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Ginge es nicht auch ganz anders? Wir glauben, dass Regeln und Gesetze dazu da sind, um uns und unser Zusammenleben zu schützen. Sie bewahren unsere Gesellschaften davor, im Chaos zu versinken. Wie könnten wir ohne sie Recht von Unrecht unterscheiden, in unseren Gemeinschaften gut leben und einander gute Nachbar:innen sein? C.L. Skach sieht das anders. Ihre Karriere als Rechtswissenschaftlerin führte sie in die am stärksten zerrütteten und vom Krieg gezeichneten Ecken der Welt, wo sie Verfassungen las und schrieb, um die Gesellschaften vor Ort zu stabilisieren. Doch als sie nach einem Raketenangriff allein in einem Wohnwagen in Bagdad saß, gestand sie sich endlich ein, was sie jahrelang verdrängt hatte: Eine gute Gesellschaft kann nicht von oben verordnet werden. Sie entsteht vielmehr dadurch, dass man sich weniger auf von außen auferlegte Regeln stützt, sondern mehr aufeinander – denn jede:r ist ein essentieller Teil der Gesellschaft. Skach stellt in ihrem Buch sechs Ideen vor, die einen echten Wandel von unten nach oben bewirken und ein ganz neue, stabilere, erfüllendere und selbstwirksamere Art des Zusammenlebens ermöglichen können
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Demokratie ohne Gesetze
C.L. SKACH ist Professorin für Politische Theorie und Rechtswissenschaften der Universität von Bologna. Zuvor war sie Professorin für Verfassungsrecht am King’s College London, Professorin für Vergleichende Regierungslehre und Recht an der Universität Oxford und davor außerordentliche Professorin für Regierungslehre an der Harvard University. Skach wurde für ihre Lehrtätigkeit in Harvard und Oxford ausgezeichnet. Ihre Forschungsergebnisse haben weltweit Aufmerksamkeit erregt, damit hat sie sich sowohl direkt als auch über Organisationen wie den Club of Madrid an amtierende und ehemalige Regierungschefs gewandt.
Wir glauben, dass Regeln und Gesetze dazu da sind, uns und unser Zusammenleben zu schützen. Sie bewahren unsere Gesellschaften davor, im Chaos zu versinken. Aber wir können auch ohne sie Recht von Unrecht unterscheiden, in unseren Gemeinschaften gut leben und einander gute Nachbarn sein.Ausgehend von ihren Erfahrungen in einigen der konfliktreichsten Regionen der Welt vertritt Verfassungswissenschaftlerin C.L. Skach die Auffassung, dass ein gutes Zusammenleben gerade nicht durch Regeln und den Staat ermöglicht wird, sondern dass wir es alle gemeinsam schaffen müssen.
C.L. Skach
Warum nicht Regeln, sondern wir selbst unsere Gesellschaft tragen
Aus dem Amerikanischen von Oliver Lingner
Ullstein
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Vorwort
Teil I Das Problem
Einleitung
1. Was wir von Gesetzen lernen können
Teil II Die Lösungswege
2. Nicht blind den Anführern folgen
3. Die eigenen Rechte – verantwortungsvoll – einfordern
4. Mehr Zeit auf einer Piazza verbringen
5. Die eigenen Tomaten anbauen und sie mit anderen teilen
6. Öfter mal »Ethno-Food« essen
7. Mit all dem sehr früh anfangen, ungefähr mit drei Jahren
Fazit
Anhang
Dank
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vorwort
Für Raphael und Demara
Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich endgültig meinen Glauben an formelle Regeln – an Gesetze – verlor. Damals lernte ich gerade, wie man mit einem gepanzerten SUV in voller Fahrt eine Kehrtwende macht, und war froh über jeden überstandenen Tag. Ich trainierte auf den Straßen Ammans, Sprengsätzen auszuweichen, und wurde immerhin so gut darin, dass ich abends rechtzeitig meine Unterkunft erreichte, um vor dem Schlafengehen noch zu duschen und ein Glas libanesischen Wein zu trinken.
Der schwierige Teil meiner Aufgabe stand mir aber erst noch bevor. Es war der Herbst des Jahres 2008, und ich hatte gerade ein zweiwöchiges Überlebenstraining in der Wüste absolviert. Jordanische Soldaten und UN-Sicherheitskräfte hatten Terrorangriffe simuliert, um mich – unter anderem – auf die Ausarbeitung einer Verfassung vorzubereiten. Kurz vor Semesterbeginn war ich von London nach Amman geflogen. Ich hatte gerade eine Stelle als Professorin für Vergleichende Regierungslehre und Rechtswissenschaft in Oxford bekommen. Im nächsten Jahr würde ich zwischen Seminaren und Vorlesungen mehrmals den fünfstündigen Flug antreten, um danach voller Stolz meinen Studierenden von meinen Erfahrungen zu berichten.
Nach dem erfolgreichen Abschluss des Trainings gratulierte mir ein UN-Offizier mit amerikanischem Südstaatenakzent, während er mir einige Haare samt der Wurzel ausriss. Das war kein Initiationsritual. Es diente dazu, meine DNA sicherzustellen, falls mein Körper in einem nicht identifizierbaren Zustand gefunden würde.
Nun war ich bereit für meine Aufgabe als »Verfassungsexpertin«, wie ich genannt wurde. Ich war von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak eingeladen worden und reiste nach Bagdad. Dort sollte ich mit Irakern und Kurden in einer Kommission zur Reform der Verfassung zusammenarbeiten.
Das Flugzeug war an jenem Tag alles andere als voll. Aus meiner Gruppe hatten einige das Training nicht bestanden und waren heimgeschickt worden. Andere waren bereits früher abgereist. Das Überlebenstraining hatte schon ausgereicht, um sie zu traumatisieren, sie benötigten nun psychologische Betreuung. Mit mir saßen ehemalige Ratgeber der US-Regierung, Professoren und Experten aus dem Vereinigten Königreich, die in Schottland und Wales die Regionalisierung vorangetrieben hatten, und viele angehende und einige hochrangige UN-Beamte aus aller Welt in der alten Propellermaschine. Einige hatten ihre Familie für den hoch bezahlten Job in einem Kriegsgebiet zurückgelassen.
Mir ging es nicht ums Geld. Ich war begierig auf die vor mir liegende Erfahrung. Mein Honorar war ohnehin nicht hoch, ich hatte ja meinen festen Job und übte nur eine befristete Beratungstätigkeit aus. Aber als Verfassungsrechtlerin und Professorin war es ein beruflicher Höhepunkt für mich. Wie es einer meiner Studenten in Oxford ausdrückte: »Sie schreiben Verfassungen, etwas Bedeutungsvolleres könnten Sie nicht tun.« Verfassungen sind schließlich die wichtigsten Gesetze in einer Demokratie – in einem Land, das durch und für das Volk regiert wird. Sie legen die Rahmenbedingungen des politischen Geschehens fest, sie lassen uns wissen, ob ein Staat zentralistisch oder föderal strukturiert ist, ob er säkular oder an eine Religion gebunden ist. Sie beschreiben, wie unsere politische Führung gewählt wird, wie und wann wir sie durch eine andere ersetzen können, wer uns repräsentiert und Regierungsentscheidungen trifft. Und sie definieren nicht nur, was unsere Rechte als Individuen und als Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Gruppen sind, sondern auch, welche Rechte in unserem Land – basierend auf den Werten unserer Nation – Vorrang haben und wie unsere Regierung die Missachtung dieser Rechte zu verhindern hat. Deshalb werden Verfassungen oft auch als »ranghöchstes Gesetz« bezeichnet.
Es war nicht das erste Mal, dass ich ein anderes Land in Verfassungsfragen beriet. Ich hatte mich mit Begeisterung der Rechtswissenschaft verschrieben und schon zu Beginn meiner Karriere Arbeiten zu Verfassungsthemen veröffentlicht, zuerst als junge Doktorandin mit meinem wissenschaftlichen Betreuer an der Columbia University und später als Harvard-Professorin. Ich hatte mit ehemaligen Präsidenten und Premierministern gesprochen, die mir von ihren Erfahrungen berichteten, und reiste häufig, um mich mit Angehörigen von Verfassungsausschüssen und Verfassungsrichtern zu treffen. Diese gesellschaftliche Elite hatte mich auch oft in meinem Büro in Harvard besucht, wo wir uns über verfassungsrechtliche Probleme austauschten. Während meiner gesamten akademischen Laufbahn hatte ich Vorträge darüber gehalten, welche Verfassungen demokratische Prozesse begünstigen und welche nicht, und nun zog ich weiter nach Oxford, um dort dasselbe zu verkünden. Mich erwarteten weitere Einladungen, um zu beraten, zu lehren und vom Wert guter Gesetze zu predigen.
Der Irak war zweifellos meine bisher gefährlichste und anspruchsvollste Mission. Iraker und Kurden, die unter der Schutzherrschaft der UN standen, hatten mich eingeladen. Sie wollten meine Hilfe dabei, ein Rechtssystem einzuführen, das eine gerechte Verteilung der Erlöse aus den riesigen Öl- und Gasvorkommen förderte, die sich nur in bestimmten Teilen des Landes befanden, von denen jedoch alle profitieren sollten. Ein solcher Finanzausgleich war mir aus den USA, Kanada und Brasilien bekannt – föderale Länder, in denen die politische Macht verfassungsmäßig zwischen Regionen (oder Staaten) aufgeteilt ist. Die Zentralregierung hatte die Kontrolle über manche Politikbereiche, aber nicht alle.
Der Irak war ein komplexes Land, und die irakische Bevölkerung bildete ein kompliziertes Gemisch aus verschiedenen Ethnien, Religionen und Sprachen. Erschwerend kam hinzu, dass sich die meisten Bodenschätze auf kurdischem Gebiet befanden. Wenn diese Völker in einem gemeinsamen Staat leben wollten, ob zentralistisch oder föderal, dann mussten sie ihre Ressourcen miteinander teilen. Doch das war in der Theorie einfacher als in der Praxis.
Die Iraker wogen die Vorzüge eines bestimmten föderalen Systems ab, das ihr Land zusammenhalten sollte. Ich und einige andere waren der Ansicht, dass es zur Entspannung der politischen Lage und zu einer Verringerung kurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen beitragen würde, wenn der restliche Irak den Kurden in bestimmten politischen Bereichen, einschließlich der Sprache, Autonomie zugestehen würde, und die Kurden sich im Gegenzug dazu bereit erklärten, einen angemessenen Anteil ihres durch Öl und Gas gewonnenen Vermögens mit dem Rest des Landes zu teilen. Keine andere Region im Irak würde eine derartige Autonomie gegenüber Bagdad genießen. Beispiele aus anderen Ländern zeigten jedoch, dass keine andere Region das überhaupt nötig haben würde.1
Dieses Arrangement, das asymmetrischer Föderalismus genannt wird, schien in Ländern wie Spanien gut zu funktionieren, wo gewaltbereite Unabhängigkeitsbewegungen in der Bevölkerung an Anziehungskraft verloren, nachdem die spanische Zentralregierung den Basken und Katalanen mehr Kontrolle über ihre Regionen gewährt hatte. Das kastilische Spanisch wurde den dortigen Bevölkerungen nicht mehr als Amtssprache aufgezwungen, sodass baskische und katalanische Kinder jetzt in den Sprachen ihrer Regionen unterrichtet werden konnten und die alten Basken und Katalanen Straßenschilder in ihren Muttersprachen lesen konnten. So spürten die Menschen, dass ihre Kultur und ihre Geschichte respektiert wurden. Wir glaubten, dass sie das davon abhielt, Politiker in Madrid in die Luft zu sprengen. Wir glaubten, dass das Spanien zusammenhielt.2
Während ich Notizen für das erste Treffen anfertigte und Zahlen auf einer PowerPoint-Folie anordnete, geriet unser Flugzeug in Turbulenzen. Also packte ich meinen Laptop weg und schloss die Augen. Ich versuchte mir auszumalen, was mich im Irak erwartete. Ehemalige Kollegen, die dort gewesen waren, hatten mir von ihren Erfahrungen berichtet. Die Details, mit denen sie ihre Erzählungen ausschmückten, hatten meinen Neid geweckt. Nur sehr wenige von uns waren jemals in einem Kriegsgebiet tätig gewesen und hatten dort Gesetze, geschweige denn Verfassungen ausgearbeitet. Schon allein die Vorstellung, an einer Verfassungsgebung mitzuwirken, war aufregend. Wenn das, was ich zu sagen hatte, Anklang fand, würde ich vielleicht dabei mithelfen, dieses ranghöchste Gesetz zu schreiben.
Doch in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung.
Ich wusste nicht, dass ich schon in wenigen Wochen in die Lobby des Hotel Meridien in Amman zurückkehren würde, die ich nur wenige Tage zuvor verlassen hatte. Dieses Mal war ich jedoch zerkratzt, schmutzig und roch nach Fäkalien. Das war das Ergebnis meines Versuchs, in Bagdad bei der Ausarbeitung einer Verfassung zu helfen. Und es war erst der Anfang.
Jener schreckliche Morgen ist mir noch genau in Erinnerung. Ein lautes Donnern riss mich aus dem Schlaf, kurz darauf bebte die Erde. Unser Lager in der Internationalen Zone war von einer S-24-Rakete getroffen worden, die für unsere Nachbarn in der US-Botschaft bestimmt gewesen war. Sie hatte ihr Ziel verfehlt und uns schwer getroffen. Mein Überlebensinstinkt setzte ein, und das zweiwöchige Training zeigte Wirkung – ich griff nicht nach meinen Klamotten, sondern nach meinem Helm, meiner kugelsicheren Weste und meinem Notfallbeutel, in dem sich die nötigsten Sachen und Bargeld befanden. Dann saß ich in der Dunkelheit, in Unterwäsche und Schutzausrüstung, in dem mit Sandsäcken befestigten Zimmer, und wartete. Wie viele Verletzte gab es? Wie viele Tote? Würden wir entführt werden? Oder gar getötet?
Ich dachte: Das bedeutet es also, eine Verfassung zu schreiben.
Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenschrecken. Es war mein Kollege, der sehen wollte, ob es mir gut ging. Er war Vater von zwei kleinen Kindern, die in Nordamerika lebten, und zum Glück unverletzt. Von ihm erfuhr ich, was geschehen war und dass es im Lager nun keinen Strom und kein fließendes Wasser mehr gab. Gleich würden uns Panzer evakuieren und zu einer irakischen Schule in der Nähe bringen, die vor Kurzem zu einem UN-Stützpunkt umfunktioniert worden war. Während wir auf die Krankenwagen warteten, gaben die Verantwortlichen des Lagers Details zu dem Angriff bekannt: Drei Menschen waren gestorben, dreizehn verletzt. Ihrer Einschätzung nach waren wir aber glimpflich davongekommen. Andere Angriffe waren deutlich schlimmer verlaufen.3
Das Donnern der Explosion wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Es dröhnte noch in meinen Ohren, als ich einige Stunden später in dem Schulgebäude durch Abwasser watete und wir Überlebenden uns einige wenige Wasserflaschen teilen mussten, während die Köche aus Bangladesch – diejenigen, die den Angriff überlebt hatten – versuchten, uns etwas zu essen zuzubereiten. Ich musste auch danach daran denken, als ich zu drei schwer bewaffneten US-amerikanischen Soldaten in einen Panzer stieg und auf der von Scharfschützen belagerten Straße zum internationalen Flughafen von Bagdad gefahren wurde. Ich musste daran denken, als ich dankbar an der Gatorade nippte, die sie mir gereicht hatten, und durch das winzige Fenster diese Wiege der Zivilisation betrachtete.
Ich war nicht nur traumatisiert, sondern fühlte mich auch schuldig. Ich konnte die Gesichter der Scheichs wieder vor mir sehen, die ich getroffen hatte, und die der irakischen und kurdischen Minister, die mich willkommen geheißen und mir Loomi-Tee angeboten hatten. Mir wurde klar, dass nichts und niemand – keine Gesetze und keine Regeln – diesen Menschen helfen konnte. Nur sie selbst. Wenn ich oder andere sie überzeugen wollten, eine Verfassung zu verabschieden, könnte das die Lage noch verschlimmern, und vielleicht war das schon geschehen. Gesetze, Regeln und Verfassungen sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie Stammzelltransplantationen zwischen Menschen. Wird der Patient nicht durch sogenannte Konditionierung auf die Transplantation vorbereitet (das gilt insbesondere für Patienten, die schon lange an gesundheitlichen Problemen leiden), kann die Zufuhr von Fremdkörpern in den Blutkreislauf zu katastrophalen Komplikationen führen. Ähnlich verhielt es sich wohl auch mit Gesetzen.4
Dort in diesem Panzer, eingezwängt zwischen drei US-amerikanischen Soldaten, nahm meine berufliche Karriere eine Wendung. Dort gestand ich mir endlich ein, was ich schon immer gefühlt hatte, aber nicht wahrhaben wollte: dass Verfassungen – und Regeln im Allgemeinen – den Keim zur Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung in sich tragen können.
Es war wahrscheinlich der Fall der Berliner Mauer, der mich dazu brachte, mein Leben den Gesetzen zu widmen. Ich hatte vor Kurzem mein Bachelorstudium abgeschlossen, und auf der ganzen Welt wurden Grenzen geöffnet. Pinochet hatte gerade den Volksentscheid verloren, in dem über die Fortsetzung seiner Diktatur abgestimmt wurde, und der Südkegel Südamerikas entledigte sich seiner militärischen Machthaber. Auf der anderen Seite des Globus hatte Michail Gorbatschow gerade Glasnost verkündet – seine Politik der offenen Diskussion über die politische, ökonomische und soziale Lage der Sowjetunion. Als junge Promotionsstudentin war ich fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch all diese demokratischen Experimente auftaten, und mein Wohnsitz New York verstärkte diese Neugier noch.
Wir Studentinnen verbrachten viel Zeit auf dem von Bäumen gesäumten Gelände der Columbia University, das zwischen dem Broadway und der Amsterdam Avenue liegt und eingezäunt und bewacht ist – ein Elfenbeinturm inmitten einer komplexen und vielfältigen Metropole. Vom ersten Tag an zog mich die Universität in ihren Bann. Die Korridore des Gebäudes für Internationale Beziehungen in der 124th Street waren zugepflastert mit wichtigen Ankündigungen, dass bestimmte Kurse gestrichen und dafür schnellstmöglich neue zusammengestellt wurden. Bedingt durch die ungewisse Entwicklung der Weltordnung in den frühen 1990ern wurde »Sowjetisches Recht« durch »Gesetzgebung im ehemaligen sowjetischen Raum« ersetzt. Das »kommunistisch« in vielen Titeln wurde durch »post-kommunistisch« oder Ähnliches ersetzt. »Planwirtschaft« hieß plötzlich »Transformationsökonomie«. Die Welt war zu einem Labor geworden, in dem sich vor unseren Augen althergebrachte Regeln und Machtstrukturen auflösten, während die Länder des weitläufigen kommunistischen Blocks eine weitere Metamorphose durchliefen. An erster Stelle stand dabei die Ausarbeitung neuer Regeln und Gesetze. Das Gefüge des Kalten Krieges endete nicht wie befürchtet in einem nuklearen Holocaust, sondern wurde Stück für Stück demontiert wie ein Potemkinsches Dorf. Diese Situation bot großartige Möglichkeiten für alle, die die Ausbreitung der Demokratie vorantreiben wollten, indem sie sich für die Implementierung demokratischer Gesetze und Verfassungen einsetzten, mit denen Rechte und Freiheiten verankert wurden.
Im ersten Jahr meines Promotionsstudiums verfasste ich mit meinem Doktorvater einen Artikel, der in mir etwas auslöste. Ich wurde zu einer überzeugten Befürworterin von Regeln und hatte die Vorstellung, dass es nur der richtigen Gesetze bedurfte, die den Menschen die richtigen Anreize boten, um funktionierende Demokratien und gute Staatsbürger hervorzubringen. Gestärkt durch köstliches äthiopisches Essen und die Ben-&-Jerry’s-Lieferungen meines Bruders arbeiteten wir bis spät in die Nacht und fanden tatsächlich Anzeichen für eine bemerkenswerte Korrelation: Damit sich eine junge Demokratie festigen konnte, bedurfte es eines parlamentarischen und nicht eines präsidialen Regierungssystems. Daten aus der ganzen Welt zeigten, dass eine Bevölkerung, die mit ihrem direkt gewählten Präsidenten unzufrieden war (weil er zum Beispiel schlecht regierte, nicht im Interesse des Volkes handelte oder sich nicht mit der Mehrheit im Parlament einigte, sodass keine Entscheidungen getroffen werden konnten), nur zwei Möglichkeiten hatte, dieses Staatsoberhaupt außerhalb einer Wahl abzusetzen – und beide waren kostspielig. Die erste ist ein langwieriges Amtsenthebungsverfahren, von dem wir aus den USA wissen, dass es selten ist und ein Land spaltet. Die schnellere, aber blutigere Lösung ist ein Putsch. In afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern mit präsidentiellem Regierungssystem, in denen das Militär an der Macht war, waren Staatsstreiche regelrecht an der Tagesordnung. Das Regierungssystem dieser Länder orientierte sich an der Präsidialverfassung der USA.5
Natürlich scheiterten parlamentarische Regierungssysteme auch, aber anscheinend seltener. Je genauer ich jedoch diese Länder und ihre politischen Systeme – die Punkte in unseren Grafiken darstellten – untersuchte, desto mehr fragte ich mich, ob andere Gesetze wirklich etwas verändern würden. Der Sommer, den ich in Rio de Janeiro und Brasília verbracht hatte, könnte der Auslöser dafür gewesen sein. Dort hatte ich mich mit ehemaligen militärischen Machthabern getroffen, um zu verstehen, ob eine parlamentarische Staatsordnung überhaupt in einem Land funktionieren würde, in dem bisher starke, charismatische Führer populär waren – die Sorte Caudillo, die die Unabhängigkeit von einer Kolonialmacht erringen konnte. In diesem atemberaubend schönen Land mit seinen ebenso schönen Menschen liegt der Gini-Koeffizient (ein statistisches Maß für Einkommensungleichheit) bei etwa 50 Prozent, was auf eine große Ungleichheit hinweist (ein Wert von null würde vollkommene Gleichverteilung von Einkommen bedeuten)6. Das Land ist also hinsichtlich des Einkommens stark gespalten, aber es besteht auch eine tiefe Kluft zwischen den Städten und dem ländlichen Raum. Im Zusammenspiel mit der komplexen sozialen, wirtschaftlichen und geografischen Beschaffenheit Brasiliens begünstigte das die Verbreitung von Korruption und extreme Schwankungen zwischen Apathie und Aktivismus unter der Bevölkerung. All das machte es charismatischen, aber problematischen Führern leicht, die Macht zu ergreifen.7
Meine Zweifel könnten auch dadurch genährt worden sein, dass ich in Heidelberg eineinhalb Jahre dazu forschte, warum die Weimarer Republik trotz einer der fortschrittlichsten Verfassungen der damaligen Zeit gescheitert war. Diese analysierte ich, während ich im Schatten der Ginkgobäume saß, die Goethe so mochte. Damals glaubte ich, dass einige verhängnisvolle Regelungen, die in der Verfassung aufeinandertrafen, für den Untergang der Republik verantwortlich waren. Zu diesen gehörte der berühmte Artikel 48, ein Notverordnungsrecht, das es dem Präsidenten erlaubte, in Krisenzeiten mithilfe der Streitkräfte vage definierte »notwendige Maßnahmen« zu ergreifen.8 Meinen deutschen Freunden und Kollegen erschien es aber plausibler, dass die Probleme Weimars durch das komplizierte soziale Gefüge der Republik hervorgerufen worden waren, die zudem mit einer drohenden Wirtschaftskrise und einer instabilen Weltlage konfrontiert war. Könnte es sich schlicht um eine Demokratie ohne Demokraten gehandelt haben?9
Auch der bitterkalte Februar, den ich in Moskau verbrachte, verstärkte meine Zweifel. Unter den Menschenrechtsaktivisten und Regierungsmitgliedern, die ich dort befragte, befand sich auch Galina Starowoitowa, die unter Jelzin für interethnische Fragen zuständig gewesen war. Wir trafen uns im Pizza Hut gegenüber der Duma und sprachen lange miteinander. Sie berichtete, wie schwierig die Zusammenarbeit mit vielen der neuen Führer Russlands war, da sie keine »Teamplayer« waren. Das machte mir deutlich, dass Gesetzen und den Anreizstrukturen, die sie schufen, Persönlichkeiten und Geisteshaltungen gegenüberstanden.10 Nur wenige Monate nach diesem Gespräch erfuhr ich aus der Zeitung von Galinas Ermordung.
Mit jeder dieser im echten Leben gesammelten Erfahrungen wuchs mein Zweifel an der tatsächlichen Macht von Gesetzen.
Als Professorin für Staats- und Rechtswissenschaften, die auch im Ausland als Regierungsberaterin tätig war und die dortigen Eliten schulte, wollte ich vielleicht nicht wahrhaben, was mir eigentlich schon seit Langem klar war: dass die Demokratie nicht gut funktioniert. Nirgendwo. Trotz intensiver Bemühungen, gute Gesetze auszuarbeiten. Seit Jahrzehnten wird diese Tatsache an Universitäten und in Thinktanks dokumentiert und beschrieben. In den 1980er-Jahren war man noch voller Hoffnung, als südamerikanische Diktatoren nach Jahren brutaler Repressionen gestürzt wurden. Im darauffolgenden Jahrzehnt kam der demokratische Wandel des Südkegels jedoch zum Stillstand. Der argentinische Politikwissenschaftler Guillermo O’Donnell bezeichnete die nun entstandene Staatsform als »delegative Demokratie«: Die Präsidenten dieser unvollständigen Demokratien wurden zwar frei gewählt, agierten aber eher wie Caudillos und nicht wie Staatsführer, die dem Volk Rechenschaft schuldig waren.11
Der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 war ein Triumph für die Demokratie, doch in den 2000er-Jahren gewannen rechtspopulistische Parteien wie die ungarische Fidesz und die polnische PiS langsam, aber stetig in Zentral- und Osteuropa an Zuspruch. Fremdenfeindliche Parolen und Intoleranz wurden gesellschaftsfähig, was sich in abscheulichen öffentlichen Äußerungen und politischen Maßnahmen, die sich gegen Juden, Roma und Mitglieder der LGBTQ+-Community richteten, niederschlug.12 Gebannt verfolgten wir im Westen, wie Menschen in der arabischen Welt zu Beginn der 2010er-Jahre für ihren demokratischen Frühling kämpften – doch dieser Kampf führte am Ende nur einen kalten, blutigen arabischen Winter herbei, und es brachen Bürgerkriege in Syrien, Libyen und Jemen aus. Die dortigen Volksbewegungen wurden nicht nur durch die Machthaber niedergeschlagen, sondern auch durch konterrevolutionäre Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die nicht bereit waren, ihre althergebrachten Grundsätze zur Disposition zu stellen.13 Die Bürger Europas lehnten eine europäische Verfassung ab und damit auch die Chance, sich als »Wir, die Völker des Vereinigten Europas« zusammenzutun und eine einzigartige kodifizierte Verpflichtung füreinander einzugehen; einige Jahre später kam dann der Brexit, und mit einem Mal schien die soziale und wirtschaftliche Zukunft Europas ungewiss. In der Folge verschoben sich die Rhetorik und die Einstellung der Bevölkerung in Teilen Europas wieder in Richtung Nationalstaatlichkeit. Der russische Einmarsch in die Ukraine sorgte für Entsetzen und Fassungslosigkeit, doch die meisten Menschen lebten einfach ihr Leben weiter, während der Krieg und die Flüchtlinge Teil des Alltags wurden. Man sah tatenlos zu, wie im »alten Europa« der Hass auf »das Andere« wieder aufkeimte. Menschen filmten, anstatt einzugreifen, als wären sie Touristen in einem Gruselkabinett. Der Straßenverkäufer Alika Ogorchukwu wurde in einer italienischen Küstenstadt am helllichten Tag sogar mit seinem eigenen Gehstock erschlagen, während Menschen einfach vorbeiliefen.14 Das ist aus der europäischen Gesellschaft geworden.
Aber nicht nur die Gesellschaft benahm sich daneben, sondern auch der Staat. In den USA herrschte Entsetzen darüber, dass die »demokratische« Rechtsordnung Rodney King im Stich gelassen hatte, einen Bürger des Landes, dessen grundlegende Menschenrechte durch die Verfassung und den Staatsapparat hätten geschützt werden müssen. Stattdessen wurden diese Rechte ausgerechnet von den Staatsdienern verletzt, deren Aufgabe es war, für seine Sicherheit zu sorgen. Dasselbe sollte auch Eric Garner, Michael Brown, George Floyd, Tyre Nichols und zahllosen anderen widerfahren. In vielen US-amerikanischen Städten schien ein fundamentaler Grundsatz der Demokratie – dass Verantwortliche, die gegen ihre Pflicht verstoßen hatten, zur Rechenschaft gezogen werden müssen – nicht zu gelten. Wie gelähmt mussten wir mitverfolgen, wie in diesem Land Gesetze, die freie und faire Wahlen regeln, einen Mann an die Spitze des Landes beförderten, der sich nicht der Demokratie verpflichtet fühlte, sondern ein narzisstischer Demagoge war. Gleichwohl war schon länger offensichtlich, dass die meisten demokratischen Verfassungen Freiheit und Gleichheit versprachen, aber trotzdem Joseph McCarthys und Jean-Marie Le Pens hervorbrachten.15