlosen Wiederholung erzählter Geschichten beginnen, dann mit Schrift und Buchdruck dokumentiert und stabilisiert werden und heute als weltweite Kommunikationen auch eine multikulturelle Weltkultur erzeugen. Luhmann hat für diese Erfahrungen, die ja nicht neu ist, die theoretische Begründung nachgeliefert, und damit nicht nur verständlicher gemacht, was da geschieht, sondern Einsichten und Möglichkeiten an die Hand gegeben, intelligenter und produktiver mit der Eigenlogik sozialer Systeme umzugehen und die Konsequenzen für die Gestaltung von Freiheitsräumen zu bedenken.

Die gesteigerte Bedeutung von Kommunikation unterstreicht, warum Kommunikationsfreiheit in ihren Facetten der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit, Religionsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit grundlegend für jede Freiheit im Kontext sozialer Systeme ist. Die theoretisch begründete analytische Trennung von Person und Sozialsystem macht es für eine Freiheitstheorie erforderlich, Eigenständigkeit und Eigenlogik sozialer Systeme als Kontexte und mögliche Gegenspieler personaler Freiheit ernst zu nehmen. Jedes Mitglied einer beliebigen Organisation – sei dies Schule, Unternehmen, Kirche oder Krankenhaus – spürt dies unmittelbar als mehr oder weniger freiwillige Einschränkung von Freiheitsräumen. Dies ist seit langem bekannter Teil der in Demokratien eingespielten Bedingungen möglicher Freiheit. Was in einer globalisierten Moderne nun dazukommt, ist weniger handgreiflich und eher indirekt zu spüren, nämlich die aus den Momenten einer vertieften Globalisierungsdynamik resultierenden Restriktionen, und die aus dem Optionenreichtum einer digital vernetzten Welt sich ergebenden neuen Möglichkeiten und Beschränkungen von Freiheit.14

Diese Ambivalenz der neuen gesellschaftlichen Konstellation bildet die Grundlage für die folgenden Überlegungen zu einer neuen Grammatik der Freiheit. Ausgangspunkte sind die beiden fundamentalen Transformationen, denen sich gegenwärtige Gesellschaften ausgesetzt sehen: der Prozess der Globalisierung und der mit einer durchdringenden Digitalisierung markierte Übergang der Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft. Kapitel zwei widmet sich vorrangig den neuen Begrenzungen von Freiheit durch Globalisierung, Kapitel drei analysiert die Entgrenzung von Freiheit durch Digitalisierung. Dabei wird deutlich, dass beide Prozesse ihrerseits ambivalente Dynamiken in Gang setzen, also mit neuen Beschränkungen auch neue Optionen schaffen, und mit neuen Freiräumen auch neue, verdeckte und indirekte Eingrenzungen von Freiheit.

Die folgenden drei Kapitel bilden den Kern der Konstruktion einer dezidiert politischen Theorie komplexer Freiheit. Zunächst stehen die seit der Französischen Revolution bekannten Antinomien im Vordergrund, welche Freiheit in ein Spannungsverhältnis zu Gleichheit und Brüderlichkeit bringen. Für die Gegenwart gelten weitere Antinomien, von denen die zwischen Freiheit und Sicherheit, sowie zwischen Freiheit und Toleranz ausführlicher behandelt werden.

Nach einem Zwischenschritt in Kapitel fünf, in welchem die konstitutive Verankerung des Freiheitskonzept im politischen Steuerungsregime der Demokratie vertieft wird, geht es in Kapitel sechs darum, die klassische Konstruktion des Freiheitsbegriffs als Zusammenspiel von Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit für die Bedingungen und Verhältnisse einer globalisierten Wissensgesellschaft neu zu fassen. Dabei kommt mit besonderem Gewicht die Thematik des Nichtwissens und der Überlastung durch Komplexität als Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit zum Vorschein. Kapitel sieben vertieft die Thematik unvermeidbarer gesellschaftlicher Komplexität und daraus resultierender Konfusion derjenigen, die in Demokratien über die Gestaltung der Freiheitsräume entscheiden.

Dies führt im abschließenden Ausblick zu der Folgerung, dass nur eine Demokratie, die auch institutionell lernfähig ist, und diese Lernfähigkeit zur Resilienz ausbaut, berechtigte Chancen hat, für eine komplexe, vielschichtige und widersprüchliche Architektur von Freiheit den unabdingbaren Kontext zu bilden.

1 | Grundlegend Isaiah Berlin, »Two Concepts of Liberty«, in: Isaiah Berlin (Hg.), Four Essays on Liberty, Oxford 1969.

2 | Peter Badura, »Die politische Freiheit in der Demokratie«, in: Willy Brandt u.a. (Hg.), Ein Richter, ein Bürger, ein Christ. Festschrift für Helmut Simon, Baden-Baden 1987, S. 193–207, hier S. 193. »Für Dahrendorf waren die repräsentative Demokratie und ihre Institutionen in Gestalt von Wahlen und Parlamenten sowie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit die Fundamente einer Verfassung der Freiheit.« So Ulrike Ackermann, »Zukunft der Freiheit. Zu einer aktuellen Rede Ralf Dahrendorfs aus dem Jahr 1974«, in: Merkur 5 (2011), S. 456–461, hier S. 458.

3 | Otfried Höffe, Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, München 2015.

4 | Di Fabio, »Regeln für die digitale Welt. Die algorithmische Person«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (01.06.2016).: »Seit der Snowden-Zäsur schaut die Netzöffentlichkeit auf die NSA wie ein Unternehmen, das eine feindliche Übernahme vollzogen hat. Doch die sicherheitsversessene große Demokratie macht nur das, was kleinere Demokratien auch gern tun würden und die Autokratien und Diktaturen dieser Welt sind ebenfalls nicht unbeteiligt am Spiel der Datenspionage oder der Manipulation öffentlicher Informationszugänge.«

5 | Dies ist ein alter Topos: So zitiert Hobbes die Ausführungen von Aristoteles im 6. Buch der Politik, wonach »in einer Demokratie Freiheit vorausgesetzt werden (müsse), denn allgemein werde die Ansicht vertreten, das unter einer anderen Regierung niemand frei sein könne.« Thomas Hobbes, Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher, Frankfurt a.M. 1984 (zuerst 1651). Allerdings wendet Hobbes dies kritisch, weil er dadurch Aufruhr und Widerstand etwa gegen Monarchien provoziert sieht. Siehe auch Nico Stehr, Die Freiheit ist eine Tochter des Wissens, Wiesbaden 2015.

6 | Jean-Pierre Filiu, From Deep State to Islamic State: The Arab Counter-Revolution and its Jihadi Legacy, Oxford 2015.

7 | Siehe: http:/www.spiegel.de/netzwelt/web/facebook-die-visionen-des-mark-zuckerberg-a-1041522.html, letzter Zugriff 24.10.2016.

8 | Helmut Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, Frankfurt a.M. 2014.

9 | Dies kommt dem Begriff der Rationalität bei Daniel Dennett nahe, allerdings mit der Qualifikation, dass es je nach Systemreferenz unterschiedliche Arten von Rationalität gibt. Daniel Dennett, Freedom Evolves, New York 2003.

10 | Zum Hintergrund des hier konstitutiven Begriffs der Komplexität siehe Ariane Leendertz, »Das Komplexitätssyndrom. Gesellschaftliche ›Komplexität‹ als intellektuelle und politische Herausforderung in den 1970er-Jahren«, in: MPIfG Discussion Paper 7 (2015). Verfügbar unter: www.mpifg.de/pu/discpapers_de.php, letzter Zugriff 24.10.2016.

11 | Siehe dazu Helmut Willke, Regieren. Politische Steuerung komplexer Gesellschaften, Wiesbaden 2014; ders., Smart Governance. Governing the Global Knowledge Society, Frankfurt a.M., New York 2007; ders., Governance in a Disenchanted World. The End of Moral Society, Cheltenham, UK, Northampton, MA, USA 2009.

12 | Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983.

13 | Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 240. Und: »Ein Sozialsystem entsteht, wenn sich Kommunikation aus Kommunikation entwickelt.« Ders., Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2002, S. 78. Und: »Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren.« Ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 30.

14 | »Wir leben in einer besonderen historischen Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der vom Können ausgeht.« Byung Chul Han. Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt 2014, S. 9f.

2Globalisierung als Begrenzung von Freiheit

Die Entgrenzung nationalstaatlicher Räume durch eine sich vertiefende Globalisierung bringt paradoxerweise neuartige Begrenzungen der Freiheit. Während globale Konzerne schnell die neuen Freiheitsräume für sich nutzten und mit globalen Lieferketten, globaler Vernetzung und umfassender Digitalisierung ihren Optionenraum vergrößern konnten, wurde der Optionenraum für die meisten Individuen intransparenter und durchsetzt mit undurchschaubaren Risiken.1 Das Kernrisiko sind die mit glänzenden Versprechungen und hohem sozialen Druck garnierten Einladungen, auf Momente von Freiheit und einzelne Verfügungsrechte vor allem über persönliche Daten zu verzichten, um an den globalen Netzwerken teilnehmen zu dürfen. Raffinesse und Risiko dieses neuen mephistophelischen Paktes können kaum überschätzt werden. Das freiheitsgefährdende Zusammenspiel von Globalisierung und Digitalisierung wird im nächsten Abschnitt ausführlicher behandelt. In diesem Abschnitt geht es um eher verdeckte Wirkungen der Globalisierung, die zwar auch auf der Ebene des Individuums aufschlagen, aber den komplizierten Umweg über die nationalen Politiksysteme nehmen – und deshalb für den Schutz individueller Freiheiten bedeutsam sind.

Ausgangspunkt ist der empirisch gut abgesicherte Befund, dass die Demokratie als politische Herrschaftsform die zentrale Voraussetzung und die beste Form des Schutzes für individuelle Freiheitsräume darstellt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jede Beeinträchtigung der Demokratie eine Begrenzung und Beschneidung des Schutzes möglicher Freiheitsräume der Individuen mit sich bringt. Globale Zwänge – welcher Art auch immer – spielen daher eine entscheidende Rolle darin, auf dem Umweg über eine Beschneidung demokratischer Entscheidungskompetenzen den Spielraum demokratischer Partizipation, Mitsprache und Mitentscheidung der Bürger – und mithin ein Kernmoment demokratischer Freiheit – zu verringern und so Komponenten von Freiheit zu gefährden.

In der politischen Realität war Freiheit immer eingebunden in einen Kontext komplementärer bzw. konkurrierender Werte und Relevanzen. So forderte die Französische Revolution eben nicht nur Freiheit, sondern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und postulierte damit gleich zwei kategoriale Begrenzungen möglicher Freiheit. Moderne Verfassungen ersetzen den Begriff der Brüderlichkeit durch Sozialität, und behalten dieselbe Stoßrichtung bei: Freiheit setzt, neben dem schwierigen Korrektiv der Gleichheit, eine Rücksichtnahme auf mögliche Gesellschaft voraus, weil Freiheit nur in Gesellschaft möglich ist.2

Dieses für die demokratischen Nationalstaaten etablierte und erprobte Gefüge ändert sich nun grundlegend durch eine dichter werdende Globalisierung. Die gleiche Freiheit der Anderen, die sich bislang auf einen kulturell homogenen nationalstaatlichen Kontext bezog, wird durch eine Fülle an Heterogenität, Diversität, Differenz und Diffusion kompliziert und unübersichtlich. Die dadurch bewirkte Entgrenzung der Kriterien für gleiche Freiheit schlägt um in eine Begrenzung möglicher Freiheitsräume durch eine Vielfalt von Ansprüchen an gleiche Freiheit für die Anderen. Ein Beispiel ist die steigende Dichte an Vorgaben, Regulierungen und Normierungen durch internationale, transnationale und globale Institutionen, deren Notwendigkeit sich daraus ergibt, dass unterschiedliche Traditionen, Kulturen, Rechtssysteme, Norm- und Wertvorstellungen etc. in ein komplexes Gesamtgefüge zusammengeführt werden müssen.

Ein institutionelles Beispiel dafür ist die Rolle der Welthandelsorganisation WTO. Sie ist im Januar 1995 als eine Nachfolgeorganisation des GATT (General Agreement on Trade and Tariffs) gegründet worden. Die WTO besteht heute aus etwa 155 Mitgliedsstaaten, die in Grundsatzfragen nach dem Einstimmigkeitsprinzip entscheiden. Von den Mitgliedern sind nur etwa 20 hochentwickelte Staaten, während die Zahl der Entwicklungsländer in der WTO in den letzten zwanzig Jahren von etwa 90 auf etwa 135 angestiegen ist. Die WTO steht heute beispielhaft dafür, dass scheinbar entfernte und entrückte globale Institutionen direkte und spürbare Auswirkungen auf Organisationen und Akteure haben, welche dies zum Teil noch gar nicht wahrgenommen haben.3 Die Regeln und Regelungen der WTO wirken sich nicht nur auf ihre Mitgliedsgesellschaften aus, sondern auch auf Firmen, denn im internationalen Wirtschaftsverkehr außerhalb der EU gilt das Recht der WTO. Da inzwischen auch kleinere und mittlere Unternehmen etwa im Einkauf, im Vertrieb und in Fragen des geistigen Eigentums global denken müssen, und dies mit der weiteren Verbreitung von Internet-basierten Transaktionen auch tatsächlich tun, sind sie von den Regelungen der WTO unmittelbar betroffen.

Die Arbeit der WTO ist exemplarisch für die Bedingungen und Möglichkeiten der Selbststeuerung lateraler Weltsysteme4 – hier des Weltwirtschaftssystems. Die Mitgliedsstaaten bringen völlig unterschiedliche Vorstellungen von Politik und den dahinter liegenden Werten, Prinzipien, Traditionen und Normsystemen in eine globale kollektive Willensbildung ein. Sie arbeiten an der kollektiven Entscheidungsfähigkeit mit, wenn und soweit dies zumindest Pareto-optimale Vorteile für die Beteiligten verspricht. Dennoch ist klar, dass die Vorstellungen über die Relevanz von Freiheit z.B. zwischen den USA und China sehr unterschiedlich sind. Ebenso kann es keine substantielle Gleichheit zwischen Mitgliedern geben, die über so unterschiedliche Ressourcen von harter und weicher Macht verfügen wie die USA oder EU einerseits, Bangladesch oder Belize andererseits. Was die Kooperation treibt, ist daher über alle Divergenzen grundlegender Wertvorstellungen hinaus die Erwartung kollektiver, d.h. in diesem Falle globaler Vorteile. Tatsächlich ist diese Erwartung weitgehend erfüllt worden, indem in beträchtlichem Ausmaß Handelshemmnisse abgebaut und wichtige Kategorien von Eigentumsrechten global geschützt worden sind. Insofern ist die WTO typisch für die Wirkung globaler oder transnationaler Institutionen. Sie wirkt global in ein äußerst heterogenes Geflecht von Regeln und Traditionen ein, und erweitert in manchen Hinsichten Freiheitsräume, begrenzt zugleich für andere Gruppen Privilegien oder Vorteile und beschränkt so deren Freiheiten. Indem für alle beteiligten Akteure vergleichbare Bedingungen geschaffen werden, ist der Nettoeffekt positiv: Durch ein System, das insgesamt fairer und ausgeglichener ist, ist insgesamt auch die Freiheit gestärkt. Allerdings setzt die Brauchbarkeit globale Regeln und Regulierungen voraus, dass Raum bleibt für berechtigte Unterschiede und Heterogenität, und dass die dezentralen Kompetenzen der Selbststeuerung genutzt werden. Dies kann gelingen, wenn zwei wichtige Errungenschaften der Steuerung komplexer Systeme beachtet werden – Subsidiarität einerseits und Föderalismus andererseits.

Eine wichtige Stellgröße für den Raum möglicher Freiheit ist seit langem das Prinzip der Subsidiarität. Dass Freiheit dort am Ausgeprägtesten sein kann und soll, wo die eigene Verantwortung greift und ausreicht, erscheint ebenso plausibel wie die Gegenseite: dass nämlich Freiheitsräume eingeschränkt werden müssen, wenn zur Lösung der anstehenden Aufgaben die Mitwirkung und Mitverantwortung weiterer »sozialer Kreise« unabdingbar ist. Der Föderalismus als Komplementärformel zur Subsidiarität zeigt dann den stufenweisen Aufbau einer gesellschaftlichen und politischen Ordnungsform, die Freiheitsräume mit Verantwortungsdimensionen korreliert.

Dieses Mehrebenensystem nationalstaatlicher Organisation wird durch Globalisierung erheblich erweitert. Dem entspricht, dass eine Fülle drängender Probleme – von Migration über Terrorismus oder Pandemien bis Klimawandel – auf globalen Zusammenhängen beruht und nur noch auf globaler Ebene und mit globaler Kooperation sinnvoll angegangen werden kann. Es liegt dann auf der Hand, dass mit der Verlagerung von Verantwortlichkeiten und Handlungskompetenzen auf eine weitere und weiter entfernte Ebene die Freiheitsoptionen auf der Ebene der Individuen eingeschränkt werden. Globalisierung verändert die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität im Sinne geordneter Gesellschaft. Wird Freiheit verstanden als eingebettet und mithin bedingt durch die Voraussetzungen geordneter Gesellschaft – das, was in alter Begrifflichkeit Brüderlichkeit hieß –, dann erweitert Globalisierung mit den Optionen auch die Beschränkungen möglicher Freiheit. Ein konkreter Ausdruck dessen sind zum Beispiel die Grenzen, die inländische Firmen mit globalen Produktions- und Lieferketten darin erfahren, wie sie die Vertragsbeziehungen mit Zulieferern gestalten. Sie können z.B. die Verantwortung für Produktionsbedingungen oder Produktsicherheit nicht mehr auf ihre ausländischen Vertragspartner abwälzen, wenn diese unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten lassen, sondern sie müssen auch bei ihren Vertragspartnern für einigermaßen humane Arbeitsbedingungen sorgen. Eine globale »corporate social responsibility«5 ist Ausdruck einer Beschränkung von Freiheitsräumen im Interesse einer nun nicht mehr nur national sondern global verstandenen wohlgeordneten Sozialität.

Auf der Ebene der Beziehungen zwischen Nationen gibt es längst schon eine Bewegung vom Paradigma der Unabhängigkeit – »Declaration of Independence« – zur Interdependenz. Wechselseitige Abhängigkeit ist nicht nur Gebot, sondern unvermeidbare Folge globaler Verflechtungen. Parallel dazu ist auf der Ebene von Personen die Komponente von Freiheit, die sich in Unabhängigkeit ausdrückt, nun eingewoben in ein dichtes Netz unvermeidbarer Abhängigkeiten. Sicherlich gab es Abhängigkeiten zur Genüge auch schon früher, aber mit einer sich vertiefenden Globalisierung wachsen den Personen die globalen Interdependenzen über den Kopf. Sie sind schwer verstehbar, oft nicht direkt spürbar und führen so zu einem diffusen Gefühl des Freiheitsverlustes gegenüber anonymen Mächten – seien dies globale Finanz- und Wirtschaftskrisen, Klimakatastrophen oder auch nur die Verwüstung von Urlaubsdestinationen durch Terrorismus.

Interdependenz war immer schon eine Bedingung möglicher Freiheit, solange Freiheit richtigerweise nicht als absolute und unbedingte gedacht war. Dennoch hat sich mit der Unsichtbarkeit globaler Interdependenzen Grundlegendes geändert. Sie wird von einer Bedingung möglicher Freiheit zu einem systemischen Faktor der Begrenzung von Freiheit. Diese einschneidende Umkehrung der Verhältnisse für Freiheit kommt erst gar nicht in Sicht, solange der Beobachtungshorizont auf die klassische Perspektive von Nationalstaat, Demokratie und Verfassungsrecht beschränkt bleibt. Einer globalisierten und digital vernetzten Welt ist die klassische Perspektive nicht mehr angemessen, und sie reicht für die neue Welt nicht mehr aus. Die Bedrohungen und Einschränkungen möglicher Freiheit sind nun massiver und subtiler zugleich. So wie die Welt vor prinzipiell unlösbaren Problemen steht (»wicked problems«),6 die allenfalls gemanagt werden können, so ist das Problem der Freiheit in dieser Welt prinzipiell unlösbar und bestenfalls im Sinne eines Managements der Faktoren behandelbar, die Freiheit beeinträchtigen oder gar negieren. Für die Forschung heißt dies nach meinem Argument, dass es primär darum geht, in einer hochgradig komplexen und vernetzten Welt als Nullhypothese zu akzeptieren, dass Freiheit als komplexe Architektur durch negative Wirkungen suprastruktureller und tiefenstruktureller Faktoren prekär geworden ist. Daher sind Konstellationen von Freiheitsaporien zu untersuchen, und auf dieser Basis die Konturen eines komplexen Freiheitsbegriffs und einer fragmentierten, aber resilienten Freiheit zu erforschen.

Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen zur Begrenzung von Räumen möglicher Freiheit durch Globalisierung ist eine Einsicht Luhmanns in die Besonderheit politischer Evolution, wonach mit der repräsentativen Demokratie als Steuerungsform der Politik eine evolutionäre Verschiebung ihrer Begründung verbunden ist, die Luhmann als »Umgründung der Politik auf Fluktuationen«7 beschreibt. Periodische Wahlen und die in immer kürzeren Zyklen erhobenen repräsentativen Meinungsbilder zu beliebigen Politikthemen, (heute ergänzt durch mehr oder weniger spontaner Stürme in den sozialen Medien), schaffen neuartige »dissipative Strukturen«8 politischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, welche die Abhängigkeiten der Politik von Veränderung und Unbekanntem verstärken: »Das System muss sich deshalb auf eine ungewisse Zukunft einstellen.«9

Werden die im demokratischen Prozess angelegten dissipativen Strukturen der Politik im Zuge vertiefter globaler Dynamiken ausgeprägter und geradezu ubiquitär, dann verändern sich die Bedingungen möglicher Freiheit in dem Maße, wie Freiheit an die Möglichkeit von Demokratie gebunden ist. Im Kern geht es um eine gleichzeitige und paradoxe Steigerung von Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten.10 Der Optionenreichtum lateraler Weltsysteme weitet Freiheitsgrade aus und eröffnet sogar Möglichkeiten, mit Wohnort/Arbeitsplatz/Standort auch politische Kontexte zu wechseln. Zugleich nehmen die übergreifenden Abhängigkeiten der Individuen von globalen Netzen und vom Funktionieren globaler Strukturen und Prozesse zu. Der Nettoeffekt für die Möglichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von Freiheit bleibt ungewiss, und niemand kann das Ergebnis wirklich abschätzen oder gar kontrollieren. Wieder erweist sich, dass Ungewissheit und Nichtwissen zu determinierenden Faktoren möglicher Freiheit avancieren, vor allem dann, wenn sie nicht auf individuellen Mängeln gründen, sondern auf anonymen systemischen Dynamiken, die jenseits des Einflusses einzelner Akteure eine Welt schaffen, welche »die subjektzentrierte Vernunft durch Systemrationalität abgelöst«11 hat und daher durch die Vernunft Einzelner nicht geheilt werden kann.

Ein Beispiel dafür sind die Wirkungen der anvisierten und vorläufig gescheiterten Vereinbarungen zu einem »Transatlantic Trade and Investment Partnership« (TTIP), die zu weltregionalen Regeln führen sollen, die 40 Prozent des Weltinlandproduktes und 30 Prozent  des Welthandels umfassen und damit unweigerlich auch beträchtliche Auswirkungen auf den Rest der Welt hätten.12 Es geht bei TTIP um Empfehlungen zur Erleichterung des Marktzugangs zwischen den USA und der EU, zum Abbau regulatorischer und anderer nichttarifärer Handelshemmnisse sowie zur Festsetzung von Regeln im Umgang mit gemeinsamen Problemen und Chancen im Welthandel. Die Bedarfe für TTIP werden primär von Korporationen definiert, die den Globalisierungsprozess mit weltweiten Wertschöpfungsketten und Produktionsnetzwerken vorantreiben und daher an globalen Regeln für Handel und Investitionen interessiert sind. Für Regierungen – das sind mit den Mitgliedern der EU und den USA neunundzwanzig – und für die von ihnen vertretenen Bürgern impliziert dies die Gefahr, dass die Kompetenzkompetenz der nationalstaatlichen Politiksysteme durch übergreifende Regelungen ausgehebelt wird und insbesondere durch transnationale Schiedsgerichte die Kontrollkompetenz der nationalen Justizsysteme unterlaufen werden kann.

Auch hier handelt es sich mit Blick auf die implizierten Wirkungen auf Freiheit nicht um ein schlichtes Problem, sondern um eine komplexe und teilweise paradoxe Konstellation. Denn auf der einen Seite werden durch den Wegfall von Handelshemmnissen und regionalen Barrieren die Wahlmöglichkeiten bezüglich des Angebots von Waren und Dienstleistungen ausgeweitet und damit zum Beispiel Abhängigkeiten von marktbeherrschenden Unternehmen reduziert, insgesamt also Freiheitsräume für Konsumenten/Nachfrager ausgeweitet. Auf der anderen Seite sieht die Lage für alle Akteure außerhalb des Abkommens – und das sind im konkreten Fall vor allem die Entwicklungsländer – ganz anders aus, weil sie zusätzlich zu den bereits bestehenden Schwierigkeiten von den Vorteilen des neuen Freihandelsraumes ausgeschlossen sind. Allerdings trifft es immer weniger zu, dass Güter in einem Land erzeugt und dann grenzüberschreitend gehandelt werden, weil die Wertschöpfung durch eine starke Fragmentierung weltweiter Produktionsprozesse geprägt ist. Baldwin weist zu Recht darauf hin, dass es im Zuge der regionalen Prozesse des 21. Jahrhunderts wichtiger wäre, die Güter- und Faktorenströme innerhalb weltweiter Produktionsnetzwerke oder Wertschöpfungsketten zu erleichtern, als um einen bevorzugten Marktzugang zu kämpfen.13

Wenn die Vorteile aber primär auf der Seite globaler Produktions- und Lieferketten liegen, dann sind damit auch einseitig die bereits bestehenden Großunternehmen und »global players« bevorzugt. Eine weitere Komplikation besteht darin, dass es bei nichttarifären Handelshemmnissen vor allem um Schutzrechte geht, um unterschiedliche Standards für Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz, einschließlich Datenschutz, um unterschiedliche Industrienormen und -standards, die wiederum eng an Sicherheit und Umweltschutz gekoppelt sind, sowie um Vorschriften zum öffentlichen Beschaffungswesen. Eine Vereinheitlichung oder ein Abbau dieser nichttarifären Hemmnisse könnte sich schnell als Danaergeschenk erweisen, weil dann Schutzrechte, die in der EU mühsam errungen worden sind, wegfallen oder verwässert werden könnten. Hier zeigt sich, dass TTIP genau von denjenigen Akteuren und Organisationen zurecht kritisiert und angegriffen wird, die an den Verhandlungen gar nicht teilnehmen: vor allem zivilgesellschaftliche Akteure und Gruppierungen für Umweltschutz, Datenschutz und Schutz vor gentechnisch veränderten Produkten. Erschwerend kommt hinzu, dass um die Verhandlungen eine unrühmliche und verfassungsrechtlich bedenkliche Geheimniskrämerei betrieben wurde und teilweise weiter betrieben wird, die z.B. dazu führt, dass selbst Abgeordnete des Bundestages die Verhandlungstexte nur in einem eigens eingerichteten Raum und nur unter Auflagen in Augenschein nehmen durften.14

Damit wird als Spitze eines Eisberges sichtbar, dass für Abgeordnete bis hin zu dann betroffenen Bürgern Freiheitsrechte geschmälert oder bedroht sind, weil Intransparenz und Komplexität sowohl der Materie wie auch der Verhandlungen zu einer für die Meisten nicht mehr verstehbaren Gemengelage von Erweiterungen und Beeinträchtigungen von Komponenten der Freiheit führen. Auch von dieser Seite her wird die eine kompakte Freiheit aufgesplittert in eine Komposition von Merkmalen, Qualitäten und Komponenten. Diese komplexe Freiheit macht es schwierig, angesichts großformatiger Verschiebungen und Dynamiken und angesichts veränderter Rahmenbedingungen für staatliches Handeln zu einfachen und klaren Kosten-Nutzen-Rechnungen des Nettoertrages bestimmter Entwicklungen für die Freiheit zu kommen. Unweigerlich wird es immer mehr Freiheitskompromisse geben. Die dissipativen Strukturen demokratischer Politik verdichten sich und sind nun eingebettet in einen vielschichtigen Kontext transnationaler, weltregionaler und globaler Rahmensetzungen durch Institutionen, die ihre legitimatorische Grundlage in aller Regel in Vertragswerken haben, die nur sehr indirekt an der »Kette demokratischer Legitimität«15 angebunden sind. Auch Freiheit wird dadurch sowohl in ihren Möglichkeiten wie hinsichtlich der Faktoren ihrer Negation vielschichtiger und von Bedingungen abhängig, die sehr weit von kontrollierbaren Verfahren und demokratischen Entscheidungsprozessen entfernt sind.

Globale Zwänge werden zu Einschränkungen und Gefährdungslagen einer Freiheit, die primär durch nationalstaatlich organisierte Demokratie gewährleistet ist. Die Zwänge lassen sich in drei Stufen der Steigerung beobachten: (1) der Nationalstaat als semisouveräner Akteur, der sich mit Angeboten internationaler Institutionen konfrontiert sieht, welche die nationalen Parlamente nicht ablehnen können; (2) »systemische Risiken« aus dem unbegriffenen und ungesteuerten Operieren globaler Kontexte; und (3) Zwangslagen globaler Problemzusammenhänge, welche die Steuerungskompetenz nationaler Parlamente überfordern.16

2.1DAS PROBLEM DER SEMI-SOUVERÄNITÄT

Im 21. Jahrhundert ist der Nationalstaat ein semi-souveräner Akteur. Verflechtungen und Interdependenzen werden dichter und gehören zum Kontext jeder nationalstaatlichen Politik. Dabei ist die internationale und globale Kooperation zugleich vorteilhaft und notwendig. Die Konfrontation der Politik mit globalen Dynamiken spielt sich allerdings nicht mehr nur im Rahmen der klassischen Internationalen Beziehungen ab, sondern auf dem eigenen Territorium in komplexeren Konstellationen, in den sich die Funktionssysteme einer Gesellschaft – beispielhaft Ökonomie und Finanzsystem – zu lateralen Weltsystemen vernetzt haben und nun Ansprüche an die Politik ihrer Muttergesellschaften richten. Die politischen Systeme der Nationalstaaten kommen von innen und außen unter Druck und verlieren an Einfluss, Autorität17 und Steuerungskompetenz.

Paradebeispiele dieser ersten Kategorie sind die präzeptoralen Angebote der Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF (und inzwischen als viertem Mitglied der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM) an Griechenland während der sich hinziehenden Finanz-, Euro- und Staatsschuldenkrisen. Es geht hier nicht um die Problematik insgesamt, sondern um die Frage, welche hintergründigen Bedingungen damit gesetzt sind, welche die Demokratie und damit die Freiheitsräume der Bürger untergraben. Demokratie als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit verweist auf den komplizierten Zusammenhang zwischen einem individuell gedachten Freiheitsbegriff und dem gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen eine solchermaßen individuell gemeinte Freiheit überhaupt möglich erscheint. Das im Frühjahr 2012 unterzeichnete »Memorandum of Understanding« zwischen Griechenland, der Eurogruppe und dem IWF sieht Hilfszahlungen von 130 Milliarden Euro vor. Dies ist das massive »Angebot«, das Griechenland in seiner verzweifelten Lage am Rande des Staatsbankrotts so gut wie nicht ablehnen konnte. Griechenland verpflichtete sich im Gegenzug denn auch zu tiefgreifenden Reformen: Abbau der Staatsverschuldung bis 2020 auf 120 Prozent der Wirtschaftsleistung; innerhalb von zwei Jahren sollen 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) eingespart werden; Reform des Rentensystems; Kürzung von 150 000 Stellen im öffentlichen Dienst; Vereinfachung des Steuersystems und Abschaffung von Subventionen und manchen Privilegien; Kürzung der öffentlichen Gesundheitsausgaben auf unter sechs Prozent des BIP; Senkung der Mindestlöhne um 22 Prozent und Aussetzung der automatischen Lohnzuwächse; weitere Liberalisierung des Marktes sowie weitere Privatisierung von Staatsbetrieben und Einrichtungen.18 Mit jedem einzelnen Punkt sind relevante Politikfelder angesprochen, in denen Entscheidungen und Gesetze des Parlamentes repräsentativ den souveränen Volkswillen ausdrücken. Der souveräne Volkswille ist die Aggregation der individuellen Entscheidungen der Bürger in den jeweiligen Fragen, die im Parlament aus dem »volonté de tous« den »volonté générale« herstellen.

Wird nun das Parlament faktisch zu bestimmten Entscheidungen genötigt, wenn auch nur, um damit größeren Schaden abzuwenden, dann schwindet mit dem Souveränitätsanspruch des politischen Systems insgesamt auch das, was Souveränität als Raum freier kollektiver Entscheidung konstituiert – nämlich individuelle Freiheit als Kompetenz autonomer Entscheidungsfindung. Wolfgang Streeck moniert daher zurecht, dass

demokratisch organisierte Staatsvölker […] sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie von ihrer nationalen Souveränität keinen Gebrauch mehr machen und sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kreditgebern zu sichern.19

Offe sieht zwar das Dilemma: »Wenn man Griechenland und Deutschland, um die beiden Extremfälle zu nennen, in eine Währungsunion steckt, setzt man den ärmeren, weniger produktiven Partner – den, der die höheren Lohnstückkosten hat und daher in seinem Außenhandel weniger wettbewerbsfähig ist – gewaltigen wirtschaftlichen Zwängen aus.«20 Aber er konfiguriert das Problem einseitig als polit-ökonomische Krise und sucht Auswege in einer eher weltfremden Kapitalismuskritik. Dem gegenüber argumentiere ich, dass das gewichtigere Problem darin liegt, dass die polit-ökonomischen Zwänge der Euro- und Staatsschuldenkrise institutionell auf den Gehalt der Demokratie (etwa durch fehlende Partizipationsmöglichkeiten) und individuell auf Optionsräume von Freiheit (etwa durch geringere Renten- oder Sozialleistungen) durchschlagen, und somit ökonomische Lösungen keinesfalls ausreichen21 – nicht nur im Fall Griechenland, sondern prinzipiell ähnlich auch in allen Fällen hoch verschuldeter Staaten, die sich selbst ihrer »Fiskalsouveränität« berauben.22

Einen etwas anders gelagerten Fall zeigen die Verhandlungen im März 2016 zwischen der EU und der Türkei über die Flüchtlingsproblematik. Die EU hatte sich über einen längeren Zeitraum hinweg durch Uneinigkeit, nationale Egoismen und Alleingänge, die singuläre deutsche Position der Willkommenskultur, autoritäre Entwicklungen in Ungarn und Polen, ein massives Anwachsen populistischer Strömungen aufgrund der angenommenen/befürchteten Überfremdung und weiterer Faktoren in eine völlig unhaltbare Zweckmühle, geradezu in eine »Falle«23 hinein manövriert. Zugleich entwickelte sich die Türkei unter Präsident Erdogan von einer Scheindemokratie zu einem manifest autoritären System, in dem insbesondere Grundrechte, die Unabhängigkeit der Justiz und Pressefreiheit nicht geachtet werden. Die Türkei ist aber für die Flüchtlingsströme das entscheidende Durchgangsland Richtung Europa, und somit kann die Türkei den Strom nach Belieben lenken. Dabei muss gesagt werden, dass die Türkei seit Jahren eine sehr große Zahl von Flüchtlingen, vor allem aus Syrien, aufgenommen und darin wenig Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft bekommen hat. In dieser Situation hat die Türkei in den Verhandlungen am 7. und 8. März 2016 massive Bedingungen dafür gestellt, die von der Türkei nach Griechenland geflüchteten Menschen, die nicht aus Syrien kommen, wieder anzunehmen (um so den Flüchtlingsstrom durch Abschreckung einzudämmen). Sie hat den monetären Preis von drei auf sechs Milliarden Euro erhöht, was nicht so dramatisch erscheint, weil es nur Geld ist und die EU genug davon hat.

Von ganz anderer Relevanz sind dagegen die politischen Forderungen der Türkei. So sollte – nach einem Ultimatum im Sommer 2016 – die Visumspflicht für Einreisen in die EU im Herbst 2016 wegfallen und die Beitrittsverhandlungen zwischen EU und der Türkei sollen beschleunigt werden, trotz der zunehmend despotischen und autoritären Züge der Politik von Präsident Erdogan. Damit liegt das demokratische Dilemma für die EU auf der Hand. Sie lässt sich von einer zunehmend undemokratischen und offen autoritären Türkei zu Zugeständnissen erpressen, die sie im »Normalfall« niemals machen würde, zu denen sie nun aber sich unter dem Druck der massiven Migrationskrise als geringeres Übel zwischen Pest und Cholera genötigt ist.

Es ist wahrscheinlich, dass diese Erpressbarkeit von Einzelstaaten, nicht nur aber vor allem der Demokratien, aufgrund globaler Interdependenzen zunimmt. Flüchtlingsströme, Geldströme, Waffenströme, Drogenströme, Datenströme etc. schaukeln sich leicht zu globalen Tsunamis auf, die Einzelstaaten und selbst supranationale Gebilde wie die EU vor unlösbare Dilemmata stellen und damit erpressbar machen. Derart starke Eingriffe in die Souveränität demokratischer Entscheidungsprozesse bleiben nicht ohne Folgen für die Konturen möglicher Freiheit. Die Beeinträchtigungen sind aber nur auf der Grundlage eines komplexen Freiheitsbegriffes überhaupt erkennbar, weil sie zunächst auf der Ebene der Suprastrukturen der Freiheit spielen. Damit ist gemeint, dass sie sich nicht direkt auf die Ebene individuellen Handelns auswirken, sondern allgemeiner und indirekter das Gefüge institutioneller und organisationaler Faktoren betreffen, welche die übergreifenden Rahmenbedingen möglicher Freiheit bilden. Die Wirkungskaskade erreicht die Ebene individueller Freiheiten erst auf Umwegen und macht es damit schwierig, die freiheitsgefährdenden Momente dieser Konstellationen überhaupt zu erkennen. Die Analogie zum berühmten Galtungschen Begriff der »strukturellen Gewalt«24 drängt sich geradezu auf. Johan Galtung beschreibt damit Formen der Gewalt, die eben nicht direkt spürbar und sichtbar sind wie eine direkte Verletzung von Personen, sondern die indirekt und oft über lange Wirkungsketten auf der Ebenen von Personen ankommen, aber deshalb nicht weniger folgenreich und destruktiv sein können. Statt parallel zu »struktureller Gewalt« von »struktureller Freiheit« zu reden, ziehe ich es hier vor, den Begriff der suprastrukturellen Komponenten einer komplexen Freiheit zu verwenden.

Ganz analog zu den Vorzügen eines komplexeren Gewaltbegriffs erlaubt ein Begriff komplexer Freiheit auch jene Momente von Freiheitsbedrohungen in Augenschein zu nehmen, die nicht sofort als manifeste Formen der Unfreiheit der Person erkennbar sind. Wenn in einer global vernetzten und interdependenten Welt das Bedingungsgefüge für souveränes staatliches Handeln mehrschichtiger und intransparenter wird, und auch demokratische Staaten sich den widersprüchlichen Anforderungen unterschiedlicher Logiken der Realpolitik fügen müssen, dann wird über eine Einschränkung des Freiheitsraumes souveräner staatlicher Entscheidungen eine Kaskade der Einschränkung weitergereicht – etwa über Budgetentscheidungen, die Reduktion von Sozialleistungen, die Gestaltung von Steuersystemen oder die Veränderung von Anspruchsgrundlagen – die irgendwann auf der Ebene der Personen aufschlägt und ganz konkret den Optionenraum von Personen reduziert. Es tritt deutlicher hervor, dass bei hoher Interdependenz der politischen Ebenen, Projekte und Probleme an unterschiedlichen Stellen zugleich Optionenräume geöffnet und andere beschränkt werden, dass es zu schwierigen, auch zeitlich gestuften kombinatorischen Effekten für die Freiheit kommt und es häufig unmöglich wird, den Nettoertrag – ob positiv oder negativ – für die Freiheit auf der Ebene der Personen abzuschätzen.

Noch schwerer einzuschätzen sind scheinbar anonyme Bedrohungen der Freiheitsräume von Personen durch Konstellationen der Umwelt, die schlicht als gegeben erscheinen, die tatsächlich aber unterschiedlichsten Systemdynamiken geschuldet sind, hinter denen wiederum Projekte konkreter Organisationen und Akteure stecken. In einer umfangreichen Analyse von 2016 schätzt die WHO, dass im Jahre 2012 weltweit über zwölf Millionen Todesfälle durch Umweltrisiken verursacht waren. Die Studie schließt dabei nur solche Risiken ein, die durch das Verhalten von Menschen beeinflusst sind, und schließt unbeeinflussbare Faktoren aus: Die Gesundheit betreffende Umweltrisiken sind in der Studie definiert als

alle physikalischen, chemischen und biologischen Faktoren, die eine Person umgeben, sowie darauf bezogene Verhaltensweisen. Ausgenommen jedoch sind die Teile der Umwelt, die nicht wesentlich verändert werden können. Um die politische Relevanz der vorliegenden Studie zu steigern, liegt der Fokus auf dem Teil der Umwelt, der wesentlich verändert werden kann.25

Eine Einbeziehung dieser Risikolagen öffnet den klassischen Freiheitsbegriff – ein Kompositum aus Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit – und erweitert ihn in die suprastrukturellen Bedingungen der Möglichkeit/Unmöglichkeit von Freiheit. Im Zentrum einer Pandemie wie Ebola oder Cholera ist Freiheit ebenso unmöglich wie im Zentrum eines Tsunami oder im Umkreis der Katastrophen von Fukushima. Dies sind die extremen, medial exponierten Fälle, aber vergleichbares gilt für Millionen von Familien, die zum Überleben auf Kinderarbeit angewiesen sind oder die in Räumen mit stark verschmutzter Luft leben, weil zum Kochen nur rauchende Holzfeuer zur Verfügung stehen.26