Der Abwesenheitscode - Valentin Akudowitsch - E-Book

Der Abwesenheitscode E-Book

Valentin Akudowitsch

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Beschreibung

Ein skandalöses Faktum der europäischen Politik gerät periodisch aus dem Blick: an die EU-Außengrenze stößt ein aus der Zeit gefallenes Land − das von Macthaber Lukaschenko autoritär regierte Belarus, die frühere weißrussische Sowjetrepublik. In einem fesselnden Essay, der profunde historische Analyse mit provokanten Thesen verbindet, befasst Valentin Akudowisch sich mit den Ursachen der notorisch schwachen Identität seines Landes. Dem von Regierung und demokratischer Opposition favorisierten Verständnis einer weißrussischen Nation setzt er die Idee eine Staates von freien und gleichen Bürgern unterschiedlicher Herkunft und Sprache entgegen.

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Ein skandalöses Faktum der europäischen Politik gerät periodisch aus dem Blick: an die EU-Außengrenze stößt ein aus der Zeit gefallenes Land – das autoritär regierte Belarus, die frühere weißrussische Sowjetrepublik. Das über Jahrhunderte hin multinationale Territorium, auf dem nationalsozialistische Mordkommandos wüteten wie nirgendwo sonst, ist heute ein Überwachungsstaat, der seine kritischen Bürger massiv einschüchtert. Oppositionelle sitzen im Gefängnis, kulturelle Institutionen arbeiten im Untergrund oder im Ausland, während die Mehrheit der zunehmend verarmten Bevölkerung am Machthaber Lukaschenka festhält. In einem fesselnden Essay, der profunde historische Analyse mit provokanten Thesen verbindet, befasst Valentin Akudowitsch sich mit den Ursachen der notorisch schwachen Identität seines Landes. Dem von Regierung und demokratischer Opposition favorisierten Verständnis einer weißrussischen Nation setzt er die Idee eines Staates von freien und gleichen Bürgern unterschiedlicher Herkunft und Sprache entgegen.

Der Philosoph Valentin Akudowitsch, Jahrgang 1950, ist eine Schlüsselfigur der weißrussischen intellektuellen Szene und hat prägenden Einfluss auf zahlreiche Künstler und Schriftsteller seines Landes. Seine Texte erschienen bisher u.a. in den USA und in Polen.

Martin Pollack, Jahrgang 1944, Slawist und Osteuropahistoriker, bis 1998 Redakteur des Spiegel, hat sich als vielfach ausgezeichneter Autor und Übersetzer um die Osterweiterung des europäischen Bewusstseins verdient gemacht.

Valentin Akudowitsch

Der Abwesenheitscode

Versuch, Weißrussland zu verstehen

Aus dem Russischen von Volker Weichsel

Mit einem Nachwort von Martin Pollack

Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Kod adsutnaszi. Asnovy belaruskaj mental’nascy.

2007 bei Logvinau, Minsk.

Die deutsche Ausgabe wurde in Zusammenarbeit mit dem Autor aus dem Russischen übersetzt, gekürzt und aktualisiert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Akudovyč, V. V. 2007, 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74066-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

1 Nation und Geschichte

2 Nation und Religion

3 Das nationale Prinzip

4 Überlegungen zum Gegenstand

5 Die eigenen Grenzen

6 Die Grenzen des Vaterlands und der Sprache

7 Das Russische Reich – Wiege der weißrussischen Nation

8 Der Aufstand der Außenseiter

9 Der Raum als Schicksal

10 Staat und Nation

11 Der Zweite Weltkrieg

12 Urbanisierung

13 Die Rache des Nationalismus

14 Die ewige Frage I

15 Franzysk Boguschewitsch und Adam Mickiewicz

16 Die ewige Frage II

17 Abschied von der Zukunft

18 Der Wille zur Macht

19 Die Idee der Wiedergeburt

20 Sprache – Zeichen des Unheils

21 Helden der Abwesenheit

22 Weißrussland annehmen

23 Der große Verrat

24 Ideologie und Technologie

25 Nirgendwo und niemand

Epilog: Der Traum von einer virtuellen Republik

Nachbemerkung

»Ein Buch über mich«, Nachwort der deutschen Ausgabe

Martin Pollack: Schlüssel zu einer Leerstelle

Der Autor

Chronik

Glossar

Einleitung

»Als die Welt ihren Anfang nahm, war überall nur totes Wasser und aus diesem Wasser ragte ein Stein.« So beginnt einer der weißrussischen Ursprungsmythen. Ich zitiere ihn, um die Geschichte des Raumes, der heute Weißrussland heißt, von der Geschichte der weißrussischen Nation zu unterscheiden. Die Geschichte Weißrusslands beginnt in dem Augenblick, in dem der Blitz in jenen »Stein« einschlug: mit der Erschaffung der Welt. Und sie wird weitergehen, solange es dieser Welt beschieden ist zu bestehen, ganz gleich, wie unser Land in Zukunft genannt werden wird und wie die Bewohner dieses Landes sich nennen.

Etwas völlig anderes ist die Geschichte der Nation. Der nationale Mensch entstand aus der Krise des religiösen Menschen, allgemeiner: aus der Krise der religiösen Zivilisation. An die Stelle, die zuvor »Gott« eingenommen hatte, trat die »Nation«. Bekanntlich vollzog sich diese radikale Modernisierung erst vor wenigen Jahrhunderten. Deshalb ist es seltsam, dass von »alten« und »jungen« Völkern gesprochen wird. Historisch gesehen sind wir, die Weißrussen, Altersgenossen sagen wir der Deutschen. Zwischen dem Tod Herders oder Fichtes und der Geburt des Begründers der weißrussischen Literatur, Franzysk Boguschewitsch, liegen nur wenige Jahrzehnte.

Boguschewitsch erwähne ich natürlich nicht zufällig. Bei der Geburt der weißrussischen Nation spielte er eine entscheidende Rolle: als Schöpfer eines genialen poetischen Mythos namens Weißrussland. Das nächste, Boguschewitsch ebenbürtige Ereignis war die Gründung der Zeitung Nascha Niwa (Unsere Flur) im Jahr 1906.

Andererseits stünden wir auch ohne Boguschewitsch und Nascha Niwa ungefähr dort, wo wir heute stehen. Dass die Geburt einer Nation auf einzelne Ereignisse zurückgehen könnte, ist eine allzu romantische (oder mystische) Vorstellung. Eher gilt umgekehrt: Boguschewitsch und Nascha Niwa sind als Phänomen typisch für die Kristallisation einer neuen Nation, die längst reif dafür war, aus dem Stadium latenten Bewusstseins in das einer manifesten kulturellen und geopolitischen Realität überzugehen.

Das historische Ende der Nation hat allerdings nichts mit Geopolitik zu tun. Es hängt auch nicht von der Entwicklung des nationalen kulturellen Potentials ab. Äußere und innere Faktoren können die historische Entwicklung einer Nation bremsen, sie können sie stören, eine gewisse Zeit vollständig unterdrücken, sie können sie aber niemals beenden – es sei denn, unsere gegenwärtige Zivilisation würde von einer anderen abgelöst, in der das nationale Prinzip keine Rolle mehr spielt. Da die Menschen Jahrtausende ohne Nationen gelebt haben, muss man davon ausgehen, dass früher oder später auch wieder eine Zeit anbrechen wird, in der sie sich nicht mehr nach dem nationalen Prinzip definieren, sondern nach anderen Kriterien voneinander unterscheiden werden. Irgendwann wird das selbstverständlich sein. Jedoch nicht in naher Zukunft. Deshalb wird uns die Frage der Nation noch eine ganze Weile beschäftigen.

1 Nation und Geschichte

Die Nation ist ein Produkt der Moderne. Doch bekennt sich keine einzige Nation zu dieser Tatsache. Das ist seltsam, betrachten doch Gemeinschaften gewöhnlich jeden Schritt zu einer radikalen Modernisierung als Beweis ihrer Lebensfähigkeit. Warum also erklären Nationen nicht stolz, sie seien moderner Natur, sondern stürzen sich in die tiefsten Tiefen der Geschichte, ja sehnen sich danach, durch die Identifikation mit der eigenen Geschichte – die entweder in Chroniken bezeugt oder in Mythen festgehalten ist – regelrecht zu verschwinden? Anders gesagt: Warum möchte jede Nation eine alte Nation sein, so alt wie möglich, ungeachtet der historischen Fakten und ohne erkennbaren Grund?

Eine Antwort lässt sich bei Benedict Anderson finden. In seiner schon klassischen Studie Imagined Communities (dt. »Die Erfindung der Nation«) legt er – gewiss nicht als erster – dar, dass sich mit einem Vergleich der verschiedenen Nationen auf allen Kontinenten weder für die Entstehungsgeschichte noch für die Art des Zusammenhalts der Nationen ein universeller Code finden lässt. Daraus hat Anderson einen Schluss gezogen, den er auf die berühmte Formel brachte: Nationen sind vorgestellte Gemeinschaften.

Mit Hilfe dieser Formel können wir eine Antwort auf die Frage finden, warum die Nation eine eigene Geschichte benötigt.

Die Nation ist erfunden, sie ist also nicht real; da sie aber gleichwohl existiert, täglich stattfindet, sucht sie Wege, um Realität zu werden. Als einer der erfolgversprechendsten Wege hat sich die historische Projektion erwiesen. Sie stattet die »erfundene Gemeinschaft« mit der Realität der Vergangenheit aus.

Historizität ist keine Grundlage des Nationalen, zumindest keine unmittelbare, doch dadurch, dass Geschichtlichkeit in die Nation eingeschrieben ist, erlangt diese eine Körperlichkeit in Raum und Zeit und damit auch Legitimität. Dies ist der Grund, warum fast jede Nation die gesamte Sozial- und Kulturgeschichte des von ihr beherrschten Raums auf sich projiziert.

Diese Manipulation ist nur zu verständlich. Schließlich erbringt der Blick in die Geschichte bis heute den nahezu einzigen »Beweis« für die reale Existenz einer Nation. Wer das Band zwischen der Nation und der Geschichte zerreißt, muss eine metaphysische Begründung für die Nation im Mythos suchen oder sie als Zukunftsprojekt entwerfen.

So haben selbst die unzähligen grundlegenden wissenschaftlichen Arbeiten, die im 20. Jahrhundert den Mythos, die Nationen seien »alt«, widerlegt haben, nichts daran geändert, dass die meisten Menschen an ihre Zugehörigkeit zu einer Nation mit einer langen Ahnenreihe glauben. Dafür gibt es ausreichend Belege, doch werden wir uns nicht lange mit ihnen aufhalten. Erinnern wir uns nur an Weißrussland, wo Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre eine mächtige Welle der nationalen »Wiedergeburt« das Land auf die Beine brachte. Ungeachtet aller wissenschaftlichen Erkenntnisse machten sich die Ideologen und Theoretiker der nationalen Wiedergeburt daran, eine angebliche Kontinuität des Nationalen zu rekonstruieren, die sich bis zu den in den ältesten Chroniken bezeugten historischen Ereignissen im Gebiet des heutigen Weißrussland zurückverfolgen ließe. Diese Chimäre beherrscht bis heute das Denken der Mehrheit der weißrussischen Gesellschaft, obwohl es längst an der Zeit wäre, auf die Einkerkerung inkommensurabler und unvereinbarer Erscheinungen verschiedener Zeiten und verschiedener Räume in ein mentales Verlies zu verzichten. Doch wir glauben weiter, dass es sinnvoll ist, Wseslaw den Wundertäter und Zischka Hartny, Kyrill Turowski und Stefan Báthory, Symon Budny und Petr Mascherau, das Fürstentum Polazk, die polnische Adelsrepublik und die Weißrussische Sowjetrepublik, die Kriwitschen, die Litwinen, die Rusinen und die Jatwagen, die »Sarmaten«, die Großlitauer, die »Hiesigen«, »die aus den Kresy«, die Weißrussen und diejenigen, die sich als Russen fühlen, als Ausdruck einer einzigen Idee zu sehen – der Idee der weißrussischen Nation.

Welche Unzahl völlig unvereinbarer Welten, die weder eine Idee teilten noch unter einen Begriff zu subsumieren sind, fand im Laufe der Jahrhunderte in unserem Raum ihren historischen Ort, und mit welchem Erstaunen, welcher Empörung, welchem Gelächter nähmen die meisten Helden dieser lange untergegangenen Welten die Nachricht aus der Zukunft auf, dass sie für die Idee eines weißrussischen Nationalstaats gekämpft, gelitten und ihr Leben gelassen haben sollen und deshalb in den Pantheon oder in die Ikonostase der ruhmreichen Krieger und heiligen Märtyrer dieser Idee eingegangen sind.

Eine erstaunliche Verirrung … Alle diese Menschen lebten, ohne von einem Weißrussland auch nur im Traum zu ahnen. Wie unanständig ist es, diese Toten immer wieder an den Ohren mitzuschleifen, um sie für eine neue Ideologie nützlich zu machen. Wozu in aller Welt brauchen wir diese nicht besonders raffinierte und nicht besonders fruchtbare nekrophile Chimäre? Wie viele »Fakten« haben wir nicht herangezogen – und welchen Sinn hatte das? Ist es denn so schwer zu sehen, dass es nicht gelungen ist – ja nicht gelingen konnte und angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre auch nicht mehr gelingen kann –, die vielen realen gesellschaftlichen Formationen, die sich im Laufe der Jahrtausende in unserem Raum entwickelten, auf ihr angebliches »Wesen«, das Phantom einer geeinten und unteilbaren weißrussischen Nation zu reduzieren und mit ihr in Einklang zu bringen?

Die Krise der Idee eines weißrussischen Nationalstaats, eines Staats der ethnisch verstandenen weißrussischen Nation, ist offensichtlich. Daher die Versuche, diese Krise zu überwinden, indem man die eine gescheiterte Vorstellung durch eine andere, gleichartige ersetzt. Konkurrenz machen sich gegenwärtig vor allem die »Kriwitschen« und die »Litwinen«.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass an die Stelle des Konzepts einer weißrussischen Nation die Vorstellung von einer litwinischen oder irgendeiner anderen Nation rücken könnte. Selbst wenn so etwas geschehen sollte, werden wir als Ergebnis dieses Durcheinanders die gleiche Situation haben wie heute. Nur würden anstelle der vertrauten historischen Gestalten und Ereignisse andere auftauchen, die früher allenfalls im hintersten Winkel des nationalen Pantheons zu finden waren. Denn die Idee einer kriwischen oder einer litwinischen Nation haben den gleichen Ausschließlichkeitsanspruch wie die Idee einer weißrussischen und erfassen daher ebenso nur eine der Dimensionen der Geschichte Weißrusslands, während sie viele andere abschneiden und verdorren lassen.

Was folgt aus alldem? Dass wir, freundlich gesagt, langsam aufhören sollten, unsere Energie und Zeit zu verschwenden. Der Sinn des Unerfüllten ist es, unerfüllt zu bleiben. Wir sollten nicht in der Vergangenheit verharren und uns mit der Formel »Besser später als nie« belügen. Auch wenn uns immer wieder der unwiderstehliche Wunsch überkommen wird, dass bei uns irgendwann alles einmal so werden soll, wie es bei unseren Nachbarn einst war, so dürfen wir uns doch nicht allzu sehr darüber grämen, dass es in unserer Geschichte zu wenige Phasen gegeben hat, in denen sich die Nation als Idee und soziale Tatsache hätte entwickeln können. Schließlich liegt das Problem ganz woanders: darin, dass wir bis heute durch die Schleier des Simulakrums einer homogenen Nation blicken und Weißrussland deshalb nicht als ein Neben- und Miteinander zahlreicher, höchst unterschiedlicher Welten wahrnehmen – Welten, die man nicht auf eine einzige Idee vereinen kann, ohne sie alle zu verstümmeln.

2 Nation und Religion

Die religiöse Konzeption der menschlichen Existenz sieht in einem äußerst vereinfachten Schema so aus: Es gibt Gott, und es gibt den Menschen und darüber hinaus nichts, zumindest ist alles andere unwesentlich. Gott und der Mensch sind miteinander durch den Glauben des Menschen an Gott und die Liebe Gottes zum Menschen (an der allerdings ab und an gezweifelt wird) verbunden.

Mit der Zeit stellte sich allerdings heraus, dass der Bund zwischen Gott und dem Menschen stabiler und beständiger ist, wenn es einen Vermittler gibt – eine Institution Gottes. In unserem Fall war dies die Kirche. Sie festigt den Glauben des Menschen und erklärt die grundsätzlich unerklärbare Transzendenz Gottes. Das ist alles. In diesem Schema erschöpft sich die religiöse Zivilisation. Für eine solche Existenzform bedarf es keines Franzysk Skaryna, keines Lew Sapega und keines Simeon Polazki. Selbst ein Lasar Bogscha wird nicht benötigt, denn in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen sind zwei zu einem Kreuz verbundene Holzstücke genau soviel wert wie das Kreuz der heiligen Euphrosyne von Polazk. Wahrscheinlich sind die Holzstücke mehr wert.

Der ideale Gläubige verbindet sich weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft. Er steht außerhalb der Menschheit, außerhalb der Geschichte, außerhalb des innerweltlichen Seins.

Er lebt im Jetzt und in der Ewigkeit. Das Leben auf Erden gilt ihm lediglich als ärgerlicher Irrtum, den es in einer anderen Welt rasch zu vergessen gilt. Die Verbreitung des Christentums zielte darauf, dass die menschliche Zivilisation sich von der Rationalität lossagt und sich ganz der Intuition und dem Irrationalen verschreibt: »Wir indes bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet worden«, schrieb Tertullian in den Prozessreden gegen die Häretiker.

Auf dem Boden der Rationalität der Antike wurde das irrationale Kreuz des Christentums errichtet. Mehr als tausend Jahre lebten die Völker Europas nach dem kanonischen Recht, das auf dem Ersten Konzil von Nicäa im Jahr 325 etabliert worden war. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass in dieser Zeit die Kirche Form und Maß der Welt war.

Die erste große Niederlage erlitt die Religion in der Renaissance. Das Irrationale begann wieder hinter das Rationale zurückzutreten. In Osteuropa war die Kodifizierung des Rechts im Litauischen Statut aus dem Jahr 1529 das Zeichen für das Ende des irrationalen Absolutismus. Das Statut bietet eine weltliche Alternative zum göttlichen Gesetz. Beide konnten noch lange Zeit im Einklang miteinander, doch bereits klar voneinander getrennt koexistieren. Doch irgendwann trug das Irdische den Sieg über das Himmlische davon, da sich eine innerweltliche Alternative zur Religion entwickelte: die Idee der Nation.

Das Phänomen der Nation wurde bis heute lediglich beschrieben, jedoch nicht erklärt. Woher kommt das Bedürfnis der Menschen, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören, Verantwortung für deren historisches Schicksal zu übernehmen und sogar das eigene Leben für sie zu opfern? Warum reicht es dem Menschen nicht, ein Mensch zu sein, wozu muss er Weißrusse sein? Warum genügt er sich nicht selbst, warum genügen ihm nicht seine Familie, seine Freunde, seine Nachbarn? Warum schließlich genügt es ihm nicht, Teil der Menschheit zu sein? Dies ist um so verwunderlicher, als die Nation nicht wie der Staat Sicherheit zu garantieren verspricht und nicht wie die Religion Hoffnung auf ewiges Leben bietet. In praktischer Hinsicht hat der Mensch nichts von der Nation.

Eine weitere unklare Seite des Phänomens der Nation ist ihre prägende Rolle bei der Schaffung der neuzeitlichen Staaten in Europa und später auch auf allen anderen Kontinenten. Seit Beginn der Neuzeit wurden immer mehr Staaten auf eine Größe zugeschnitten, die den nationalen Grenzen entspricht. Der beste Beweis dafür ist der Zerfall der großen und kleinen Imperien. Der Staat wollte sich gewiss nicht in das Korsett der Nation zwängen lassen. Er hatte jedoch keine Wahl. Der einst so selbstgenügsame und stolze Staat fand sich überraschend in einer neuen Rolle wieder: nur noch Wächter des nationalen Gartens zu sein und als Gärtner hin und wieder etwas dazuzuverdienen.

Wie der Staat, so drängte sich auch die Religion nicht in die Rolle eines Dieners der Nation. Doch in der Krise der religiösen Weltordnung hat sie sich, um zu überleben, seit der Reformation zunächst an die Bedürfnisse des Staates und dann an jene der Nation anpassen müssen. Der Calvinismus, der Protestantismus und die unierten Kirchen sind nichts anderes als lokale Varianten, die sich aus dem universalen Raum des Religiösen herausgebildet haben und immer mehr mit dem jeweiligen Wesen der Nation verschmolzen sind. Die Tendenz zur Nationalisierung der Religion lässt sich deutlich an den Bibelübersetzungen ablesen: auf die erste gedruckte Bibel in der Übersetzung Luthers folgte bald Skarynas Bibel, die in einer altweißrussischen Redaktion der kirchenslawischen Vorlage verfasst ist.

Die »Nationalisierung« der Religion zog sich über Jahrhunderte hin und zeitigte natürlich von Land zu Land unterschiedliche Ergebnisse. Schauen wir nur auf unsere Nachbarn: »Die russische Geschichte hat etwas Einzigartiges hervorgebracht: eine vollständige Nationalisierung der Kirche Christi, die sich als ökumenisch versteht. Kirchlicher Nationalismus ist eine typisch russische Erscheinung. Von ihm ist unser Altgläubigentum zutiefst durchdrungen. Doch der gleiche Nationalismus herrscht auch in der Amtskirche«, schreibt Berdjajew.

Man muss sich nicht mit der Behauptung aufhalten, der Nationalismus der Kirche sei exklusiv russisch. Es gehört zum russischen Selbstverständnis, alles, was in Russland passiert, für eine russische Besonderheit zu halten. Entscheidend ist, dass Berdjajew die These von der Nationalisierung der Religion bestätigt. Wobei es nicht schadet, daran zu erinnern, dass die Kirche in Byzanz anders als im Heiligen Römischen Reich von Beginn an dem Staat untergeordnet war und sich dieses Verhältnis von Kirche und Staat auf den russischen Herrschaftsraum übertragen hat. Deshalb diente die Kirche in Russland nie in erster Linie der Religion. Sie soll zuallererst dem Staat, später auch der Nation und erst dann – wenn überhaupt – dem Glauben dienen.

Anders verlief die Entwicklung in Polen. Die polnische Nation, die für lange Zeit ihres Staats beraubt war, stützte sich auf die Kirche und scharte sich um sie – wie sich einst die Moskowiter während der mongolischen Invasion um die Kirche geschart hatten. Der polnische Fall ist interessant, weil die Nation sogar ohne Staat in der Lage war, die Religion zu einem mächtigen Werkzeug der Nationsbildung zu machen.

Nun einige Worte zu Weißrussland. Die Weißrussen sind ohne unmittelbare Beteiligung der Kirche zur Nation geworden. Als auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland jenes polyethnische Gebilde, das Großfürstentum Litauen, ab dem 14. Jahrhundert die Kirche dem Staat unterordnete, war die weißrussische Nation noch nicht herangereift. Als sie dies dann war, hatte sie keinen eigenen Staat und keine eigene Kirche mehr.

Die verschiedenen Konfessionen zerrten die Nation in verschiedene Richtungen wie in Krylows Fabel der Schwan, der Krebs und der Hecht das Fuhrwerk. Hätte der weißrussischen Nation nicht eine weltliche, sondern eine religiöse Kultur zugrunde gelegen, so wäre von uns schon lange keine Spur mehr übrig. Heute ist die weißrussische Nationalkultur im Unterschied zu der aller unserer Nachbarn ausschließlich weltlicher Natur. Bei der Nationsbildung konnten die Weißrussen sich nicht auf die Religion stützen, sie waren ganz auf sich gestellt. Das gilt allerdings nur für die Phase der eigentlichen Nationsbildung. Es gab Zeiten, in denen die Orientierung am Irrationalen uns ebenso stark beeinflusste wie andere europäische Gemeinschaften, Zeiten, in denen die Rolle der Religion jener an anderen Orten Europas entsprach und sogar die Kirche fast verstaatlicht worden wäre.

Doch diese Entwicklung, die die meisten Völker Europas durchliefen, wurde bei uns durch die apokalyptischen Kriege abgebrochen, die ab dem 17. Jahrhundert aufeinanderfolgten. Der Ethnos, der den Weißrussen vorausging, wurde fast bis zur Wurzel vernichtet. Das gleiche Schicksal ereilte unseren Staat und unsere Kirche.

Dieser Verlust war nicht mehr zu kompensieren. Die Geschichte anderer Völker zeigt, dass eine vollwertige und eigenständige Nation nur entstehen kann, wenn sie sich durch eine Nationalisierung des Staates und der Kirche oder zumindest von einem der beiden formiert. Andernfalls steht der Nation ein äußerst schwieriger Weg bevor. Die Weißrussen wissen das sehr gut.

Das bedeutet allerdings nicht, dass wir nicht einem fatalen Irrtum unterliegen würden, wenn wir uns bei der Nationsbildung und dem Aufbau eines Nationalstaats auf den Glauben und die Kirche verlassen würden. Seltsamerweise wollen selbst die klügsten Weißrussen nicht sehen, dass es einen entschiedenen Antagonismus zwischen Religion und Nation gibt, dass dieses Duell nur mit dem Tod des einen enden kann. Unsere Romantiker versuchen mit kindlicher Einfalt die aufrichtigste Liebe zu Gott mit der leidenschaftlichsten Liebe zur Nation zu verbinden. Was kann tragischer sein als der Anblick eines Weißrussen, der kniend zu Gott betet, dieser möge die weißrussische Nation retten. Schließlich hat Gott zweitausend Jahre vor dem Entstehen der Nationen – welch erstaunliche Weitsicht auch hier – seine zukünftigen Gläubigen, die die Sünde des Nationalismus auf ihre Seele nehmen wollten, streng ermahnt: »Da ist nicht mehr Grieche oder Jude« (Kolosser 3,11).

3 Das nationale Prinzip

»Von allen Weltanschauungen und Glaubensbekenntnissen, die heute um die Seelen der Menschen kämpfen, ist keines so verbreitet und hält sich so hartnäckig wie die nationale Idee. Andere Ideen haben bedeutendere Erfolge erzielt, jedoch nur für eine gewisse Zeit oder in einem bestimmten Land. Einige Weltanschauungen haben die Menschen zu heldenhafteren und sogar zu schrecklicheren Taten gebracht. Nichts konnte sich jedoch so erfolgreich in allen Teilen der Welt etablieren, so viele Menschen mit so unterschiedlicher Lebenserfahrung in so vielen verschiedenen Ländern an sich ziehen wie der Nationalismus. Keine andere Idee erschien in so vielerlei Gestalt und tauchte nach jedem kurzfristigen Niedergang nur noch stärker und beständiger wieder auf. Keine andere Weltanschauung hat eine so tiefe Spur auf der Weltkarte und in unserem Selbstverständnis hinterlassen. Wir werden zuallererst mit unserer ›Nation‹ gleichgesetzt.«

Mit diesen Worten beginnt Anthony Smith, einer der bekanntesten Nationalismusforscher, sein Buch Nationalism in the Twentieth Century. In der Tat: Die Universalität der nationalen Idee ist erstaunlich. Doch sie kennt keinen festen Kanon; vielmehr taucht die nationale Idee in unterschiedlichen soziokulturellen und geopolitischen Konstellationen in einer jeweils typischen Gestalt auf. Daher sieht sie sowohl dem Inhalt als auch der Form nach in unterschiedlichen Ländern bisweilen sehr verschieden aus, und es ist lediglich die »große Solidarität« (Ernest Renan), worin die Nationalismen einander gleichen.1 Der Begriff Nation – vom lateinischen natio: Stamm, Volk – hat eine lange und gewundene Geschichte, in deren Verlauf sich seine Bedeutung erheblich änderte. Doch uns interessiert nicht die Begriffsgeschichte, sondern das Phänomen als solches, das materielle Gestalt annahm, als sich mit der Entstehung des Kapitalismus und im Zuge der Urbanisierung das Bürgertum herausbildete.

Wann und wo genau die Idee der Nation entstand, lässt sich natürlich nicht sagen. Auch weil verschiedene Historiker, je nachdem, welches ihre methodischen Vorannahmen sind, ganz unterschiedliche Schlüsselereignisse nennen. Eine Zeitlang fand die Vorstellung viele Anhänger, dass der Ursprung dieser Idee in der mittelalterlichen Bewegung für ein tausendjähriges Reich Gottes auf Erden zu suchen sei. Dies ist aber mehr als zweifelhaft.

Mir persönlich scheint mit Anthony Smith ein anderes, sehr klares historisches Datum als Geburtsstunde der Nation in Frage zu kommen: die Französische Revolution. »In Texten aus dieser Zeit können wir lesen, dass nur die Nation der wahre Souverän sein kann, dass der Mensch vor allem seiner Nation treu sein soll und dass nur die Nation die Gesetze für all ihre Angehörigen festlegen kann. Erstmals werden Männer zur Verteidigung des Vaterlands (patrie) zu den Waffen gerufen, und erstmals wird der Gedanke formuliert, dass der ›Bürger‹ Frankreichs bestimmte Rechte und Pflichten habe. Auch wenn die Französische Revolution nicht das erste Anzeichen der neuen, ›nationalen‹ Epoche war, so war sie doch das erste Ereignis in der Geschichte, bei dem Menschen nicht für Dynastien, sondern als Bürger ihrer Nation handelten. Und erstmals versuchten die Bürger, in allen Gegenden ihres Landes eine einheitliche Kultur und Sprache zu verbreiten, alle Barrieren zwischen diesen Gegenden zu überwinden zu einer einigen und unteilbaren Nation zu werden.«

Noch komplizierter, als den Ursprung der Nation zu bestimmen, ist es, verschiedene Typen der Nation zu unterscheiden. Man muss nicht einmal auf andere Kontinente schauen. Allein in Europa, wo die Idee der Nation geboren wurde, sehen die Historiker verschiedene grundlegende Modelle, von denen sich alle anderen Ausprägungen ableiten lassen. Am überzeugendsten ist die typologische Unterscheidung zwischen einem französischen und einem deutschen Nationsbegriff. Im französischen Nationsverständnis gehören alle Bürger eines Staates zur Nation, das deutsche Konzept definiert die Nation vor allem über die gemeinsame Sprache.

Sehr unterschiedlich waren auch die soziohistorischen Voraussetzungen für die Entwicklung der einzelnen Nationen. Die Startbedingungen waren keineswegs für alle Nationen gleich, und nicht alle Nationen begannen sich gleichzeitig zu entwickeln. Hinzu kommt, dass bei vielen Nationen die Phasen von ihrer Geburt bis zur Reife mehrfach und teilweise für sehr lange Zeit unterbrochen wurden. Die Geschichte der weißrussischen Nation ist da eher typisch als außergewöhnlich.

Ausgehend von den Startbedingungen für die Nationsbildung lassen sich drei Typen von Nationen unterscheiden. Eine Gruppe bilden Nationen, die im Schoße eines bestehenden Staatsgebildes entstanden sind, das sie in recht kurzer Zeit in einen Nationalstaat verwandeln konnten. Wo der Staat in das Gehäuse der Nation gezwungen wurde, ging dies oft nicht ohne große Verluste ab, etwa im Falle des britischen Weltreichs (es spielt keine Rolle, dass das Imperium erst Mitte des 20. Jahrhunderts endgültig zerfiel). Neben England gehören auch Frankreich und Spanien in diese Gruppe.

Einer zweiten Gruppe gehören Nationen an, denen es dank ihrer Einheit gelungen ist, ihre verlorene Staatlichkeit wiederzuerlangen. Die auffälligsten Beispiele sind Deutschland, Italien und Polen. Vielleicht sollte man zu dieser Gruppe auch jene Länder zählen, die im Zentrum großer Reiche lagen – etwa die Türkei, Österreich und Ungarn – und die nach dem Zerfall der Reiche zu Nationalstaaten wurden.