Denken ohne Trost - Deborah Nelson - E-Book

Denken ohne Trost E-Book

Deborah Nelson

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Beschreibung

Von Frauen wird Tröstung verlangt. Deborah Nelson nähert sich sechs beeindruckenden Denkerinnen, die sich weigerten, die harte Realität im Meer der Gefühle untergehen zu lassen. Diane Arbus, Hannah Arendt, Joan Didion, Mary McCarthy, Susan Sontag und Simone Weil haben heute den Status von Ikonen. Doch während sie wegen ihres Eigensinns und ihrer Stärke mittlerweile als weibliche Identifikationsfiguren gelten, schlugen ihnen lange Zeit massive Anfeindungen entgegen, die bis zu Vorwürfen charakterlicher Deformation reichten. Angeprangert wurde der kalte und unsentimentale Blick, der ihre Werke prägte – für Frauen damals wie heute ein Skandal. Deborah Nelson spürt in ihren konzentrierten Porträts der Künstlerinnen und Denkerinnen systematisch dem Anstößigen ihres Weltzugangs nach. Jenseits von Leidenseinfühlung und ironischer Coolness bildeten sie eine Ethik ohne Tröstung aus, die auch in unseren Zeiten geforderter Identifikation und abgefragter Identität ihren Stachel behält. Deborah Nelson rekonstruiert eine bislang kaum beachtete Gegenströmung zu den etablierten intellektuellen Reaktionsmustern auf die Verheerungen des 20. Jahrhunderts: eine herausfordernde Kultur-, Gefühls- und Geschlechtergeschichte gegen den Strich, die zeigt, wie begrenzt die emotionalen Spielräume für Frauen waren und sind.

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Denken ohne Trost erschien im Frühjahr 2022 als Band 91 in der Reihe

KLEINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Tough Enough. Arbus, Arendt, Didion, McCarthy, Sontag, Weil bei Chicago University Press in Chicago und wurde für diese Übersetzung gekürzt.

KLEINEKULTURWISSENSCHAFTLICHEBIBLIOTHEK

wurde 1988 in Referenz an Aby Warburg gegründet.

E-Book-Ausgabe 2022

© 2017 by The University of Chicago. All rights reserved.

© 2022 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung nach einem Konzept von GROOTHUIS Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4341 9

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 5191 9

www.wagenbach.de

Für Judy Nelson In memoriam

Einleitung

Denken ohne Trost

Eine Erlebnisweise zu benennen, sie zu umreißen und ihre Geschichte eingehend darzulegen, erfordert eine tiefe Sympathie, modifiziert durch Abscheu.

Susan Sontag, »Anmerkungen zu ›Camp‹«

Wir sind ästhetisch, politisch und moralisch verpflichtet, uns der Realität zu stellen, so schmerzhaft sie auch sein mag, und zwar ohne dabei den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen – diese Überzeugung eint die in diesem Buch versammelten sechs Schriftstellerinnen, Intellektuellen und Künstlerinnen. Die Gruppe mag etwas seltsam zusammengewürfelt erscheinen, und sie würde wohl kaum die optimale Besetzung eines Krisenstabs in Notzeiten abgeben: Simone Weil erhielt in den ersten, religiös geprägten Nachkriegsjahren wegen ihres strengen und unkonventionell mystischen Zugangs zum Christentum einen kultähnlichen Status; Hannah Arendt war eine der wichtigsten politischen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, und ihre Bedeutung nimmt mit jedem Jahrzehnt noch zu; Mary McCarthy, Romanautorin und Kritikerin, erlangte in der amerikanischen Literatur vor allem wegen ihrer autobiografischen Texte und ihres Romans Die Clique Bekanntheit; Susan Sontag war die wohl legendärste Intellektuelle des späten 20. Jahrhunderts, eine Ikone der Popkultur und eine umstrittene, aber hoch angesehene Kritikerin von Kunst und Politik, wenn auch ihre eigenen künstlerischen Werke weniger Anklang fanden; Diane Arbus galt unbestritten als eine der einflussreichsten Fotografinnen und Künstlerinnen der Nachkriegszeit; und Joan Didion wurde nach einer langen und erfolgreichen Karriere als Journalistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin mit der Veröffentlichung ihrer Erinnerungen Das Jahr magischen Denkens berühmt. Jede dieser sechs Frauen stellte für das zeitgenössische Publikum des späten 20. Jahrhunderts eine feste Größe dar. Eine erkennbare Gruppe bildeten sie jedoch nie, die meisten Leser dürften sich wohl kaum mit allen gleichermaßen auskennen. Und sie alle hätten es wahrscheinlich äußerst ungern gesehen, aufgrund ihres Geschlechts nebeneinandergestellt zu werden.

Als ich vor einigen Jahren die Idee zu diesem Buchprojekt entwickelte, gab ich ihm den Arbeitstitel »Toughe Ladys«, was etwas von der Aggressivität vermittelt, über die ich in den folgenden Kapiteln sprechen werde. Leider denkt man bei dem Begriff »toughe Ladys« eher an Schauspielerinnen wie Mae West – durchsetzungsfähig, witzig und effekthascherisch – und nicht an die verschlossene Simone Weil oder die unterkühlte, distanzierte Joan Didion. So charismatisch und attraktiv einige dieser Frauen in ihrem Privatleben auch wirkten – Sontag und McCarthy waren dafür berüchtigt –, keine von ihnen schrieb Prosa, die man als kokett oder verführerisch bezeichnen würde. Dieses Buch vereint sie aufgrund ihrer Ähnlichkeiten in Stil und Haltung bei Fragen von Leiden und Mitgefühl, die auch heute noch die Welt beschäftigen. Was sie stark macht, ist ihre selbstgewählte Aufgabe, die schmerzhafte Realität mit äußerster Direktheit und Klarheit und ohne jeglichen Trost oder Kompensation zu betrachten. Sie alle wurden von Rezensenten als »unsentimental« bezeichnet, weil sie »den Tatsachen oder Schwierigkeiten realistisch und mit Entschlossenheit ins Auge sehen«, so die Definition von »unsentimental« im Webster’s Online Dictionary (das auch »tough« als Synonym aufführt). Hätte ich dieses Buch jedoch »Unsentimentale Frauen« genannt, wäre der Begriff automatisch positiv besetzt gewesen. Wie auf Knopfdruck löst Unsentimentalität Bewunderung aus (weil sie als »klarsichtig!« und »erfrischend!« gilt oder, nüchterner ausgedrückt, als »unbeirrt«), doch das rührt paradoxerweise daher, dass wir sie im Allgemeinen nicht besonders ernst nehmen. Die Unsentimentalität wurde bislang kaum kritisch untersucht, schon gar nicht in dem Umfang wie ihr Gegenteil, die Sentimentalität, auch wenn sie seit dem Aufkommen der Moderne im frühen 20. Jahrhundert zum Standardstil ernsthafter und bedeutender ästhetischer Werke gehört. Darüber hinaus scheint der Begriff »unsentimental«, so wie er in Rezensionen oder Kritiken reflexartig verwendet wird, stets mehr auf den Charakter des Schreibenden als auf seine Philosophie, mehr auf sein Temperament als auf seine Zielsetzungen abzuheben. Schließlich haben es die meisten Schriftsteller wohl lieber, wenn ihre Texte eher frisch als altbacken, eher konzise als gefühlig wirken. Aber damit nicht genug: Die Konnotation von »unsentimental« suggeriert außerdem intellektuelle Redlichkeit, Unerschrockenheit, ja sogar einen gewissen Heroismus, so als würde umgekehrt das gefühlvolle Schreiben eine moralische Unzuverlässigkeit oder psychologische und intellektuelle Schwäche des Schriftstellers vermuten lassen. Unter dem Banner der heroischen Auseinandersetzung mit der schmerzhaften Realität sind Entgleisungen und Scheitern des unsentimentalen Schreibens ausgeschlossen, so könnte man meinen. Außer es scheitert eben doch. Auch ein unsentimentaler Text kann, zwar selten und nur unter bestimmten Umständen, eine Welle von Gefühlsregungen auslösen. Es sind die Skandale um die Unsentimentalität – Skandale um Texte, die als zu unsentimental wahrgenommen wurden, anstatt als nicht nüchtern genug –, die mich auf die Frauen in diesem Buch aufmerksam werden ließen. Die größte Bekanntheit erlangte sicherlich die weltweite Debatte um Arendts Eichmann in Jerusalem, in der ihr Urteilsvermögen und ihr Charakter – nämlich ihre Herzlosigkeit – angeprangert wurden. Doch auch die anderen fünf Frauen wurden für ihr Versagen im Umgang mit Gefühlen attackiert. So war Mary McCarthy »erbarmungslos«, Simone Weil »eisig«, Diane Arbus »klinisch«, Joan Didion »kalt« und Susan Sontag »unpersönlich«. Es ist schwierig – und für mich unmöglich –, eine vergleichbare Liste männlicher Schriftsteller, Intellektueller oder Künstler aufzustellen, die die Zuschreibung, sie seien gefühllos, über sich ergehen lassen mussten. Und obwohl diese sechs nicht die einzigen Frauen sind, die den Vorwurf der Herzlosigkeit auf sich zogen (die Schriftstellerin Flannery O’Connor teilte dieses Schicksal zum Beispiel), zeichnen sie sich doch dadurch aus, dass ausgerechnet der Umgang mit dem Leid ein zentrales Thema ihrer Arbeit war. Ihre innerlich geführten Debatten über die Darstellungsmöglichkeiten schmerzhafter Realität und die Funktion von Schmerz im Allgemeinen bieten die Gelegenheit, ihr Denken und ihre Praxis nachzuzeichnen, sich darüber dem Begriff der Unsentimentalität anzunähern und zu erfragen, zu was er taugt. Da die Unsentimentalität nicht nur Stil, sondern auch Gegenstand ihrer Arbeit ist, können wir uns ihre ästhetischen, moralischen und politischen Dimensionen vor Augen führen: Unsentimentalität ist hier eine bewusst gewählte Option und kein zu mystifizierender Charakterzug.

Diese Kontroversen entstehen nicht nur, weil sich die Konventionen des Gefühlsausdrucks bei Frauen und Männern voneinander unterscheiden oder weil Forderungen nach weiblicher Wärme und Sympathie eindringlicher vorgebracht werden. Das ist dank Jahrzehnten feministischer Forschung unstrittig. Namentlich die Tradition der Empfindsamkeit schuf im 18. Jahrhundert den stoischen »Mann von Gefühl« (aus dem öffentlichen Leben verschwand er wieder, als Mitgefühl und Sentimentalität im 19. Jahrhundert in die häusliche Sphäre verwiesen wurden).1 Von Eve Kosofsky Sedgwick in den 1980er Jahren über Julie Ellison in den 1990er Jahren bis unlängst hin zu Tania Modleski haben Wissenschaftlerinnen aufgezeigt, wie emotionale Reaktionen auf den Betrachter umgelenkt werden, wenn es sich bei dem Leidenden oder Mitleidenden um einen Mann handelt. Ganz gleich, ob bei einem perückenbewehrten Adam Smith oder einem schielenden Clint Eastwood, die Tradition der männlichen Zurückhaltung angesichts des Leidens – des eigenen und des Leidens anderer – wird meist auf die römischen und griechischen Stoiker zurückgeführt. Julie Ellison schreibt: »Für Adam Smith manifestiert sich das Idealbild moralischer Sensibilität in einem würdevoll Leidenden aus der Oberschicht, dessen Selbstbeherrschung seine Freunde zu Stellvertreter-Tränen veranlasst.«2 Dieses Bild erinnert an schnulzige Filme, in denen männliche Hauptdarsteller ein weibliches Publikum zu Tränen rühren, ein Phänomen, das Tania Modleski unter dem Schlagwort Male Weepies untersucht hat: »Echte Männer weinen nicht, oder vergießen höchstens nur ein paar trotzige Tränen; das Weinen übernehmen andere für sie – üblicherweise Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe.«3 Wenn Adam Potkay recht damit hat, dass der Stoizismus immer wieder in neuem Gewand auftaucht, sind Gefühlswallungen heute am unteren Ende der sozialen Leiter angesiedelt. Das bedeutet, dass es nicht nur unnatürlich, sondern auch anmaßend erscheinen kann, wenn sich jemand ein stoisches Verhalten aneignet.4 Kurz gesagt, der Vorwurf, etwas sei »zu unsentimental«, kann zwei Dinge bedeuten: die Abwesenheit bewundernder Zuschauer, deren Aufgabe es wäre, anstelle des Protagonisten starke Emotionen auszudrücken, oder die Anwesenheit eines falschen Protagonisten, dessen Stoizismus nicht bewundernswert, sondern alarmierend ist. Die Unsentimentalität, um die es in diesem Buch geht, ist jedoch keine »stille und hoheitsvolle Trauer«,5 sondern ein ausbalancierter Versuch, Emotionen so zu steuern, dass niemand mit den Tränen kämpfen muss: weder die Autorinnen noch diejenigen, über die sie schreiben, noch ihre Leserschaft. Es war eine Folge der geschlechtsspezifischen Zuschreibung des emotionalen Stils, dass diese Frauen sich mit ihrer Entscheidung für die Unsentimentalität ungewöhnlich stark auseinandersetzen mussten. Sie waren gezwungen, diese Entscheidung zu durchdenken, auszutesten und die Ziele, die sie damit verfolgten, zu erläutern. In der Tat ist Unsentimentalität für diese Schriftstellerinnen und Künstlerinnen kein bloßer Verzicht auf falsch geeichten oder unaufrichtigen Gefühlsausdruck, sondern eine Lebensaufgabe mit einem großen Maß an Selbstreflexion. Sicherlich spielt bei all diesen Frauen das Temperament eine Rolle, ebenso wie ihre persönliche Lebenserfahrung. Aber die Biografie ist nur der Ausgangspunkt. Worüber sie schrieben, wie sie schrieben und wie sie sich ihren Ansatz in der Praxis vorstellten und in der Folge verteidigten und durchsetzten, macht ihre Unsentimentalität und die mit dieser verbundene Ethik als Haltung anschlussfähig.

Auch der Unsentimentalismus ist eine Spielart der Sensibilität, ein besonderer Gefühlsgeschmack mit eigenen ästhetischen Praktiken, selbst wenn die Geschichte des Begriffs dies nicht nahelegt. Der Kulturtheoretiker Raymond Williams hält fest, dass »Sensibilität« im 18. Jahrhundert als Bezeichnung für die Empfänglichkeit einer Person für zarte Gefühle aufkam. Im 19. Jahrhundert trennten sich die Wege von »sensibel« und »sentimental«: Die positive Bewertung verlagerte sich auf einen ästhetischen Begriff von Sensibilität, nämlich als ausgeprägte Fähigkeit zur Wahrnehmung und Beurteilung von Geschmacksfragen. »Sentimental« hingegen wurde zunehmend zum missbilligenden Begriff für das Schwelgen in Gefühlen oder die klischeehafte Wiedergabe von Empfindungen, auch wenn er noch nicht vollständig negativ besetzt war. Im 19. Jahrhundert trug das Wort »unsentimental« interessanterweise immer noch eine Vorstellung von Grobschlächtigkeit in sich, welche die Assoziation von Sensibilität und verfeinerter Gefühlsfähigkeit überstrahlte. Diese Vorstellung von Grobheit verschwand im 20. Jahrhundert, als sich »unsentimental« zu einem ausschließlich positiven Begriff wandelte. Seit Anbruch der Moderne und rückwirkend im abschätzigen Blick auf die Romantik wurde »sentimental« laut James Chandlers Archaeology of Sympathy dauerhaft und unwiderruflich mit schlechtem Geschmack und moralischer Einfalt, »unsentimental« hingegen mit gutem Geschmack und moralischer Schärfe assoziiert.

Aber was bedeutet eigentlich »unsentimental«? In einem »nicht sentimentalen« Werk kann es immer noch um Gefühle gehen – auf eine als frisch, angemessen und klischeefrei wahrgenommene Weise. »Nicht sentimental« ist jedoch ein Ausschlussbegriff, der eine Grenze um das zieht, was wir Sentimentalität nennen. »Antisentimental« ist eine Kritik der Sentimentalität. Keiner der beiden Begriffe bezeichnet einen literarischen Stil an sich. »Nicht sentimental«, der neutralste Begriff, wird auch am wenigsten verwendet, da er keine Eigenschaften angibt, sondern lediglich deren Abwesenheit. Der Begriff »antisentimental« ist am engsten mit dem Begriff »sentimental« verbunden, denn es wurde wiederholt darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, sich kritisch mit Sentimentalität auseinanderzusetzen, ohne ihre Logik zumindest teilweise zu reproduzieren.6 Ich möchte allerdings die These vertreten, dass »unsentimental« im Gegensatz zu »nicht sentimental« oder »antisentimental« etwas ganz Bestimmtes bezeichnet. Und obwohl es schwer zu definieren ist, scheint es doch so, als könne man es erkennen, wenn man es vor sich hat. So würde niemand die Prosa von Joan Didion mit einem Text von jemand anderem verwechseln – und erst recht nicht mit einem Text von Simone Weil oder Susan Sontag. Die sechs hier versammelten Autorinnen verbindet die Gemeinsamkeit, dass sie sich tatsächlich auf dasselbe Terrain begeben wie die sentimentale Literatur – sie wenden sich der schmerzhaften Realität zu, dem Leiden, den Leidenden –, ohne jedoch die Gefühle in den Vordergrund zu rücken. Dem Schriftsteller Thomas Pynchon beispielsweise wurde vorgeworfen, unterkühlt zu sein, weil sich in seinen Romanen keine komplexen Charaktere finden, mit denen sich die Leser identifizieren könnten; er wird jedoch nicht als unsentimentaler Schriftsteller bezeichnet, weil es in seinen Büchern zwar eine schmerzhafte Wirklichkeit gibt, aber wenig, was wir Leid nennen würden, weil es wenig gibt, was man unter Innerlichkeit versteht. Und Innerlichkeit ist der Ort des Leidens schlechthin, unabhängig davon, in welchem Maße es letztlich nach außen getragen wird. Zweitens kennzeichnet es die Unsentimentalität als Stil, dass schmerzhafte Realität konkret, direkt und realistisch beschrieben wird. Wenn Unsentimentalität gelingt, gelten die Schreibenden als »luzide«, »hellsichtig«, »unbeirrt«, »beherrscht« und »eindringlich«, um nur einige Charakterisierungen zu nennen. Wenn sie scheitert, schlägt die Unsentimentalität in Kälte, Taktlosigkeit, Aggression und sogar Grausamkeit um. Eine schmerzliche Wirklichkeit, so scheint es, darf auch nicht übermäßig direkt, konkret und realistisch behandelt werden, ohne dass die Autorin zusätzlich offenlegt, in welchem Verhältnis sie selbst zu diesem Schmerz steht, sonst wird sie – und es ist immer eine »sie« – als kalt, taktlos oder hartherzig empfunden. Wie in der Sentimentalität liegt daher auch in der Unsentimentalität eine Frage des Maßstabs verborgen, das heißt des wahrgenommenen Gleichgewichts zwischen einer Ursache und ihrer emotionalen Wirkung. Wie Arendt in Macht und Gewalt schreibt, kann es furchteinflößend wirken, wenn jemand im Angesicht extremen Leids ungerührt bleibt.

Da unsentimentale Texte dem Gegenstand der Reflexion größeres Gewicht einräumen als den Empfindungen, die dieser Gegenstand auslöst, ist ihre Syntax in der Regel recht einfach gehalten. Sie verzichten auf erläuternde Schachtelsätze, deren Funktion nämlich häufig darin besteht, verschiedene Gefühlsperspektiven aufzufächern. Didion schreibt in ihrem Essay »Why I Write«, dass Relativsätze und Einschübe Versuche seien, dem Schlag die Wucht zu nehmen, und schließt sie dementsprechend für sich selbst kategorisch aus. Die unsentimentalen Schriftstellerinnen scheinen aus einander ähnelnden Beweggründen den gleichen Weg eingeschlagen zu haben. Sie nahmen nicht nur in Kauf, ihre Leserschaft mit dem Leid zu konfrontieren, sondern hielten dies geradezu für geboten. Sontag, Weil und Didion sind misstrauisch gegenüber der Befriedigung, die aus Mitgefühl erwachsen kann, sei diese narzisstisch (das Selbstwertgefühl gesteigert durch Zurschaustellen der eigenen Einfühlsamkeit), sei sie moralisch (die Verdrängung von Schuldgefühlen: Ich gehöre schon allein dadurch zu den Guten, dass ich mich angesichts des Leidens schlecht fühle) oder sinnlich (die Lust an der Intensität, die Erregung, Gefühle zu teilen). Arendt befürchtet, dass das von den Vernichtungslagern ausgehende Grauen das Denken ausschaltet. Sontag, McCarthy und Didion weisen darauf hin, dass Gefühle insofern eine betäubende Wirkung haben können, als eine Form des erträglichen Schmerzes dazu dient, eine andere, tiefere Verletzung zu überdecken. Arbus gesteht, dass es schmerzt, schonungslos fotografiert zu werden, glaubt aber, dass ein empathischer Umgang mit menschlichen Realitäten diese verschleiert. Eines der großen Dilemmata des späten 20. Jahrhunderts bestand in der Frage, wie man sich dem Ausmaß der schmerzhaften Realität stellen oder, um es mit Sontag zu sagen, »den Schmerz von zu vielen anderen« einbeziehen kann. Der Zweite Weltkrieg verursachte ungeheures Leid, das sich damals wie heute den Versuchen entzieht, in seiner Gesamtheit beschrieben oder begriffen zu werden. Die wenigen Zahlen, mit denen man es beziffern kann – sechs Millionen ermordete Juden, sechzig Millionen Kriegstote, zwölf Millionen Hungertote im Pazifik, hundertfünfzigtausend Japaner, innerhalb von drei Tagen von zwei Bomben verbrannt, um nur einige zu nennen –, können den Schrecken, den Verlust und das Ausmaß der Zerstörung in der Mitte des Jahrhunderts zwar bemessen, aber nicht vermitteln. Die Vereinigten Staaten, die vergleichsweise unversehrt blieben, hatten dennoch über vierhunderttausend militärische Opfer zu beklagen. Diese Zahlen werden zwar von den dreiundzwanzig Millionen Opfern der UdSSR (fast 14 Prozent der Bevölkerung) in den Schatten gestellt, doch das Leid nach Rang zu ordnen hilft weder denjenigen, die statistisch gesehen am meisten, noch denjenigen, die statistisch gesehen am wenigsten zu leiden hatten.

Angesichts der Katastrophen der Jahrhundertmitte beklagten Künstler und Schriftsteller aus der ganzen Welt die Unzulänglichkeit der ihnen zur Verfügung stehenden formalen Mittel. Berühmt ist Theodor W. Adornos Satz, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«.7 Doch so unmöglich die Aufgabe auch schien, wie wir wissen, verschwanden Leid und Trauma nicht in der Verborgenheit. Ganz im Gegenteil. Entgegen den Befürchtungen vieler umsichtiger Kommentatoren hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Leid auszumalen, und zwar in sämtlichen Medien und Kulturbereichen, von der Hochkultur bis hin zum Massenmarkt. Die Dichter haben »nach Auschwitz« nicht aufgehört, Gedichte zu schreiben, und sie haben auch nicht davor zurückgeschreckt, dem Horror ein Gesicht zu geben. Wenn das 20. Jahrhundert, wie Shoshana Felman schreibt, sowohl ein Jahrhundert der Traumata als auch der Traumatheorien war, dann ist es zudem ein Jahrhundert der Darstellung von traumatischen Ereignissen gewesen. Neben Versuchen, dem Leiden gerecht zu werden, hat man aus dem begierigen Konsum dieser Darstellungen auch Kapital geschlagen.8 Das ist ein weiteres Ziel dieses Buches: durch die Beschäftigung mit Arbus, Arendt, Didion, McCarthy, Sontag und Weil ein Kapitel zu der Geschichte hinzuzufügen, die wir uns seit dem Zweiten Weltkrieg über unser Verhältnis zum eigenen Leiden und dem Leiden anderer erzählen. Man erzählt uns zum Beispiel, dass das Ausdrücken von Gefühlen gegen Ende des 20. Jahrhunderts vom Zeitgeist honoriert, ja sogar eingefordert wird und dass eine Vorliebe für Authentizität und Empathie den Ton angibt, welche das öffentliche Teilen von Gefühlen voraussetzt. Doch zugleich erzählt man uns, das späte 20. Jahrhundert sei gekennzeichnet durch seine Coolness, seine Ironie und seine Affektlosigkeit. Das führt zu der Frage: Wie konnten die großen historischen Verwerfungen, von denen der Zweite Weltkrieg nur eine war, die Emotionen derart in die Extreme der Gefühlsskala treiben? Warum wurde die Äußerung von Gefühlen – in ihrer Fülle oder ihrer Abwesenheit – als derart kontrovers empfunden, dass die Emotionen in den verschiedenen Bereichen der Öffentlichkeit (ich denke vor allem an Kunst und Politik) ständig kommentiert werden mussten und einer unablässigen Debatte unterworfen waren, die sich ihrerseits durch emotionale Aufladung (zum Beispiel Jubel oder Abscheu) auszeichnete?9

Die Frauen in diesem Buch bilden einen Gegenpol zu diesen beiden Extremen, keineswegs einen goldenen Mittelweg – sie reduzieren die Zurschaustellung von Gefühlen auf ein Minimum, wenn nicht sogar auf null, und doch bestehen sie auf einer ernsthaften, engagierten und oft schmerzhaften Auseinandersetzung mit Elend und Not. Damit bewegen sie sich auf einem schmalen Grat, weshalb sie so sehr aus ihrer Zeit zu fallen scheinen. Sie sakralisieren den Schmerz nicht, noch sind sie ihm gegenüber gleichgültig, und bilden auf diese Weise eine Gegentradition, die fälschlicherweise für Herzlosigkeit und Kälte gehalten wurde. Es ist etwas ganz anderes, etwas, das ich Denken ohne Trost nennen möchte. Sie waren vom Leiden als einem Problem angezogen, das es zu erforschen galt, blieben jedoch zutiefst misstrauisch gegenüber dessen Anziehungskraft. Dieses Denken ohne Trost ist leicht mit Gleichgültigkeit oder Gefühllosigkeit zu verwechseln, aber damit würde man ihr Vorhaben missverstehen. Sie suchten gar nicht nach einer Lösung oder Linderung für den Schmerz, sondern nach einer erhöhten Sensibilität für die »Wirklichkeit«, die sie umgab. Man kann es eigenartig finden, aber sie empfanden den Trost, der von Intimität, Empathie und Solidarität ausgeht, als ein Betäubungsmittel. Dass sie dem Schmerz ein Existenzrecht zusprachen, ja dass sie auf seine Alltäglichkeit insistierten, ist Teil ihrer Exzentrizität. In Auseinandersetzungen wie den von ihnen geführten, in denen Schmerz eine ernsthafte ethische und politische Frage ist, hat die Erklärungsmacht der Traumatheorien dazu geführt, dass uns das Verständnis sowohl für das gewöhnliche Leiden als auch für die Gewöhnlichkeit des Leidens abhandengekommen ist.

Ihre Zurückweisung von Empathie und Solidarität galt vielen als unverzeihlich. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar, denn sie traf mitten ins Herz des widersprüchlichen Verhältnisses der Nachkriegszeit zu psychischem Schmerz und seinen Heilmitteln. Intimität, Empathie und Solidarität erlangten eine derart große konzeptionelle und soziale Bedeutung, weil man meinte, auf diesem Wege tiefe und oft traumatische psychische Wunden überwinden zu können, schreiben Lauren Berlant und Wendy Brown.10 Das Prinzip Schmerzlinderung durch Empathie findet sich auch in anderen Genesungsdiskursen des späten 20. Jahrhunderts, nicht nur in jenen Bereichen, die wir mit Verwundung assoziieren – Identitätspolitik, Therapie, Beichtkultur oder Traumaforschung. Schmerz kann auch als selbstverständlich und in einem sehr komplexen Sinne als befriedigend hingenommen werden. Einerseits vermag man den USA des späten 20. Jahrhunderts mit Mark Seltzer eine »Kultur der Wunde« zu attestieren, die gekennzeichnet ist durch »die öffentliche Faszination für zerrissene und offene Körper und zerrissene und geöffnete Menschen, eine kollektive Versammlung um Schock, Trauma und die Wunde«.11 Andererseits zeichnet sich die postmoderne Kultur durch das bekannte, von Fredric Jameson beschriebene »Verschwinden des Affekts« aus. Wir haben es also wiederum mit zwei Extremen zu tun: Im einen Extrem erzeugt der Schmerz ein Übermaß an Bedeutung oder Stimulation, im anderen Extrem ruft er überhaupt keine affektive Reaktion mehr hervor. Akzeptanz von und Insistenz auf Schmerz ist in gewisser Weise eine Kritik an der aufgeklärten, säkularen Moderne mit ihrer Meistererzählung von menschlicher Perfektionierbarkeit. Im Drama der Arbeit an der menschlichen Perfektion soll es für jeden Schmerz eine Linderung geben; mehr noch, auch seine Ursachen sollen beseitigt werden. Als das Selbstbild der Moderne als einer zusehends schmerzbefreiten Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sich zusammenbrach, begannen die sechs Frauen, den Schmerz in die Sphäre der Ästhetik und der Politik zu überführen. Sie vertraten die Ansicht, dass das Empfinden von Schmerz und die genaue Untersuchung der Bedingungen von Schmerz und Leid ein legitimes, ja notwendiges Unterfangen ist. Der Schmerz sollte sowohl aufseiten der Lesenden als auch aufseiten der Schreibenden seinen Platz haben. Doch – und hier weichen sie von der vorherrschenden Ethik der damaligen Zeit ab oder versuchen es zumindest – sie wollten diesen Schmerz nicht geteilt wissen. Auch wenn beide ihn empfinden mochten, sollte der Schmerz nie zwischen Autor und Leser liegen.

Wie Talal Asad in seinem Buch Ordnungen des Säkularen erklärt, wird Schmerz von der Moderne als ein spezifisches, messbares Problem aufgefasst.12 Exzess wurde zum Marker, an dem man Grausamkeit erkennt, obwohl die Grenze dessen, was als akzeptabel gilt, immer historisch bedingt ist. In der Strafpraxis wurde Grausamkeit in zunehmendem Maße geächtet, und Schmerz galt zunehmend als mit Menschlichkeit unvereinbar. Ihn zuzufügen und ihn zu erfahren war in beiden Fällen entmenschlichend. Natürlich ließ dies die Grausamkeit nicht verschwinden, schreibt Asad, man begann lediglich, sie zu kaschieren und zu verleugnen. Aber die Neugestaltung der Strafgesetze und der Begriff der Grundrechte veränderten den Platz des Schmerzes in modernen Gesellschaften und vereinheitlichten ihn – das heißt, Schmerz war nun eine einzige abstrakte Entität anstelle von Einzelereignissen. Damit meint Asad nicht die verschiedenen Intensitäten von Schmerz, sondern dass die verschiedenen Funktionen des Schmerzes – nicht seine Bedeutung – für den Einzelnen und die Gemeinschaft unsichtbar und undenkbar gemacht wurden. Zu behaupten, dass Schmerz zum menschlichen Leben einfach dazugehört, dass er einen spirituellen oder anderweitigen Sinn hat, begann als unmenschlich, unzivilisiert und barbarisch zu gelten. Von einem Wert oder Nutzen von Schmerz zu sprechen erschien reaktionär. Wenn wir Herzlosigkeit und Kälte als bloße Persönlichkeitsmerkmale betrachten, berauben wir uns selbst einer Alternative zu Intimität und Empathie, auch wenn deren Beschränkungen, scheinbar unumstößlich und naturgewachsen, immer öfter ins Auge fallen. Da es so schwierig wirkt, sich eine Ethik vorzustellen, die auf Empathie verzichtet, nahm man die in diesem Buch versammelten Frauen eher als psychologisch kalt wahr, als dass man ihnen zugestand, ein ethisches Projekt zu verfolgen, das einfach auf anderen Voraussetzungen fußt. Die ethischen Beziehungsmodelle, die seit der Theoretisierung des moralischen Gefühls im 18. Jahrhundert auf dem Vormarsch waren und durch die Tragödien der Jahrhundertmitte ihre Mängel unter Beweis stellten, gingen immer von einer direkten Gegenüberstellung des Selbst mit dem Anderen aus. Da die Unsentimentalität sich weigert, dem emotionalen Leid der Protagonisten Bedeutung beizumessen – egal in welcher Situation –, bietet das Werk der behandelten Denkerinnen eine Alternative zu sämtlichen empathiebasierten ethischen Systemen, seien es die Philosophie von Emmanuel Levinas oder die Debatten über Empfindsamkeit, die Traumaforschung oder die Bemühungen in den Affect Studies, emotionalen Flow zu verstehen, oder die Begriffe von Identität und Identifikation. Alle diese Denkgebäude setzen im Grunde eine Begegnung mit dem Anderen voraus. Diese Frauen bestreiten die Wirksamkeit dieses ethischen Modells: Sie sehen darin eine vertröstende Ablenkung, eine moralische Eitelkeit, eine Tendenz, beide Akteure zu überfordern und abzufüllen, eine Unzuverlässigkeit, eine Unmöglichkeit. Sie kritisieren oder verwerfen die Empathie aber nicht nur, sondern versuchen, einen anderen ethischen Modus zu entwickeln, in dem man – um mit Arendts Worten zu sprechen – die Welt mit anderen teilt, ohne ihnen persönlich zu begegnen. Dies ist ein schmerzhafter Modus, der dem Leser Gefühle wie Trost, Gewissheit, Vorhersehbarkeit, Dankbarkeit und Gemeinschaft vorenthält. Er ist auf bewusste Weise, manchmal sogar vehement, anti-utopisch. Aber insofern er nicht mehr verspricht als Unvorhersehbarkeit, Hilflosigkeit, Betrübnis und Selbstveränderung, versucht er sich doch an nichts weniger als an einer aktiven, expansiven und transformativen Beziehung zur Realität.

Dieses Denken ohne Trost ist herausfordernd, aber nicht gefühllos. Es verlangt paradoxerweise eine erhöhte Sensibilität für die Realität, nur nicht für die Gefühle anderer Menschen. Die Frauen, über die ich hier schreibe, pochten auf die Pflicht, sich der Realität zu stellen, doch hielten sie es für eine Notwendigkeit, die Gefühle dabei im Zaum zu halten. Damit meinen sie sowohl diejenigen Gefühle, die einen daran hindern, der schmerzhaften Realität ins Gesicht zu blicken, als auch jene, die genau dabei aufkommen. Sie halten den psychologischen und politischen Wert eines solchen Denkens hoch. Sie formulieren eine ästhetische Praxis für die Konfrontation mit der schmerzhaften Realität, die sie in ihrem eigenen Schaffen demonstrieren. Sie bestehen darauf, sich dem Leiden mit klarem Geist auszusetzen, auf sich allein gestellt, aber im Verbund mit anderen. Schließlich schätzen sie diese Praxis als entscheidend für das Schicksal der Nachkriegsöffentlichkeit und sogar der menschlichen Zivilisation ein. Doch so viel sie auch gemeinsam hatten, so unterschiedlich formulierten sie ihre Projekte: Simone Weil arbeitete sich an einem tragischen Verständnis von Gerechtigkeit ab, während sie den offenen Umgang mit einem Leiden suchte, das so extrem war, dass es sich nur an der Kreuzigung Christi messen lässt; Hannah Arendt stilisierte sich selbst als herzlos, um eine Alternative zu auf Mitgefühl basierender Politik vorzuschlagen; in den vielen literarischen Formen, in denen sie schrieb, fächerte Mary McCarthy eine ästhetische Theorie der Konfrontation mit den Tatsachen auf; Susan Sontag untersuchte in ihrer Angst vor kultureller Anästhesie die Probleme der emotionalen Selbstregulierung im Spätkapitalismus; Diane Arbus betrachtete das Scheitern als einen normalen Bestandteil der Selbstgestaltung, woraus sie eine Pädagogik der Hilflosigkeit entwickelte; Joan Didion führte einen schonungslosen Kampf gegen das Selbstmitleid und die Selbsttäuschung, der erst zum Erliegen kam, als ihr die Großartigkeit von Härte bewusst wurde.

»Das Leiden anderer betrachten« hat zu ausgedehnten und brillanten Überlegungen angeregt und war eine Quelle theoretischer, historiografischer und methodologischer Kreativität im Umgang mit dem fortwährenden Zeugnis von Grausamkeit und Unterdrückung auf der Welt – und das gar über historische Epochen hinweg. Verschiedene, oft einander überschneidende Disziplinen entwickelten Begriffswerkzeuge, um über das Leiden in seinen verschiedenen Dimensionen und Ausprägungen nachzudenken und es zu bezeugen. Die Traumaforschung mit ihren Wurzeln in der Psychoanalyse hat Wege gefunden, wie über Traumata gesprochen werden kann, selbst wenn das Sprechen nicht vermittelbar, stotternd, flüchtig und indirekt ist. Forschungen zu Feminismus, Rassismus, Ethnie und Postkolonialismus, Disability Studies, Gay, Lesbian, Queer Studies sowie Untersuchungen zu Klassenfragen haben mit Methoden aus verschiedenen Fächern das Leiden und die Unterdrückung von Individuen und Gemeinschaften über Kulturen und Zeiten hinweg sichtbar und verständlich gemacht. Die Affect Studies, die aus diesen Forschungsbereichen erwachsen sind, ohne sie zu verdrängen, werden zunehmend zu einem Knotenpunkt, an dem schmerzhafte Emotionen untersucht werden. Das hat den konzeptionellen Vorteil, dass sie das Leiden und Reaktionen auf das Leiden zu reichhaltiger psychologischer und sozialer Darstellung bringen können, weil Affekte als etwas beschrieben werden, das zwischen Geist und Körper, zwischen Menschen, zwischen einer Person und einem Abstraktum (wie der Nation oder dem guten Leben) und zwischen einem Körper und seiner Umwelt existiert. In diesem Zwischenraum kann der Affekt fruchtbar werden und zum Handeln motivieren; er kann aber auch unvorhersehbar sein, was ihn zu einer Quelle der Angst macht. In vielen zeitgenössischen Arbeiten werden Affekte als Quelle von Optimismus gewertet, während man in ihnen Mitte des 20. Jahrhunderts in Studien über Menschenmengen, Massenpsychologie und Faschismus eine Quelle des Schreckens sah. Dieses Buch gibt nun der Kälte und Herzlosigkeit, der Zurückhaltung und Beherrschung Raum und ist so in einem Grenzgebiet der Affect Studies angesiedelt.

Das Einzelgängerische dieser Frauen – ihre Entscheidung für die Abgeschiedenheit und gegen die Solidarität – erklärt sich auch daraus, dass sie die allseitige Zwischenschaltung der Affekte ausräumen wollten, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen, die in den einzelnen Kapiteln erläutert werden. Dieser Widerstand gegen Emotionen im Bereich der schmerzhaften Realität unterscheidet sie auch von der Art der politischen Zugehörigkeit, die von den progressiven sozialen Bewegungen der Jahrhundertmitte verfochten wurden, welche alle auf Gefühlsbindungen und Gruppenidentifikation setzten. Ihre Ablehnung von beidem in der Theorie, ganz zu schweigen von ihrer Verweigerung in der Praxis, machte diese Frauen innerhalb der Gruppen, die eigentlich auf ihre Unterstützung zählten, zu Außenseitern. Hannah Arendts Hauptwerk der frühen 1960er Jahre, Über die Revolution, das auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung erschien, seziert fein säuberlich die verheerenden Auswirkungen, die das Mitleid im politischen Leben haben kann.13 Joan Didions bahnbrechende Essaysammlung Stunde der Bestie persifliert die Gefühlspolitik der Neuen Linken und die Gefühlskultur der linken Randgruppen in dem Moment, als die Pazifismusbewegung und die Hippies 1968 im Norden von Kalifornien zusammenkamen und oft genug kollidierten. Und als die sozialen Bewegungen des späten 20. Jahrhunderts die heilende Kraft der Empathie zum Bindemittel der Solidarität und zur Triebkraft progressiver Politik auserkoren, schreckten die Denkerinnen in diesem Buch zurück – nicht vor dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit, sondern vor dem Weg dorthin. Für ihre Leser war es nicht immer leicht, diesem Unterschied die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Zwischen diesen sechs Frauen bestehen viele biografische, künstlerische und philosophische Verbindungen, woraus sich jedoch kein gegenseitiger Einfluss und keine Abgrenzung voneinander oder gar eine Art künstlerischen oder intellektuellen Kollektivs ableiten lässt. Keine dieser Frauen hielt viel von Kollektivität, und zwar aus sehr verschiedenen, aber ganz entscheidenden Gründen. Nicht zufällig standen sie auch der feministischen Bewegung ihrer Zeit, vor allem dem Feminismus der zweiten Welle, zwiespältig oder sogar ablehnend gegenüber. Ich werde die Gründe für ihre Feindseligkeit und Ambivalenz weniger als verinnerlichte Misogynie oder als Preis dafür werten, sich in einer intellektuellen, oft explizit frauenfeindlichen Kultur durchsetzen zu müssen, sondern als eine ganz eigene Haltung zu den Grundlagen feministischen Denkens, wie zum Beispiel das Sprechen über Gefühle, die Hervorhebung von psychischem Schmerz, die Emphase auf Kollektivität und das Eintreten für utopische Projekte. Die Unsentimentalität dieser sechs Frauen drückt sich auch in ihrer Bereitschaft aus, bestimmte Arten von psychischem Schmerz schlicht zu ertragen oder abzuwehren, ja sie erkannten darin sogar eine moralische Pflicht. Die Tatsache der Frauenunterdrückung würden sie zwar nicht leugnen, aber philosophisch konnten sie zu ihr kein Verhältnis dulden, das zu einer kollektiven Gefühlslage einlädt.

Die meisten dieser Frauen bewegten sich in irgendeiner Weise im Umkreis der sogenannten New York Intellectuals, jener Gruppe von größtenteils männlichen Schriftstellern und Intellektuellen, die die einflussreichen kleinen Zeitschriften der Jahrhundertmitte wie Partisan Review, politics, Commentary und Dissent mit Essays bestückten und herausgaben. McCarthy, die sich für die Wiederbelebung der Partisan Review einsetzte, nachdem deren Herausgeber mit der Kommunistischen Partei der USA gebrochen hatten, und Arendt, die, als sie während des Krieges aus Paris nach New York kam, schnell begann, in diesen Zeitschriften zu veröffentlichen, waren überzeugte Mitglieder der New York Intellectuals und gehörten zu den ganz wenigen Frauen, deren Texte regelmäßig gedruckt wurden. McCarthy und Arendt verband auch eine große und produktive Freundschaft, weshalb sich ihre Kapitel hier in einer Weise überschneiden, wie es bei den anderen nicht der Fall ist. Simone Weil, die noch vor Kriegsende starb, wurde, von McCarthy übersetzt, in den Vereinigten Staaten erstmals in politics veröffentlicht. Weil war eine »Säulenheilige« für einige der New Yorker Intellektuellen, insbesondere zum Beispiel für den Partisan Review-Herausgeber Dwight Macdonald, und sie ist in vielerlei Hinsicht eine Vorläuferin der anderen und ein Grenzfall in diesem Buch. Sontag hingegen war eine New Yorker Intellektuelle der zweiten Generation, deren Geschmack und deren Interessen der älteren Generation so fremd waren, dass ihre Zeit in dem Milieu begrenzt war und sie nur selten mit ihnen verkehrte. Didion gehört durch ihre Arbeit für die New York Review of Books und die Förderung von Elizabeth Hardwick, einer Freundin von McCarthy und Arendt und selbst eine New Yorker Intellektuelle, zu dieser Szene. Hardwick war Herausgeberin der New York Review of Books, die seit den Sechzigerjahren die kleinen Zeitschriften zu absorbieren und langsam abzulösen begann. Diane Arbus wurde als noch stärkerer Solitär erst posthum bekannt, nicht zuletzt durch Sontags Besprechung ihrer Einzelausstellung im Metropolitan Museum of Art und ihr Buch Über Fotografie, das von Arbus inspiriert war.

Ihre Wege kreuzen sich, verlaufen manchmal parallel und sind durch manche persönliche Beziehung miteinander verbunden. In meinen Augen sind es jedoch eher ihr Stil und ihre gemeinsame Sensibilität, die sie verbinden, als ihre Lebensläufe, obwohl sich die Biografie aus dieser Rechnung natürlich nicht herauskürzen lässt. Es handelt sich nicht um ein Buch über die New York Intellectuals. Die in diesen Kreisen herausgegebenen Zeitschriften wurden in der Mitte des Jahrhunderts in den USA über ein breites Spektrum politischer Überzeugungen und Engagements hinweg gelesen und boten ein Forum für ernsthafte kulturelle, ästhetische und politische Auseinandersetzung sowohl für professionelle Denker, um Arendts Begriff zu verwenden, als auch für interessierte Laien. Abgesehen von den Universitäten gab es jenseits der New Yorker Zirkel nur wenige andere Orte, an denen Intellektuelle ein Publikum finden, sich mit anderen Intellektuellen austauschen und auf Reichweite hoffen konnten. Und die akademische Art zu schreiben, der Fachjargon der Universitäten, stand bei den meisten Frauen, die in diesem Buch versammelt sind, in der Kritik, ja sie machten sich über ihn lustig, obwohl zum Beispiel McCarthy, Sontag und Arendt selbst auch unterrichten mussten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die meisten Intellektuellen dieser Zeit empfanden diese Zeitschriften als den richtigen Ort für ihre Veröffentlichungen, und das galt insbesondere auch für die Frauen unter ihnen, die es bis in die 1980er Jahre an den Universitäten nicht leicht hatten. Und mitunter wollten sie sich auch nicht auf ein Fachgebiet einschränken. Zwischen den Spezialisten und den Generalisten einer Generation geht auch heute noch wenig Liebe verloren.

Natürlich waren sie auch aufgrund ihres persönlichen Stils und ihrer Sensibilität in diesem Milieu erfolgreich. Dass sie sich nicht offen für den Feminismus aussprachen oder sich sogar von ihm distanzierten, dürfte ihren Karrieren auch nicht geschadet haben und war ihnen wahrscheinlich sogar förderlich. McCarthy und Arendt gerieten jedoch wegen ihrer Härte, nicht wegen ihrer Sentimentalität oder Weichherzigkeit, in Konflikt mit ihren männlichen Kollegen. McCarthy brüskierte einige ihrer männlichen Freunde und Kollegen mit ihren (für die damalige Zeit) unverblümten sexuellen Anekdoten und zeichnete in ihren autobiografischen Fiktionen von manchen Männern allzu erkennbare und unangenehme Karikaturen. Arendt wurde für Eichmann in Jerusalem von den New York Intellectuals heftig und mitunter bösartig angegriffen.

Sich der schmerzlichen Realität zu stellen bedeutete für diese Frauen nicht, dass sie Pessimisten waren. So düster ihre Botschaft auch oft war, die meisten von ihnen waren weder Pessimisten noch Optimisten. Sie hielten sich für Realisten einer bestimmten Art. Außerdem hatten sie mit dem utopischen Optimismus eigene abschreckende Erfahrungen gemacht. Wenn sie keine Pessimisten waren, so waren sie doch entschiedene Anti-Utopisten. Der Utopismus verstieß ganz einfach gegen zwei ihrer Standpunkte: dass man sich der Realität in ihrer ganzen Komplexität und ihrem Schmerz stellen muss und dass der Ausgang jeder Handlung unvorhersehbar ist. Es lässt sich schlicht nicht sicher sagen, zu welchen Ergebnissen insbesondere die komplexen politischen und sozialen Handlungen führen werden, weshalb das moralische Urteil über diese Handlungen für sich stehen muss und nicht von ihren Ergebnissen her gewertet werden darf. Gleichwohl gibt es bei einigen dieser Frauen eine überraschende amor mundi, die ihre Ethik und ihre Genauigkeit unterstreicht, eine Liebe zur Welt mit all ihren Komplikationen, Zweideutigkeiten und Ambivalenzen. Diese amor mundi erklärt zumindest zum Teil, warum sie in der Lage waren, ihre Projekte über so lange Zeit und angesichts der entmutigenden Verwerfungen im öffentlichen Leben weiterzuverfolgen.

Mit Ausnahme von Sontag ist keine dieser Frauen als Verfasserin einer ästhetischen Theorie bekannt geworden. Sie alle mussten jedoch unter dem Druck der Umstände eine ästhetische Theorie formulieren, um sich mit den ethischen Problemen auseinanderzusetzen, die der Darstellungsversuch schmerzhafter Realität mit sich bringt. Diese Theorien machten sie oft (aber nicht immer) explizit, und in den folgenden Kapiteln soll vor allem dargestellt werden, wie diese Theorien in der Praxis aussahen. Die Methodik, die diesem Buch zugrunde liegt, verdankt sich damit einem kleinen Verweis auf Theodor W. Adorno in Michael Taussigs Buch The Nervous System. Taussig fordert, dass »man sich einem Phänomen hingeben muss, anstatt es von oben zu betrachten«.14 Ich versuche ans Tageslicht zu befördern, was oft implizit in ihr Denken und ihre Praxis eingebettet ist. Sharon Marcus und Stephen Best bezeichneten eine solche Vorgehensweise, die auch Wortwahl und sich abzeichnende Muster in den Texten in den Blick nimmt, einmal als »Oberflächenlesung«. Die Analyse der Oberflächenbeschaffenheit allein reicht jedoch nicht. Da ich mich in erster Linie auf Essays und in einem Fall auf Fotografien und Fotoessays konzentriere, müssen die verschiedenen historischen Kontexte berücksichtigt werden, die zu den Überlegungen überhaupt Anlass gaben.

Das Buch postuliert keine übergreifende Theorie der Unsentimentalität. Dies hier ist vielmehr ein Versuch, sich in das Denken und die Praxis dieser Expertinnen auf dem Gebiet der Sensibilität hineinzuversetzen, in der Hoffnung, der intimen öffentlichen Sphäre – oder der mitfühlenden öffentlichen Sphäre, wie Lauren Berlant sie nennt – Alternativen zu eröffnen, da diese öffentliche Sphäre, wie Berlant zeigt, weder wirklich intim noch wirklich mitfühlend zu sein scheint.15 Das heißt auch, Kosten und Nutzen dieser Alternativen aufzuzeigen. Für das Leid, das unsere Schlagzeilen und Newsfeeds beherrscht, ist die Unsentimentalität allein kein Heilmittel. Sie bietet vielmehr eine herausfordernde Art der Konfrontation mit der Welt, die ein solches Leid hervorbringt. Sich den Tatsachen in dem hier dargelegten Sinne zu stellen bedeutet nicht, sich ihrer lediglich bewusst zu sein – und deshalb kommt der ästhetischen Komponente dieses Projekts eine so große Bedeutung zu. Wenn Fakten allein uns ins gelobte Land führen könnten – Fakten über Klimawandel, Waffengewalt, Terrorismus, Krieg, Rassismus, wirtschaftliche Ungleichheit –, dann lebten wir ja bereits in einem Paradies der Tatsachen. Das Problem ist nicht, dass wir nicht wissen, was vor sich geht, sondern dass wir es nicht ertragen, uns durch dieses Wissen verändern zu lassen. Die Frauen, über die ich auf den folgenden Seiten spreche, insistieren, dass wir uns verändern lassen sollten, unabhängig von der Frage, wie viel wir dabei aufgeben müssen.

Simone Weil

Tragisches Denken im Zeitalter des Traumas

Ich soll mein Leiden nicht deshalb lieben, weil es nützlich ist, sondern weil es ist.

Simone Weil, Schwerkraft und Gnade

Die geheimnisvolle Anziehungskraft von Simone Weil

In den Jahren 1951 und 1952 wurden drei Bücher ins Englische übersetzt, die eine Französin geschrieben hatte – eine Schriftstellerin, Lehrerin, Philosophin, Arbeiteraktivistin und Jüdin, die zur christlichen Mystikerin wurde. Die außerhalb Frankreichs noch gar nicht und im Land selbst erst seit Kurzem bekannte Simone Weil war 1943 im Alter von vierunddreißig Jahren in Ashford an Tuberkulose und selbstgewählter Unterernährung gestorben. In den elf Jahren vor ihrem Tod hatte sie etwa fünfzig Essays in kleinen linken Arbeiterzeitschriften veröffentlicht.16 Im Sommer 1945, als die US-Streitkräfte Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen, lange bevor Simone Weils Bücher im englischsprachigen Raum Aufsehen erregten, nahm die noch kaum bekannte Schriftstellerin und Kritikerin Mary McCarthy ihre Schreibmaschine mit an den Strand von Cape Cod an der Westküste der USA, um an ihrer Übersetzung von »Die Ilias oder das Poem der Gewalt« zu arbeiten. Weils Essay ist eine Meditation darüber, mit welcher unausweichlichen Logik die Gewalt alle in Mitleidenschaft zieht: Jeder, egal ob Sieger oder Besiegter, fällt ihr zum Opfer. McCarthy sagte später einmal, dass die anhaltende Beschäftigung mit Weils Essay ihrer Angewohnheit, »in Gegensätzen zu denken«, ein Ende gesetzt habe. Dwight Macdonald, der Herausgeber von politics, nannte den Essay einmal das Beste, was die Zeitschrift je veröffentlicht habe.17 Auch wenn Weil vor ihrem Tod einem breiten Publikum unbekannt war, hatte sie unter europäischen Linken, von denen viele während des Krieges in die Vereinigten Staaten geflohen waren, bereits eine begeisterte, wenn auch erlesene Anhängerschaft. Bei den Lesern der französischen Literaturzeitschrift Les Cahiers du Sud hatte sie Bewunderung ausgelöst, die ihre Anziehungskraft auf die amerikanischen Intellektuellen und den überraschenden Einfluss sowie ihre internationale, ästhetische und politische Reichweite jedoch nur zum Teil erklärt. Anlässlich des Erscheinens der von Simone Pétrement in den frühen 1970er Jahren verfassten Weil-Biografie konstatierte Elizabeth Hardwick die tiefgreifende Wirkung, die Weil auf ihren Freundeskreis der New York Intellectuals ausübte und auf den Umkreis der Partisan Review.18 Und nicht nur in diesen Zirkeln fand Weils »spektakuläre und in vielerlei Hinsicht beispielhafte Abnormität«, wie Hardwick es ausdrückte, Anerkennung.19 Eine kurze Liste derer, die von Simone Weil tief geprägt wurden, umfasst fünf Literaturnobelpreisträger (André Gide, T. S. Eliot, Albert Camus, Czesław Miłosz und Seamus Heaney), die Philosophen Georges Bataille, Michel Serres und Iris Murdoch, die Theologen Reinhold Niebuhr und Paul Tillich, die katholische Schriftstellerin Flannery O’Connor, den Autor und Mönch Thomas Merton, zwei Päpste (Johannes XXIII. und Paul VI.), politische Aktivisten und Schriftsteller wie Dorothy Day, Ignazio Silone und Adam Michnik sowie Lyriker verschiedener Stilrichtungen, darunter George Oppen, Geoffrey Hill, Anne Carson, Stephanie Strickland, Fanny Howe und Jorie Graham, von denen einige (Carson, Strickland und Graham) ihr ganze Gedichtbände widmeten. In den folgenden vierzig Jahren erschienen nach und nach alle Werke von Simone Weil auf Englisch. Die beiden Bücher La Pesanteur et la grâce (Schwerkraft und Gnade) und Attente de Dieu (Das Unglück und die Gottesliebe) wurden 1947 und 1950 von ihren katholischen Freunden, die sie für ihre tiefe Religiosität bewunderten, aus ihren Notizheften zusammengestellt und herausgegeben. Gedruckt wurden diese Bücher sowie L’Enracinement (Die Verwurzelung) unter der redaktionellen Ägide ihres literarischen Nachlassverwalters Albert Camus, dessen Ansehen und literarischer Ruhm in den frühen 1950er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Doch obwohl Weil in Frankreich schnell eine leidenschaftliche Anhängerschaft gewann und sich im englischsprachigen Raum bald eine ähnliche Wirkung abzeichnete, war der Erfolg aufgrund ihrer Eigenwilligkeit alles andere als ausgemacht. Zwar stand im Jahr 1949 mit Thomas Mertons spiritueller Autobiografie Der Berg der sieben Stufen, die mit seinem Klostereintritt endet, ein ähnlich mystisches Buch auf Platz 3 der Sachbuch-Bestsellerliste. Deutlich repräsentativer für die damals frömmelnde Zeit war jedoch die Liste von 1952: Platz 1 belegte eine Bibelausgabe, von der manche sagten, da wäre Westminster Abbey auseinandergenommen worden, um Disneyland daraus zu machen.20 Ebenfalls weit oben befand sich Norman Vincent Peales Die Kraft des positiven Denkens, ein religiöses Selbsthilfebuch, das sich tatsächlich zwanzig Millionen Mal verkaufen sollte. Bei Simone Weil hingegen ging es nicht um Erbauung, sondern zum Beispiel um ihre Zurückweisung der Taufe und um Leid. Das Unglück und die Gottesliebe war eine Sammlung von Briefen und kurzen Essays, die Weil an ihren geistlichen Begleiter Pater Perrin geschrieben hatte. Schwerkraft und Gnade bot eine Auswahl aus ihren Notizbüchern mit aphoristischen, ja gnomischen Einträgen zu Begriffen, die für ihre sich entwickelnde Theologie bedeutsam waren. Die Verwurzelung schließlich, ihr letztes Werk vor ihrem Tod, war von der Résistance-Organisation Forces françaises libres in London in Auftrag gegeben worden und sollte einen Beitrag zur Erneuerung Frankreichs nach Kriegsende leisten. Simone Weil wurde einer breiteren Öffentlichkeit zunächst als religiöse Mystikerin bekannt, nicht als politische Radikale, schreibt David McLellan, obwohl sie beides war.21 Zwar unterscheiden sich das Früh- und das Spätwerk von Weil anhand ihrer verschiedenen Schwerpunkte (wenn man bei einer Schriftstellerin, die mit vierunddreißig Jahren starb, überhaupt von einem Spätwerk sprechen kann). Doch nahmen viele ihrer wichtigsten Ideen in ihrer Erfahrung als Werktätige und Aktivistin für die französischen Fabrikarbeiter ihren Anfang.22 Die Arbeit in den Fabriken außerhalb von Paris gab ihr das »Gepräge einer Sklavin«, wie sie selbst schreibt, und ähnlich drücken es auch ihre Biografen aus. Diese Erfahrungen veränderten ihre Einstellung zum Leiden nachhaltig und gaben ihrer Auseinandersetzung mit dem Glauben Dringlichkeit, wobei ihre körperliche Gebrechlichkeit und ihre regelmäßigen Migräneanfälle die Qual in der Fabrik für sie noch steigerten. Doch körperliche Schmerzen waren nur eine der unzähligen Formen des Leidens, mit denen sie sich beschäftigte – und in ihren Augen diejenigen, die am wenigsten ins Gewicht fielen. Die Hinwendung zum Leiden in ihrer späteren