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Die Überheblichkeit des Westens. Oder: Was können wir von denen schon lernen? Das geopolitische Koordinatensystem kannte lange nur zwei Achsen: Ost und West. Mehr und mehr kommt eine neue hinzu: der Süden. Und wie man sehr gut am Beispiel Indien ablesen kann, ist er alles, was der Westen nicht ist: jung, dynamisch, innovativ. Das größte Land der Erde wird als gigantischer Absatzmarkt, Fachkräftereservoir und IT-Hub umworben wie kein anderes. Es zeigt auch, dass Demokratie nicht immer so aussehen muss wie einst in der alten Bundesrepublik in Bonn am Rhein. Zugleich sorgt Indien mit Hindu-Nationalismus und Kastenwesen, bedrückender Armut und Gewalt gegen Frauen für negative Schlagzeilen. Walter J. Lindner hat als Botschafter und auf vielen Reisen das Land der Gegensätze kennengelernt wie wenige sonst. Er erzählt, wie Indien wirklich ist und warum wir nicht vergessen sollten, dass auch wir Deutschen auf dem Boden einer kolonialen Vergangenheit stehen, deren Folgen bis heute nachwirken. Walter J. Lindner zeigt am Beispiel Indien, wie wir den Globalen Süden gewinnen und gemeinsam eine Welt gestalten können. Denn China und Russland stehen schon bereit, um jede Lücke zu nutzen, die wir ihnen lassen.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Der alte Westen und der neue Süden
Walter J. Lindner, geboren 1956 in München, studierter Jurist und ausgebildeter Musiker, war Botschaftsrat bei den Vereinten Nationen in New York, später Pressesprecher von Joschka Fischer und Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Sigmar Gabriel. Als Botschafter diente er Deutschland in Kenia, Somalia, Südafrika und Venezuela, bevor er sich 2019 mit dem Botschafterposten in Indien einen Lebenstraum erfüllte: Schon in den 1970er-Jahren hatte er das Land bereist, nun bildete es den Schlusspunkt seiner diplomatischen Karriere. Seit 2022 ist Lindner zurück in Deutschland und widmet sich mit Leidenschaft seinem zweiten Leben als Pianist, Komponist und Musikproduzent.
Heike Wolter, geboren 1976 in Berlin, ist promovierte Historikerin, Pädagogin und Lektorin. Als Ghostwriterin und Mitautorin hat sie Sachbücher zu unterschiedlichen Themen verfasst.
Das geopolitische Koordinatensystem kannte lange nur zwei Achsen: Ost und West. Mehr und mehr kommt eine neue hinzu: der Süden. Wie man gut an Indien ablesen kann, ist er alles, was der Westen nicht ist: jung, dynamisch, innovativ. Das bevölkerungsreichste Land der Erde wird als gigantischer Absatzmarkt, Fachkräftereservoir und IT-Hub umworben wie kein anderes. Und es zeigt, dass eine Demokratie nicht immer unseren westlichen Idealvorstellungen entsprechen muss. Zugleich aber sorgt Indien mit Hindu-Nationalismus und Kastenwesen, bedrückender Armut und Gewalt gegen Frauen für negative Schlagzeilen.Wie lassen sich diese Gegensätze verstehen? Walter J. Lindner nimmt uns mit auf eine spannende Reise und zeigt am konkreten Beispiel Indien, was wir von den Ländern des Globalen Südens lernen sollten, um künftig gemeinsam die Welt gut zu gestalten.
Walter J. Lindner und Heike Wolter
Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist
Ullstein
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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Alle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Titelfoto: © Hans ScherhauferAutorenfoto: © Walter J. LindnerGestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldE-Book powered by pepyrus
ISBN 978-3-8437-3186-7
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Indien? Warum gerade Indien?
Wie Indien zu Indien wurde: Geschichte eines Subkontinentes
In Indien ist alles richtig – auch das Gegenteil: Politik für 1,5 Milliarden Menschen
Vorsichtig auf die Weltbühne: Indien in der internationalen Politik
Full Speed: Wann ist die indische Wirtschaft größer als die deutsche?
Verehrt, verbannt, verbrannt: Frauen in Indien
Wie geht es weiter mit dem alten Westen und dem neuen Süden?
Danksagung
Literatur
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Indien? Warum gerade Indien?
Indien ist in. Das Land wird seit einiger Zeit umworben wie nie zuvor – als strategischer Partner, gigantischer Absatzmarkt, Fachkräftereservoir und IT-Hub. Der Subkontinent gilt als Innovationshochburg und unverzichtbarer Mitstreiter bei allen wichtigen globalen Themen, vom Umweltschutz über Lieferketten bis zur Pharmaproduktion. Und: Indien wird mehr und mehr zur Stimme des Globalen Südens. Aufgrund der schieren Größe des Landes, aber auch seiner wirtschaftlichen Kraft, seiner Innovationsfreude wird diese Stimme immer deutlicher hörbar im Konzert der internationalen Politik und der globalen Wirtschaft. Der zuständige indische Minister erklärte selbstbewusst: »In einigen Jahren wird Indiens Wirtschaft größer sein als die von Deutschland.« Womit er übrigens bald recht behalten könnte.
Aber gerade Deutschland tut sich vielfach schwer mit dem neuen Giganten in Südasien, mit dem man doch – aus wirtschaftlichen wie geopolitischen Gründen – so gerne eine neue Partnerschaft begründen möchte. Deutschland braucht Indien – eigentlich. Doch der indische Partner bleibt der deutschen Politik ein Rätsel: Warum nur weigert sich Premier Modi so hartnäckig, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu verurteilen? Was bedeutet das Erstarken des Hindu-Nationalismus im Land? Ist die »größte Demokratie der Welt« gar auf dem Weg zu einer Scheindemokratie?
Als Botschafter stand ich – nicht nur in Indien – viele Jahre zwischen den Fronten. Das Fremdeln der deutschen Seite gerade im Hinblick auf Indien lässt sich durchaus nachvollziehen: Kein Land der Erde vereint so viele Extreme. Viele Realitäten bestehen gleichzeitig und nebeneinander. Mehr als nur ein Klischee ist, dass in Indien zur selben Zeit mehrere Länder in mehreren Jahrhunderten existieren. Hier die Nation, die Raketen auf den Mond schickt, Lenkräder für fahrerlose Autos von übermorgen entwirft oder Artificial-Intelligence-Ingenieure in alle führenden Labore der Welt entsendet. Dort das Indien, das auf dem Land Ernten mit Ochsenkarren einfährt oder Trinkwasser aus kilometerweit entfernten Brunnen schöpft. Wer Reichtum und Opulenz sucht, der findet beides: im Bollywood der Reichen, angesichts der Ferraris auf den Boulevards von Mumbai, aber auch in den Einkaufszentren der wachsenden Mittelschicht. Dann aber eben auch das Indien der Armut und des Gestern: Millionen Menschen schlafen auf der Straße oder unter Brücken, in den großen Megastädten finden sich dicht bevölkerte Slums und überlastete Infrastruktur.
Doch haben mich Besucher aus Deutschland oft genug auch selbst verblüfft – wie wenig waren sie bereit, ihren mitgebrachten Kokon zu verlassen und die Fremde und das Neue zu entdecken. Ich werde hier keine Namen nennen, es geht mir auch nicht um konkrete Personen, sondern vielmehr um eine Haltung, die ich immer wieder beobachten konnte. Ich denke da beispielsweise an einen Abgeordneten, den seine Ausschusstätigkeit im Bundestag nach Nairobi führte. Wie in solchen Fällen üblich, holte ich, damals deutscher Botschafter in Kenia, den Mann vom Flughafen ab – doch schon auf der Fahrt zur Botschaft zeigte sich, dass er zwar ans andere Ende der Welt gereist, gedanklich aber in seinem Abgeordnetenbüro stecken geblieben war: Pausenlos redete er über Wählerstimmen, über die Schwierigkeiten mit einem Parteikollegen und eine Finanzierungslücke, die er gerade in seinem Projektplan entdeckt hatte. Sobald ich von »da draußen« – der Stadt, ihren Menschen und der Kultur – erzählte, verstummte er unwillig. Welche Einsichten sollten sich ihm auch ausgerechnet hier vermitteln? Was konnten ihm die Kenianer bieten, was er nicht ohnehin schon wusste? Und was half ihm ein Besuch in Ostafrika, wenn er doch bei seinen Wählern zu Hause punkten wollte? Schade – und kein Einzelfall. Solche Begegnungen sind verpasste Chancen. Noch immer ist der Globale Süden nicht wirklich auf dem Radar vieler deutscher Politiker.
Und da rede ich noch gar nicht vom belehrenden Zeigefinger, der manches Mal die ungünstige Alternative zum Desinteresse ist. Selbstverständlich soll man über Menschenrechte sprechen und muss Missstände wie Korruption, Armut, Ausgrenzung und Gewalt kritisieren. Doch oft genug erfolgt der zweite Schritt vor dem ersten; nicht immer ist den Sprechenden klar, dass sie auf dem Boden einer kolonialen Vergangenheit stehen, deren Folgen bis heute nachwirken. Da ist es nicht besonders geschickt, ausgerechnet als Europäer und damit Erbe des Kolonialismus die Menschen dort sofort zu belehren, wie sie sich organisieren sollen. Es gilt zunächst Vertrauen zu schaffen, die Kultur und Geschichte des anderen zu verstehen. Selbstgewisse Besserwisserei hingegen trifft auf verstopfte Ohren – und das in allen Ländern des Globalen Südens.
Eine Diplomatie, die den Menschen dient, muss die diplomatischen Enklaven und selbstvergewissernden Zirkel der Exzellenzen verlassen, muss sich umsehen, Puls und Vielseitigkeit des Gastlandes erkunden. Es geht um Empathie, Neugier und Interesse. Auch um Demut.
Ich habe mich entschieden, über mein Sehnsuchtsland Indien zu schreiben, das ich als Backpacker-Traveller in den 1970er-Jahren das erste Mal bereiste und dessen Faszination ich bis heute spüre. Den letzten Ausschlag gaben meine indischen Freunde, die mir nach über drei Jahren als Botschafter in ihrem Land eindringlich an Herz legten, meine Erfahrungen aufzuschreiben – nicht nur als womöglich hilfreiche Lektüre für das deutsche Lesepublikum, sondern auch, weil sie sich bewusst sind, dass der Blick von außen oft mehr Erkenntnis bringt als das fortwährende Schmoren im eigenen Saft.
Dieses Buch handelt hauptsächlich von Indien, doch vieles gilt ähnlich auch für Kenia, Somalia, Südafrika oder Venezuela – Länder außerhalb des westlichen Kosmos, in denen ich als Grenzgänger zwischen den Welten den Wert einer Diplomatie des Zuhörens immer wieder neu erfahren konnte. Ich bin überzeugt, dass unsere gemeinsame Welt eine bessere wird, wenn wir uns im Westen der blinden Stellen im Umgang mit den Ländern des Globalen Südens bewusst werden. Und dass wir einiges gerade von diesen Ländern lernen können – so wie sie vielleicht auch von uns.
Wie sehr habe ich mir den Moment herbeigewünscht, endlich in Indien zu sein, den Ursprungsort all der abgeklärten Musiker wie Ravi Shankar zu sehen, die Lebenswahrheiten eines Siddhartha und seine Gespräche mit dem Fährmann nachzuerleben, an Weisheiten unzähliger Gurus und Sadhus teilzuhaben, die Aura von Meditation und Transzendentalem zu spüren, kurzum: den tieferen Sinn des Lebens zu ergründen. Wir schreiben 1977. Ich wähne mich am Ziel. Dabei stehe ich erst am Anfang. Nach den Jahren der Vorbereitung meiner ohne Frage lebensverändernden Reise ist in mir ein idealisiertes Bild von dem gewachsen, was mich erwartet. Ohne Instagram- und Facebook-Shots, ohne TV-Korrespondenten vor Ort, ohne Reisebüros, die man vorher hätte befragen können, sind meinen Vorstellungen nur wenige Grenzen gesetzt. Mit Hesses Buch in der Tasche erwarte ich beinahe unter jedem Banyan-Baum einen meditierenden Inder und vermuteGovinda, Ganeshaoder Sarasvati hinter jeder Straßenecke. Dazu Sitarklänge und den Duft von Lotus-Räucherstäbchen. Jedenfalls insgeheim.
Der Realitäts-Check ist ernüchternd, der gewaltige Kulturschock hält mehrere Wochen an. Es beginnt mit der Zugfahrt. Zweite Klasse »turist« in der Regionalbahn von Amritsar nach Delhi, Fensterplatz, dritter Waggon. Es gibt weder Sitzplatznummern noch Sitzplätze überhaupt. Keine funktionierenden Toiletten. Keinerlei Lüftung. Die Menschen sitzen, stehen, liegen, auch in den Gepäcknetzen. An Haltestellen – gefühlt alle 15 Minuten – steigen immer mehr Menschen in den ohnehin schon völlig überfüllten Zug ein. Die Gänge und Türen sind bereits unpassierbar, also wird durch die offenen Fenster ein- und ausgestiegen. Viele ersparen sich das mühsame Herausklettern an Haltestellen zur Suche nach einer Toilette und lassen im Abteil der Natur ihren freien Lauf. Zerkaute Betelnüsse landen auf meinen Schuhen oder dem Hemd. Schweiß fließt, ich verstehe kein Wort. Auf freier Strecke wartet der Zug stundenlang, die Hitze und Enge sind nicht mehr auszuhalten. Lautsprecherdurchsagen gibt es nicht, ebenso wenig Zugangestellte. Nach drei endlosen Tagen erreichen wir Delhi. Es ist Anfang Juli 1977, der Monsun beginnt. Ich will nur noch duschen, schlafen, essen. Ich steuere das Backpackerviertel an, Paharganj, gleich hinter dem Hauptbahnhof gelegen. In meiner Erschöpfung nehme ich nur noch wahr, dass es sich um ein riesiges Rotlichtviertel handeln muss, mit jungen Mädchen, die hinter Gittern ausgestellt sind. Unzählige heruntergekommene Hostels, die ihren Namen kaum verdienen und über steile Holztreppen in wackeligen Gebäuden zu erreichen sind, reihen sich aneinander. Es ist heiß, stickig, dunkel, alles starrt vor Dreck. Meine Wahl fällt auf die nächstbeste Bleibe, das Gulzar Hostel. Dort falle ich auf die Matratze und schlafe ein. Ein Albtraum, nicht das ersehnte Land der Erleuchtung – das ist Indien für mich in den ersten Wochen.
Heute frage ich mich: Warum bin ich nicht am nächsten Tag zum Flughafen und habe sofort den nächsten Flug zurück nach Deutschland genommen? Geld dazu hätte ich mehr als genug gehabt, meine Rücklagen aus den nächtlichen Schichten als Taxifahrer in München, meinen Überführungen von Lastwagen in den Nahen und Mittleren Osten und meinem gesparten Zivildienst-Sold waren eigentlich auf drei oder vier Jahre Reisen ausgerichtet. Warum setze ich mich all dem aus? Reisen kann ja auch lehren, dass es zu Hause am schönsten ist. Ich treffe nicht wenige, die besser ihre Heimreise angetreten hätten. Sie zerbrechen an Drogen, werden verrückt, sind verlorene Seelen. Diese Art von Leben in Indien, in Billigstunterkünften und am unteren Ende der sozialen Leiter, muss man ertragen können. Die Intensität der Alltagsherausforderungen verkraftet die menschliche Psyche nur schwer. Ständiger Lärm, Hupen, angespannte Menschen. Selbst mit Geld in der Tasche lassen sich fehlende Hygiene, Hitze oder ungewohnte Gerüche kaum ertragen. Auch die Alternative ist keine: Soll ich etwa in ein Luxushotel ziehen? Ist das das Indien, das ich finden will? Nein! Ich suche das wahre, erträgliche Indien auf dem Land. Und in der Tat finde ich nach ein paar Wochen in Agra, das damals noch ländlich ist, Khajuraho und Jaipur, mit Abstechern nach Goa und Kerala mehr Balance, sehe Vor- und Nachteile, spüre auch Schönheit und Anmut von Tempeln, Menschen und Natur. Ich erfahre die Widersprüche, den guten Willen und die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der großen Masse. Bereits 1977 hat Indien 652 Millionen Einwohner, heute sind es mehr als doppelt so viele. Das Land hat Jahrhunderte Kolonialherrschaft hinter sich, die Indien nach der Unabhängigkeit verarmt zurückgelassen hat. Es steht Herausforderungen in der Grundversorgung für die Bevölkerung gegenüber, die wir uns im übersichtlichen Deutschland gar nicht ausmalen können. Mein Urteil wird milder, ausgewogener.
Die Frage, wie Indien mit dieser Bürde umgeht, verlässt mich nicht – bis heute nicht. Und auch 1977, mit all seinen Schockmomenten, zeigt mir Indien immer wieder sein wunderbares Gesicht: atemberaubend schön und tiefgründig. Nirgends werden sich mir gelebte Spiritualität und intensivste Eindrücke, Vielartigkeit und kulturelle Buntheit mit der steten Frage nach dem Sinn des Daseins je wieder so deutlich offenbaren wie in Indien. Als ich mich im Februar 1978 entschließe, Indien nach sechs Monaten Richtung Nepal zu verlassen, ist der Grund nicht, dass ich das Land verstanden oder »abgehakt« hätte. Das Gegenteil ist der Fall: Ich kann die Intensität Indiens nicht länger stemmen, ich brauche eine Ruhepause für meine Sinne, meinen Kopf, meinen Körper.
In Nepal erfahre ich Ruhe und Ausgeglichenheit, aber schon bald fehlt mir das explodierende Kaleidoskop Indien, die Lebenskraft des Subkontinents. Nachdem ich in Pokhara eine Hepatitis auskuriert habe, setze ich meine Abenteuerreise fort. Indien zählt nicht mehr zu meinen Zielen. Ich bereise Burma, Thailand, Indonesien und Hongkong, dann geht es über etliche Südseeinseln nach Kalifornien und durch den gesamten südamerikanischen Kontinent. Im Spätsommer 1980 ist das Geld alle und meine Reiselust verbraucht. Nach fast vier Jahren will ich endlich einen Beruf erlernen, ein paar Jahre nicht verreisen, etwas Sinnvolles geben, anstatt nur als Gast zuzusehen. Ich kehre Mitte Oktober nach München zurück. Ich spreche nun mehrere Sprachen, habe Dutzende Länder bereist, aber wenig Lust auf Oberflächlichkeiten. Ich will etwas tun, um einen Beitrag zu leisten, die Erde und das Schicksal vieler, die ich gesehen habe, zu verbessern. Eine Woche später sitze ich als frisch immatrikulierter Jurastudent unter Kommilitonen, die mir fremd sind. Nur mit denen, die selbst wenigstens kleinere Reisen in ferne Länder unternommen haben, kann ich etwas anfangen. Mein Berufsziel bleibt vorerst unklar: Anwalt, Journalist, Entwicklungshelfer. Nie im Traum wäre mir der Diplomatenberuf eingefallen.
Meine Erfahrungen mit dieser Spezies waren auf der langen Reise nicht die besten: Beamte an den Empfangsschaltern der Botschaften, wo ich mir bisweilen Post abholte oder etwa in Guatemala einen gestohlenen Pass meldete, die gegenüber Hippie-Gestalten reichlich arrogant waren. Dazu das Leben in abgeschotteten Enklaven, die mit dem normalen Leben in den Ländern praktisch nichts zu tun hatten. Zudem war ich mir sicher, dass jemand mit meinem Lebenslauf, der vier Jahre nicht etwa auf teuren Vorbereitungsschulen in Genf, Brüssel oder den USA verbracht, sondern Reisen um des Reisens willen gemacht hat, keine Chance bei der Aufnahmeprüfung nach dem Jurastudium hätte. Siebeneinhalb Jahre später werde ich eines Besseren belehrt: Ich bestehe die Prüfung und beginne am 1. Mai 1988 meine Ausbildung an der Diplomatenschule.
Auch nach 16 internationalen Umzügen, Posten in einem Dutzend Staaten, Reisen durch fast alle Länder des Erdballs gilt, was ich schon 1977 ahne: Das rätselhafteste, komplexeste, intensivste und herausforderndste Land bleibt für mich Indien. Mir ist klar: Dort möchte ich nochmals länger leben, mich – diesmal als Diplomat – intensiv und in allen Aspekten auf die DNA des Landes einlassen.
Ende März 2019 ist es so weit. Ich reise erneut nach Indien. Wieder fahre ich nach Delhi, doch diesmal nicht im klapprigen Zugwaggon, um in einem Hostel im Rotlichtbezirk abzusteigen, sondern mit einer Staatskarosse als zukünftiger deutscher Botschafter in die Residenz in Chanakyapuri. Ich begebe mich auf eine dreieinhalbjährige Erkundungsreise zur Seele des heutigen Indiens. Was hat sich verändert in den 42 Jahren? Kann ich den Subkontinent dieses Mal entschlüsseln?
Delhi, Tag eins im Botschaftsbüro. Die Residenz, also mein Wohngebäude, liegt direkt neben der Botschaft. Eben angekommen, will ich gleich als Erstes meine neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter treffen und mache mich auf den Weg.
Im Vorbeigehen entdecke ich in einer dunklen Ecke am Ende des Parkplatzes eine mir vertraute Silhouette, ich traue meinen Augen nicht: Der rote Lack ist zwar unter dem Staub kaum noch zu erkennen, doch genau solche Autos bevölkerten 1977, bei meinem ersten Aufenthalt in Indien, die Straßen des Landes. Vor allem als schwarz-gelbe Taxis, aber auch in Weiß für Regierungszwecke oder in jeder anderen Farbe waren sie damals zwischen Rikschas, Lastkarren, bunten Lastwagen, Kühen, Elefanten oder Kamelen unterwegs. Und nun, über vierzig Jahre später, soll so ein Klassiker verstaubt auf dem Botschaftsgelände stehen?
Neben den blank polierten einsatzbereiten und staatstragenden Modellen deutscher Provenienz gibt er – oder besser »sie«, wie sich gleich herausstellen wird – ein unscheinbares, wenn nicht sogar trauriges Bild ab. Meine beiden Fahrer, Fahrid und Jerry, glauben denn auch, sich verhört zu haben, als ich sie bitte, das rote Gefährt nach vorn zu bugsieren. Ich aber will die ramponierte Schönheit genau in Augenschein nehmen. Und meine erste Vermutung bestätigt sich: Unter all dem Staub und Schmutz verbirgt sich, einem verkappten Aschenputtel gleich, ein roter Hindustan Ambassador. Also nicht irgendein Auto, sondern eine indische Legende: einfach, robust, ikonisch. Ein Fahrzeug, wie man es sich vorstellt, wenn man an Oldtimer denkt. Obgleich der Ambassador – allen Gerüchten über Verkauf und Wiederaufnahme der Produktion zum Trotz – seit 2014 nicht mehr produziert wird, verkörpert er Indiens ganzen Nationalstolz. Die in Uttarpara bei Kalkutta gefertigte Limousine mag einem britischen Morris nachempfunden sein, doch steht sie für die Unabhängigkeit der indischen Nation. Als eine der ältesten indischen Autofirmen baute Hindustan Motors seit 1958 für mehr als ein halbes Jahrhundert diesen Wagen. Ganze Generationen von Indern und Inderinnen lernten darin das Autofahren, absolvierten ihre ersten Kilometer am Steuer und reisten vollbepackt durchs Land. Der Name – Ambassador, Botschafter – war Programm. Das Auto kündete vom neuen indischen Selbstbewusstsein.
All das wusste ich in den 1970er-Jahren noch nicht, das Auto war einfach Indien für mich. Als ich das staubige Entlein jetzt neben den deutschen Spitzenlimousinen mit ihren volldigitalisierten Cockpits erblicke, geht mein Herz auf: Ich sehe all die Details aus einer anderen Epoche – den Chrom, der der Ikone seine Konturen verleiht, den geräumigen Innenraum mit den beiden durchgehenden Sitzbänken, das Fehlen von jeglichem Schnickschnack, die Konzentration auf das Wesentliche … Und bei meiner ersten Runde um den Botschafts-Compound, als ich das gemächliche Brummen vernehme, die Nähe zum Asphalt fühle, reift ein Entschluss: Den will ich fahren. Nicht nur einmal, sondern sooft es nur geht. Natürlich gibt es Bedenken. Was ist mit Sicherheit, mit Umweltverträglichkeit, Bequemlichkeit, Air-Condition in Delhis Hitze im Hochsommer? Als ich meinen Plan eröffne, den Ambassador botschaftstüchtig zu machen, schauen Fahrid und Jerry mich ungläubig an: Was werden wohl die Fahrer anderer Botschafter sagen, wenn sie mit einem indischen Modell anrollen, noch dazu in Feuerrot statt gediegenem Schwarz? Doch die Werkstatt gibt ihr Bestes. Am Ende darf der Wagen bleiben, und zwar als mein Haupt-Dienstfahrzeug. Auch ein Kosename taucht umgehend auf, meine indischen Kollegen an der Botschaft und die Journalisten prägen ihn: Ambassador wird »Amby«, und da sie schon etwas in die Jahre gekommen ist, heißt sie liebevoll Tante, also »Aunty«.
Doch wie ist Aunty Amby eigentlich in die Botschaft gekommen? Ich frage bei Fahrid und Jerry nach. Sie erinnern sich, dass der Wagen von einem meiner Vorgänger für die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit angeschafft wurde. Er sollte mit bedeutenden Szenen aus Deutschlands jüngster Geschichte, wie dem Mauerfall, bemalt und verschönert werden. Nach den Feierlichkeiten aber stand er zumeist nutzlos herum und wurde nur ab und an für Postfahrten eingesetzt.
Doch bevor sie zum Einsatz kommen darf, muss Amby noch eine wichtige Hürde nehmen: Sie benötigt die unvermeidlichen Insignien eines Botschafters. Ihr fehlt die Standartenhalterung für die Fahne. Alle Botschafterfahrzeuge sind als Grundausstattung mit solchen Fahnenhalterungen versehen – Mercedes oder BMW, die übrigens nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern der Welt von Diplomaten genutzt werden, haben entsprechende Ausstattungsoptionen. Auch Panzerglas ist bei Bedarf zu haben. Jeder deutsche Botschafter weiß im Grunde, was ihn bereits bei Ankunft am Flughafen erwartet: die bekannten Modelle aus München oder Stuttgart.
Amby durchbricht hingegen alle Erwartungen – und gleich auch noch das Protokoll der Übergabe des formellen »Beglaubigungsschreibens« an den Präsidenten. Kaum ein Moment im Leben eines Diplomaten entspricht so stark der landläufigen Vorstellung, die man sich vom angeblich so schillernden und abgehobenen Leben der Exzellenzen macht, wie dieses reichlich angestaubte Protokoll aus höfischen Tagen: Aus dem »Botschafter designated« wird mit der Übergabe der »außerordentliche und bevollmächtigte Botschafter«, der seinen Staat im jeweiligen Gastland vertritt. Anlass genug, diesen Moment mit allem Zeremoniell und Pomp zu begehen, über die ein Staat verfügt. Jeder Schritt ist festgelegt, vom Abholen mit Motorradstaffel (oder in London mit Kutsche), Pferdeparaden, diversem Flaggenhissen, minutiösem Zeitplan, striktem Protokoll bis hin zu Kleidung, Redevorgaben und anschließendem Tee mit dem Staatsoberhaupt. Kurzum: ein Moment, den man besser nicht vermasselt, an dem man Würde und diplomatische Tradition hochhält – und der lediglich erfahrene Protokollbeamte nicht um ihren Schlaf bringt.
Weil sich aber alles ändert, warum nicht hier beginnen? Wir sind nicht mehr in der Welt venezianischer Fürsten des 15. Jahrhunderts, sondern im Zeitalter von Social Media, KI und Rolling Stones im Buckingham Palace. Da darf es gerne etwas lockerer zugehen. Den »Exzellenzen« von heute stehen Nahbarkeit, Empathie, Authentizität und ein Schuss Coolness gut zu Gesicht. Ich will dem 21. Mai 2019 etwas von diesem modernen Anstrich geben. Für diesen Tag ist nämlich die Überreichung meines Beglaubigungsschreibens an den Präsidenten Indiens, H. E. Ram Nath Kovind, vorgesehen.
In typischer Jugaad-Manier – zu Jugaad später mehr – sind die Standarten bei Aunty Amby mittlerweile nachgerüstet. Links flattert die deutsche Fahne, rechts die indische. Ich werde von einer uniformierten Eskorte an der deutschen Botschaft abgeholt. Das Protokoll sitzt. Vor der Amby fahren mehrere Motorräder, hinter ihr reihen sich einige der üblichen Botschaftslimousinen. Ein filmreifer Konvoi. Als wir am Präsidentenpalast ankommen, stehen die Protokollleute bereit, reißen den Türschlag auf und heißen uns willkommen. Viele hartgesottene Protokoller können sich ein stolzes Schmunzeln nicht verkneifen, der Protokollchef zwinkert mir verschwörerisch zu.
Drinnen wartet bereits der Staatspräsident. Ähnlich wie der deutsche Bundespräsident hat er keine Exekutivbefugnisse, sondern steht repräsentativ an der Spitze des Staates. In dieser Eigenschaft begrüßt er mich mit den Worten: »Ich höre, Sie sind mit einem Hindustan gekommen.« Ich nicke und stelle mich in einer kurzen Rede in Hindi vor. Er ist beeindruckt – und ich bin erleichtert. Schließlich ist Vertrauen das wichtigste Gut eines Botschafters.
Das Protokoll sieht vor, dass man nach diesem Zeremoniell den Amtssitz des Präsidenten verlässt und zurück zur Botschaft fährt. Ich aber habe mich entschlossen, eine Pressekonferenz mitten in Delhi zu geben. In der Mittagshitze stelle ich mich den Fragen der Journalistinnen und Journalisten, von denen einige auch dem Ambassador gelten. Der bringt nämlich seine eigene Botschaft mit: Wertschätzung für Indien und seine Menschen. Am nächsten Tag blicke ich mir aus allen großen Zeitungen entgegen. Im Hintergrund: Amby vor dem India Gate.
Die knallrote Ikone beginnt derweil ein Eigenleben. »Was macht denn unsere Amby?«, fragen die Delhi-wallas, die Einwohner der Stadt, wenn ich irgendwo zu Terminen unterwegs bin. Als die Pandemie beginnt, fährt Amby mit Mundschutz durch die Gegend. Weihnachten zieren Dutzende Luftballons die Christmas-Amby. Irgendwann bitten wir die Menschen, uns Bilder über die sozialen Netzwerke zu senden, wenn sie Amby auf den Straßen Indiens sehen. Dazu gibt es reichlich Gelegenheit, denn 90 Prozent meiner Termine in den dreieinhalb Jahren meines Botschafterdaseins absolviere ich mit ihr. Die schönsten Bilder werden mit einer Baby Amby – einem kleinen roten Souvenirauto – prämiert. Selbst bei den Reisen in weit entfernte Bundesstaaten scherzen die Offiziellen und fragen, ob ich denn mit Aunty Amby gekommen wäre, ob ich sie wohl nächstes Mal mitbringen würde, oder richten ihr Grüße aus. Bei jeder Veranstaltung in der Hauptstadt wissen Gastgeber und Medien umgehend, ob und wann der deutsche Botschafter da ist. Keine Amby, kein Botschafter. Manchmal geht der Hype sogar so weit, dass nicht ich, sondern die Ikone vermisst wird. »Nice to see you, Excellency, but where is Amby?«
Fahrid und Jerry, die sich anfangs ein wenig schämten, den Abgesandten der Autonation Deutschland trotz der Luxus-Limousinen im Fuhrpark mit einem kleinen indischen Auto umherzufahren, werden zu stolzen Repräsentanten, zu sehen in Zeitungen und TV-Clips. Im Kreise der Fahrer anderer Botschaften werden sie zu bewunderten Amby-Vertrauten. Selfies klicken, während der Wartezeiten trifft man sich an der Amby. Zufällig Vorbeikommende bleiben stehen. Es wird gestaunt, gefachsimpelt oder schlicht bewundert. Jeder hat eine Geschichte parat, erste Liebe, erstes Fahren, erster Ausflug. Auch deutsche Gäste fragen meist sofort nach Amby. Die Kanzlerin macht ein Foto mit ihr, Heiko Maas wagt sich mit Amby ins nächtliche Getümmel von Delhis Altstadt Chandni Chowk. Der damalige Entwicklungsminister Gerd Müller bittet mich, ihn mit seiner Frau Gertie in der Amby vom Flughafen abzuholen.
Und ich? Amby war mir stets viel mehr als nur ein liebenswerter Oldie. Erinnerung an das Indien meiner Jugend, Symbol für Bleibendes trotz gewaltiger Veränderungen, Kontrapunkt zu digitaler Schnelllebigkeit, vor allem: ein Stück indische Seele. Und die Inder fühlten: Das ist kein bloßer PR-Gag, das ist echt. Nicht selten war Aunty Amby Initiatorin für Gespräche, öffnete Herzen, schuf Nahbarkeit und versinnbildlichte den Wunsch: »Ich will euch verstehen.« Amby hat Deutschland viel Sympathie eingetragen – gerade auch in schwierigen Covid-Zeiten, in denen die Menschen Positives ersehnten. Sie wird stets Teil der deutsch-indischen Familie bleiben, ob im wilden Verkehr auf den Straßen Delhis oder beim Ausruhen auf dem Parkplatz der deutschen Botschaft.
Ein heißer Monsun-Tag im Juli 2021, Sonnenaufgang in Amritsar, der Hauptstadt des Bundesstaates Punjab, weltberühmt für seinen Goldenen Tempel, Harmandir Sahib, das höchste Heiligtum der Sikhs. Bereits um fünf Uhr morgens habe ich am täglichen Morgenritual im Zentrum des Goldenen Tempels teilgenommen, wenn das Heilige Buch der Sikhs auf einer goldenen Sänfte aus dem Akal-Takht-Palast in den Tempel gebracht wird, eine Prozession, die für jeden Sikh sakrosankt ist. Schon immer hatte ich dieses uralte Ritual sehen wollen – und es ist so mystisch und altehrwürdig, wie ich mir es vorgestellt hatte: Turbane, Bärte, goldene Säulen, Weihrauch, die Sonne, sich spiegelnd im künstlich angelegten See um den Gottestempel, heiliges Wasser. Noch in diesen Sinnesrausch eingetaucht, treffe ich die religiösen Führer der Sikhs und das Verwaltungskomitee des Tempels, besuche das traditionelle Langar eines jeden Sikh-Tempels, die Gemeinschaftsküche. Dort wird täglich für Tausende Pilger – ob Sikh oder nicht – eine kostenfreie Mahlzeit zubereitet. Es ist nicht einfach, mich nach mehreren Stunden von dieser magischen Stätte loszureißen, doch mich hat schließlich noch ein ganz anderer Grund nach Amritsar gebracht: die Geschichte Indiens und sein leidvoller Weg in die Unabhängigkeit.
Um mir einen breiten Eindruck zu verschaffen, welche Bedeutung die jüngere Geschichte des Landes auf die Gegenwart und das Heute der Menschen hat, habe ich mir drei vielsagende Orte in und um Amritsar ausgesucht: das Teilungs-Museum, den nur 28 Kilometer entfernten Grenzübergang zu Pakistan und den Park JallianwalaBagh, Ort des entsetzlichen Amritsar-Massakers vom April 1919.
Der Reihe nach. Immerhin habe ich mich eingelesen, bevor ich in das erst 2017 eröffnete Partition Museum trete. Da wird Geschichte dokumentiert, die uns trotz des Ausmaßes an Leid und Elend so nicht wirklich geläufig ist: britische Kolonialzeit, Unabhängigkeitsbewegung und die schmerzliche Teilung des indischen Subkontinents im Jahr 1947, die mit Umsiedlung und Vertreibung von bis zu 20 Millionen Menschen und Hunderttausenden Toten endete. Die Ausstellungsräume des Erdgeschosses sind dunkel, zeigen vor allem Verwaltungsdokumente, Kolonialdirektiven aus London, Bilder der britischen Kolonialverwalter. Texte, Statistiken und Karten bemühen sich zu fassen, was unfassbar ist. Je weiter und höher man in das Dunkel schreitet, umso unfassbarer die Fotografien. Gespenstisch überladene Personenzüge, Ochsenkarren mit allem Hab und Gut, Menschen, die sich barfuß durch Wüsten und über Geröll schleppen. Im ersten Stock versuchen nachgebaute Häuser und Gefängniszellen einen Eindruck zu vermitteln, welche Torturen die Entwurzelten zu gegenwärtigen hatten. Die allseits gefeierte Unabhängigkeit des Subkontinents von der britischen Herrschaft kam mit einem enormen Preis für die Menschen.
Die ausgemergelten Gesichter der Erschöpften, Verzweifelten, Sterbenden, Verlassenen, die Kinderaugen ohne jede Hoffnung erinnern mich sofort an Schreckensszenen in Europa, an die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen des Kontinents nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Hier sind es Menschen aus Punjab, Rajasthan oder Kaschmir. Der Zeitpunkt der Fotografien, so verraten es mir die Bildlegenden, ist fast identisch: einmal 1945, einmal 1947.
Wenige Schritte hinter einer Schulklasse begebe ich mich auf die Spuren eines bis heute sehr wirksamen Konflikts: die Teilung der ehemaligen britischen Kolonie in letztlich drei souveräne Staaten. Da ist das große Indien, überwiegend hinduistisch geprägt und doch ein multikultureller und religiöser, aber säkularer Vielvölkerstaat. Im Nordwesten und zunächst auch im Nordosten schließt sich seit 1947 Pakistan, eine islamische Republik, an. Es ist anfangs ein zweigeteiltes Land: Zwischen West- und Ostpakistan gibt es keine Landverbindung, dafür umso mehr politische, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede. Kein Wunder also, dass 1971 nach einem blutigen Krieg und weiteren Hunderttausenden Vertriebenen auch hier eine staatliche Teilung stattfindet, aus Ostpakistan wird das heutige Bangladesh.
Die Museumskuratorin will ihre Führung für mich fortsetzen, als einige Kinder, später die gesamte Klasse, nach Selfies fragen. Nicht alle Tage verirrt sich ein Botschafter in das Museum. Ich frage sie ein bisschen aus. Sie kommen aus dem hundert Kilometer entfernten Jalandhar, nehmen im Geschichtsunterricht gerade die Unabhängigkeit und Teilung Indiens durch, machen sich beflissen Notizen, und ja, viele ihrer Familien haben Verbindungen ins heutige Pakistan. Urgroßeltern, die von vollen Weizenfeldern und prachtvollen Obstgärten schwärmen. Von einer Teilung Deutschlands und ihrer Überwindung haben sie noch nie gehört, sind aber auch noch zu jung, siebente Klasse. Noch häufig werde ich während meiner Botschafterjahre in Indien Menschen treffen, aus denen beim Erzählen der Familiengeschichte heraussprudelt, dass ein Teil der Familie in Pakistan lebe oder ihre Vorfahren von dort kämen.
Nachdenklich geht mein Besuch zu Ende. Als ich vor den prächtigen Bau trete – das Museum ist in einem ehemaligen britischen Rathaus untergebracht –, erwartet mich die geschäftige, laute Stadt und bildet so einen unfreiwilligen Auftakt für eine ganz andere Wiederbelebung der Teilungsgeschichte: den Beginn des Aufbegehrens gegen die britische Kolonialherrschaft. Der Anfang vom Ende der britischen Kolonialherrschaft ist mit dem Park Jallianwala Bagh verbunden, keine fünf Minuten vom Goldenen Tempel entfernt. Ich lasse mich zur Gedenkstätte bringen, einem baumbestandenen Park mit Monument und Museum, der heute diesen Ort des Schreckens markiert. Am 13. April 1919 schossen Soldaten der britisch-indischen Armee auf Befehl von Brigadegeneral Reginald Dyer minutenlang auf 10 000 friedliche und unbewaffnete Sikhs, Hindus und Moslems, die sich auf diesem an drei Seiten von Mauern umgebenen Gelände versammelt hatten, um friedlich zu demonstrieren. Das brutale Massaker ließ über tausend Tote und Verletzte zurück, darunter viele Frauen und Kinder. Landesweit wurde daraufhin auch gewalttätig protestiert, Mahatma Gandhi rief zum zivilen Ungehorsam auf. Die Dynamik des Widerstandes gegen die Kolonialherren war nicht mehr zu stoppen. Das Verbrechen brach den Widerstand gegen die Kolonialmacht nicht, im Gegenteil, es stärkte ihn. Die zur Weltpersönlichkeit und Ikone aufgestiegene Figur Mahatma Gandhis und seine Politik des gewaltfreien zivilen Widerstandes machten klar, dass das »Kronjuwel des britischen Empires« – ein nicht unerheblicher Quell für den britischen Wohlstand im 20. Jahrhundert – nicht mehr zu halten war. Auch die zögerlich zugestandenen Reformen des Kolonialregimes vermochten das Blatt nicht mehr zu wenden. Dazu kam auch, dass Großbritannien durch den Zweiten Weltkrieg geschwächt war: Für seinen Sieg bezahlte es mit dem Verlust des Empires.
Spektakuläre Aktionen wie der Salzmarsch 1930 in Gujarat sorgten dafür, dass die Entlassung in die Unabhängigkeit danach nur noch eine Frage der Zeit war. Was zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit der Ostindiengesellschaft und der damit verbundenen gnadenlosen Ausbeutung des Landes und seiner Reduzierung auf den Status eines verarmten Rohstoffproduzenten begonnen hatte und im Jahre 1877 mit der Proklamation von Königin Victoria zur »Kaiserin von Indien« formalisiert wurde, endete 1947 mit der Entsendung von Lord Mountbatten als letztem britischen Vizekönig über Indien, dessen einzige Aufgabe es sein sollte, die möglichst rasche und für London reibungslose Überführung Indiens in die Unabhängigkeit sicherzustellen. Das aber misslang gründlich.
Die Interessen von über 500 nicht dem Kolonialregime unterstellten, weitgehend autonomen indischen Fürstenstaaten mussten dabei berücksichtigt werden, wollte man deren militärische Loyalität und tatkräftige Unterstützung im Zweiten Weltkrieg würdigen. Gegen Ende des Krieges zeigten sich in Indien mehr und mehr religiöse Spannungen zwischen Hindus und Muslimen, teilweise entluden sie sich gewalttätig. Erste größere religiöse Konflikte waren die Folge. Mehr und mehr setzte sich die Erkenntnis bei den Beteiligten durch, dass eine Aufspaltung des britischen Erbes in einen hinduistisch dominierten und einen muslimischen Teil unvermeidlich sei.
Das britische Unabhängigkeits- und Teilungsvorhaben, der sogenannte Mountbatten-Plan, bedurfte der Klärung einer entscheidenden Frage: Wie sollte der genaue Grenzverlauf zwischen den beiden zukünftigen Staaten aussehen? London betraute mit dieser über Millionen Schicksale entscheidenden Grenzziehung einen hochrangigen britischen Richter: Sir Cyril Radcliffe, Vorsitzender der indisch-pakistanischen Grenzkommission. Seiner Aufgabe, der hochsensiblen Aufteilung des Gebiets entlang religiöser Grenzen, musste er in großer Eile nachkommen. Darüber hinaus verfügte er nur über ungenaue Volkszählungsdaten und konnte aus Zeitgründen weder vor Ort präsent sein noch Betroffene anhören. London drängte: In sechs Wochen sollte er fertig sein. Entsprechend desaströs waren das Ergebnis, die Radcliffe-Linie, und seine Folgen: chaotischer Bevölkerungsaustausch, Pogrome, Massenvertreibungen, Gewaltausbrüche zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen, Vergewaltigungen und Entführungen. Besonders dramatisch war die Lage in Punjab, wo Sikhs, Muslime, Hindus und Angehörige anderer Religionen eine komplex integrierte Gesellschaft bildeten und jede staatliche Veränderung in gravierenden Verwerfungen resultierte.
Die Bilder des Teilungs-Museums, die ich vormittags gesehen habe, übertreiben nicht. Der indische Kampf um die Unabhängigkeit und Freiheit endete mit einem Erfolg. Einem bitteren Erfolg. Denn mit dem Unabhängigkeitstag am 15. August 1947 begannen Teilung, Massenflucht und ein bis heute unversöhnliches Verhältnis zwischen den beiden Nachbarstaaten. Ein Erbe der Kolonialherren mit langem Schatten – wahrlich kein Ruhmesblatt in der Geschichte Großbritanniens.
Um mir das heutige Verhältnis der beiden Nachbarn mit eigenen Augen anzusehen, fahre ich Richtung indisch-pakistanischer Grenze. Hier kann ich nicht allein und nahezu inkognito reisen, wie ich es sonst gern tue. Aus Sicherheitsgründen begleiten mich Grenzpolizei und andere Sicherheitskräfte. Es ist nicht weit: Mein Ziel ist Attari, etwa 25 Kilometer von Amritsar entfernt. Eine Straße, die zum einzigen Grenzübergang zwischen den jeweils Punjab genannten Verwaltungseinheiten in Indien und Pakistan führt, weder Bauern am Straßenrand noch Stände mit Erfrischungen. Dafür schwer bewaffnete Grenzpatrouillen und Radpanzer. Nur mit Genehmigungen aus Delhi und Amritsar kann ich als Botschafter eine solche Fahrt antreten.
Das indische Dorf Attari und sein pakistanisches Pendant Wagah – dazwischen ein kurzer Streifen Niemandsland – sind der eigentliche Grenzübergang, der allerdings für normale Reisende nicht oder nicht einfach zu passieren ist. Informationen zum jeweils aktuellen Grenzregime sind vage, ein Grenzübertritt bleibt ein Abenteuer. Einheimische Reisende oder ausländische Besucher kommen in der Regel aber ohnehin nicht wegen des Versuchs eines (fraglichen) Grenzübertrittes, sondern sie zieht ein weltweit einzigartiges Schauspiel an, das reichlich absurd anmutet: die Attari-Wagah-Grenzschließungszeremonie.
Als ich an diesem Abend mit eigenen Augen sehen will, wie hier die Vergangenheit mit großer Inbrunst reinszeniert wird, sind nur wenige Leute da. Es ist mitten in der Pandemie, zumindest auf indischer Seite gelten strenge Vorschriften.
Auf beiden Seiten der Grenze beginnt die Zeremonie an zwei von Zuschauertribünen gesäumten Plätzen zeitgleich. Am Grenztor stehen sich indische und pakistanische Soldaten unmittelbar gegenüber. Lange Kerls, hätte der Preußenkönig gesagt – hier sind endlich mal alle so groß wie ich. Während ich aber in der ersten Reihe der ansonsten vor allem von Angehörigen der Soldaten besuchten Tribüne sitze, bin ich in Gedanken zunächst noch beim eindrücklichen Gespräch mit dem Regionalchef der Police Border Mission. Er hat mir die Herausforderungen durch das Gelände geschildert, in dem seine Truppen den Schutz der 3300 Kilometer langen Grenze zum »Erzfeind« Pakistan und zu China wahrnehmen: Sümpfe in Gujarat, Urwälder in Himachal Pradesh, Gletscher in Ladakh und Kaschmir.
Derweil formieren sich die ausgesuchten Soldaten für eine Wachablösung der besonderen Art. Kunstvolle Turbane mit riesigen Wedeln, Parade-Uniformen und glänzende schwarze Stiefel zieren die Männer. Plötzlich stürmen die Soldaten der beiden Nationen schnaubend, stampfend und mit wild funkelnden Augen aufeinander zu. Wer lautere Kommandos ausstößt, wer martialischer auftritt, dem fliegt die Gunst des Publikums zu. Unschwer vorauszusagen, dass dies jeweils die eigenen Soldaten sind, denen im Sieg zugejubelt wird. Ihre Schnurrbärte sind akkurat gestutzt, manche gezwirbelt, sie sehen sich grimmig an. Dann recken sie die Fäuste in die Höhe und heben die Daumen, fast, als würden sie sich gegenseitig schlagen. Absätze knallen auf den Arenaboden, es klingt wie Gewehrschüsse. Gefährlich ist das hier nicht, sondern ein fein abgestimmtes Ritual, aber eben auch nur ein in ein Schauspiel gegossenes real existierendes Konfrontations-Szenario. Denn anderenorts entlang der Grenze ist dies immer wieder blutiger Ernst. Schließlich verfügen beide Nationen über große Armeen. Grenzkriege wurden bereits einige geführt. Nicht zu vergessen: Das weltweit höchstgelegene Schlachtfeld befindet sich ebenfalls im indisch-pakistanischen Grenzgebiet, der Siachen-Gletscher in Kaschmir auf 6400 Metern. Und besonders bedrohlich: Sowohl Pakistan als auch Indien sind Nuklearmächte.
Ich fühle mich an meine Zeit als Staatssekretär im Auswärtigen Amt erinnert. Damals war ich zu Konsultationen nach Pakistan gereist, hatte mit Politikern und Militärs in Islamabad gesprochen, mir die pakistanische Sicht auf den indischen Nachbarn angehört. Des Giganten jenseits der Grenze war man sich sehr bewusst. Und natürlich waren das eigene Geschichtsverständnis und die Sicht auf die gemeinsame Geschichte konträr zu den Erzählungen, die ich nun in Indien vernahm. Die Wagah-Zeremonie mag also skurril und bizarr sein, aber die Unversöhnlichkeit zwischen beiden Ländern, die sie darstellt, ist es nicht.