Demut lernen - Ina Friedmann - E-Book

Demut lernen E-Book

Ina Friedmann

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Beschreibung

Diese wissenschaftliche Aufarbeitung der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in katholischen Einrichtungen beleuchtet erstmals diese Strukturen nach 1945.Im Rahmen des Forschungsprojekts "Studie zu Martinsbühel. Fremdunterbringung in katholischen Heimen in Tirol nach 1945" haben sich Ina Friedmann und Friedrich Stepanek unter Projektleitung von Dirk Rupnow und begleitet von der sogenannten Dreierkommission Martinsbühel zwei Jahre lang intensiv mit sieben katholischen Einrichtungen auseinandergesetzt: von Kinderheimen über Sonderschulheime bis zu Pflegeeinrichtungen. Gemeinsam war ihnen neben der katholischen Trägerschaft, dass es sich nicht um klassische Erziehungsheime handelte, der Umgang mit den in ihnen lebenden Minderjährigen sich aber in vielen Aspekten heim- und ordensübergreifend ähnlich gestaltete. Neben Archivrecherchen wurden Interviews mit 75 Zeitzeug:innen – der Großteil von ihnen ehemalige Heimkinder – durchgeführt, deren Erinnerungen den Schwerpunkt des Buches darstellen. Mittels behördlicher bzw. institutioneller Dokumente werden regionale und kirchliche Strukturen, Vernetzungen, Finanzen und auch amtliche und heiminterne Beurteilungen der Kinder und ihrer Familien nachgezeichnet. Durch die Berichte der Betroffenen gelingt es zugleich 'dahinter' zu blicken: In die Heime hinein mit ihrem Alltag, der Ausbildung, Freizeitgestaltung, aber auch Arbeitspflicht, Bestrafungen und Gewalt. Das vorliegende Buch verankert nun die erzählten Erfahrungen als Teil der Tiroler Zeitgeschichte.

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Seitenzahl: 1117

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Dank

Vorwort Soziallandesrätin Eva Pawlata

Vorwort Bischof Hermann Glettler

Vorwort „Dreierkommission Martinsbühel“

Forschungsauftrag: Ursprung, Erkenntnisinteresse und Relevanz

Forschungskontext und -stand

Theoretisches

Aufbau der Studie

Sprache – historisch und aktuell

Methodik

Aktenlage

Kloster- und Schulchroniken als Quellen

Einsichtnahme in Akten von Betroffenen – Notwendigkeiten, Problematiken und Respekt

Das Unvorstellbare vorstellbar machen: Die Interviews – Vorgehen und Methodik

Der Aufruf und die Resonanz

Methodik

Die Gesprächssituation

Anonymisierung

„[D]ass man nicht zum Schweigen gebracht wird, sondern zum Reden.“ Beweggründe für die Kontaktaufnahme und die Gespräche

Die Befürchtung des „Unglaubens“ und die Einschätzung der Erlebnisse durch Dritte

Grenzsetzungen durch Kirche und Land

Unterstützung von Orden und Einrichtungen

Leerstellen

Betreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe im Jahr 2021

Katholische Internate und Schüler*innenheime

Sexuelle Gewalt von Vertretern der katholischen Kirche außerhalb von Institutionen

Unmut über aktuelle Fälle mangelnder Behindertenbetreuung

Konfessionelle Fremderziehung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Entwicklungen bis zur Wiederbelebung der konfessionellen Heime in Tirol nach 1945

Martinsbühel vor

Der Besitz der Erzabtei St. Peter: Rückstellungen und Nutzungsentscheidungen

Überlegungen zur Nutzung der Liegenschaften nach 1945

Konfessionelle Fremdunterbringung nach 1945

Das Kinderheim Scharnitz vor und nach 1945

Martinsbühel als Sonderschulheim für Mädchen

Die Benediktinerinnen und die Erzabtei: Pacht, Umbauten und Finanzen

Die Mädchen von Martinsbühel: Zahlen und Überblicke

Der Haushaltungskurs in Martinsbühel

Der Männerorden und die Benediktinerinnen

P. Pirmin Morandell

Die Landwirtschaft des Männerordens

Das Verhältnis zum Mutterkloster in Melchtal/Schweiz

Die Ausrichtung der untersuchten Heime: Institutionelle Entwicklung, Organisation und Struktur

St. Josef in Mils

Josefinum in Volders

Diskussionen um den Standort Kinderheim Josefinum – Erziehungsheim Kleinvolderberg 1945 bis 1950

Die Buben des Josefinums: Erinnerungen, Zahlen und Überblicke

Der Umzug nach Vorarlberg: Jupident

Regelwerke und Grenzen – für Schwestern und Kinder

Das Seraphische Liebeswerk: die Bubenburg

P. Magnus Kerner und das Personal der Bubenburg

Das Elisabethinum

Strukturelle Entwicklungen und Erweiterungen Ende des 20. Jahrhunderts

Das Kuratorium

Thurnfeld in Hall i. T.

Das Thurnfeld als Sonderschulinternat für Buben

Standorte, Wahrnehmung und Einbettung in die Dorfgemeinschaft

Die Wahrnehmung der Heimkinder von außen

Wohltäter*innen

Totale Institution: Das Kloster als Heim und das Heim als Kloster

Besuche und Kontakt nach außen

Die Ordensfrauen als Heimpersonal

Religiosität als Teil der Pädagogik und des Alltags

Auswirkungen auf den Glauben

Religiöse Feiertage und Feste

Geburtstage und Namenstage

Personalstrukturen

Das weltliche Personal

Die Aus- und Weiterbildung des Personals

Überforderung und Überalterung

Alleingelassen – Die Benediktinerinnen von Martinsbühel

Die finanzielle Situation der konfessionellen Heime

Taschengeld und Patenschaften

Viele Wege führen ins Heim: Einweisungen

Einweisungen über (Bundes-)Ländergrenzen hinweg

Sonderfall Südtirol

Die soziale Klasse als Aufmerksamkeitsmerkmal im Fürsorgebereich

‚Private‘ und angeordnete Fremdunterbringungen

Ungerechtigkeit im Heimalltag

Die Rolle der Jugendfürsorgebehörden

Jugendamtseinweisungen

Pflegefamilie – Erziehungsheim – Sonderschulheim: Ein Beispiel

Kontakt und Kooperation mit Fürsorgebehörden

Überprüfung und Unterstützung

Führungsberichte

Die konfessionellen Heime im mediko-pädagogischen (Fürsorge-)Feld

Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation

Die Innsbrucker Kinderklinik

Heilpädagogische Sprechtage

„Und so ist halt gekommen, dass sie nach Martinsbühel hat müssen.“ Heimeinweisungen durch die Schulbehörde

„[…] wo man aus mir einen ordentlichen Menschen machen wird.“ Heime und Eltern

Erste Eindrücke: Ankunft und Aufnahme im Heim

Bildstrecke

Die Heime

Einblicke in das Mädchenheim Martinsbühel

Der Alltag: Abläufe, Aufgaben und Arbeiten

Schulbildung und Schulunterricht

Freizeit

(Zwangs-)Arbeit

Fürsorgekinder außerhalb der Heimunterbringung als Arbeitskräfte

Ferien

Traditionelle Geschlechterrollenverteilung und ihre Bedeutung im konfessionellen Heimkontext

Der Umgang mit Sexualität in den Heimen

Tabu: Menstruation und Aufklärung

Die sanitäre Situation

Körperhygiene

Krankheit und Ärzt*innenbesuche

Fachärztliche Betreuung

Die Situation unter den Kindern: Freundschaft und Streit

Geschwister und Verwandte im selben Heim

Menschliche Wärme und Geborgenheit

„In Zirl oben, da hast ja gar nichts gelernt. Ja, Abhauen, das hast gelernt.“ – Heimfluchten

Gewalt: Struktur und Formen

Psychische Gewalt mit Beschämung und Demütigung

Physische Gewalt

Strafen

Bettnässen

Belohnungen

Gewalt und Mobbing unter den Kindern

Sexuelle und sexualisierte Gewalt

Zeitgenössischer institutioneller und behördlicher Umgang mit Gewaltvorwürfen

„Es dürfte einfach der Schwester einmal die Geduld gerissen haben.“

Problemkinder und der Wandel im Umgang mit Fremdunterbringung

Vorbereitung auf die ‚reale‘ Welt

Nach der Entlassung: Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten

Landwirtschaftliche Hilfsarbeit: Entlassungspraxis bei Burschen in den 1950er Jahren

Der weitere Lebensweg und der Umgang mit der Heimzeit

Auswirkungen der Heimzeit

Gehör und Anerkennung

Ina Friedmann/Dirk Rupnow/Margret Aull Keine Demut. Zum Umgang mit den Forschungsergebnissen zur katholischen Heimerziehung in Tirol

Die Vorabveröffentlichung der Ergebnisse in der Tiroler Tageszeitung

(Keine) Präsentation der Ergebnisse

Vorwürfe von „Unwissenschaftlichkeit“

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Dank

Unser erster und größter Dank gilt allen Gesprächspartner*innen, die mit uns Kontakt aufgenommen haben. Dass sie uns in persönlichen Gesprächen, am Telefon, über Videochat und per E-Mail Einblick in ihre Erfahrungswelt, ihre Vergangenheit, ihre Wahrnehmungen – kurz: in ihr Leben – gegeben haben, wissen wir sehr zu schätzen. Auch das uns entgegengebrachte Vertrauen. Ohne diese Zeitzeug*inneninterviews hätte die vorliegende Studie nicht durchgeführt werden können. Die daraus entstandenen Kontakte sind eine große Bereicherung – auch für uns persönlich. Jede und jeder Einzelne hat mit ihren und seinen Erinnerungen zur vorliegenden Dokumentation der katholischen Heimerziehung in Tirol beigetragen. Die Erfahrungen, die dadurch hier zusammengebracht werden konnten, haben einen festen Platz in der Geschichte der katholischen Kinderheime.

Für ihre Unterstützung und wertschätzende Anerkennung danken wir der „Dreierkommission Martinsbühel“, die unsere Forschungen begleitet hat: Margret Aull, Elisabeth Harasser, Sr. Judit Nötstaller, Franz Pegger und Dirk Rupnow, zugleich Projektleiter. Die Hilfestellungen in unterschiedlichen Belangen, die offene Kommunikation und das gegenseitige Vertrauen waren sowohl hinsichtlich vieler Arbeitsschritte als auch auf persönlicher Ebene von großer Bedeutung.

Unser Dank gilt auch Horst Schreiber – sein Wissen und seine Perspektive stellten ebenfalls eine wichtige Unterstützung dar. Auch Elisabeth Dietrich-Daum und Michaela Ralser danken wir für Hinweise und Hilfestellungen.

Ebenfalls danken wir allen Archivar*innen und Archivmitarbeiter*innen, weltlich und geistlich, die unsere Recherchen mit großem Engagement, Bemühen und mitunter auch Kaffee unterstützt, unsere Anfragen beantwortet und auch weitere Hinweise gegeben haben.

Für die Finanzierung der Drucklegung und ihre Unterstützung in sämtlichen diesbezüglichen Belangen danken wir Landesrätin Eva Pawlata und David Geiger.

Vorwort Soziallandesrätin Eva Pawlata

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser,

viele Mädchen und Burschen, die ihre Kindheit in konfessionellen Heimen in Tirol verbracht haben, machten traumatische Erfahrungen. Fälle von struktureller, physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt hinterlassen ihre Spuren bis heute.

Was in der Vergangenheit geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen. Wir können aber alles dafür tun, dass diese Vorkommnisse – vom pädagogischen Versagen bis hin zu den persönlichen Schicksalen – aufgearbeitet und damit gesehen und gehört werden. Zugleich ist eine kritische Auseinandersetzung auch deshalb wichtig, weil daraus Lehren für die Gegenwart und Zukunft gezogen werden können.

Damit es nie wieder zu solchen Vorfällen kommt, wurden seither seitens des Landes zahlreiche Maßnahmen gesetzt: von der Installierung einer Kinder- und Jugendanwaltschaft über die Schaffung eigener Vertrauenspersonen, die Einrichtungen aufsuchen, bis hin zur Vorschrift pädagogischer Standards. Es gilt, die Heim-, Betreuungs- und Bildungsstätten weiterhin abzusichern und auszubauen, und für das Thema Gewalt, vor allem strukturelle Gewalt, immer wieder zu sensibilisieren.

Das Land Tirol steht zu seiner Verantwortung und als zuständige Soziallandesrätin entschuldige ich mich bei allen Betroffenen aufrichtig für das, was damals in den Heimen passiert ist.

Ich bedanke mich bei der „Dreierkommission Martinsbühel“ sowie beim Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und dem Wissenschaftsbüro Innsbruck für die Aufarbeitung und Niederschrift der Inhalte. Sie tragen ganz wesentlich zu einer aktiven Erinnerungskultur bei, die wir gerade in Bezug auf die dunklen Kapitel unserer Geschichte ganz dringend brauchen.

Ihre

Eva Pawlata

Soziallandesrätin

Vorwort Bischof Hermann Glettler

Sensibilität weiterhin stärken

Unauslöschlich brennen sich die Wunden von erlebter Gewalt in all ihren zerstörerischen Ausprägungen in die Seelen der Opfer. Die Berichte über das in den Heimen zugefügte Leid erschüttern. Sie spiegeln ein weit in das Fürsorgesystem der Nachkriegszeit hineinreichendes pädagogisches Totalversagen. Die hier vorliegende Studie hatte den Auftrag zu einer interdisziplinären Aufarbeitung und Kontextualisierung des Geschehenen. Die zutage getretenen Vergehen sollten systematisch eingeordnet und mit den zeitbedingten pädagogischen Standards der Heimunterbringung der Nachkriegszeit in Beziehung gesetzt werden.

Nicht überzeugend finde ich die vorliegende Studie in einigen Fragen betreffend die Qualität wissenschaftlichen Arbeitens – konkretisierbar an den Ausführungen zu Thurnfeld. Zwei befragte Zeugen können nicht für 1200 Buben stehen, die im Salesianer Heim untergebracht waren. Und wenn in einem konkreten Fall Aussage gegen Aussage steht, kann es nicht sein, dass der Inhalt einer massiven Beschuldigung als historisches Faktum ausgegeben wird. Fairness und größtmögliche Objektivität sind auch all jenen geschuldet, die sich unter schwierigsten Bedingungen um eine angemessene Betreuung der ihnen anvertrauten jungen Menschen bemüht haben.

Dennoch danke ich den Kommissionsmitgliedern unter dem Vorsitz von Dr.in Margret Aull und dem Projektteam unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Dirk Rupnow für ihr Bemühen um eine umfassende Darstellung der Heimunterbringung mit ihrer Einbettung in das behördlich-staatliche Handlungsfeld der Nachkriegsjahrzehnte. Ich wünsche mir für die Zukunft ein offenes, sensibles Gesprächsklima, sowohl in der Wahrnehmung des verschuldeten Leids als auch in der historischen Einordnung der Geschehnisse. Ebenso möchte ich auf die Notwendigkeit einer qualitätsvollen Präventionsarbeit hinweisen, zu der sich die Katholische Kirche in Österreich bereits seit 2010 verpflichtet hat. Der Schutz der jungen Menschen muss ein gesamtgesellschaftliches Anliegen bleiben.

Bischof Hermann Glettler

Vorwort „Dreierkommission Martinsbühel“

Im Februar 2019 erhielt die unabhängige sog. „Dreierkommission Martinsbühel“ den Auftrag, die Vorkommnisse im Mädchenheim Martinsbühel – vom Ende der 1940er bis in die beginnenden 2000er Jahre – vor allem mit dem Fokus auf zugrunde liegende strukturelle Gegebenheiten und Zusammenhänge zu untersuchen. Die in diesem Buch nun vorliegenden Forschungsergebnisse machen allerdings deutlich, wie wichtig und richtig es war und ist, diesen aufdeckenden und erkennenden Blick auf alle konfessionellen Heime auszuweiten.

In dieser Arbeit werden, mit Blick auf den jeweiligen historischen Kontext, Strukturen, die physische, psychische und auch sexualisierte Gewalt teilweise implizieren, jedenfalls aber im Alltag als selbstverständlich zulassen, differenziert herausgearbeitet und beleuchtet. Dabei wird nicht zuletzt auf jene Momente struktureller Gewalt hingewiesen, die das Handeln der damals verantwortlichen Erwachsenen mitgeprägt hat.

Ein zentrales Moment dieser Studie liegt darin, Menschen, die als Kinder und Jugendliche in konfessionellen Heimen Gewalt ausgesetzt und in der Folge sehr oft weitgehend entrechtet waren, zumindest im Heute eine Stimme zu geben. Die Angst, dass Unglaubliches – zumal im kirchlichen Kontext und erfahren von Männern und Frauen der Kirche – eben auch nicht geglaubt wird, hat viele lange schweigen und verstummen lassen. Hinzukommt, dass die Gesellschaft auch nicht willens war, zuzuhören und sich mit diesen Erfahrungen zu konfrontieren. Dieser beinahe reflexartige Impuls, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, hält bedauerlicherweise ungebrochen bis heute an.

Die transparente Offenlegung des wissenschaftlich methodischen Vorgehens, die ausführliche Quellenrecherche und vor allem das behutsame Vorgehen bei den Interviews haben eine relevante Studie und ein beeindruckendes Zeitzeugnis hervorgebracht. Dafür gilt unser Dank den beiden AutorInnen, Ina Friedmann und Friedrich Stepanek.

Die Bereitschaft und Fähigkeit, Gewalt zu erkennen und zu benennen sind Voraussetzungen dafür, diese einzudämmen. In diesem Sinne wünschen wir uns, dass dieses Buch einen Beitrag dazu leisten kann. (Zeit-)Geschichte zu reflektieren, Schmerzliches auch festzuhalten, ist ein notwendiger Beitrag zur Aufklärung, aber auch zu einer nachhaltigen Erinnerungskultur.

Innsbruck, im Juni 2024

Margret Aull – Elisabeth Harasser – Judit Nötstaller – Franz Pegger – Dirk Rupnow

Forschungsauftrag: Ursprung, Erkenntnisinteresse und Relevanz

Fremdunterbringung boomte, vor allem in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts. Die beiden Weltkriege hatten ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen und besonders die Jugend wurde als gleichermaßen gefährdet wie gefährlich betrachtet. Der staatliche Wunsch nach (Wieder-)Herstellung einer normierten und hierarchisierten Gesellschaft begünstigte die (Re-)Etablierung von Heimstrukturen, die zwar unterschiedliche Ziele verfolgten – Verhaltenskorrektur, Erziehung, Sonderpädagogik –, dabei jedoch eines gemeinsam hatten: das Erreichen ihres Zwecks durch Segregation von der Außenwelt. Die Gemeinsamkeiten in der Innenwelt werden in diesem Buch ausführlich dargestellt. Die Grenzen von Fürsorge-, Förder- oder einfach Ersatzerziehung verschwammen vielfach, und zwar oft schon in der innerbehördlichen Benennung einzelner Heime: Sonderschulund Hilfsschulheim und -internat gingen ebenso durcheinander wie Kinder- und Erziehungsheim. Aber auch in den Erinnerungen der Männer und Frauen, die in diesen Einrichtungen untergebracht waren, reiht sich mitunter ein Heim an das andere, ohne maßgebliche Unterschiede offenbar werden zu lassen. Dies manifestiert sich etwa in der Drohung, bei schlechtem Verhalten aus dem katholischen Kinderheim Bubenburg im Zillertal in ein staatliches Erziehungsheim überstellt zu werden, wo die Kinder geschlagen würden. Für Interviewpartner Pepi war das bereits als Kind unverständlich: Schläge erhielt er auch in der erstgenannten Einrichtung zu Genüge.1

In diesem Zusammenhang ist der Titel dieses Buchs zu sehen: Demut war es, die die Kinder in katholischen Heimen lernen sollten. Per se kein negativ behafteter Begriff, war die Erziehung zu eben dieser Demut, zu Bescheidenheit, Dankbarkeit, Genügsamkeit, Folgsamkeit und Unterordnung im konfessionellen Heimkontext vor allem etwas den Alltag Beherrschendes. In erster Linie war Demütigung dabei das Mittel zu eben dieser Erziehung. Wiederholte Abwertung, Erniedrigung und Entpersonalisierung geschahen durch Anwendung von Gewalt in unterschiedlichen Ausprägungen. Sie befähigte die Betroffenen nicht, ein selbstbewusstes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Zugleich versteht sich der Titel aber auch als Hinweis darauf, wo heute Demut angebracht ist: nämlich im Umgang mit jenen Betroffenen, die dieses Fremderziehungssystem durchlebten. Behördlicherseits, von institutioneller, politischer und gesellschaftlicher Seite ist es höchste Zeit, ihnen mit uneingeschränktem Respekt, Anerkennung und Wertschätzung zu begegnen.2

Höchste Zeit auch unter Betrachtung des Coverbildes, das mehrere Ebenen des Themas katholische Heimerziehung in den Blick rückt. So zeigt es einerseits die reale Praxis, Minderjährige in den Fremdunterbringungseinrichtungen mittels Zwangsjacken zu fixieren – nicht allein zum Selbstschutz, sondern als Strafmaßnahme für als ‚schlimm‘ wahrgenommenes Verhalten. Andererseits symbolisiert es auch die metaphorische Fesselung, der sich viele ehemalige Heimkinder ausgesetzt sahen: den Zwang, der ihren Alltag mit der Regulierung aller Aspekte bestimmte. Auch die Puppe selbst, ein bewegliches, aber nicht selbständiges Wesen, verdeutlicht diese Fremdbestimmung, die viele Gesprächspartner*innen beschrieben und die – bewusst – keinen Raum für Eigenständigkeit und Selbstbestimmung ließ bzw. lassen sollte. Was so ausgedrückt im ersten Moment vielleicht nicht so drastisch erscheinen mag, offenbart sich in seinen Folgen im Verlauf des Buches. Vielen Minderjährigen wurde in Kinderheimen, eben auch in den katholischen, Leid zugefügt. Als Erziehungsmittel, aus Gleichgültigkeit ihnen und ihren Gefühlen gegenüber, als Bestrafung oder einfach im alltäglichen Umgang.

Eine weitere Ebene erschließt sich erst durch die Kenntnis des Entstehungskontexts: Die Puppe wurde von Frauen, die einen Großteil ihrer Kindheit in Martinsbühel verbrachten, als Teil der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit angefertigt. Sie war ein Geschenk an den Historiker Horst Schreiber, der sie für die Rahmung dieses Buches zur Verfügung stellte.3 Und die Puppe zeigt auch, dass die einstigen Fesseln der Vergangenheit angehören. Einer gesellschaftlich höchst relevanten Vergangenheit. Dies wahrzunehmen und anzuerkennen sollte keine Frage mehr darstellen.

Dennoch wird in diesem Buch auf eine fotografische Abbildung von ehemaligen Heimkindern verzichtet. Die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen stehen im Mittelpunkt und die metaphorischen Bilder, die aus ihren Berichten entstehen, sprechen für sich. Was allerdings in der Bildstrecke in der Mitte des Buches zu sehen ist, sind Aufnahmen der Einrichtungen, die behandelt werden. Darüber hinaus auch Eindrücke vom mittlerweile geschlossenen Mädchenheim Martinsbühel, die von einer geführten Begehung im Herbst 2020 stammen und mit freundlicher Genehmigung der Erzabtei St. Peter in Salzburg zum Abdruck gebracht werden konnten.4 Sie wurden nicht nur ausgewählt, weil Martinsbühel sozusagen der Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war, sondern auch um mit diesem retrospektiven Einblick in das Heim einen Eindruck der Atmosphäre zu vermitteln.

Nachdem ab 2010 eine Auseinandersetzung mit den Zuständen in österreichischen, so auch besonders den Tiroler, Kinderheimen begonnen hatte, standen zunächst die staatlichen Erziehungsheime im Fokus.5 Als 2018 der erste Artikel zu den Vorgängen im 2006 endgültig geschlossenen katholischen Kinderheim Martinsbühel bei Zirl in einer Tageszeitung erschien,6 bewegte dieser nicht nur viele Menschen. Er bewegte auch auf politischer Ebene etwas und war ein Anstoß für die lange überfällige Auseinandersetzung mit katholischer Fremderziehung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel Martinsbühel. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik war unausweichlich geworden. Eine Kommission wurde eingesetzt, sie musste aber aufgelöst und neu gebildet werden, denn ein Mitglied war Angehöriger des Ordens, in dessen Besitz die Liegenschaft in Martinsbühel war. Die neue Kommission mit dem Namen „Dreierkommission Martinsbühel“ empfahl die wissenschaftliche Aufarbeitung der Heimgeschichte unter Einbeziehung der anderen katholischen Kinderheime in Tirol, sodass eine aussagekräftige Studie entstehen könne, die nicht ein Heim als pars pro toto, also repräsentativ für alle, herausstellen würde. Der Name der ehrenamtlich tätigen Kommission stammt aus den drei Bereichen, denen ihre Mitglieder angehören: Land (Kinder- und Jugendanwaltschaft), Kirche (nicht involvierter Orden) und Wissenschaft (historisch, psychologisch und juristisch). Die Kommission beauftragte das Forschungsteam mit der Durchführung der Studie und stand auch abseits regelmäßiger Kommissionstreffen für Fragen, Unterstützung und Hilfestellung jeglicher Art zur Verfügung.

Die Fördergeber des Projekts waren entsprechend den Verantwortlichkeiten zu gleichen Teilen die Diözese Innsbruck und das Land Tirol. Erfreulicherweise war die Anregung der Dreierkommission zur Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes auf sämtliche Tiroler Kinderheime noch vor Projektbeginn angenommen worden. Bedauerlicherweise erfolgte jedoch keine Verlängerung der Projektlaufzeit von 23 Monaten oder Aufstockung des Budgets. Das bedeutet, dass bei vervielfachtem Arbeitsaufwand die Rahmenbedingungen nicht angepasst wurden und statt einem Heim sieben Einrichtungen im selben Zeitraum (zusätzlich eines kostenneutral, also aus den ursprünglich vorhandenen Mitteln, an die Laufzeit angefügten Monats) und unter denselben Bedingungen zu erforschen waren. Aus diesem Grund sind an verschiedenen Stellen in diesem Buch Hinweise zu lesen, dass manche Themen nicht weiter verfolgt werden konnten. Die Zeitressourcen des Projektteams reichten nicht aus, um allem nachzugehen. Weitere Forschungen sind deshalb unerlässlich.

Im Fokus standen die Zustände, im Sinn von Lebens- und Arbeitsrealitäten, in den untersuchten Einrichtungen. Die Erfahrungen der dort Untergebrachten stellen den Schwerpunkt dieses Buches dar, denn sie geben Aufschluss über Erlebtes, über Lebensbedingungen, die Atmosphäre in den Einrichtungen, den Umgang mit den Betroffenen und die Bedeutung dessen für sie unmittelbar sowie für ihr weiteres Leben. Auch das System, in dem sich diese Ersatzerziehung vollzog, markiert einen wichtigen Faktor in der Auseinandersetzung: Welche Strukturen gab es in den Heimen und welche wurden von außen – der Kirche und dem Land – bedingt, wie stellte sich die Interaktion von Ordensschwestern mit Übergeordneten dar, welche Sichtweisen herrschten vor und welche Auswirkungen hatte das auf die Heimkinder?

Die Einreihung der hier untersuchten Heime unter konfessioneller Trägerschaft in die Riege der Fremdunterbringungseinrichtungen in Tirol, aber auch den übrigen Bundesländern, wird in Funktionen und Funktionieren, Ausrichtung und Einstellung sowie Vernetzungen und Kooperationen deutlich. Neben der Rekonstruktion der spezifischen Strukturen der hier im Fokus stehenden katholischen Heime Tirols in Bezug sowohl auf die jeweilige institutionelle Realität als auch auf ihre Einbettung in das Land mit seiner Verwaltung inklusive seiner Abteilungen zum Kinderschutz, auf die Kinderförderung und Ausbildung und auf ihre Kooperationen geht es vor allem um die Erfahrungen jener Frauen und Männer, die in diesen Heimen untergebracht waren. Ihre Aussagen sind es, die den Kern der vorliegenden Arbeit darstellen und die mit ihren Erinnerungen zwar nicht alle offenen Fragen zur katholischen Fremderziehung und ihrem Alltag beantworten, es aber schaffen, die Heimatmosphäre auch nach 30 bis 75 Jahren – auf diesen Zeitraum bezogen sich die Erfahrungen – greifbar zu machen. Die Resonanz auf den Zeitzeug*innenaufruf, der vom Projektteam lanciert wurde, zeigt deutlich den Gesprächsbedarf, der auch nach mehr als zehn Jahren Forschungen zur Heimgeschichte in Tirol vorhanden ist: Viele der Gesprächspartner*innen, die im Folgenden zu Wort kommen, meldeten sich das erste Mal, um von ihren Erlebnissen in kirchlichen Heimen zu erzählen. Wichtig ist für sie, ernst genommen und gehört zu werden. Das möchte dieses Buch gewährleisten. Die Interviewpartner*innen sind es auch, denen sich das Forschungsteam verpflichtet sieht. Es geht davon aus, dass dies auch im Sinn der Auftraggeber*innen ist.

Während die öffentlichen Heime sich durch ihren Status, nämlich jenen von Landeseinrichtungen, zwar nicht früh, aber früher ihrer Geschichte zu stellen hatten, traf dies für die Heime der katholischen Kirche nicht zu. Als privat geführte Einrichtungen erhielten sie zwar Kinder als ‚Zöglinge‘ sowie Subventionen aus öffentlicher Hand und waren nicht zuletzt deshalb eng mit einzelnen Abteilungen der Landesverwaltungen verbunden, zählten aber nicht zu ihren Organen. Anders gesagt: Sie agierten im Gefüge des Landes, waren jedoch dabei weitgehend autonom. Verantwortlich waren sie ihren Mutterorden und den für sie zuständigen Abteien. Damit hängt zusammen, dass es für die Orden keine Verpflichtung gab und gibt, ihre Akten zu öffnen und der Forschung und/oder den Betroffenen zugänglich zu machen. Allein das Seraphische Liebeswerk, das mit der Bubenburg in Fügen das größte der hier untersuchten katholischen Heime führte, stellt in Bezug auf früher begonnene Aufarbeitung und Aktenzugänglichkeit für die genannten Personengruppen eine positive Ausnahme dar.

Forschungskontext und -stand

Das Thema katholische Kinderheime und dortige Lebensumstände im 20. Jahrhundert ist auch heute noch ein sehr sensibles, und zwar nicht allein für ehemals dort lebende Männer und Frauen. Auch Vertreter*innen jener Einrichtungen, die das Funktionieren der Institutionen und ihre Beteilung mit Minderjährigen gewährleisteten, versuchen, die jeweilige Involvierung in die damaligen Zustände abzuschwächen. Etwa indem versucht wurde, die Zuweisung von Mädchen nach Martinsbühel durch die Jugendfürsorge als „Einzelfälle“ oder die dort wirkenden Ordensfrauen als die eigentlichen Opfer darzustellen – reale Erfahrungen im Zuge der Forschungsarbeit –, zeigt sich die kaum vorhandene Übernahme von Verantwortung und das wenig existente Verständnis für ehemalige Fürsorge- und Fremdunterbringungsrealitäten. Von außen, und dies ist allen Beteiligten klar, bleiben solche Versuche der Verantwortungsdiffusion – also der Verteilung von Verantwortung auf sämtliche Akteur*innen – sowie der Verantwortungsverweigerung und -abschwächung nicht mehr unwidersprochen. Umso problematischer ist es, dass sich ‚hinter verschlossener Tür‘ offenbar nur wenig verändert hat, wenn es um Wahrnehmung und Belange von ehemaligen Heimkindern geht. Ob die Fürsorge in ihr Leben involviert war oder nicht und auch wenn sie mittlerweile zum Teil organisiert sind, fehlt ihnen eine laute und vor allem gewichtige Lobby, die für sie eintritt. Mit welchen Hürden sie durch ihre Heimvergangenheit in unterschiedlichen Lebensphasen konfrontiert waren und sind, wird in diesem Bericht angesprochen. Dass manche von ihnen auch heute noch fürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird, ebenso.

Denn breite Akzeptanz von einstigen Missständen sowie Anerkennung von Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen, besonders in konfessionell geführten Einrichtungen, ist bis heute nicht vorhanden, obwohl in den vergangenen 15 Jahren eine erste Welle der Aufarbeitung eingesetzt hat. Diese Studien, die auch für dieses Buch die Grundlagen darstellen, eröffneten die Zustände in Einrichtungen der Fremdunterbringung für den Blick der interessierten Öffentlichkeit. Auch die vorliegende Studie versteht sich als Grundlage: für weitere Forschungen zu den vielen Aspekten, die hier nur angeschnitten, jedoch nicht detailliert werden können. Ausschlaggebend dafür war die Projektlaufzeit von nur zwei Jahren zur Auseinandersetzung mit sieben katholischen Einrichtungen, die mit einer Vollzeit- und einer Teilzeitstelle durchgeführt wurde.

Als erste Studie, die sich umfassend und vor allem ausschließlich mit den konfessionellen Fremdunterbringungs- und Betreuungseinrichtungen in Tirol nach 1945 beschäftigt, stehen die Erinnerungen von ehemals dort lebenden Menschen im Mittelpunkt. Die Strukturen, in denen sich dieses Leben abspielte, sind dabei von großer Bedeutung. Sie sind nicht isoliert zu betrachten, sondern können durch bereits durchgeführte Forschungsarbeiten in einen Kontext gesetzt werden – und zwar regional, sozial, gesellschaftlich und politisch. Horst Schreiber stieß 2010 mit seinem Buch Im Namen der Ordnung, das auch von Betroffenen immer wieder in den im Rahmen dieser Studie durchgeführten Interviews erwähnt wurde, die Auseinandersetzung mit der Tiroler Heimgeschichte an.7 Die Bedeutung dieses Buchs ist daher nicht nur eine gesellschaftliche und wissenschaftliche, sondern auch eine individuelle. Denn Schreiber gelang es damit, vielen ehemaligen Heimkindern zu verdeutlichen, dass sie nicht allein mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen sind. Auch das fünf Jahre später folgende Restitution von Würde des Historikers setzt sich mit der Thematik der Heimerziehung, diesmal mit Fokus auf die Kinderheime der Stadt Innsbruck, auseinander.8 Zusätzlich richtete Schreiber den Blick auf ein Thema, das besonders in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten untrennbar mit Heimunterbringung verbunden war: die Ausbeutung von Minderjährigen an sogenannten Pflegeplätzen, wo die Kinder und Jugendlichen als Knechte und Mägde verwendet und nicht als Pflegekinder angesehen wurden.9 Mit seiner Auseinandersetzung mit dem SOS-Kinderdorf, Dem Schweigen verpflichtet, legte Schreiber zudem erstmals eine Analyse aus kritisch-historischer Perspektive zu dieser Institution vor, die positive und negative Aspekte der Einrichtungsgeschichte kontextualisiert und darlegt.10

Michaela Ralser, Anneliese Bechter und Flavia Guerrini erstellten 2014 eine Vorstudie zu den Tiroler und Vorarlberger Heimen, mit der sie eine Basis für weitere Auseinandersetzungen lieferten. Auch die Bedeutung der schriftlichen Überlieferungen zu Personen und Institutionen legen sie dar.11 Ralser und ihr Forschungsteam untersuchten in der Folge mehrere Jahre die Tiroler und Vorarlberger Landeserziehungsheime, die als bundeslandübergreifender gemeinsamer Wohlfahrtsraum die als schwererziehbar kategorisierten schulpflichtigen und schulentlassenen Minderjährigen beider Geschlechter unter sich aufteilten.12 In einem rund 55 Seiten umfassenden Abschnitt setzen sie sich mit den konfessionellen Akteur*innen im Jugendfürsorgebereich auseinander und ermöglichten es dadurch, dass sich die vorliegende Studie auf die Strukturen und Entwicklungen in den kirchlichen Heimen konzentrieren kann. Die geschichtlichen Entwicklungen, die in die Nachkriegszeit führten, werden, wie von Ralser u. a. dargelegt, wiedergegeben und stellenweise ergänzt. Ähnlich folgten auch in Wien mehrere Forschungsprojekte, die sich mit staatlicher und konfessioneller Heimerziehung auseinandersetzten.13

Eine wichtige Studie zu konfessioneller Fremderziehung in Österreich ist die von Michael John, Angela Wegscheider und Marion Wisinger durchgeführte Untersuchung über Gründe und Bedingungen von Gewalt in Einrichtungen der Caritas der Diözese Linz nach 1945, die unter dem Titel Verantwortung und Aufarbeitung steht.14 Ähnlich der vorliegenden Studie haben sich auch John, Wegscheider und Wisinger mit mehreren konfessionellen Heimen auseinandergesetzt, die allerdings sämtlich unter Trägerschaft der Caritas standen. Nach einer kontextualisierenden Darlegung der Fürsorgestrukturen mit ihren Entwicklungen in Oberösterreich von Beginn bis Ende des 20. Jahrhunderts von Michael John folgt der knapp 200 Seiten starke Teil von Marion Wisinger über das Erziehungsheim für männliche Minderjährige Steyr-Gleink. Da in der Studie die Trägerschaft der Heime durch die Caritas ausschlaggebend war – und nicht wie in der vorliegenden die Form der Unterbringungsstruktur als Heim –, konnten unterschiedliche Heimformen untersucht werden. So auch das Caritas-Schülerheim Windischgarsten durch Wisinger auf 20 Seiten. Angela Wegscheider setzte sich mit dem Kinderdorf St. Isidor und dem Institut St. Pius auseinander, abschließend folgt eine Diskussion der Beziehung von „Kinderheim und Minderheiten“ durch Michael John. Darauf hinzuweisen ist, dass im Teil zu Steyr-Gleink von Wisinger eine Einstellung gegenüber den ehemals dort untergebrachten Männern zutage tritt, die passagenweise von Zweifel, Unterstellungen und Einseitigkeit geprägt ist. Im Verlauf dieses Buchs werden diese an unterschiedlichen Stellen thematisiert, da damit Einschätzungen und Sichtweisen transportiert und verfestigt werden, die zu Vorurteilen gegenüber ehemaligen Heimkindern auf unterschiedlichen Ebenen – privat, öffentlich und bezüglich des Anerkennungsprozedere der Opferschutzkommissionen – beitragen und von denen sich das Forschungsteam ausdrücklich distanziert.

Wie generell für Österreich zutreffend, so kann auch eine Geschichte der Tiroler öffentlichen wie konfessionellen Fremdunterbringung nicht ohne Bezüge zu klinischen Einrichtungen, die Patient*innen in Heimunterbringung schickten, geschrieben werden. Da es sich nicht allein um soziale ‚Auffälligkeiten‘ handelte, aufgrund derer Kinder in die hier untersuchten Heime eingewiesen wurden, sondern auch um kognitive Einschränkungen, Beeinträchtigungen oder Behinderungen verschiedener Art, spielen in diesem Kontext zwei Institutionen eine große Rolle: die Innsbrucker Kinderklinik einerseits, wenn es um somatische Gründe ging, andererseits wenn es einer heilpädagogischen Abklärung bedurfte, die primär während der Vorstandstätigkeit des Wiener Heilpädagogen Hans Asperger an der Innsbrucker Pädiatrie dort durchgeführt wurde. Zu Aspergers Wirken in Tirol und seinem Einfluss auf die Innsbrucker Klinik fehlen bislang abgesehen von Christian Lechners Annäherung wissenschaftliche Analysen,15 doch werden in der vorliegenden Studie Einblicke in seine dortige Tätigkeit gegeben. Die andere Institution, die wesentlich an der wissenschaftlichen Begründung von Heimeinweisungen beteiligt war, ist Maria Nowak-Vogls Kinderbeobachtungsstation als Abteilung der Klinik für Psychiatrie und Neurologie. Das Wirken der Primaria wurde in einem Forschungsprojekt untersucht, dessen Ergebnisse die Bedeutung der Station im hier interessierenden Kontext erhellen.16 Elisabeth Dietrich-Daum beschäftigte sich darüber hinaus 2018 mit Südtiroler Minderjährigen, die Über die Grenze in die Psychiatrie eingewiesen und dort von Maria Nowak-Vogl begutachtet wurden.17 Neben dem eigentlichen Forschungsinteresse ist es besonders die Darlegung der Südtiroler Fürsorgestrukturen, die Aufschluss über behördliche Zuständigkeiten und Abläufe, auch bei Kontakten mit dem Amt der Tiroler Landesregierung, gibt. Entsprechende Analysen hinsichtlich der Bedeutung klinischer Kinderbeobachtung liegen mittlerweile auch zu anderen Bundesländern vor,18 wobei vor allem die Forschungsergebnisse von Ulrike Loch u. a. zu Franz Wurst und der institutionellen Heilpädagogik in Kärnten Eingang in die vorliegende Studie fanden.19 Gregor Kaltenböck wiederum legte mit seiner Masterarbeit zu 100 Jahre Fürsorgegesetzgebung und der Schwerpunktsetzung Tirol eine Analyse der juristischen Rahmenbedingungen vor, in denen Fremdunterbringung praktiziert und anhand derer sie geregelt wurde.20

Während die generelle Geschichte der Fremdunterbringung auch eine von sozialer Benachteiligung ist, stellt sich zunächst die Frage, inwieweit dies auf die Fremdunterbringung in katholischen Heimen umzulegen ist. In den bisherigen auf Westösterreich bezogenen Forschungen wurden diese Heime bei Ralser u. a., Dietrich-Daum/Ralser/Rupnow und Dietrich-Daum nur marginal mitberührt, bei Schreiber in den größeren Heimkontext eingebettet. Die Auseinandersetzung mit den katholischen Heimen Tirols umfasst nun die Heime in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, die neben Kinderheimen auch Sonderschulheime und solche für Minderjährige mit körperlichen oder/und geistigen Beeinträchtigungen darstellten. Besonders bei Letztgenannten ist die Frage nach sozialen Einflussfaktoren nicht so leicht zu beantworten. Diese werden auch in anderen Arbeiten zu österreichischen konfessionellen Heimen, wie den Caritas-Studien zu Wien und Oberösterreich, nicht systematisch analysiert. In anderen Aspekten bieten diese Berichte allerdings wichtige Vergleichsperspektiven und sind besonders durch die Initiative der Caritas als Auftraggeberin der Untersuchung der bekannt gewordenen Gewalt in ihren eigenen Fremdunterbringungsstrukturen hervorzuheben. Vergleichbar ist das Seraphische Liebeswerk (slw) als erster konfessioneller Heimträger (der Bubenburg in Fügen und das Elisabethinum in Innsbruck, später Axams) in Tirol die Auseinandersetzung mit der Einrichtungsgeschichte angegangen und auch ehemals dort untergebrachten Männern sowie der Forschung in der Offenlegung ihrer Akten entgegengekommen. 2012 war das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck vom Innsbrucker Stadtsenat mit einer Studie beauftragt worden, die sich mit den Gewaltvorwürfen gegen die verstorbenen Sozialehrenzeichenträger P. Magnus Kerner, langjähriger Direktor der Bubenburg, und Hermann Pepeunig, Gründer des Aufbauwerks der Jugend, auseinandersetzen sollte und im Folgejahr zur Aberkennung der Auszeichnungen führte.21 Zudem trafen Ralser, Bechter und Guerrini für ihre Vorstudie Regime der Fürsorge auf Entgegenkommen des slw;22 auch zwei Diplomarbeiten sind aus den historischen Akten der Bubenburg entstanden.23 In einer Sondernummer der Mitarbeiter*innen-Zeitschrift slw derzeit fand 2014 ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der gewaltgeprägten Geschichte der Bubenburg statt, die vom Historiker Wolfgang Weber begleitet wurde und die Anerkennung der Gewalterfahrung der Betroffenen zeigt.24 Hervorzuheben sind die Publikationen von Erwin Aschenwald, der sich als ehemaliger Insasse der Bubenburg seit Jahrzehnten öffentlich zu den damaligen Erziehungsmethoden äußert und bereits 1981 einen eindrücklichen Bericht über seine Erfahrungen veröffentlichte.25

Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Institution gaben auch die Barmherzigen Schwestern in Zams in Auftrag, die die Geschichte des St. Josefs-Instituts in Mils von der Gründung bis in die jüngste Vergangenheit erforschen sollte. Beauftragt wurde Sylvelyn Hähner-Rombach, die im Lauf des Projekts verstorben ist. Die Arbeit wurde von der deutschen Historikerin Nicole Schweig weitergeführt und die Ergebnisse in einem nicht veröffentlichten Bericht der Auftraggeberin übergeben.26 Generaloberin Sr. M. Gerlinde Kätzler und ihre Stellvertreterin Sr. Barbara Flad übergaben dem Forschungsteam je ein Exemplar der Studie mit dem Titel St. Josefs-Institut Mils unter den rechtlich bindenden Auflagen, diese nicht weiterzugeben, zu veröffentlichen oder anderen Personen zugänglich zu machen sowie etwaige Zitate vor Verwendung freigeben zu lassen. Der Hintergrund war, einerseits die Anonymität von Schweigs Interviewpartner*innen zu gewährleisten, andererseits die Absicherung, dass Textpassagen nicht aus dem Kontext gerissen wiedergegeben würden. Dem wurde gerne entsprochen und der Bericht wie ein Zeitzeug*inneninterview behandelt, bei dem die Gesprächspartner*innen ebenfalls aufgefordert waren, die Verwendung der Zitate zu prüfen. Der Bericht selbst zeigte sich auf unterschiedlichen Ebenen problematisch – deutlich ist zu betonen, dass dies nicht das Verschulden der Auftraggeberin ist, die der Forscherin freie Hand in Arbeit und Gestaltung ließ, wie von allen Beteiligten unaufgefordert und mehrfach versichert wurde. Weder sind im Bericht die Methoden von Nicole Schweig in Aktenerhebung und Interviewführung dargelegt, noch wurde eine Einbettung der Entwicklungen in St. Josef in die österreichische Geschichte der (Pflege-)Heimunterbringung vorgenommen. An Aktenbeständen wurden nur jene des Ordens eingesehen. Dies ist für den vorliegenden Bericht von großer Bedeutung, doch fehlen Informationen, die aus in anderen Archiven verwahrten Akten gewonnen hätten werden können, ebenso wie eine Kontextualisierung der verwendeten personen- sowie institutionsbezogenen Archivalien. Der Dokumentarfilm Problemkinder aus dem Jahr 1980, dessen Bedeutung für den Fremdunterbringungskontext in einem eigenen Kapitel behandelt wird, und der Einfluss der Ausstrahlung dieses Films auf den Orden waren offensichtlich forschungsleitend; natürlich ein durchaus legitimer Ansatz, der jedoch nicht ausgeschöpft wurde.

Die Frage nach geschlechterspezifischen Aufmerksamkeiten und damit verbundenen (Miss-)Handlungen, Zuschreibungen und deren Folgen sind aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Hemma Mayrhofer und ihr Team beschäftigten sich mehrere Jahre nicht nur mit Gewalt im Wiener Kinderheim Wilhelminenberg,27 sondern auch mit dem Umgang mit Patient*innen an der sogenannten „Rett-Klinik“, der Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder am Neurologischen Krankenhaus der Stadt Wien-Rosenhügel, und der Verwahrung von Kinderpatient*innen in der Wiener Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“.28 Als ein hier relevanter Punkt ist die Conclusio hervorzuheben, dass es dem Neuropädiater Andreas Rett in seiner Arbeit, insbesondere in Bezug auf die Sexualität von Menschen mit Behinderung, durch die Verabreichung von – kaum wirksamen – Medikamenten zur ‚Triebdämpfung‘ nicht um Selbstbestimmtheit und Wohlbefinden der Patient*innen ging. Es „zeigt sich vielmehr die Absicht, sozial störende Verhaltensweisen zu vermeiden bzw. zu reduzieren, d. h. es ging vorrangig um Interessen des sozialen Umfeldes und nicht um die der Person mit Behinderung.“29 Rett war mit seiner Distanzierung zur Entmenschlichung von Personen mit Behinderung sowie zu deren Verwahrung, wie sie vor, im und nach dem Nationalsozialismus in unterschiedlichem Ausmaß, doch flächendeckend, praktiziert wurde, durchaus fortschrittlich im zeitgenössischen Kontext. Seine Maxime jedoch, Menschen mit Beeinträchtigungen in der Rolle des „ewigen Kindes“ zu fixieren, sprach seinen Patient*innen jegliche Selbstbestimmung ab.30 Dies ist hier relevant, da Retts Ansätze auch in Tirol rezipiert wurden. Im Verlauf dieser Studie wird sich immer wieder zeigen, wie die asymmetrisch-hierarchischen Verhältnisse in der Fremdbetreuung von medizinischen sowie medizinisch-pädagogischen Autoritäten nicht nur geprägt, sondern zusätzlich in der innerinstitutionellen Realität verfestigt wurden. Hinzu kommt die wissenschaftliche Befürwortung der praktizierten Fremdunterbringung: Rett war entschiedener Gegner der Integration, was Mayrhofer so auf den Punkt bringt: „Die betriebene Segregation und liebevolle Verwahrung bedeutete zudem nicht nur, die ‚Kinder‘ vor der Gesellschaft zu schützen, sondern hatte insbesondere auch zum Ziel, die gesellschaftliche Ordnung nicht durch Menschen mit Behinderungen zu ‚stören‘.“31

Wegscheider weist in der Studie zu den oberösterreichischen Caritas-Heimen darauf hin, dass die

„Geschichte der Heimunterbringung von Personen mit Behinderungen und ihre Aufarbeitung, insbesondere der Strukturen und Bedingungen, die Missbrauch, sexuelle Übergriffe und Gewalt förderten, […] in Österreich in der Forschung und auch in der Medienberichterstattung nicht so präsent [ist] wie die Fürsorgeerziehung. […]

Menschen mit Behinderungen haben oftmals wenig Möglichkeiten, ihre Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch in den Kontext mit den Bedingungen und Strukturen zu stellen. Sie sehen für sich selbst keinen Zugang bzw. barrierefreie Möglichkeiten, ihre Geschichte selbst darzustellen und Anerkennung als Opfer illegitimer Gewalt einzufordern. Obgleich immer wieder schwerwiegende Fälle von Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe bekannt werden, werden sie in den österreichischen Opferschutzkommissionen noch immer als ein Randthema oder Einzelfälle betrachtet. ExpertInnen gehen davon aus, dass das Opferpotential durch Institutionalisierung und Gewalt stark unterschätzt wird.“32

Untermauert wird dies nicht zuletzt durch die Angabe einer Gesprächspartnerin, die von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre im Elisabethinum, dem Heim für körper- und mehrfachbehinderte Minderjährige, untergebracht war und anonym bleiben möchte. Sie litt während der Heimzeit und auch noch danach unter dieser Erfahrung. Die Interviewpartnerin erzählt, dass sie erst Jahre später von ihrer Unterstützerin über Formen von Misshandlung und Gewalt aufgeklärt wurde und daraufhin die Opferschutzkommission kontaktierte.33 Durch die Unterstützung, die die Gesprächspartnerin später auf Augenhöhe erhielt, wurde es ihr möglich, das Erfahrene zu benennen und dadurch auch sichtbar zu machen. Damit, namentlich mit Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen, setzten sich auch Hemma Mayrhofer u. a. in ihrer 2019 erschienenen Studie auseinander, die sich unter anderem auf die Befragung von Menschen mit Behinderungen zu ihren Erfahrungen stützt.34

Die Artikulationsmöglichkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen in ihren unterschiedlichen Formen zu fördern und das Berichtete auch ernst zu nehmen, ist ein wichtiger Punkt. Hinzu kommt, und hier tritt der Konnex zur allgemeinen Fürsorgeerziehung wieder zutage, dass Aussagen von Minderjährigen gerne mit Zweifel begegnet wird, wenn diese die Erlebnisrealität des Gegenübers verlassen oder schwer vorstellbar erscheinen. Vergleichbares beschreiben Ulrike Loch und ihr Forschungsteam in Bezug auf Franz Wurst in Kärnten: den Unglauben einer Jugendamtsmitarbeiterin einem Jugendlichen gegenüber in den 1970er Jahren, die sich nicht vorstellen konnte, dass der Primar diesen Burschen tatsächlich zu einem privaten Wörtherseeaufenthalt mitnahm.35 Und wenngleich aus einer anderen Sphäre, ist doch der medial als „schwarzer Mann“ oder „Maskenmann“ bekannte Pädophile und Mörder, der mehr als 20 Jahre lang in Deutschland Kinder unter anderem in Landschulheimen missbrauchte und manche von ihnen ermordete, ein aktuelles Beispiel dafür, wie wenig Glauben Kindern geschenkt werden kann: Berichte von Buben in Landschulheimen über einen „schwarzen Mann“, der nachts in ihren Zimmern auftauchte, wurden als kindliche Einbildung, Alpträume und Schauergeschichten abgetan – bis es zur ersten Entführung und Ermordung eines Buben kam.36 Dieses Beispiel soll verdeutlichen, wie verbreitet die Ablegung kindlicher Erfahrungen unter der Rubrik Fantasie ist, wenn erzählte Begebenheiten nicht direkt anhand von sichtbaren Spuren nachzuvollziehen sind. Die Ablehnung der Tatsachenberichte potenziert sich, wenn ‚Autoritäten‘ im Spiel sind: Im Kontext der Fremderziehung sind dies Ärzt*innen, Erzieher*innen und Geistliche – Gruppen, die vermeintlich Expert*innen auf dem Gebiet der Behandlung, Heilung und (Korrektur-)Erziehung sind sowie als unantastbar moralisch integer wahrgenommen werden. Wie Gesprächspartner*innen erzählten, wurden ihnen Lügen und Verleumdung unterstellt, wenn sie versuchten, von ihren Gewalterfahrungen zu berichten.37

Dieser Umgang mit „Opfern“ – in diesem Buch wird von Betroffenen und nicht von Opfern gesprochen, um die mit letzterem Begriff oft verbundene Handlungsunfähigkeit aufzubrechen, wie im Kapitel Sprache – historisch und aktuell näher ausgeführt wird – spiegelt sich auch in der zeitgenössischen Bewertung von Initiativen und Einzelpersonen, die den institutionellen Umgang mit Minderjährigen öffentlich kritisierten. Ab den 1970er Jahren meldeten sich österreichweit, so auch in Tirol, sowohl einzelne Personen, die als Erzieher*innen in Heimen gearbeitet hatten, zu Wort, als auch Zusammenschlüsse mehrerer Personen, die die Schließung der traditionellen Heime verlangten.38 In Tirol war es der vom Bewährungshelfer Klaus Madersbacher (mit)initiierte Arbeitskreis Heimerziehung, der offen und öffentlich gegen die Zustände in den Heimen auftrat.39 Die Gruppe Spartakus, die sich in Wien aus Studierenden und linken Aktivist*innen formierte, forderte: „Öffnet die Heime“. Doch auch wenn es daraufhin zu Reformbestrebungen in der Heimerziehung kam, wurde der Forderung keine Folge geleistet – trotz der 1976 veröffentlichten Studie zu den Wiener Kinder- und Jugendheimen von Irmtraut Leirer, Rosemarie Fischer und Claudia Halletz, die auf zahlreiche Missstände aufmerksam machten.40 Für einen Überblick über die Reformbemühungen (und deren Scheitern) ist hier auf die Zusammenschau der Ereignisse und Verläufe durch Karin Lauermann sowie Irmtraut Karlsson und Georg Hönigsberger zu verweisen.41

Theoretisches42

Die theoretische Rahmung der vorliegenden Arbeit beinhaltet verschiedene Aspekte, die im Folgenden erläutert werden. Sie sind als Gerüst im Hintergrund im Verlauf der Studie mitzudenken und sollen eine Einordnung der untersuchten Einrichtungen, ihrer Strukturen, Abläufe und Akteur*innen sowohl in ihren Facetten wie auch im größeren Ganzen ermöglichen. Insofern ist, wie allgemein in der Auseinandersetzung mit geschlossenen Einrichtungen, die Anwendung von Erving Goffmans Kategorie der „totalen Institution“ auch auf die hier untersuchten Heime ein wesentliches Charakteristikum, deren entscheidendes Merkmal die Vereinigung aller Lebensbereiche unter einer Autorität ist. Nach Ralser u. a. „[v]er-einte die Anstaltserziehung doch alle Machtquellen, die eine totale Erziehungsinstitution kennzeichnen: Isolierung, Entindividualisierung, asymmetrische Abhängigkeit und nahezu schutzlose Ausgeliefertheit der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen.“43 Entgegen den Ausführungen von Hänel/Unterkircher, in Bezug auf den medikalen Kontext, ist diese Charakterisierung nicht als Ausblendung „symbolische[r] Aneignungsstrategien und Prozesse des Aushandelns, mit Hilfe derer sich InsassInnen ihren eigenen Raum aktiv konstituieren“ zu verstehen,44 sondern als eben jener rahmende Raum, in dem dies stattfindet. Konkret bedeutet das, dass die Berichte der Zeitzeug*innen über ihren Alltag in den Einrichtungen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse durch die Einbettung in die Struktur der totalen Institution ihre Handlungsräume und -möglichkeiten verdeutlichen. Diese wurden durch die umgebenden institutionellen Grenzen bestimmt und entwickelten sich als individuelle Verhaltensweisen, Überlebensstrategien und Bewältigungsmechanismen. Durch die Zusammenführung dieser unterschiedlichen Räume entsteht ein erweitertes Bild. Arbeitszeit (hier Schul- und Lernzeit), Freizeit und Rückzugszeit (im weitesten Sinn, denn realer Rückzug aus der Heimgemeinschaft war kaum möglich) fanden an demselben Ort statt und waren genau reglementiert. Innerhalb dieses Raumes aber schufen die darin agierenden Personen ihre eigenen Handlungsräume – sie waren keinesfalls passive Subjekte, sondern agierten mit- und gegeneinander, widersetzten sich oder fügten sich in die vorgegebenen Strukturen ein. Die in den genannten Zeitsegmenten auszuführenden Tätigkeiten wurden von einer Gruppe, die sich in derselben Position befand, also den Bewohner*innen der Heime, gemeinsam verrichtet, was einem übergeordneten Ziel dienen sollte: der Erziehung der Kinder. Aufgrund des Betreuungsschlüssels war es unvermeidbar, dass die Verfolgung dieses Ziels mit einem anderen Faktor einherging, nämlich mit strenger Kontrolle – der Kinder, ihrer Tätigkeiten, ihres Verhaltens (untereinander, beim Essen, beim Schlafen, in der Schule, beim Lernen, beim Spielen). Hinzu kam die „Vermischung“ der Lebensbereiche, die einen Vergleich des Verhaltens in einem Bereich mit dem in einem anderen ermöglichte.45 Die Betreuung durch eine Hauptperson sowie der informelle Austausch des Personals untereinander ermöglichten diese umfassende ‚Übersicht‘. Der Lebensraum der Kinder „stellt[e] für sie eine Art Welt für sich dar“.46 Diese Aussage hat umso mehr Gültigkeit, berücksichtigt man die Isolierung von ihrem persönlichen, privaten Umfeld. Die Heime waren für die Dauer der Unterbringung der Raum, in dem sich das Leben der Kinder abspielte, und zwar rund um die Uhr und mit strikt reguliertem, seltenem Kontakt zur Außenwelt: Zwar war ein solcher zu Eltern und Verwandten möglich, sofern er nicht behördlich untersagt oder von den Familienmitgliedern selbst abgelehnt wurde, doch waren diese Kontakte festen Regeln unterworfen und auch zensiert.47 Sie wurden darüber hinaus auch beurteilt und hatten Einfluss auf weitere behördliche Anordnungen, wie die folgende dokumentierte heiminterne Evaluierung einer Mutter für das zuständige Jugendamt exemplarisch verdeutlicht. Anlässlich der Bemühungen, die Vormundschaft über ihre aus Martinsbühel ausschulende Tochter vom Jugendamt übertragen zu bekommen, wurden Arbeitsund Sozialverhalten wie auch das Benehmen dem Heim und der Tochter gegenüber festgehalten. Letzteres zu beurteilen, war die Aufgabe des Heims und Oberin Sr. Ignatia Schaubmair erläuterte dem zuständigen Bezirksgericht:

„Frau […] hat sich, solang [das Mädchen] bei uns ist, immer in gesunder Weise um ihre Tochter gesorgt. Sie hat eng mit uns zusammengearbeitet und unsere Erziehung unterstützt. Fr. […] hat das Kind regelmäßig besucht, sich um Fortgang und Verhalten erkundigt und [es] in den Ferien zu sich geholt und dann wieder gewissenhaft ins Heim zurückgebracht.

[Das Mädchen] besucht die 7. Stufe der ASO [Allgemeinen Sonderschule] und hat, obwohl ihr das Lernen Mühe macht, viel gelernt. Sie kann trotz ihrer Behinderung recht sauber handarbeiten. Wir hoffen, dass sie auf diesem Gebiet ein Plätzchen finden wird.“48

Neben dem Wohlwollen tritt an dem Schreiben auch der Grund dafür hervor: dass sich die Mutter an die Regeln hielt, sie befolgte, nicht in Frage stellte und so die Heimstrukturen unterstützte. Das Personal, das die in den Heimen herrschenden Regeln implementierte und deren Befolgung überwachte, erfüllte wiederum nicht zur Gänze die von Goffman angeführten Kriterien: Der Lebensraum der Kinder war für die Personalgruppe der Arbeitsraum, doch verließ sie ihn in der Mehrheit nicht wie einen regulären Arbeitsplatz, sondern lebte auch sie in diesen Strukturen – die sie allerdings selbst geschaffen hatte.49

Anknüpfend an die metaphorisch hybride Situation des Personals ist an dieser Stelle der Hinweis wichtig, dass es weitere Merkmale totaler Institutionen gibt, die auf die katholischen Kinderheime nicht zutreffen. Goffman hielt dazu fest: „[O]ffenbar findet sich keines der von mir beschriebenen Elemente ausschließlich in totalen Institutionen, und keines ist allen gemeinsam. Bezeichnend für totale Institutionen ist, daß sie alle einen beträchtlichen Anteil dieser Gruppe von Attributen aufweisen.“50 Die Charakterisierung der hier untersuchten Einrichtungen als totale Institutionen soll den Blick über die engen institutionellen Grenzen, in denen diese Organisationsform sinnvoll erscheinen kann, hinausrichten: auf die Bedeutung, die dieses Modell für die ihm zugeführten Individuen hatte oder haben konnte. Die Einrichtung selbst konnte zweifelsfrei ohne die derartige Ordnung ihren Zweck nicht erfüllen. Dies lag aber zum größten Teil, wie weiter unten näher ausgeführt wird, an der Arbeitsbe- und -auslastung, die sich das Personal selbst auferlegte. Diese hing jedoch untrennbar mit gesellschaftlichen und staatlichen Mechanismen zusammen, die derartige Institutionen zu einer unhinterfragten Notwendigkeit werden ließen, ohne sie entsprechend zu unterstützen. Das bedeutet in diesem Fall mit Ressourcen, personell und finanziell, die einer Überlastung vorgebeugt hätten. Dabei darf ein Faktor nicht unberücksichtigt bleiben, nämlich die Auswirkungen auf die diesem Komplex Unterworfenen. Als zentraler Aspekt ist daher anzusehen: „Die Autonomie des Handelns selbst wird verletzt.“51 Daran anknüpfend ist nach der Legitimation dieser Verletzung zu fragen: Wer sie gab oder verfügte, aus welchen Gründen, mit welcher Erwartung und auf wen sie sich erstreckte. Ein weiterer Punkt wird sich im Lauf der Studie immer wieder deutlich zeigen, nämlich die allgemein nur sehr langsam einsetzenden Veränderungen bzw. deren Zulassen in den untersuchten Einrichtungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten, jedoch durchweg spät erfolgten. Mit Goffman muss gesagt werden: „Die Insassen werden bewegt, das System bleibt starr.“52 Für keines der hier im Fokus stehenden Heime hat diese Aussage so viel Gültigkeit wie für Martinsbühel, wie insbesondere die Erinnerungen einer Gesprächspartnerin, die von 1983 bis 1992 in dem Heim untergebracht war, verdeutlichen werden.

Hier spielte das österreichische Fürsorgesystem, wie es sich in den 1910er Jahren in Wien organisierte und etablierte sowie schließlich verstaatlicht und in der Folge in den Bundesländern rezipiert und adaptiert wurde, eine wesentliche Rolle. Nach Reinhard Sieder war die Fürsorgeerziehung im 20. Jahrhundert geprägt vom Fokus auf das „Ganze“. Das heißt, dass Normanpassung und, um diese zu erreichen, Normierung und damit Reglementierung aller Lebensbereiche zentral waren: „die Regulierung der ‚Fortpflanzung‘, der Wohnverhältnisse, der Ernährung, sowie der Erziehung aller Individuen zu regelmäßiger Erwerbsarbeit und einem sittlich disziplinierten Leben.“53 Besonders den Jugendämtern kam dabei eine zentrale Kontrollfunktion zu, die in vielen Fällen bereits bei der Geburt eines Kindes etabliert wurde – etwa bei ledigen Müttern, in welchen Fällen das Jugendamt bis in die 1980er Jahre hinein automatisch zunächst die Vormundschaft übertragen bekam. Musste eine alleinstehende Mutter einer Erwerbsarbeit außer Haus nachgehen, stieg die Gefahr der „Kindsabnahme“ rapide an – unabhängig von der sonstigen Beurteilung der häuslichen Situation stand bei als mangelhaft angesehener Betreuung die „Gefahr einer Verwahrlosung“ im Raum. Wurde zusätzlich noch „sittliche Gefährdung“ vermutet, sahen es Jugendämter und Pflegschaftsgerichte übereinstimmend als angezeigt, die betroffenen Minderjährigen „in eine gesunde Umgebung zu bringen und sie in einer Erziehungsanstalt unterzubringen.“54 Nach Sieder entschieden ab der Zwischenkriegszeit „neue Jugendämter in Zusammenarbeit mit Pflegschafts- und Jugendgerichten, psychiatrischen Gutachtern, Kliniken und Beobachtungsstationen, Kinder nicht von ihren Eltern, sondern in Erziehungsheimen oder in Pflegefamilien ‚erziehen‘ zu lassen.“55 Betont werden muss dabei tatsächlich die Schlüsselposition der Jugendämter, deren Mitarbeiter*innen – durchaus auch auf schulische Veranlassung – Hausbesuche vornahmen und Erhebungen über die Kinder und Jugendlichen sowie auch über deren Familien durchführten. Sie waren es, die durch die generelle Erfassung und damit einhergehend durch ihre Berichte und Bewertungen weitere Schritte einleiteten, die zu Begutachtungen, Untersuchungen und in der Folge zu einer einschneidenden Veränderung der Lebenssituation führen konnten.

Es ist darauf hinzuweisen, dass das Eingreifen des Staats in die Privatsphäre seiner Bürger*innen die Sicherung des physischen und psychischen Wohls der Betroffenen zu gewährleisten hat. Das bedeutet, wenn das Jugendamt – aus welchen Gründen auch immer – ein Kind aus seiner familiären Situation entfernt und fremduntergebracht hat, hätte damit zwingend die Sicherstellung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit einhergehen müssen. Zumal derartige Mängel im häuslichen Umfeld vielfach die Begründung für das Herausnehmen eines Kindes aus der Familie darstellten. In diesem Zusammenhang sind sämtliche Akten, die über die in Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen von den Heimen selbst, aber auch von Jugendämtern oder medizinischen Einrichtungen angelegt wurden, von essenzieller Bedeutung. Wenngleich aufgrund der Aktenlage keine Archivalien eingesehen werden konnten, die jene Minderjährigen betreffen, die ohne Zutun eines Jugendamts auf Veranlassung von Schulbehörden oder ganz privat auf Wunsch der Eltern in die hier untersuchten Heime eingewiesen wurden, betrifft die Notwendigkeit der Gewährleistung von physischem und psychischem Wohl auch diese Kindergruppe. Die im Fürsorgebereich angelegten Akten aber geben nicht nur Aufschluss über institutionelle Abläufe und Vorgänge, sondern werfen Licht auf ‚Fürsorgenetzwerke‘, wissenschaftliche Diskurse und die Kinder selbst. Das Verständnis von autoritären Überwachungs- und Strafmechanismen – sowohl im engen institutionellen als auch im weiten gesellschaftlich-öffentlichen Rahmen – ist dabei notwendig verbunden mit jenem der gesellschaftlichen Konstruktion von Normalität und Devianz. Zentral sind hierbei Michel Foucaults theoretische Zugänge, die institutionell-strukturelle Funktionsweisen identifizierbar machen und eine Einbettung konkreter Abläufe und Handlungspraxen in einen größeren Zusammenhang erlauben: mikrokosmische Systeme stellen ohne ihre Relation zu makrokosmischen Hierarchien einen unvollständigen und nur ansatzweise einordenbaren Ausschnitt eines größeren Ganzen dar.56 Um die Akten dementsprechend im zeitgenössischen Kontext analysieren zu können, müssen zunächst die institutionellen Strukturen nachgezeichnet werden, in denen sich die Vorgänge vollzogen. Dabei geht es um räumliche Strukturen sowie auch um personelle. Die räumlichen Strukturen umfassen gleichsam mehrere Räume57 – den engeren institutionellen Raum der Heime sowohl in physischer wie in abstrakter, sinnbildlicher Hinsicht sowie jenen gedachten Raum, der als ‚Fürsorgelandschaft‘58 zu verstehen ist. Darüber hinaus aber auch den öffentlichen Raum – insbesondere den Raum der Kindergarten-, Schul- und Fürsorgeerziehung, aber auch den schwerer fassbaren Raum des ‚gesellschaftlichen Dispositivs‘. Gemeint ist damit die gesellschaftliche Wahrnehmung Minderjähriger und ihrer (realen sowie zugeschriebenen) Schwierigkeiten, die nicht nur in den Einweisungsgründen der Kinder erkennbar werden, sondern auch beispielsweise in medialer Berichterstattung sichtbar sind. Die Bedeutung dieser Räume und ihrer Hierarchien ist daher mitzudenken, wenn es um Handlungs- und Verhaltensweisen der Akteur*innen geht: Wer wann wie und weshalb welche Tätigkeiten verrichtete, stand ursächlich in Beziehung zum übergeordneten Raum und den anderen darin agierenden Personen.59

Eng damit verknüpft ist das wissenschaftlich umstrittene Schlagwort der schwarzen Pädagogik, die keine bewusst praktizierte Erziehungsmethode darstellt, sondern die Bandbreite jener Erziehungsmittel bezeichnet, die dazu angetan waren, Kinder zu verängstigen, einzuschüchtern, abzuwerten, zu erniedrigen und zu demütigen, um schlussendlich ihren Eigenwillen zu brechen.

Aufbau der Studie

Die vorliegende Studie setzt sich mit sieben Heimen auseinander. Da diese außer dem Merkmal, ein Heim gewesen zu sein, wenig Gemeinsamkeiten aufweisen, sind sie mit ihrer Geschichte und in ihrer Funktion und Ausrichtung grundlegend darzustellen, um die Vorgänge in ihnen, die im Fokus stehen, einordnen und nachvollziehen zu können. Die Beschreibung der einzelnen Einrichtungen variiert dabei genauso sehr, wie die Institutionen selbst, da die Aktenlage uneinheitlich und mitunter fragmentarisch ist. Da es sich um konfessionelle Heime handelte, sind auch die Bezüge und Abhängigkeiten zu den übergeordneten Orden zu thematisieren, soweit sich diese aus Akten und/oder Gesprächen rekonstruieren lassen. In einem weiteren Schritt erfolgt eine Einbettung in das behördlich-staatliche Handlungsfeld, deren Teil die Institutionen waren. Hier geht es um Kontakte mit Landeseinrichtungen, mit Vertreter*innen medizinischer Institutionen und des Fürsorgebereichs. Es geht um Aus- und Weiterbildung des geistlichen Personals in den Heimen und um ihre materielle Situation, beides Bereiche, die mit dem Thema Überlastung und Überforderung verbunden sind.

Auf dieser Basis schließlich, die ein Bild der ‚Heimräume‘ vermitteln soll, wird Fragen des Handelns in diesen Räumen nachgegangen. Hauptsächlich auf Grundlage zahlreicher Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Mitarbeiter*innen der untersuchten Heime werden dabei anhand thematischer Aspekte sowohl der Alltag, wie ihn die ehemaligen Heimkinder erlebten, beleuchtet sowie auch gezielt einzelne Bereiche vertieft. Die Entscheidung, dabei thematisch orientiert und nicht nach Einrichtungen getrennt vorzugehen, folgt der vielfachen Übereinstimmung von Erfahrungen der Gesprächspartner*innen, die – ergänzt durch die ebenfalls vorhandenen Abweichungen davon – verdeutlichen, dass der von ihnen erinnerte Umgang mit Kindern in Heimen institutionenübergreifend vergleichbar, wenngleich nicht im Detail jeweils derselbe war.

Sprache – historisch und aktuell

Bei sensiblen Themen, wie eben auch in diesem Buch, ist auf mehreren Ebenen die Bedeutung der verwendeten Sprache und Begrifflichkeiten zu berücksichtigen. Dabei ist noch mehr als in anderen Bereichen auf Konnotationen, unterschwellige Botschaften und historische Verwendungen zu achten. Wie bereits angesprochen, wird in dieser Arbeit auf den Begriff Opfer verzichtet, wo dieser nicht eindeutig zutreffend ist. So wird nicht pauschalisierend von Heimopfern gesprochen, sondern von Betroffenen von Gewalt in Heimen. Obwohl die Anerkennung als Heimopfer gerade zu Beginn der Aufarbeitung unerlässlich war, um als solche wahrgenommen zu werden,60 und Opfer kein abwertender Ausdruck ist, sondern symbolisiert, dass eine Person zum Opfer einer sie beeinträchtigenden oder beeinflussenden Handlung wurde, schwingt in diesem Zusammenhang auch eine Handlungsunfähigkeit mit, die real nicht gegeben war und auf alle Fälle nicht mehr gegeben ist. Das bedeutet, dass Kinder in Heimen zwar diese nicht verlassen konnten, wie sie wollten, und daher in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt waren, dennoch über gewisse Handlungsmöglichkeiten verfügten, wie z. B. Flucht, passiver Widerstand, Assimilation oder andere. Es geht aber auch darum, sich nun als erwachsene Person vom Bild des wehrlosen und ausgelieferten Kindes zu lösen, diese Rolle endgültig abzustreifen und sich als autonom agierendes Wesen zu verstehen.61

Im Weiteren geht es darum, sich von diskriminierender und abwertender Aktensprache zu distanzieren, die gerade in Jugendfürsorgeakten und medizinischen Unterlagen bis in die 1980erJahre vorherrschte. Ziel ist es zu zeigen, wie über Heimkinder (und ihre Familien) gedacht und geschrieben wurde, ohne Zuschreibungen und Vorurteile zu wiederholen. Nicht nur im Bereich der Betreuung von Kindern, sondern auch bei Erwachsenen mit Beeinträchtigungen oder Einschränkungen waren Diagnosen wie „Debilität“ und „Imbezillität“ Teil der anerkannten medizinischen Einteilungsskala geistiger und kognitiver Fähigkeiten. Allgemein ist mit Wegscheider darauf hinzuweisen: „Die Defizite der Betreuten und somit die Wichtigkeit der Arbeit in den Einrichtungen standen im Fokus.“62 Doch auch im Fürsorgebereich, in der Betreuung von (Pflege-)Familien durch Jugendämter noch vor Heimeinweisungen, finden sich nicht nur immer wieder Bezugnahmen auf diese Zuschreibungen, sondern auch von Fürsorgerinnen selbst gestellte entsprechende ‚Diagnosen‘. Diese werden in unterschiedlichen Kapiteln immer wieder begegnen.

Besonders die zeitgenössische Aktensprache gibt zusätzlich Hinweise darauf, welche Normalitätsvorstellungen und Blickwinkel in den aktenanfertigenden Einrichtungen vorherrschten. Aus heutiger Perspektive vielfach klassifizierend abwertend bis hin zu (vor)verurteilend und stigmatisierend, war es auch noch in den 1960er Jahren alltäglich zu beschreiben, dass Kinder beispielsweise im elterlichen Haushalt „einwandfrei gehalten“ werden.63 Die Ausdrucksweise, die Kinder als Objekte erscheinen lässt, geht unter anderem auch aus einer Beurteilung eines Buben aus den 1960er Jahren hervor, in der von der anstrengenden „Wartung des Kindes“ gesprochen wurde.64 Auch der Wunsch des Landesausschusses Bozen nach Unterbringung eines Jugendlichen, der nach einem schweren Unfall vom Hals abwärts gelähmt war, zeigt 1975 in der Formulierung ein Weiterbestehen nutzenorientierter Anschauungen: „ob es nicht möglich ist, den Jungen in irgendeinem Rehabilitierungszentrum unterzubringen[,] um eine Weiterbildung zu ermöglichen[,] um ihn [sic] später, als noch nützliches Glied der Gemeinschaft, wieder einen Sinn fürs Leben zu geben.“65 Auch im Schreiben eines Südtiroler Pfarrers aus demselben Zeitraum wurde der Wunsch geäußert, einen Jugendlichen fremdunterzubringen, damit aus ihm „noch ein brauchbarer Mensch wird.“66

Wie Schreiber in diesem Zusammenhang festhält, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das NS-konnotierte Wort der „Volksgemeinschaft“ vermieden und durch „Gesellschaft“ ersetzt.67 Die Bedeutung war jedoch dieselbe: Das Individuum stand hinter dem großen Ganzen zurück bzw. hatte dahinter zurückzustehen – wichtig waren Ein- und Unterordnung, (Funktions-)Tüchtigkeit und die Akzeptanz der zugewiesenen Rolle, Aufgabe und Position innerhalb der Gesellschaft.

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1 Interview Hr. Pepi, 27.4.2021.

2 Dass dies noch immer nicht den allgemeinen Konsens darstellt, wurde während Erstellung und – besonders betroffen machend – nach Veröffentlichung der Studie, die diesem Buch zugrunde liegt, in unterschiedlichen Kontexten offenbar. Dazu ausführlich in den Kapiteln Grenzsetzungen durch Kirche und Land sowie Keine Demut.

3 Dafür danken wir Horst Schreiber herzlich. Zu seinen grundlegenden Arbeiten zur Tiroler Heimgeschichte vgl. das Kapitel Forschungskontext und -stand.

4 Wir danken Erzabt Korbinian Birnbacher herzlich.

5 Die Entwicklung und die resultierenden Arbeiten zur Thematik werden im Kapitel Forschungskontext und -stand behandelt.

6 Sabine Wallinger, Missbrauch im Kinderheim: Falltür auf, Kind rein, Falltür zu, in: Der Standard, 8.12.2018, online unter: https://www.derstandard.at/story/2000093295474/missbrauchim-kinderheim-falltuer-auf-kind-rein-falltuer-zu (25.6.2022).

7 Horst Schreiber, Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck 2010.

8 Horst Schreiber, Restitution von Würde. Kindheit und Gewalt in Heimen der Stadt Innsbruck (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, Neue Folge 57), Innsbruck 2015.

9 Schreiber, Restitution, 125–143.

10 Horst Schreiber, Dem Schweigen verpflichtet. Erfahrungen mit SOS-Kinderdorf, Innsbruck-Wien-Bozen 2014.

11 Michaela Ralser/Anneliese Bechter/Flavia Guerrini, Regime der Fürsorge. Eine Vorstudie zur Geschichte der Tiroler und Vorarlberger Erziehungsheime und Fürsorgeerziehungssysteme der Zweiten Republik, Innsbruck 2014.

12 Michaela Ralser u. a., Heimkindheiten. Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 2017. Ralser forscht mit Team aktuell in einem internationalen (D-A-CH) Projekt: Die Aushandlung von Erziehungsräumen in der Heimerziehung 1970−1990. Ein interdisziplinärer Vergleich von Wohlfahrtsregionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz: https://www.uibk.ac.at/projects/erziehungsraeume/projekt.html (29.6.2022).

13 Z. B. Reinhard Sieder/Andrea Smioski, Gewalt gegen Kinder in Erziehungsheimen der Stadt Wien. Endbericht, Wien 19. Juni 2012; Barbara Helige u. a., Endbericht der Kommission Wilhelminenberg, Juni 2013, 193–202, online: http://www.kommission-wilhelminenberg.at/presse/jun2013/Bericht-Wilhelminenberg-web_code.pdf (28.6.2022); Tanja Kraushofer, Erinnern hilft Vorbeugen. Aufarbeitung der Vergangenheit und Prävention für die Zukunft: Zur Erfahrung mit Gewalt in Großeinrichtungen der Caritas der Erzdiözese Wien, hg. v. Michael Höllwarth u. a., Wien 2015.

14 Michael John/Angela Wegscheider/Marion Wisinger, Verantwortung und Aufarbeitung. Untersuchung über Gründe und Bedingungen von Gewalt in Einrichtungen der Caritas der Diözese Linz nach 1945, Leonding 2019. Online verfügbar z. B. unter https://www.caritas-ooe.at/fileadmin/storage/oberoesterreich/aktuell/ueber_uns/Caritas-Verantwortung-und-Aufarbeitung.pdf (12.6.2022).

15 Christian Lechner, Hans Asperger und die Kinderklinik Innsbruck, in: Christian Lechner u. a. (Hg.), Hans Asperger und die Heilpädagogik, Monatsschrift Kinderheilkunde 168, Supplementband 3 (September 2020), 197–203.

16 Elisabeth Dietrich-Daum/Michaela Ralser/Dirk Rupnow (Hg.), Psychiatrisierte Kindheiten. Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl, Innsbruck 2020. Ebenfalls zur Thematik: Sylvelyn Hähner-Rombach, Kinderbeobachtungsstation Innsbruck. Eine medizinhistorische Untersuchung der Kinder und Jugendlichen, ihrer Zuweisung, Begutachtung und Behandlung zwischen 1949 und 1989 im historischen Kontext. Abschlussbericht des Forschungsprojekts, Stuttgart 2017.

17 Elisabeth Dietrich-Daum, Über die Grenze in die Psychiatrie. Südtiroler Kinder und Jugendliche auf der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl in Innsbruck (1954 bis 1987) (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 44), Autonome Provinz Bozen – Südtirol 2018.

18 Ingrid Bauer/Robert Hoffmann/Christina Kubek, Abgestempelt und ausgeliefert. Fürsorgeerziehung und Fremdunterbringung in Salzburg nach 1945. Mit einem Ausblick auf die Wende hin zur Sozialen Kinder- und Jugendarbeit von heute, Innsbruck 2013; Magdalena Colantonio, Die Geschichte der Heilpädagogischen Station des Landes Steiermark in Wetzelsdorf – mit besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung der Heilpädagogischen Arbeit, Dipl.-Arb., Graz 2002; Ina Friedmann, Abnormalität (de-)konstruiert. Die Heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik und ihre Patient*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 43), Köln 2022; Reinhard Sieder, Das Dispositiv der Fürsorgeerziehung in Wien, in: Michaela Ralser/Reinhard Sieder (Hg.), Die Kinder des Staates, ÖZG 25, 1&2/2014, 156–193; ders., Wissenschaftliche Diskurse, Kinder- und Jugendfürsorge, Heimerziehung: Wien im 20. Jahrhundert, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 17 (2018), 29–56.

19 Ulrike Loch u. a., Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl. Gewalt an Kindern und Jugendlichen in heilpädagogischen Institutionen der Jugendwohlfahrt und des Gesundheitswesens in Kärnten zwischen 1950 und 2000, Innsbruck-Wien 2021.

20 Gregor Kurt Kaltenböck, 100 Jahre Fürsorgegesetzgebung in Österreich unter besonderer Berücksichtigung von Tirol im Hinblick auf ideologische Aspekte und Normwerdungsprozesse, ungedr. MA-Arb. Innsbruck 2020.

21 Dirk Rupnow/Horst Schreiber/Sabine Pitscheider, Studie zu den Sozialehrenzeichenträgern der Stadt Innsbruck P. Magnus Kerner OFMCap. und Hermann Pepeunig, Innsbruck 2013.

22 Ralser/Bechter/Guerrini, Regime, 103.

23 Barbara Stolz, „Um aus ihnen brauchbare Menschen werden zu lassen …“. Einblicke in die Struktur und Organisation des Fürsorgeheims „Bubenburg“ zwischen 1945 und 1990, Dipl.-Arb. Innsbruck 2011; Florian Faisstnauer, Die katholische Privatschule Österreichs in der Zwischenund Nachkriegszeit am Beispiel der „Bubenburg“ im Zillertal/Tirol, Dipl.-Arb. Innsbruck 2013.

24 slw derzeit, Von Böse und Gut. Ein Versuch über Gewalt und Missbrauch. Bubenburg 1950–1980, 2014, online unter: https://www.heimerziehung.at/images/slw_derzeit_Bubenburg_1950_bis_1980_web-Ausgabe.pdf (16.6.2022).

25 Erwin Aschenwald, Erziehung gestern. Geschichten aus der „Bubenburg“, in: erziehung heute 3–4/1981, 8f.

26 Nicole Schweig, St. Josefs-Institut Mils. Unveröffentlichter Forschungsbericht, 13.11.2020.

27 Hemma Mayrhofer, Zwischen rigidem Kontrollregime und Kontrollversagen. Konturen eines Systems des Ruhighaltens, Schweigens und Wegschauens rund um das ehemalige Kinderheim Wilhelminenberg in den 1970er Jahren, Teilbericht des IRKS zum Endbericht der Kommission Wilhelminenberg, Wien 2013, https://www.uibk.ac.at/irks/publikationen/2020/pdf/irksbericht-wilhelminenberg.pdf (20.5.2022).

28 Hemma Mayrhofer u. a. (Hg.), Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der Wiener Psychiatrie von 1945 bis 1989. Stationäre Unterbringung am Steinhof und Rosenhügel (Schriften zur Rechts- und Kriminalsoziologie 8), Wien 2017.

29 Hemma Mayrhofer, Bedrohliche Körper und Bedürfnisse. Eugenisch motivierte Sterilisation von Mädchen und jungen Frauen mit Behinderungen in der österreichischen Nachkriegsgeschichte, in: AEP Informationen 1/2019: Trotz aller Barrieren. Ganz Frau-Sein mit Behinderungen, 20–24, 21.

30 Vgl. dazu ausführlich Mayrhofer u. a., Kinder.

31 Mayrhofer, Körper, 21.

32 Angela Wegscheider, Die Situation im Kinderdorf St. Isidor und im Institut St. Pius, in: John/Wegscheider/Wisinger, Verantwortung, 283–474, 283.

33 Interview mit Gesprächspartnerin (Elisabethinum), 20.7.2021.

34 Hemma Mayrhofer u. a., Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Studie im Auftrag des BMASGK, Wien 2019, https://www.irks.at/assets/irks/Publikationen/Forschungsbericht/Mayrhofer_et_al_2019_Gewalt_an_Menschen_mit_Behinderungen_Endbericht.pdf (20.5.2022).

35 Loch u. a., Namen, 268.

36 Vgl. z. B. Kerstin Herrnkind, Karriere eines Kindermörders, 26.2.2012, https://www.stern.de/panorama/stern-crime/richter-faellen-urteil-gegen-martin-n--karriere-eines-kindermoerders-3558344.html (28.6.2022); Stern Crime: Der Maskenmann, TV-Dokumentation 2020, allerdings hier mit einer apologetischen Darstellung der Rolle der Polizei.

37 Vgl. das Kapitel Die Befürchtung des „Unglaubens“ und die Einschätzung der Erlebnisse durch Dritte.

38 Vgl. ausführlicher Ralser u. a., Heimkindheiten, 268–279, in Bezug auf Tirol: 276–279.

39 Ralser u. a., Heimkindheiten, 280–290.

40 Irmtraut Leirer/Rosemarie Fischer/Claudia Halletz, Verwaltete Kinder. Eine soziologische Analyse von Kinder- und Jugendlichenheimen im Bereich der Stadt Wien (Publikationen des Instituts für Stadtforschung 36), Wien 1976.

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