Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion - Beatrice Occhini - E-Book

Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion E-Book

Beatrice Occhini

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Beschreibung

Das Buch untersucht den Literaturpreis Adelbert-von-Chamisso (1985-2017), eine der einflussreichsten sowie kontroversesten Auszeichnungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, deren kulturpolitische Tragweite weit über den Literaturbereich hinausreicht. Anhand einer Analyse origineller Archivunterlagen und literarischer Werke beleuchtet diese interdisziplinäre Arbeit innovativ die Reaktionsmechanismen des deutschen Kulturraums auf die Herausforderungen der soziokulturellen Transformationen durch Migration und Globalisierung. Die fünf Kapitel widmen sich dem Entstehungskontext, der Geschichte und Struktur des Preises, der Entwicklung und literaturwissenschaftlichen Rezeption der sogenannten ,Chamisso-Literatur' sowie der Poetik zweier Preisträgerinnen, Terézia Mora und Uljana Wolf, als Beispiele für die jüngsten Entwicklungen in der Chamisso-Literatur.

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Seitenzahl: 478

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Beatrice Occhini

Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion

Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Die Archivrecherche für dieses Buch wurde durch zwei C.H. Beck-​Stipendien des Deutschen Literaturarchivs Marbach gefördert.

 

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und des Dipartimento di Studi Umanistici (Dipsum) der Universität Salerno.

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057755

 

© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2627-9010

ISBN 978-3-7720-8775-2 (Print)

ISBN 978-3-7720-0253-3 (ePub)

Inhalt

EinleitungVon der Arbeitsmigration zum Einwanderungsland: Ein kurzer Überblick über ein langes PhänomenDer Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Chamisso-​Literatur aus literarischer, literatursoziologischer und kulturwissenschaftlicher SichtBisherige Forschungsansätze und neue PerspektivenTheoretisch-methodologische ÜberlegungenZur Struktur dieses BuchesZum konsultierten ArchivmaterialDie Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955–1985) 1.1 Hintergrund und frühe literarische Produktion1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor:innen1.2.1 Die Südwind-Schriftstellergruppe1.2.2 Harald Weinrich und das Institut für Deutsch als Fremdsprache1.3 Die ersten literaturwissenschaftlichen Kodifizierungen Betroffenheit, Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur1.4 Die ambivalente Verortung der Literatur zwischen Politisierung und Sensibilisierung2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur2.1 Struktur und Entwicklungsparabel des Chamisso-Preises2.2 Die Robert Bosch Stiftung und die hybride Zielsetzung des Projekts2.3 Die Konsekrationsmechanismen des Chamisso-Preises2.4 Aneignung eines Autors: Adelbert von Chamisso und seine Schatten2.5 Chamisso-Autor werden, Chamisso-Literatur schaffen3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute)3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000)3.2 Die literaturwissenschaftliche Rezeption jenseits der Betroffenheit: Das interkulturelle Paradigma3.3 Die literaturwissenschaftliche Rezeption vom Dazwischen zum Durchdringen: Das transkulturelle Paradigma3.4 Mehrsprachiges Experimentieren in der Chamisso-Literatur: Eine Bilanz4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts4.1 Herkunft und Sprache: Die Konzeption und Neudefinition der Chamisso-Preisträger:innen4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium4.3 Von der Fremdsprache zur Mehrsprachigkeit: Das Sprachigkeitskriterium4.4 Der Abbau konzeptueller Grundlagen und die Transformation des Preises4.5 Zwischen Inklusion und Exklusion: Der Abschluss des Projekts4.6 Variationen von ‚Germanness‘5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf5.1 Terézia Mora: das Minderheitendeutsch und die Autonomie der Literatur5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie5.2.1 „[D]ie Grenze beugt sich, umflicht die Dörfer“: STILLE.mich.NACHT und Der See5.2.2 Die Sprache der Grenze5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage5.3.1 Ein „stummes Sprachgenie“: Die Fremdheit des Protagonisten5.3.2 „Aber in Wahrheit war ich doch allzu oft ein Barbar“: Die Sprachen Abels5.3.3 „Wo wann bin ich und wer bist du?“: Die Fremdheit des Romans5.3.4 „Panik ist nicht ---, Panik ist --- “: das Verschwinden des Eigenen5.4 Uljana Wolf: Translinguale Lyrik und mehrsprachiges Gedicht5.5 Über die Grenze hinweg: kochanie ich habe brot gekauft5.5.1 Vom mehrsprachigen Gedicht zur translingualen Lyrik5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde5.6.1 Polysemische Ablagerungen: dust bunnies und DICHTionary5.6.2 Grenzalphabete5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch5.7.1 Gedoppelte Sprachen und Geisterzwillinge5.7.2 Die Melodie Babels5.8 Terézia Mora und Uljana Wolf: Konstruktion und Dekonstruktion der FremdheitSchlussbemerkungenAbstracts und KeywordsLiteraturverzeichnisPrimärliteraturMaterial aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA)SekundärliteraturSekundärliteratur zu Terézia MoraSekundärliteratur zu Uljana WolfWörterbücherAndere QuellenPersonenregisterDank

An Stefan Nienhaus

Einleitung

„Es [ist] offenbar leichter, einen neuen Staat als eine neue Literatur zu gründen“: Mit diesen Worten bezog sich Professor Harald WeinrichWeinrich, Harald (1982: 9), der Gründer des Adelbert-​von-​Chamisso-​Preises (1985–2017), auf die Schwierigkeiten, denen sein Projekt begegnen sollte, welches sich damals noch in der Anfangsphase befand und ein neues literarisches Phänomen erkundete. Von seiner Gründung im Jahr 1985 bis zu seiner Abschaffung 2017 erfasste und beeinflusste der Chamisso-​Preis einen heterogenen Transformationsprozess: die Öffnung der deutschsprachigen Literatur für Autor:innen, die zwar auf Deutsch schreiben, aber einen vielfältigen kulturellen und sprachlichen Hintergrund haben, sowie die Anerkennung ihrer Werke als Bestandteil des deutschsprachigen Raums. In der Tat ist diese Auszeichnung aufgrund ihrer Zielsetzung und kontroversen Laufbahn unter den mehr als 700 nachweisbaren Literaturpreisen des deutschsprachigen Literaturbetriebs (vgl. Jürgensen 2013: 287) als eine der relevantesten zu betrachten: An der Geschichte des Projekts – so die These des vorliegenden Buches – lassen sich nicht nur prägnante Entwicklungstendenzen und Debatten beobachten, sondern vor allem die Reaktionsmechanismen des deutschen Kulturraums auf die Herausforderungen der demografischen und soziokulturellen Pluralisierung1 aufzeigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Migrationsbewegungen und Globalisierungsprozesse entstanden sind.

Von der Arbeitsmigration zum Einwanderungsland: Ein kurzer Überblick über ein langes Phänomen

Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und England lässt sich der Anfang der zeitgenössischen Migrationsbewegungen nach Westdeutschland nicht auf die Ankunft von Menschen aus den ehemaligen Kolonien zurückführen, sondern auf das Anwerben ausländischer Arbeitskräfte, das dem strukturellen Arbeitskräftemangel der Nachkriegszeit entgegenwirken sollte.1 Offiziell begann die Arbeitsmigration im Jahr 1955 mit der Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens mit Italien, dem Griechenland und Spanien (1960), die Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und das ehemalige Jugoslawien (1968) folgten. Damals war der Aufenthalt der angeworbenen Arbeitskräfte, wie aus der terminologischen Wahl des Begriffs ‚Gastarbeiter‘ hervorgeht, als vorübergehend vorgesehen – mit unterschiedlichen Einschränkungen je nach Rahmenabkommen. Aus rechtlicher Sicht wurde neben den Rahmenabkommen 1965 das erste Gesetz im Bereich der Einwanderung erlassen, das sogenannte ‚Ausländergesetz‘. Im Grunde waren die Anwerbungen in der politischen Vision jener Zeit nämlich ausschließlich an den Arbeitskräftebedarf des Landes gebunden, sodass Rückführungen immer stärker gefördert wurden, bis hin zur offiziellen Beendigung der Rekrutierungen (dem sogenannten ‚Anwerbestopp‘) im Jahr 1973. Von den etwa 11 Millionen Gastarbeiter:innen, die von 1955 bis 1973 angeworben wurden, blieben drei Millionen auf deutschem Boden (vgl. Destatis 2024a). Zu diesen Zahlen müssen die ausländischen Staatsbürger:innen hinzugefügt werden, die über andere Kanäle gekommen sind, wie zum Beispiel durch internationale Schutzabkommen (die Genfer Flüchtlingskonvention trat 1954 in Kraft), sowie die (Spät-)Aussiedler:innen (1950–2020). Folglich betrug im Jahr 1980, bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen, die Zahl der Ausländer:innen in der BRD vier Millionen (vgl. Destatis 2024a).

Nach dem Mauerfall begann eine neue Phase, die durch eine allmähliche Differenzierung der Ankünfte gekennzeichnet war: Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Kriege auf dem Balkan und die Menschenrechtslage in den kurdischen Gebieten der Türkei gehören zu den Ursachen für einen Anstieg der Anträge auf internationalen Schutz. Gleichzeitig ermöglichte die Eröffnung des europäischen Binnenmarktes im Jahr 1993 die freie Bewegung der EU-​Bürger:innen. Bis zum Jahr 2015, dem Jahr der sogenannten ‚Migrationskrise‘, und erneut bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine im Jahr 2022, war Deutschland nicht mehr hauptsächlich ein Schauplatz von Ankünften, die durch spezifische und vorübergehende geopolitische Bedingungen ausgelöst wurden. Stattdessen ist Deutschland als eine der fortschrittlichsten Nationen Europas in Bezug auf kulturelle, wirtschaftliche und technologische Entwicklung zu einem Ziel für internationale Mobilität geworden, die von den vielfältigen Möglichkeiten des Landes angezogen wird, darunter Studierende sowie „Hochqualifizierte“ (Hoesch 2018: 46). Im Jahr 2022 hatten etwa 23,8 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund in Deutschland, was 28,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht2 (vgl. Destatis 2024b).

Im öffentlichen Diskurs hat man sich jahrzehntelang geweigert, die Transformation der BRD und später des wiedervereinigten Deutschlands in ein ‚Einwanderungsland‘ anzuerkennen, also in eine Gesellschaft, deren Bevölkerung das Ergebnis von Migrationsprozessen ist – ähnlich wie „classical immigration countries“ wie die Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien (De Haas et al. 2020: 10). Dies wurde erstmals im sogenannten ‚Kühn-​Memorandum‘ von 1979 suggeriert, in dem die Migrationsprozesse, die die BRD geprägt hatten, als strukturelle Prozesse der deutschen Gesellschaft bezeichnet wurden, die sich nicht auf die Bewegungen der Gastarbeiter:innen im Rahmen der Anwerbeabkommen beschränken ließen. Offiziell wurde die Wandlung Deutschlands in ein Einwanderungsland erst mit der Veröffentlichung des Berichts der sogenannten ‚Süssmuth-​Kommission‘ im Jahr 2001 anerkannt (Hoesch 2018: 268). Diese Perspektivenwandlung spiegelte sich unter anderem im Übergang vom ius sanguinis (Abstammungsprinzip) zum heutigen ius soli (Geburtsortsprinzip) in der Staatsangehörigkeitsreform im Jahr 2000 und im neuen ‚Aufenthaltsgesetz‘ (2005) wider.

Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Chamisso-​Literatur aus literarischer, literatursoziologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht

„[D]eterritorial, transnational, multilingual“: Anhand dieser drei Schlagwörter beschreibt Sandra Richter (2017: 432) das gegenwärtige Antlitz der deutschsprachigen Literatur. Diese Merkmale lassen sich in den im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen heterogenen soziodemografischen Transformationsprozessen einbetten, die den Literaturbetrieb in Bezug auf die Ebenen der Produktion, Verbreitung und Rezeption tiefgreifend verändert haben.

Zum einen fingen ab Ende der 1960er allmählich mehr Schriftsteller:innen an, die aufgrund ihrer Familiengeschichte einen vielfältigen sprachlichen und kulturellen Hintergrund besaßen, auf Deutsch über Migration als gesellschaftliche bzw. individuelle Erfahrungen literarisch zu reflektieren. In den letzten Jahrzehnten sind, wie Richter (2017: 432) betont, auf der literarischen Szene Deutschlands auch „[k]osmopolitische“ Autor:innen zu erkennen, die sich zwischen verschiedenen Sprachen und literarischen Räumen bewegen, was die zeitgenössischen transnationalen Mobilität widerspiegelt.

Im Zuge derselben Veränderungen hat sich jedoch zum anderen auch die Dynamik verändert, durch die solche Werke und Persönlichkeiten im Literaturbetrieb rezipiert werden. Die Bewertungsdynamiken und Distributionskanäle der Literatur, die Formen ihrer Rezeption sowie die theoretischen Grundlagen, die entwickelt wurden, um diesen gerecht zu werden, haben sich im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte aufgrund dieser soziokulturellen Transformationen tiefgreifend verändert.

Der letzte Aspekt bildet den Hauptfokus des vorliegenden Buches, denn der Adelbert-​von-​Chamisso-​Preis stellt einen privilegierten Beobachtungspunkt für diese Veränderungen dar: Er lässt sich sowohl als deren Folge als auch als deren Anstoß verstehen. Der Preis wurde 1985 von Literaturwissenschaftler:innen des Instituts für Deutsch als Fremdsprache in München, insbesondere von Harald WeinrichWeinrich, Harald und Irmgard AckermannAckermann, Irmgard, in Zusammenarbeit mit der Robert Bosch StiftungRobert Bosch Stiftung und der Bayerischen Akademie der Schönen KünsteBayerischen Akademie der Schönen Künste ins Leben gerufen und zielte darauf ab, „Beiträge ausländischer Autoren“ auszuzeichnen (HCP-​K2-O3-85-1). Die ausgezeichneten Werke wurden kanonisiert und in einer literaturgeschichtlich nachträglich entdeckten und legitimierten Tradition verankert: derjenigen von Schriftsteller:innen, die sich der deutschen Sprache ‚von außen‘ bedienen (vgl. Weinrich 1983). In Adelbert von ChamissoChamisso, Adelbert von, einem Schriftsteller französischer Herkunft, der dennoch zum deutschen Literaturkanon gehört, wurde der Patron dieser Tradition erkannt. Es sei hervorzuheben, dass von Anfang an mit dem Chamisso-​Preis eine klare zivile Intention verbunden war, denn die Auszeichnung sollte das öffentliche Bewusstsein für die konstitutive Rolle der Migration für die deutsche Gesellschaft, die vielfältigen Ausprägungen dieses Phänomens und die Lebensbedingungen der ‚Ausländer‘ schärfen. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine kulturelle Institution, die durch den literarischen Diskurs für die Anerkennung zunächst der BRD und dann des wiedervereinigten Deutschlands als Einwanderungsland plädieren wollte.

Die Geschichte des Chamisso-​Preises fand 2017 ein – zumindest vorläufiges – Ende durch die Entscheidung seiner Förderinstitution, der Robert Bosch StiftungRobert Bosch Stiftung. Diese kündigte nicht nur an, dass das ursprüngliche Ziel des Projekts, nämlich die Integration von „Autoren mit Migrationsgeschichte“ in die deutschsprachige Literatur, „erreicht“ worden seien (Robert Bosch Stiftung 2016a), sondern räumte auch ein, wie kontraproduktiv die Fortsetzung des Projekts für diese Integration wirken könnte (Robert Bosch Stiftung 2016b). Die Bekanntgabe der Beendung stieß auf viel Kritik, die jedoch während des gesamten Bestehens des Chamisso-​Preises ebenfalls präsent war, und führte im selben Jahr zur Neugründung des Projekts mit anderen Förderern und an einem anderen Standort.

In diesem Buch wird der Chamisso-​Preis und die damit verbundene ‚neue Literatur‘, bekannt als Chamisso-​Literatur, aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet: literatursoziologisch, literarisch und kulturwissenschaftlich. Die literatursoziologische Perspektive ermöglicht die Einordnung des Projekts innerhalb des literarischen Feldes. Sie basiert auf der Analyse seiner Geschichte und seines Kontexts, der Positionen seiner Beteiligten sowie der zugrunde liegenden Struktur. Unter dieser Betrachtungsweise kann der Chamisso-​Preis als derjenige Akteur im deutschen literarischen Feld angesehen werden, der maßgeblich zur Anerkennung von Autor:innen beigetragen hat, die nicht (nur) deutscher Herkunft bzw. deutscher Sprache sind.

Aus literarischer Sicht erforscht das Buch gewisse Meilensteine der Chamisso-​Literatur. Diese Etappen, die mit der Veröffentlichung bestimmter literarischer Werke oder mit den Profilen bestimmter Preisträger:innen zusammenhängen, gelten als bedeutend, da sie Momente des Wandels oder der Spannung im deutschen literarischen Feld hervorrufen oder dazu beitragen, einige seiner entscheidenden Merkmale zu erkennen. In diesem Zusammenhang war es besonders fruchtbar zu beobachten, wie die Mehrsprachigkeit von einigen Autor:innen literarisch umgesetzt wurde und vor allem, wie sie sowohl im institutionellen Diskurs des Preises als auch im Literaturbetrieb allgemein rezipiert wurde. Dabei handelt es sich, wie noch gezeigt wird, um ein komplexes ästhetisches Merkmal, das in dieser Studie nicht nur auf den formalen, sondern vor allem auf den ethisch-​poetologischen Aspekt zurückgeführt wird, den der Chamisso-​Preis im Laufe seiner Entwicklung zunehmend betont hat. Dies geschah, obwohl – darauf sei hingewiesen – der Preis offiziell nicht auf der Grundlage gemeinsamer ästhetischer Merkmale verliehen wurde.

Wenn jedoch von der Entwicklung der Chamisso-​Literatur die Rede ist, sollen die ästhetischen Unterschiede zwischen den Chamisso-​Preisträger:innen keineswegs ignoriert werden. Hier werden sie als integraler Bestandteil der Chamisso-​Literatur betrachtet, denn das vorliegende Buch untersucht gerade die Dynamiken, durch die sie zu diesem literarischen und soziokulturellen Phänomen gezählt wurden. Literatur entzieht sich Etikettierungen und Kategorisierungen, und dies gilt insbesondere für die Konsekrationshandlung des Chamisso-​Preises, der im Laufe seiner Geschichte auch unvermeidliche Spannungen erzeugt hat. Es ging dabei um die Herausforderung, sehr unterschiedliche Autor:innen einem einzigen, wenn auch heterogenen literarischen Phänomen zuzuschreiben, das oft auf ihre – vermeintlich – nicht-​deutsche Herkunft reduziert wurde. Es handelt sich um eine Identifizierung, die oft die Vielfalt ihrer literarischen Produktion ignoriert hat, was Kritik und gelegentlich auch den Protest der Preisträger:innen selbst hervorgerufen hat.

Hier zeigt sich das kulturwissenschaftliche Interesse an der Erforschung des Chamisso-​Preises und der Chamisso-​Literatur, deren wissenschaftlicher Gewinn über den literarischen Bereich hinausgeht. Bei genauerer Betrachtung ist der Weg des Preises tatsächlich verschlungen und von Ambivalenzen geprägt, weit mehr, als seine Stifter:innen ahnen konnten. Im Verlauf seiner Geschichte würdigte der Chamisso-​Preis nicht primär den künstlerischen Wert der Autor:innen oder besondere ästhetische Nuancen in ihren Werken, sondern ihre ‚Zugehörigkeit‘ zur deutschsprachigen Literatur. Dadurch trennte der Preis letztlich ihr Profil vom restlichen literarischen Raum, indem er den Preisträger:innen das Etikett des ‚Ausländerseins‘ aufdrückte, das wiederum als eine Form des Ausschlusses diente. Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass der Chamisso-​Preis einen fundamentalen Beitrag zur Öffnung der deutschsprachigen Literatur für kulturelle Vielfalt und zu ihrer Anerkennung geleistet hat. Diese Ambivalenz, die in diesem Buch eingehend untersucht wird, prägt den Weg, den der Preis beschreitet und der hier rekonstruiert wird, zwischen literarischer Inklusion und Exklusion: Daher auch der Titel dieser Arbeit.

In diesem Buch führt kein Weg daran vorbei, den Begriff ‚Ausländer‘ sowie seine Ableitungen (‚ausländisch‘, ‚Ausländerliteratur‘, ‚Ausländerautoren‘ usw.) zu verwenden. Es handelt sich um einen ambivalenten Begriff, nicht zuletzt deshalb, weil er in verschiedenen Diskursen – im öffentlichen, rechtlichen, politischen, literarischen und kulturellen Bereich – verwendet wird und dort unterschiedliche Bedeutungen annimmt, die sich größtenteils im Laufe der Geschichte verändert haben. Zum Beispiel im rechtlichen Diskurs: Bis zur Staatsangehörigkeitsreform des Jahres 2000 und dem Übergang vom ius sanguinis zum heutigen ius soli galten viele Menschen, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen waren, noch als ‚Ausländer‘ (vgl. Hoesch 2018: 259–274). In dieser Arbeit ist es aus zwei Gründen notwendig, diesen Begriff und seine Ableitungen zu verwenden. Erstens: aus historischer Verbundenheit, da er zumindest bis Mitte der 1990er Jahre zur Bezeichnung der literarischen Ausdrücke verwendet wurde, denen diese Studie gewidmet ist. Zweitens, weil sich um diesen und andere ähnliche Begriffe – wie ‚Fremdsprache‘, ‚Muttersprache‘, aber auch ‚Deutsch‘ – die Verhandlung von kultureller Zugehörigkeit und Nicht-​Zugehörigkeit in dem engen, aber emblematischen Raum abgespielt hat, um den es auf den folgenden Seiten geht. In diesem Beitrag wird der Begriff in einfachen Anführungszeichen verwendet, um seine Verwendung zur jeweiligen Zeit bei den Akteur:innen und in den Kontexten zu reflektieren1.

Die Geschichte des Chamisso-Preises ist also auch die Geschichte der Begrifflichkeit zur Kennzeichnung eines Phänomens, über das gesprochen werden sollte und über das häufig missverständlich gesprochen wurde. Doch gerade diese Schwierigkeiten und Irrtümer sind für die vorliegende Diskussion entscheidend.

Bisherige Forschungsansätze und neue Perspektiven

Die allmähliche Öffnung der Grenzen der deutschen Literatur ist Gegenstand zahlreicher kritischer Untersuchungen gewesen, die verschiedene theoretische und methodologische Ansätze übernommen haben, die sich auch in terminologischen Entscheidungen widerspiegeln: Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur, interkulturelleLiteratur gehören zu den einflussreichsten. Es gibt zahlreiche kurze Beiträge, die sich der Verortung dieses Phänomens widmen, welche besonders in den 1980er Jahren zur Legitimierung des Phänomens beigetragen haben. Nicht zu vergessen sind die vielen Studien über einzelne Autor:innen, die mit der Chamisso-​Literatur in Verbindung gebracht werden und sie in eine der genannten Kategorien einordnen. Diese und andere Kodifizierungen des hier als Chamisso-​Literatur definierten Phänomens sind Gegenstand der Erörterung der vorliegenden Arbeit, da im ersten und dritten Kapitel auch die wissenschaftliche Rezeption dieses Phänomens als eine Form der Legitimation und Kanonisierung thematisiert wird, die eng mit der durch den Chamisso-​Preis bewirkten Konsekration verbunden ist.

Das vorliegende Buch schlägt einen Perspektivwechsel gegenüber den meisten früheren Studien vor, die sich mit Schriftsteller:innen nicht (nur) deutscher Herkunft und Sprache in der zeitgenössischen Literatur befasst haben. Anstatt von den Merkmalen auszugehen, die diese Veröffentlichungen zu Beispielen eines neuen literarischen Phänomens machen würden – eine problematische Wahl aufgrund der Überschneidung zwischen der Biographie der jeweiligen Autor:innen und ihrer literarischen Produktion –, beobachtet die vorliegende Studie, wie ihre Präsenz im deutschen literarischen Raum rezipiert und kanonisiert wurde.

Die Perspektive, welche den Diskurs der Sekundärliteratur zu einem der Analyseobjekte macht, wurde von Immacolata AmodeoAmodeo, Immacolata in den 1990er Jahren aufgegriffen, indem sie eine Untersuchung der diskursiven Konstruktionen vorschlug, durch die die Germanistik die „ausländischen Autoren“ bis dahin rezipiert hatte (1996: passim). Das von Amodeo (1996: 34–35) ausgearbeitete und auf Michel FoucaultFoucault, Michel basierende Analysemodell war die Prämisse der vorliegenden Arbeit. Was diese von derjenigen Amodeos unterscheidet, ist neben dem zeitlichen Abstand von fast drei Jahrzehnten, der einen breiteren analytischen Horizont garantiert, das besondere Forschungsterrain, auf das diese Perspektive gerichtet ist, nämlich die Einflusssphäre des Chamisso-​Preises, sowie die bei ihrer Auswertung angewandte Methodik, die sich neben Foucault auch auf Pierre BourdieuBourdieu, Pierre rekurriert.

Noch wichtig für diese Arbeit sind die wenigen Studien, die versuchen, das Phänomen historisch zu rekonstruieren. Besonders pointiert ist die Arbeit von Sigrid Weigel, erschienen in der Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1992), die mit einem literatursoziologischen Ansatz den Beginn des Phänomens nicht so sehr im Schreiben in deutscher Sprache sieht, sondern in der Entstehung von Verlags- und Künstlergruppen, die diese literarische Produktion durch die Betonung der ausländischen Herkunft ihrer Autor:innen verbreiten. Dies ist ein interessanter Perspektivwechsel, den die vorliegende Arbeit teilt, der jedoch in diesem Forschungsbereich keine Nachfolge fand.

Das von Gino Carmine ChiellinoChiellino, Gino Carmine herausgegebene Handbuch zur Interkulturellen Literatur (2000) deckt einen weiten Zeitraum – von den 1950er Jahren bis zum Jahr 2000 – ab und stellt nach wie vor den umfassendsten Versuch dar, die in der deutschsprachigen Literatur tätigen Autor:innen ‚ausländischer‘ Herkunft zu erfassen, welche nach Kulturräumen gegliedert sind.

Zu den jüngsten Publikationen gehört der Band von Sandra Richter (2017), der eine Literaturgeschichte nachzeichnet, die auf wechselseitigen Einflüssen zwischen der deutschsprachigen Literaturlandschaft und anderen literarischen Räumen beruht und die konstitutiven Dynamiken der Weltliteratur zu identifizieren versucht. Das letzte Kapitel des Textes, „Nach 1989: Literatur deterritorial, transnational, multilingual“ (Richter 2017: 431–466), verweist mit den drei Adjektiven auf jene ästhetischen Tendenzen der Literaturszene, die sich nach ihrer Entstehung in der „interkulturellen Literatur“ (2017: 432) langsam als erfolgreiche und zentrale Aspekte des Literaturbetriebs etabliert haben.

Was den Chamisso-​Preis betrifft, scheint die diesbezügliche Forschung trotz seiner unbestrittenen Zentralität in der literarischen Landschaft der letzten vier Jahrzehnte ausgesprochen begrenzt zu sein. Mit Ausnahme der Magisterarbeit von Franziska Kegler (GCP 2: Kegler 2011) gibt es derzeit keine monographische Studie, die sich dem Preis widmet. Tatsächlich hat erst der Abschluss des Projekts (2017) eine umfassende Perspektive auf seinen Verlauf ermöglicht, nach der sich fundierte Bilanzen ziehen lassen.

Aspekte der Entwicklung der Auszeichnung werden nur in kurzen Artikeln behandelt, die zeitgleich mit ihrer Tätigkeit veröffentlicht wurden. Am umfassendsten sind aus historischer Sicht die retrospektiven Beiträge der Stifter:innen selbst: Karl EsselbornEsselborn, Karl (2004; 2009), AckermannAckermann, Irmgard (2004) und WeinrichWeinrich, Harald (2008). Esselborn skizziert in seinen beiden Artikeln die wichtigsten Veränderungen in den Profilen der Preisträger:innen und betont dabei auch die Rolle des Projekts für die Verbreitung der Literatur „interkultureller“ Autor:innen. Ähnlich sieht es bei Ackermann aus, die den Impuls des Chamisso-​Preises für die Schaffung eines Kanons interkultureller Literatur hervorhebt. Weinrichs Artikel bietet schließlich einen Rückblick auf die Pilotprojekte, die vor der Gründung des Preises entwickelt wurden, ordnet diese Aktivitäten in das kulturelle Szenario der damaligen Zeit ein und hebt ihre innovative Tragweite hervor. Gerade weil sie aus einer, wenn man so will, internen Perspektive und zeitgleich mit den Aktivitäten des Preises verfasst wurden, fehlt diesen Rekonstruktionen eine kritische Auseinandersetzung mit der Funktion, die der Preis im Literaturbetrieb ausübte.

Eine erste Reflexion über die ambivalente Funktion des Preises im deutschen Literaturraum findet sich im Artikel von René Kegelmann (2010), der die Tätigkeit des Preises zwischen den beiden Extremen der „Etikettierungs“- und „Türöffner“-Funktion gegenüber den „Autoren anderskultureller Herkunft“ verortet (2010: 13). Wie Kegelmann feststellt, ermöglichte der Preis einerseits den Zugang zum deutschen Literaturbetrieb, andererseits drohte er jedoch auch, die Poetik der Preisträger:innen auf die bloße Repräsentation kultureller Vielfalt zu reduzieren. Diese Studie, die sieben Jahre vor der Einstellung des Preises veröffentlicht wurde, hat zweifelsohne ihre Grenzen, da ein umfassender Überblick über die Entwicklung des Preises fehlt. Dennoch bleibt Kegelmanns Artikel der einzige, der die Veränderungen der Symbolik des Chamisso-​Preises im Verlauf seiner Existenz beleuchtet hat.

Der Beitrag von Eszter Pabis (2018) befasst sich mit dem von Kegelmann hervorgehobenen Widerspruch und betrachtet ihn aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Der Artikel zeigt, dass das Ziel des Preises von Anfang an darin bestand, die Grenzen der deutschen Literatur auf Autor:innen zu erweitern, die als „Ausländer“ galten, d. h. ein Ziel der kulturellen Inklusion zu verfolgen. Um dieses Ziel zu erreichen, sahen sich die Initiatoren des Chamisso-​Preises jedoch veranlasst, einen Literaturpreis zu gründen, der auf einer impliziten Differenz zwischen „‚ausländischen‘“ Autor:innen, d. h. den potenziellen Preisträgern, und ‚einheimischen‘ beruht, die den Preis nicht erhalten konnten. Der Grundwiderspruch des Projekts bestehe also darin, dass es eine explizite Inklusionsabsicht gibt, die jedoch von einem impliziten Akt der Exklusion ausgeht. Dieser Artikel hat den Schlüssel dazu geliefert, die Parabel des Preises in einer Dialektik zwischen diesen beiden Polen zu interpretieren, weshalb der Bezug auf Pabis Studie im Titel des Buches explizit gemacht wurde.

Der Artikel von Anne Röhrborn (2021) vertieft Pabis’ Perspektive, indem er sich auf einige Dokumente im Marbacher Archiv bezieht und das Projekt im Hinblick auf seine Funktion als Literaturpreis betrachtet. Röhrborn skizziert kurz die Veränderung der Programmatik des Chamisso-​Preises sowie die kontroverse Beendigung des Projekts und verortet sie in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion. Die vorliegende Studie erweitert diese Arbeit, indem sie die Veränderungen in der Programmatik des Chamisso-​Preises von seinen Pilotprojekten bis zu seinem Abschluss detailliert untersucht und dabei auch die Mechanismen in den Blick nimmt, die das Projekt in seiner Spezifik als Literaturpreis auszeichnen.

In methodischer Hinsicht profitiert die vorliegende Studie von den Entwicklungen in der Literaturpreisforschung, die durch Impulse aus Forschungsprojekten, Forschungsgruppen, Tagungen, Büchern und Artikeln in jüngster Zeit entstanden sind. Neben der Übersicht über deutsche Literaturpreise von Burckhard Dücker und Verena Neumann (2005) sind die von Dennis Borghardt, Sarah Maaß und Alexandra Pontzen herausgegebenen Bücher (2020a), sowie die Bände von Christoph Jürgensen und Antonius Weixler (2021a) und von Borghardt und Maaß (2022) zentrale Werke der Literaturpreisforschung in Deutschland. Diese Studien vertiefen ja einzelne Fälle, schlagen jedoch hauptsächlich methodische Einsichten vor, um die verschiedenen Facetten der Phänomenologie des Rituals von Literaturpreisen und ihrer Dynamiken der Valorisation zu erforschen. Sie teilen die Einschätzung, dass Literaturpreise Schnittstellen für literarische und soziokulturelle Diskurse darstellen und dass sie die Entwicklung von Wertordnungen nicht nur im Literaturbetrieb, sondern auch in der breiten Gesellschaft beeinflussen.

Ein zentraler methodischer Bezugspunkt für diese Arbeit war der Beitrag von Christoph Jürgensen (2013) über die Konsekrationswirkung von Literaturpreisen in der deutschen Gegenwartslandschaft. Nach Jürgensen erfüllen Literaturpreise drei Hauptfunktionen: eine „soziale Funktion“, die sich auf die Preisträger:innen bezieht und sie „mit ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital“ ausstattet; eine „kulturpolitische Funktion“, indem „literarische Werte“ sowie „außerliterarische Qualitäten“ gefördert werden; und eine „repräsentative Funktion“, durch welche die Preisträger:innen in gewisser Weise die Literaturszene repräsentieren und die preisverleihende Institution selbst ein bestimmtes Image erhält. Alle diese Funktionen, insbesondere die erste und die dritte, sind für den Chamisso-​Preis äußerst relevant.

Die Chamisso-​Literatur ist noch nicht als Gegenstand kritischer Studien betrachtet worden. Die Bezeichnung wird oft als nicht wissenschaftlich fundierter Oberbegriff verwendet, um Studien zu vereinen, die verschiedenen Chamisso-​Preisträger:innen gewidmet sind, wie in der von Nazli Hodaie und Simone Malaguti (2017) herausgegebenen thematischen Ausgabe der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht oder in dem von Jörg Roche herausgegebenen Band (2009) zur Entwicklung der Disziplin Deutsch als Fremdsprache nachgezeichnet wird. In beiden Studien wird die Chamisso-​Literatur vor allem in Bezug auf ihr didaktisches Potenzial betrachtet, eine Perspektive, die auch Antonella Catone (2016) in ihrer Studie zum Deutschunterricht im italienischen Kontext einnimmt. Für Catone stellt die Chamisso-​Literatur einen „Spiegel der Veränderungen in den europäischen Gesellschaften“ (2018: 18) dar. In der vorliegenden Arbeit wird diese Perspektive, wie erwähnt, geteilt, allerdings nur insofern, als dass die Kodifizierung selbst, die zur Entstehung der Chamisso-​Literatur führt, ein Indikator für die Veränderungen in der deutschen Gegenwartskultur ist.

Die vorliegende Arbeit vereint die unterschiedlichen Perspektiven der hier genannten Studien, die den Chamisso-​Preis jeweils aus literaturwissenschaftlicher, literatursoziologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht betrachten, und damit eine wichtige Lücke in der Forschung zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schließt.

Letztendlich fügt sich diese Arbeit auch in die Forschung zur ‚literarischen Mehrsprachigkeit‘, speziell in die jüngste Richtung, die schwerpunktmäßig ihre kulturpolitische Natur jenseits der Textualität herausarbeitet. In der wichtigsten Veröffentlichung, die dieses Verständnis der literarischen Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum hervorbringt (Dembeck/Parr 2017), wird darauf aufmerksam gemacht, dass sie aus dieser Perspektive als mehrschichtige Reflexion der Kulturdifferenz betrachtet wird (Dembeck 2017: 17). Im selben Handbuch stellt Arvi Sepp (2017) fest, dass sich literarische Mehrsprachigkeit weder auf die Koexistenz bzw. Begegnung verschiedener Sprachen in einem Text noch auf eine realistische Darstellung der gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen beschränken lässt, und auch nicht auf die direkte Spiegelung der Mehrsprachigkeit der Autor:innen. Vielmehr sei ihre „Funktion“ der Hauptpunkt, und diese sei „nicht primär pragmatischer Natur, sondern vielmehr ästhetisch und ethisch bedingt. Ihr Ziel ist eher symbolisch als realistisch: Sie symbolisiert die Varietät, den Kontakt und die Vermischung von Kulturen und Sprachen“ (2017: 53). So verstanden gilt Mehrsprachigkeit also als eine ästhetische und ideologische Ausrichtung der Gesellschaft, die traditionelle Vorstellungen von Identität und Zugehörigkeit herausfordert. Denn im westeuropäischen „Sprachdenken“ steht die Mehrsprachigkeit, laut Trabant (2006), im Kontrast zur Einsprachigkeit, die die dominierende und grundlegende Sprachideologie dieser Gesellschaften repräsentiert. Einsprachigkeit gilt in diesem Sinne als konzeptioneller Baustein der symbolischen, diskursiven und institutionellen Konstruktion der Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert und wurde im sprachphilosophischen Diskurs der gleichen Epoche als ein Konzept von Einheit und Exklusivität entwickelt1 (vgl. Trabant 2006; Yildiz 2012; Gramling 2016; Dembeck 2017). Nach dieser Perspektive lassen sich Sprachen scharf voneinander abgrenzen, und diese Unterscheidung wird nicht als künstlich betrachtet, sondern als ein inhärentes Merkmal ihrer Natur. Auf dieser Grundlage werden unabhängige nationale Räume durch verschiedene Nationalsprachen voneinander unterschieden, und die Zugehörigkeit jedes Individuums wird durch seine Muttersprache zu einer nationalen Gemeinschaft bestimmt, die gleichzeitig die privilegierte Dimension sowohl für die Entfaltung als auch für den Ausdruck der individuellen Identität darstellt (vgl. Dembeck 2017: 17–22). Folglich gehören zur literarischen Mehrsprachigkeit nicht nur formale Strategien der Sprachmischung bzw. -hybridisierung, sondern auch thematische und poetologische Überlegungen zum Kontrast zwischen einer mehrsprachigen und einer einsprachigen Vorstellung der individuellen und gesellschaftlichen Identitäten.

Im vorliegenden Buch wurde von diesem breiten Konzept der literarischen Mehrsprachigkeit ausgegangen. Diese wird erstens in der Untersuchung der Entwicklung des Chamisso-​Preises als prägnantestes Merkmal des durch seine Aktivitäten gezeichneten literarischen Raums, der Chamisso-​Literatur, betrachtet. Zweitens wird sie als verhandeltes Thema der Inszenierung der Chamisso-​Autoren erforscht. Und schließlich wird sie als Charakteristikum der einzelnen Werke betrachtet, die in dieser Studie berücksichtigt werden.

Theoretisch-methodologische Überlegungen

Der erste methodologische Bezugspunkt der Arbeit ist Michel FoucaultsFoucault, Michel Diskursbegriff und seine Methode der ‚archäologischen‘ Beschreibung, die der Philosoph insbesondere in seinem Buch Archäologie des Wissens (1981, frz. L’Archéologie du savoir, 1969) und in Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen (1987, frz. Histoire de la sexualité. La Volonté de savoir, 1976) entwickelte. Mit ‚Diskurs‘ meint Foucault das institutionalisierte verbale Netzwerk, das die Formulierung und Organisation von Wissen bestimmt. Foucault argumentiert, dass eine Gesellschaft über einen definierten epistemologischen Rahmen in Bezug auf ein bestimmtes diskursives Objekt verfügt, der nicht nur die Art und Weise beeinflusst, in der dieses Objekt verstanden und diskutiert werden kann, sondern auch a priori seine Entstehung als Wissensobjekt selbst bestimmt. Aus diesem Grund sollte die Bildung des Diskurses Gegenstand der Untersuchung sein:

Man muß erneut jene völlig fertiggestellten Synthesen, jene Gruppierungen in Frage stellen, die man gewöhnlich vor jeder Prüfung anerkennt, jene Verbindungen, deren Gültigkeit ohne weiteres zugestanden wird. […] Man muß auch angesichts jener Unterteilungen und Gruppierungen unruhig werden, die uns vertraut geworden sind. (Foucault 1981: 34)

Die Forschungsarbeit, die für das Verfassen des vorliegenden Buches unternommen wurde, untersuchte nicht nur, wann Autor:innen nicht (nur) deutscher Herkunft bzw. Sprache begannen, auf Deutsch zu publizieren. Die Fragestellung lautete vielmehr: Wann begann man von ‚ausländischen Autoren‘ zu sprechen, wann also hielt man es für notwendig, das Vorhandensein dieses Phänomens zu sanktionieren? Durch eine ‚archäologische‘ Beschreibung der Sekundärliteratur war es möglich, die Entstehung des Diskursgegenstandes ‚Ausländerliteratur‘ auf den Beginn der 1980er Jahre zu verlegen und die Einflusssphäre des Adelbert-​von-​Chamisso-​Preises als seinen Artikulationsraum anzuerkennen.

Um die Zusammensetzung des deutschen Literaturbetriebs in den Jahren dieser diskursiven Formierung zu analysieren und insbesondere die Funktion des Chamisso-​Preises als schöpferische Institution eines neuen Kanons zu betrachten, war es erforderlich, die FoucaultFoucault, Michel’sche Perspektive mit der Feldtheorie zu verbinden, die Pierre BourdieuBourdieu, Pierre besonders in seinem Werk Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1987, frz. La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979) entwickelte und später im Werk Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Felds (2001, frz. Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, 1992) spezifisch auf den literarischen Bereich ausweitete.

Die Feldtheorie ist eine Gesellschaftstheorie, nach der die Gesellschaft in verschiedene Bereiche aufgeteilt ist, die als ‚Felder‘ bezeichnet werden. Diese bestehen aus einem Geflecht von Positionen, die im Dialog und im Kontrast zueinander stehen. Die Felder unterscheiden sich je nach ihrer Struktur und Dynamik; zu den wichtigsten gehören das ökonomische, das politische, das kulturelle und das militärische Feld. Personen oder Institutionen, die zu einem Feld gehören, werden als ‚Akteure‘ bezeichnet. Im literarischen Feld umfassen die Akteure beispielsweise Schriftsteller:innen, Verleger:innen, Literaturkritiker:innen, aber auch literarische Institutionen. Innerhalb jedes Feldes entwickelt sich ein Kampf zwischen den Akteuren, der im Falle des literarischen Feldes um „symbolische Güter“ ausgetragen wird (vgl. Bourdieu 2001: 134–144). Dieser Kampf zielt darauf ab, neue Positionen einzuführen oder bestehende zu stärken. Zentral in Bourdieus Theorie ist die Ausweitung des marxistischen Konzepts des Kapitals über den rein ökonomisch-​produktiven Sinn hinaus. Für Bourdieu ist Kapital der Wertbestand, den ein Akteur in einem beliebigen Feld besitzt und der seine Position, seine Bedeutung sowie die Bandbreite der möglichen Positionen, die er in dem Feld einnehmen kann, und die Aktionen, die er ausführen kann, bestimmt. Im literarischen Feld ist nicht nur das ökonomische Kapital, sondern vor allem das „symbolische Kapital“ zentral, das den immateriellen Wert eines Akteurs darstellt und die Qualität seiner Produktionen garantiert (Bourdieu 2001: passim; bes. 228–233; 413ff; 422–431). Aus dem symbolischen Kapital, d. h. dem ‚Namen‘ der Akteure, leitet sich das „Konsekrationskapital“ ab, das „die Macht zur Konsekration von Objekten […] und von Personen […]“ beinhaltet, also die Macht, Wert zu verleihen, mit anderen Worten, ihr eigenes symbolisches Kapital zu übertragen (2001: passim, besonders 239, 360–365). „Konsekrationsinstanzen“ sind demnach Akteure im literarischen Feld, die über ein „Konsekrationskapital“ verfügen und „Konsekrationsmechanismen“ aktivieren. Daraus folgt, dass für Bourdieu der Wert literarischer Werke nicht primär aus ihrer intrinsischen ästhetischen Qualität entsteht, sondern vielmehr das Produkt der kontingenten Feldkonjunktur ist (Bourdieu 2001: 357 und 360–365).

Darüber hinaus lassen sich nach BourdieuBourdieu, Pierre die unterschiedlichen Konzeptionen, die von den verschiedenen Akteuren im Feld verfolgt werden, als nomoi definieren. Unter nomos versteht der Soziologe das „grundlegende Gesetz“ eines sozialen Universums, das „zugleich in den objektiven Strukturen eines gesellschaftlichen Regelunterworfenen Universums begründet […], und in den mentalen Strukturen derjenigen, die sich darin aufhalten und von daher die der immanenten Logik seines Funktionierens einbeschriebenen Imperative als selbstverständlich hinnehmen tendieren“ (Bourdieu 2001: 104). Die Durchsetzung eines neuen nomos beinhaltet die Modifizierung der Grenzziehungsregeln im Feld und löst Definitionskämpfe aus: „Jeder versucht, die Grenzen des Feldes so abzustecken, dass ihr Verlauf den eigenen Interessen entgegenkommt, oder […] seine Definition der wahren Zugehörigkeit zum Feld […] durchzusetzen – die Definition also, die am geeignetsten ist, ihm selbst das Recht zu verleihen, so zu sein, wie er ist“ (Bourdieu 2001: 133). Bourdieu stellt zudem fest, dass sich ein neuer Raum im literarischen Feld durch die Konstruktion einer neuen Autorenfigur durchsetzt (Bourdieu 2001: 184; vgl. dazu auch 282–339).

Ausgehend von BourdieusBourdieu, Pierre Feldtheorie lässt sich der Chamisso-​Preis als die erste und wichtigste ‚Konsekrationsinstanz‘ für ‚Ausländerautoren‘ betrachten, die in ihrem Einflussbereich einen neuen Diskursgegenstand definierte und einen neuen literarischen Raum umschrieb, der hier als Chamisso-​Literatur bezeichnet wird. Im Zentrum dieses neuen Raums steht die Konstruktion der neuen Autorenfigur namens ‚Chamisso-​Autor‘. Um die Konstruktion des neuen Autorenprofils der Chamisso-​Autoren zu umreißen, wurde erneut auf eine diskursive und archäologische Analyse zurückgegriffen, die an der Dokumentation der Chamisso-​Preis-​Bestände des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar (DLA) durchgeführt wurde (vgl. nächster Abschnitt) und vom Konzept der Autorinszenierung ausgeht. Jürgensen und Kaiser (2011) verstehen darunter die Konstruktionspraktiken eines Autorenbildes, das sich von der realen Person dahinter unterscheidet und einer „sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes“ entspricht (2011: 10).

Schließlich ergänzt die literatursoziologische bzw. kulturkritische Methodik dieser Arbeit ein literaturanalytischer Teil, der aus zwei Schwerpunkten besteht. Einerseits wurde die Entwicklung der Chamisso-​Literatur rekonstruiert. Dabei wurden Wendepunkte bei ästhetischen Innovationen identifiziert, die bei ihrer Rezeption Debatten in Gang gesetzt haben. In diesem Zusammenhang spielt die literarische Mehrsprachigkeit im weiteren Sinne eine zentrale Rolle. Andererseits spiegeln sich viele der prägenden Themen des institutionellen Diskurses um den Chamisso-​Preis als literarische Motive in den ausgezeichneten Texten wider: die Konstruktion von Subjekten, die als Fremde gelten, die Dynamiken ihrer kulturellen Inklusion und Exklusion, die Erfahrung der Fremdheit im Kontext von Migrationsbewegungen oder Grenzgebieten. Dieser komplexe Themencluster wird in diesem Buch anhand des Ansatzes der interkulturellen Literaturforschung (vgl. Mecklenburg 1987; Wierlacher/Bogner 2003; Hoffmann 2006)1 an Texten zweier Autorinnen näher untersucht, die als besonders bedeutend für den Chamisso-​Preis und die Chamisso-​Literatur gelten: Terézia MoraMora, Terézia und Uljana WolfWolf, Uljana. Dabei wird zunächst ihre Selbstinszenierung im Kontrast und im Dialog mit den durch den Preis inszenierten Profilen als Chamisso-​Autorinnen präsentiert. Anschließend werden ihre bis zur Auszeichnung mit dem Chamisso-​Preis veröffentlichten Werke hinsichtlich der Literarisierung des Zwischenspiels zwischen dem Bereich des Fremden und dem des Eigenen untersucht.

Zur Struktur dieses Buches

Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel widmet sich der Entstehung des Phänomens der literarischen Produktion von Autor:innen nicht-​deutscher (oder nicht nur deutscher) Herkunft. Es lässt sich in den 1980er Jahren verorten, obwohl die Existenz solcher Texte keine absolute Neuheit im deutschsprachigen Literaturraum darstellte. Bereits ab den 1960er Jahren wurden erste Werke veröffentlicht, die auf die Migrationsphänomene der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Diese Entwicklung ist auf zwei im literarischen Szenario eingetretene Veränderungen zurückzuführen, die eng miteinander verwoben sind: Einerseits wird im literarischen Diskurs die Herkunft der Autor:innen zu einem Kriterium der literarischen Einordnung, d. h. im Sinne von FoucaultFoucault, Michel zeichnet sich ein neues Diskursobjekt ab. Andererseits beginnen im literarischen Feld zwei Gruppen von Akteuren aktiv zu werden: die Südwind-​Schriftsteller und die Forschungsgruppe des Instituts für Deutsch als Fremdsprache in München. Diese Gruppen agierten auf der Ebene der Produktion, der Verbreitung und der Rezeption dieses Phänomens.

Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie sich dieser undifferenzierte und instabile literarische Raum mit der Einführung des Adelbert-​von-​Chamisso-​Preises im Jahr 1985 stabilisierte, der in seiner Einflusssphäre die Geburt eines neuen Unterfeldes im literarischen Bereich sanktionierte. Hier werden die Geschichte des Preises, seine hybride Zielsetzung sowie seine Vergabe- und Konsekrationsmechanismen untersucht. Besondere Aufmerksamkeit wird die Wahl und Aneignung des Preispatrons Adelbert von ChamissoChamisso, Adelbert von geschenkt. Zudem werden die Merkmale und Funktionen herausgearbeitet, die den Chamisso-​Preis von anderen Literaturpreisen unterscheiden.

Im dritten Kapitel wird die Entwicklung der Chamisso-​Literatur über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten betrachtet. Die entscheidenden Wendepunkte dieser Entwicklung werden anhand der literarischen Erfahrungen einiger Preisträger:innen herausgearbeitet. Diese Wendepunkte betreffen jedoch nicht primär die ästhetische Ebene oder die formalen Innovationen im Schreiben der ausgewählten Autor:innen, sondern vor allem die Veränderungen in der Rezeption, d. h. die Auswirkungen ihrer literarischen Tätigkeit auf den Literaturbetrieb. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der literarischen Mehrsprachigkeit und ihrer Rezeption geschenkt, die sich von den 1980er Jahren bis heute drastisch verändert hat. Zudem wird hier die Frage nach der Zuschreibung der ‚Ausländeridentität‘ als literarisches Interpretationskriterium, die bereits im ersten Kapitel aufgeworfen wurde, weiter vertieft. Ähnlich wie im ersten Kapitel nimmt daher die kritische Auseinandersetzung mit dem literaturwissenschaftlichen Diskurs einen zentralen Platz in der Untersuchung ein.

Das vorletzte Kapitel widmet sich der diachronen Rekonstruktion des Prozesses der Verhandlung von Repräsentation und Positionierung kultureller Andersartigkeit im Rahmen der Chamisso-​Literatur, insbesondere durch die Inszenierung der Schriftsteller:innen als Chamisso-​Autoren während der Preisverleihungen. Die Rekonstruktion des Verlaufs des Preises zeigt allgemeine Trends auf, die jedoch nicht linear verlaufen. Wenn man den Preis aus anderen Blickwinkeln betrachten würde, wie z. B. der Zusammensetzung der Jury, könnten die identifizierten Wendepunkte sicherlich anders aussehen. Der Weg, den der Chamisso-​Preis eingeschlagen hat, ist offensichtlich von Widersprüchen und Ambivalenzen geprägt, die trotz veränderter Kriterien für die Auswahl der Autor:innen und ihrer diskursiven Inszenierung nie vollständig aufgelöst wurden. Obwohl der Chamisso-​Preis sowohl auf die literarische als auch auf die zivilgesellschaftliche und kulturelle Inklusion von Autor:innen abzielt, löst er gleichzeitig Ausgrenzungsprozesse aus, die im Verlauf seiner Existenz wiederholt und in unterschiedlicher Form hervorgetreten sind. Dieses Kapitel widmet sich der Beschreibung und Diskussion dieser Entwicklungen.

Die Dynamiken der Grenzziehung spiegeln sich ästhetisch und literarisch in den Texten der beiden Autorinnen wider, denen das fünfte Kapitel gewidmet ist, nämlich Terézia MoraMora, Terézia und Uljana WolfWolf, Uljana. Trotz erheblicher Unterschiede in ihren Poetiken stellen beide Autorinnen eine interessante Verbindung zwischen den beiden Diskursen, dem literarischen und dem institutionellen, innerhalb der Chamisso-​Literatur dar. Erstens sind ihre Werke, die zur Verleihung des Chamisso-​Preises geführt haben, durch eine komplexe Reflexion über den Begriff der ‚Fremdheit‘ und die Zuschreibung der Rolle des ‚Fremden‘ gekennzeichnet, insbesondere in ihrer sprachlichen Dimension. Zweitens markieren beide Autorinnen bedeutende Schritte auf dem Weg, den der Preis beschreitet: Mora ist die erste Autorin einer extraterritorialen deutschsprachigen Minderheit – sie wurde in Sopron innerhalb der deutschsprachigen ungarischen Minderheit der Donauschwaben geboren –, die den Chamisso-​Preis erhielt, während Wolf die erste Preisträgerin ist, die allein aufgrund ihrer literarischen Produktion und nicht aufgrund ihrer Biographie ausgezeichnet wurde.

Zum konsultierten Archivmaterial

Das Hauptmaterial, das dieser Studie zugrunde liegt, ist die zum Teil unveröffentlichte Dokumentation im Deutschen Literaturarchiv Marbach der Schiller-​Gesellschaft. Diese wurde von Irmgard AckermannAckermann, Irmgard zusammengetragen und deckt in ihren vier Beständen einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren ab (die Dokumente stammen aus den späten 1970er Jahren bis 2003):1

1) A: Chamisso-​Preis-​Sammlung, bestehend aus 33 Ordnern, die nicht indexierte Dokumente und Manuskripte der Pilotprojekte des Chamisso-​Preises enthalten. Es handelt um die Ausschreibungen, die eingereichten Manuskripte, die Anmeldeunterlagen der einzelnen Teilnehmer:innen, das redaktionelle Material und die Publikationsentwürfe sowie die umfangreiche Korrespondenz zwischen den Organisator:innen einerseits und dem Verlag dtv, den verschiedenen Teilnehmer:innen und den Partner:innen andererseits. Die Dokumente dieses Bestandes werden in dieser Arbeit durch die Abkürzung ‚ACP‘ gekennzeichnet, gefolgt von der offiziellen Ordnernummer (O: Ordner 1 bis 33) und einer von mir gewählten Nummer zur Identifizierung des jeweiligen Dokuments.

2) G: Chamisso-​Preis-​Sammlung bezieht sich auf verschiedene veröffentlichte Bände der Primär- sowie Sekundärliteratur, die AckermannAckermann, Irmgard als konstituierenden Teil der Geschichte des Chamisso-​Preises betrachtete; dieser Fundus erwies sich als ein sehr nützlicher Ausgangspunkt für die Zusammenstellung des Korpus dieser Studie. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das Material hier überwiegend auch in anderen deutschen Bibliotheken vorhanden ist. Aus diesem Grund wird in der Bibliographie nur dann auf diesen Fonds Bezug genommen, wenn es sich um schwer zugängliche Veröffentlichungen handelt.

3) H: Chamisso-​Preis-​Sammlung, die aus 8 Kästen bestehende Sammlung enthält die verschiedenen Dokumente des Literaturpreises. Die wichtigsten Unterlagen sind dabei: die Pressemitteilungen, die das Projekt beschreiben und die seinen Umfang sowie die Vergabekriterien erkennen lassen; die Grußworte der verschiedenen Vertreter:innen der beteiligten Institutionen (Bayerische Akademie der Schönen KünsteBayerische Akademie der Schönen Künste, Institut für Deutsch als FremdspracheInstitut für Deutsch als Fremdsprache, Robert Bosch StiftungRobert Bosch Stiftung); die Laudationes an die Preisträger:innen, die Dankesreden der ausgezeichneten Autor:innen; die Preisurkunden, die auf Aspekte der poetischen oder künstlerischen Profile der jeweiligen Preisträger:innen hinweisen, die für die Verleihung des Preises entscheidend waren. In dieser Arbeit werden diese Dokumente durch die Abkürzung ‚HCP‘ gekennzeichnet, gefolgt von der offiziellen Kastennummer (K1 oder K2; Kasten 1: „Preisträger 90-2003“; Kasten 2: „Aug 94 – März 97 – Bibliographien – Preisträger 85-89“), der offiziellen Ordnernummer (O3: 1985-1990; O2: 1991-1995: O1: 1996-2003) und einer von mir gewählten Nummer zur Identifizierung des jeweiligen Dokuments (1: Pressemitteilung; 2: Grußworte; 3: Vortrag über Adelbert-​von-​Chamisso; 4: Urkunde; 5: Laudatio; 6: Dankerede; 7: Zeitungsartikel).

4) Schließlich gehört dazu auch die Z: Chamisso-​Preis-​Sammlung, die verschiedene Mediendokumentation umfasst. Obwohl sie für diese Arbeit konsultiert wurde, wurde sie als nicht besonders relevant befunden.

Seit 2003 wurden die Unterlagen des Chamisso-​Preises nicht mehr von Irmgard AckermannAckermann, Irmgard, sondern von der Robert Bosch StiftungRobert Bosch Stiftung gesammelt und waren teilweise bis etwa 2020 auf deren Website online zugänglich (Dokumente von 2013 bis 2017). Anderes Material befindet sich im Privatarchiv der Robert Bosch Stiftung (2004 bis 2012). Diese Unterlagen sind jedoch nicht so umfassend wie die Dokumentation in Marbach. Aus diesem Grund ist der Überblick über den jüngsten Teil der Geschichte des Preises notwendigerweise knapper gehalten als bei den vorangegangenen Jahren, was auch durch die zeitliche Nähe zur Gegenwart bedingt ist.

1Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955–1985)

1.1Hintergrund und frühe literarische Produktion

Die Chamisso-​Literatur wurzelt in der literarischen Darstellung der Arbeitsmigration der Nachkriegszeit, insbesondere im Kontext der türkischen und italienischen Minderheiten. Daher wird im vorliegenden Buch das Jahr 1955, das Datum des ersten Anwerbeabkommens mit Italien, als Beginn ihrer Anfangsphase betrachtet. In diesem Kontext kannte die von ‚Ausländern‘ geschriebene Literatur bis auf wenige Ausnahmen eine Verbreitung, die auf das Umfeld der ‚ausländischen‘ Schriftsteller:innen und die kulturellen Vereine der nationalen Minderheiten beschränkt war (vgl. ChiellinoChiellino, Gino Carmine 2000b: 51–54). Das erste Beispiel für diese Literatur findet Gino Carmine Chiellino1 (2000c: 63–65) in dem autobiographischen Roman Arrivederci, Deutschland! (1964), von Gianni BertagnoliBertagnoli, Gianni auf Deutsch verfasst wurde. Der Text folgt dem Protagonisten, einem Gastarbeiter, auf seinem Migrationsweg von der Anwerbung in Norditalien bis zur Arbeit als Maurer im Süden der BRD. Im Vordergrund des Romans steht die psychologische Befindlichkeit des Protagonisten, die durch Entfremdung sowie Identitätszersplitterung gekennzeichnet ist, zusammen mit der Schilderung und Anprangerung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Einwandernden. Die Arbeitsmigration als literarischer Stoff inspiriert auch das Schreiben Aras ÖrensÖren, Aras, einem türkischen Intellektuellen im Exil in der BRD. Laut Sölçün (2000: 136–137) stellt er einen der ersten Schriftsteller türkischer Herkunft dar, der sich in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, zusammen mit Yüksel PazarkayaPazarkaya, Yüksel und Güney Dal, Gehör verschaffen konnte. Ören veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten und Gedichte, die den Migrationsphänomenen nach Europa und Westdeutschland gewidmet sind. Seine Geschichten spielen vor allem in den Berliner Einwanderervierteln – Kreuzberg und Neukölln –, die als Keimzellen des Multikulturalismus im Rahmen einer sich wandelnden europäischen Gesellschaft beschrieben werden (vgl. Sölçün 2000: 136–137). Die Literarisierung des multikulturellen Zusammenlebens findet ebenfalls Ausdruck in Örens bekanntestem Werk, dem dreibändigen Gedicht Was will Niyazi in der Naunynstraße, das 1973 auf Deutsch erschien.2 Örens Texte fanden bis in die 1980er Jahre hinein nur eine begrenzte Verbreitung (vgl. Pazarkaya 1986: 16), als er 1985 zum ersten Chamisso-​Preisträger ernannt wurde, eine Auszeichnung, die rückblickend die Vorreiterrolle des Schriftstellers in Bezug auf die literarischen Entwicklungen dieses Jahrzehnts bestätigte.

In denselben Jahren können die literarischen Anfänge von Franco BiondiBiondi, Franco,3 der 1965 im Alter von siebzehn Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kam, verortet werden. Biondis erste Gedichtsammlung, Nicht nur gastarbeiterdeutsch (1979), wurde im Selbstverlag veröffentlicht und ähnlich wie ÖrensÖren, Aras frühzeitige Produktion hatte außerhalb der literarischen Kreise der in die BRD ausgewanderten Italiener:innen kaum Verbreitung. Die Sammlung besteht aus Gedichten, die in einem hybriden Deutsch geschrieben sind, das der Autor „gastarbeiterdeutsch“ nennt. Diese Sprache umfasst Formulierungen, die im damaligen Diskurs als ‚unkorrekt‘ wahrgenommen und den ‚ausländischen‘ Arbeiter:innen zugeschrieben wurden. Biondi wandelt sie in eine poetische Ausdrucksform, wie man im gleichnamigen Gedicht lesen kann: „mein gastarbeiterdeutsch ist eng wie das ausländergesetz//[…] mein gastarbeiterdeutsch ist ein stempel geworden/darauf steht:/ ‚Made in Wesrgermany‘“ [sic!] (Biondi 1979: 40). Durch die Korrosion der vorherrschenden Sprache emanzipiert sich diese Ausdrucksform von der Rolle des sozialen Stigmas hin zu einem kommunikativen Instrument und erlangt somit künstlerische Würde. Im Gastarbeiterdeutsch lassen sich die Erfahrungen einer Minderheit zum Ausdruck bringen: Es geht um den Alltag zwischen Fabrikarbeit, dem Bahnhof und den gemeinsamen und klaustrophobischen Räumen der Wohnheime (wie in dem Gedicht das geschäft mit dem fick-​fick); um die Ausbeutung durch deutsche Arbeitgeber:innen (Deutsche Elegie); sowie die Ausgrenzung und Zurückweisung der Gastarbeiter:innen durch die einheimischen Kollegen (Nicht nur gastarbeiterdeutsch). Im Zusammenhang mit den späteren Entwicklungen der Chamisso-​Literatur betrachtet, offenbart Biondis Sammlung in nuce ein Element, das in den folgenden Jahrzehnten immer zentraler werden sollte: das mehrsprachige Experimentieren. Es lässt sich behaupten, dass der Band den hybriden Stil von Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi4 und die subversive Sprache von Feridun ZaimoğluZaimoğlu, Feridun5 um mehr als ein Jahrzehnt vorwegnimmt, nämlich zwei Schreibweisen, die im literarischen Feld der 1990er Jahre eine ganz andere Rezeption erfuhren.

In denselben Jahren waren in der Literaturszene auch Schriftsteller:innen nicht-​deutscher Herkunft aktiv, die sowohl biografisch als auch ästhetisch weit von der Arbeitsmigration entfernt waren. Das Werk von PazarkayaPazarkaya, Yüksel, einem türkischen Intellektuellen, der ähnlich wie ÖrenÖren, Aras seit 1958 als Exilant in Westdeutschland lebte, fand zum Beispiel in der damaligen Landschaft eine gewisse Resonanz (vgl. Chiellino 2000: 469). In seinen Texten, Kurzgeschichten, Gedichten und Essays, thematisiert der Autor und Übersetzer vor allem seinen Zustand als Ausländer und reflektiert über Migrationsprozesse und die damit verbundenen Veränderungen der Gesellschaft (vgl. Sölçün 2000: 144–145). Im gleichen Zeitraum stellt Pazarkaya auch aufgrund seiner Tätigkeit als Förderer der Kultur eine Schlüsselfigur dar: Mit der Gründung der zweisprachigen Literaturzeitschrift Anadil (1980–1982) initiierte er einen der ersten Kanäle der literarischen Verbreitung innerhalb der türkischen Minderheit, der auch ein Publikum außerhalb ihrer Grenzen erreichen konnte (vgl. Sölçün 2000: 144–145).

Neben den Autor:innen von Minderheiten, die gewöhnlich mit Arbeitsmigration in Verbindung gebracht werden, d. h. vor allem türkischen und italienischen, lassen sich auch literarische Erfahrungen von Autor:innen erkennen, deren kultureller Hintergrund das Wiederaufleben der mitteleuropäischen Kultur in Deutschland manifestiert. Zu den Erfahrungen, die den Beginn der neuen „Osterweiterung“ (Bürger-​Koftis 2008) der kulturellen und literarischen Landschaft signalisieren, gehören die tschechischen Schriftsteller:innen Ota FilipFilip, Ota6 und Libuše MoníkováMoníková, Libuše7 (vgl. Walter 2000: 194–195).

Die bisher erwähnten Veröffentlichungen haben in einigen Fällen wenig oder gar keine Resonanz in der Literaturszene (wie im Fall von BiondisBiondi, Franco Gedichtsammlung); in anderen Fällen erfahren sie eine gewisse Verbreitung, werden aber zunächst nicht als Werke ‚ausländischer‘ Autor:innen wahrgenommen (dies trifft auf PazarkayaPazarkaya, Yüksel, FilipFilip, Ota und MoníkováMoníková, Libuše zu). Mit anderen Worten, diese Werke werden zunächst nicht als repräsentativ für ein literarisches Phänomen betrachtet, das durch die nicht-​deutsche Herkunft der auf Deutsch schreibenden Autor:innen bestimmt wird. All dies änderte sich im Laufe der 1980er Jahre, als zwei Gruppen mit sehr unterschiedlichen Koordinaten, aber ähnlichen Absichten, begannen, auf der Ebene der Produktion, der Diffusion und der Rezeption von Literatur tätig zu werden und zum ersten Mal von einem neuen literarischen Phänomen sprachen, das einer Kodifizierung und Legitimierung bedurfte.

1.2Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor:innen

Die Unzugänglichkeit ‚deutscher‘ Verlagskanäle für Autor:innen ‚ausländischer‘ Herkunft motivierte einige Künstler:innen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren dazu, Kulturvereine und Verlagsgruppen zu etablieren, um ihnen eine breitere Verbreitung zu versichern. Franco BiondiBiondi, Franco, Gino Carmine ChiellinoChiellino, Gino Carmine, Jusuf NaoumNaoum, Jusuf, Rafik SchamiSchami, Rafik1 und Suleman TaufiqTaufiq, Suleman gründeten 1980 den Polynationaler Kunstverein (PoLikunst, 1980–1987) sowie eine Verlagsgruppe, die zwischen 1980 und 1987 unter dem Namen Südwind-​Gastarbeiterdeutsch und dann Südwind-​Literatur zwei gleichnamige Reihen herausgab, die dem Schreiben von ‚Ausländern‘ gewidmet waren (vgl. Teraoka 1987). Die Hauptaktivität dieser Gruppe bestand in der Veröffentlichung von Werken ‚ausländischer‘ Schriftsteller:innen, die der marginalisierten und ausbeuterischen Situation der Gastarbeiter:innen im Land gewidmet waren. Bei den Südwind-​Autor:innen ging es um Anthologien, die im Rahmen thematischer Ausschreibungen produziert wurden, sowie um Romane derselben Mitglieder.

Im selben Zeitraum wurde ein weiteres Projekt mit einer ähnlichen Zielsetzung ins Leben gerufen. Zwischen 1979 und 1985 beabsichtigten Professor Harald WeinrichWeinrich, Harald und seine Forschungsgruppe am Institut für Deutsch als FremdspracheInstitut für Deutsch als Fremdsprache der Ludwig-​Maximilians-​Universität in München, das Schreiben von ‚Ausländern‘ in deutscher Sprache zu untersuchen. Zu diesem Zweck veranstalteten sie auch themenbezogene Literaturwettbewerbe, die sich an ‚Ausländer‘ und nicht-​deutschsprachige Personen richteten und die zur Veröffentlichung mehrerer Anthologien führten. Ausgehend von diesem Material initiierte die Forschungsgruppe die erste wissenschaftliche Behandlung dessen, was als ein eigenständiges literarisches Phänomen angesehen wurde.

Laut Thomas Ernst (2013: 286–287) entstand im Rahmen dieser beiden Projekte zum ersten Mal ein neuer diskursiver Raum, in dem das Schreiben von „Ausländern“ eine spezifische Kodifizierung erfuhr und als erkennbares und umschriebenes Phänomen innerhalb der deutschen Kunstlandschaft beobachtet wurde. Es stimmt zwar, dass ‚ausländische‘ Autor:innen bereits vor dem Aufkommen dieser Projekte mehrere Werke veröffentlicht hatten, doch erst durch die Aktivitäten dieser Gruppen wurde die nicht-​deutsche Herkunft der Schriftsteller:innen zum zentralen Merkmal ihrer Inszenierung, was auch ermöglichte, eine einheitliche literarische Produktion zu umschreiben. Aus einer feldanalytischen Perspektive heraus ist zu konstatieren, dass beide Gruppen, die zu dieser Zeit durchaus auch zusammen arbeiteten (siehe unten), um die jeweilige Kennzeichnung und Repräsentation dieses neuen Literaturphänomens konkurrierten, da sie alternative nomoi im Sinne BourdieusBourdieu, Pierre vertraten. Im Folgenden werden einige beispielhafte Texte analysiert, die im Rahmen der Aktivitäten dieser Gruppen veröffentlicht wurden, und die jeweiligen Verständnisse von Literatur kontextuell definieren, wobei das programmatische Material der Projekte sowie die Struktur der veröffentlichten Anthologien und des peritextuellen Materials berücksichtigt werden.

1.2.1Die Südwind-Schriftstellergruppe

Der Hintergrund dieses künstlerischen und redaktionellen Projekts ist die Beteiligung von BiondiBiondi, Franco und SchamiSchami, Rafik, damals ebenfalls Gastarbeiter, am Werkkreis Literatur der Arbeitswelt in den 1970er Jahren. Innerhalb dieses Projekts förderten Autor:innen und Intellektuelle das Schreiben von Arbeiter:innen, um den Anliegen dieser sozialen Klasse eine poetische Form zu geben (vgl. Seibert 1984: 45). Tatsächlich erschienen Texte von Mitgliedern des Südwinds1 in einer vom Werkkreis herausgegebenen Anthologie, Sehnsucht im Koffer, die dem Phänomen der Arbeitsmigration gewidmet wurde und vom Fischer Verlag 1981 veröffentlicht wurde. Biondi und Schami distanzierten sich jedoch von dem Projekt, wie ersterer mehrfach betont (vgl. Biondi 1985: 63–64; dazu auch HCP-​K2-O3-87-7), da selbst in diesem Umfeld die Stimme der ‚Ausländern‘ der der Einheimischen untergeordnet bleibe. Gerade das Bedürfnis, sich als ‚Ausländer‘ und als ‚Schriftsteller‘ ohne Vermittlung im öffentlichen Diskurs in Deutschland zu Wort zu melden, motivierte Biondi, ChiellinoChiellino, Gino Carmine, NaoumNaoum, Jusuf, Schami und TaufiqTaufiq, Suleman dazu, möglichst autonome Publikations- und Verbreitungskanäle zu schaffen, über die sie ihre eigenen Texte und diejenigen anderer ‚ausländischer‘ Autor:innen drucken konnten.

Die Zielsetzung der Gruppe beseelt die Seiten ihres Manifests Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur, das 1981 von Biondi und Schami verfasst wurde. Unter dem Begriff Gastarbeiterliteratur definieren die Begründer des Projekts literarische Texte ‚ausländischer‘ Autoren, die dem untergeordneten Zustand der Ausländer literarische Form geben (vgl. Biondi/Schami 1981: 128–132). Die Bezeichnung eignet sich eines im Grunde diskriminierenden Begriffs, den des ‚Gastarbeiters‘, an und zeigt dadurch dessen Widersprüche auf: „es [gab] noch nicht einmal Gäste, die gearbeitet haben. Die Vorläufigkeit, die durch das Wort Gast zum Ausdruck gebracht werden soll, zerbrach an der Realität; Gastarbeiter sind faktisch ein fester Bestandteil der bundesrepublikanischen Bevölkerung“ (Biondi/Schami 1981: 134–135, in Fußnote Nr. 1). Ziel des Projekts sei es, dieser Literatur einen autonomen und unvermittelten Publikationskanal zu bieten, um die Unwahrheiten und Trivialisierungen zu überwinden, die den sozio-​politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Zustand von ‚Ausländern‘ umgeben:

Diese Reihe will dazu beitragen, diese zerstreute, vernachlässigte und unterdrückte Literatur zu erfassen. Dieser kulturelle Widerstand ist wichtig und möglich. […] Durch diese literarische Arbeit sagen die Gastarbeiter praktisch, daß sie keine Vermittler und keine Regisseure brauchen, die zwanzig und mehr Jahre nichts sahen und auf einmal entdecken, daß es sich lohnt, soviel Mist wie möglich an einem Tag zu fördern, damit die schon lange bekannte Tatsache der ‚Lösungsvorschläge‘ unter ihrem Namen patentiert wird. (Biondi/Schami 1981: 133–134)

In der Vision des Projekts falle diese Literatur mit der Thematisierung der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und existenziellen Bedingungen der ‚ausländischen‘ Arbeitskräfte zusammen und ziele darauf ab, den ‚Ausländern‘ die kollektive Tragweite ihrer Erfahrungen bewusst zu machen (vgl. Biondi/Schami 1981: 124–126). Einerseits seien die Anwerbeabkommen, die Deutschland mit südeuropäischen und mediterranen Ländern geschlossen hat, Instrumente einer wirtschaftlichen Kolonisierung, die auf dem Rücken der Arbeiter:innen ausgetragen werde: Von ihren jeweiligen Regierungen als billige Arbeitskräfte verkauft und von den Deutschen diskriminiert, lebten die Gastarbeiter einen Alltag der Isolation und der Selbstentfremdung (vgl. Biondi/Schami 1981: 124–126). Andererseits seien die erfahrenen Ungerechtigkeiten der Gastarbeiter auf alle ‚Ausländer‘ in der BRD auszudehnen, da sie alle dem Ausländergesetz unterliegen, einem Gesetz, das speziell entwickelt wurde, um die Arbeitsmigration zu regulieren. Das Ziel der Gastarbeiterliteratur sei es also, ein echtes Klassenbewusstsein und eine transnationale Solidarität unter allen ‚Ausländern‘ zu schaffen (vgl. Biondi/Schami 1981: 124–126).

Es ist anzunehmen, dass laut Biondi und Schami (vgl. 1981: 126–128, 132–134) die Figur des ‚Gastarbeiters‘ als der emblematische Ausdruck der historischen und sozialen Zusammenhänge identifiziert wird, die das Leben der ‚Ausländer‘ bestimmen. Es ist also nicht notwendig, die Erfahrung der Arbeitsmigration zu teilen, aber es ist dennoch unerlässlich, sich im Status des ‚Ausländers‘ zu erkennen, da nur diejenigen, die diese untergeordnete Position und ihre soziopolitischen und wirtschaftlichen Folgen aus erster Hand erfahren haben, sich zu diesem Thema äußern können (vgl. Biondi/Schami 1981: 124–126). Um die Ziele des kulturellen Widerstands zu verfolgen, muss die Gastarbeiterliteratur notwendigerweise auf Deutsch geschrieben sein, ein Aspekt, dem das Projektmanifest nur wenige Zeilen widmet (vgl. Biondi/Schami 1981: 134). Darüber hinaus sei die ästhetische Dimension nicht der Hauptaspekt der literarischen Reflexion dieser Autoren, die stets ihren politischen Absichten und ihrer Denunziation untergeordnet sei: „Es ist sicher, daß nur die wenigsten Autoren mehr oder weniger einen Überblick über Fragen der Ästhetik haben. […] Die Mehrheit der Autoren sind keine eingeweihten Literaten“ (Biondi/Schami 1981: 134).

Dieses Programm manifestierte sich in der Gründung einer Verlagsgruppe im Jahr 1980, die bis 1983 die Reihe Südwind-​Gastarbeiterdeutsch mit dem CON Verlag in Bremen und dann bis 1987 die Reihe Südwind-​Literatur mit dem Neuen Malik Verlag in Kiel herausgab (Chiellino 2000c: 65–67). Auf den folgenden Seiten werden einige der acht anthologischen Werke2 und sieben veröffentlichte monographische Werke besprochen.3

Noch deutlicher als im Manifest schreiben die Herausgeber im Vorwort des ersten Sammelbandes, Im neuen Land (1980), der Literatur eine emanzipatorische Funktion zu, sowohl gegenüber der Zerstörung der Identität, die mit der Zuschreibung von Etiketten wie ‚Ausländer‘ einhergeht, als auch gegenüber jeglichen folkloristischen Darstellungen:

Es leben ca. 4 Millionen Menschen in der Bundesrepublik […], die in der Regel als Ausländer, Gastarbeiter, Arbeitsmigranten bezeichnet werden. Sie arbeiten nicht nur, sondern betätigen sich auch im kulturellen Bereich. Gezeigt wird bis jetzt jedoch nur das Exotische und das Folkloristische. Ist das eigentlich alles, was diese Menschen zu bieten haben? Gewiß nicht. Die vorliegende Anthologie ist der erste Versuch, gemeinsam eine Antwort darauf zu geben. (Biondi et al. 1980: 2)

Die veröffentlichten Texte sind also nicht so sehr aus biographischen Gründen in die Erfahrungen der Arbeitsmigration eingebettet, sondern aus Gründen des politischen Kampfes und der ideologischen Zugehörigkeit: Die Autoren inszenieren sich selbst als Gastarbeiterautoren und treten als Wortführer für die Forderungen der ‚Ausländer‘ auf.4 Die thematischen Knotenpunkte, die am häufigsten wiederkehren, sind: die kapitalistische Ausbeutung der Gastarbeiter:innen und die am Arbeitsplatz erlittenen Misshandlungen (NaoumNaoum, Jusuf, So einen Chef haben, 6–29; ChiellinoChiellino, Gino Carmine, Der hausgemachte Gastarbeiter, 30–32; Antonio HernadoHernado, Antonio, Das Gastspiel eines Gastarbeiters, 109–114), sowie die soziale und rechtliche Prekarität, in der sich ‚ausländische‘ Arbeitnehmer:innen und ihre Familien befinden (Tryphon PapastamatelosPapastamatelos, Tryphon, Zweite Generation und Daueraufenthaltsland, 136; BiondiBiondi, Franco, Und nun schieben sie ab, 137) sowohl der typische Tag eines Gastarbeiters (SchamiSchami, Rafik, Zwischen Traum und Straßenbahn, 33–46). Andere Themen betreffen den Zustand der Entwurzelung durch die Migration, der sowohl in Bezug auf das Herkunftsland als auch auf Deutschland zum Ausdruck kommt (z. B. Chiellino, Gastarbeiter in Italien, 5, sowie Wie kannst du hier leben, 79; TaufiqTaufiq, Suleman, Ein Brief aus meiner Stadt, 115, sowie Segel der Sehnsucht, 121–122); sowie die soziale Marginalisierung der Gastarbeiter, die sich in einigen Fällen in Sprachschwierigkeiten niederschlägt (Papastamatelos, Sprach-​Barriere, 76, und Warum Water, 134); letztlich die fehlende Solidarität seitens der deutschen Arbeiter (Biondi, So ein Tag, so wunderschön wie heute, 92–99).