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Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den November 1998 in einen Roman verwandeln. Das Leben selber führt Regie.
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Meinem innig geliebten Onkel Hartmut zum 79. Geburtstag zugeeignet
Franziska (Kika) im Jahre 1998 in einem Fotomaton in Wien
Aus dem Leben einer Geigerin
Unser Leben währet 840 Monate und wenn es hoch kommt, so sind´s 960.
Monate, die sich im Nachhinein in schlanke bis vollschlanke Romane verwandeln.
Willst Du mich einen Monat lang begleiten?
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buch
Hier die Familie vorweg:
Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich (*1909)
Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des Vorhergehenden (*1910)
(Die Großeltern mütterlicherseits)
Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in Grebenstein (*1913)
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Lindalein, (*1973) unsere Kusine aus Amerika, die von 1997 bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte
Ein Buch ohne Vorwort.
Du kannst gleich anfangen zu lesen…
November 1998
Sonntag, 1. November
Montag, 2. November
Dienstag, 3. November
Mittwoch, 4. November
Donnerstag, 5. November
Freitag, 6. November
Samstag, 7. November
Sonntag, 8. November
Montag, 9. November
Dienstag, 10. November
Mittwoch, 11. November
Donnerstag, 12. November
Freitag, 13. November
Samstag , 14. November
Sonntag, 15. November
Montag, 16. November
Dienstag, 17. November
Dienstag, 18. November
Donnerstag, 19. November
Freitag, 20. November
Samstag, 21. November
Sonntag, 22. November
Montag, 23. November
Dienstag, 24. November
Mittwoch, 25. November
Donnerstag, 26. November
Freitag, 27. November
Samstag, 28. November
Sonntag, 29. November
Montag, 30. November
Personenverzeichnis
Stürmisch, windig und nieselig. Aber als ich Mittags in der Kirche übte, flutete die Sonne herein
Vorwissen:
In meiner bescheidenen Dachgebälkswohnung beherbergte ich einen ostfriesischen Jüngling, der ein Auslandsjahr in Süddeutschland absolvierte. Streng genommen war es jedoch kein Jahr, sondern nur eine Woche. Aber Süddeutschland befindet sich ja auch nicht im Ausland.
Iin der Morgenblässe tobte ein gischtiger Sturm wie in einer Autowaschanlage. Ich lag in meinem bleichen Nachtgewand im Bett, und sinnierte einem Traum hinterher:
Nachts in einem Eisenbahnabteil.
Mir gegenüber saß Buzens treuer Jünger Franz, und rang umständlich nach einer Antwort auf eine eher lose dahingepfefferte Frage meinerseits: „Und? Wie sehen deine Pläne aus?“
Er habe vor, demnächst Selbstmord zu verüben. Das, was er im Leben zu sagen hatte, sei gesagt, und Frau und Tochter habe er gut abgesichert, indem er schon vor vielen Jahren eine erweiterte Lebensversicherung eingegangen ist, die auch im Falle eines Suizides zahle.
Nachdem ich zuende sinniert hatte, erhob ich mich mühsam. Der kleine Tino war schon lange wach und hatte das Heldenbuch, das er bei sich führte, wieder von vorne begonnen, weil ihm hier vielleicht langsam langweilig wird.
„Ich hole uns ein paar Brötchen!“, rief ich unbeholfen.
„In Ordnung“, sagte der Lesende auf seine sanfte fleischlose Art.
Durch wüst vor sich hintobendes Gischtregenwetter trug ich meinen schönen Schirm, der mehrfach aus der Verankerung gerupft zu werden drohte, in die Bäckerei und wieder zurück.
Daheim deckte ich den Frühstückstisch und der Tino krümmte, grad so wie in den empörenden Geschichten von Rehlein und Mobbl, keinen Finger.
Nach dem Frühstück verließ er das Haus, um in der Musikhochschule in verschiedenen Unterrichtsklassen zu hospitieren, und am Wissen der Professoren zu nippen.
Ich selber blieb daheim und schaute mir im Televisor ein Ehedrama an. Anders als ein normaler Mensch, der den Tag gerne mit einem wohlverdienten Feierabend ausklingen lässt, läute ich wiederum den Tag gern mit einem (noch) unverdienten Feiermorgen ein.
Die Ehe eines vermögenden Geschäftsmanns mit einem simplen Blödchen (man verzeihe mir die Wortwahl!) war in die Brüche gegangen. Frisch geschieden, überglücklich und bereichert um 8,5 Millionen Mark verließ „meine zukünftige Exfrau“, wie das Blödchen von seinem Mann eben noch scherzend betitelt worden war, den Gerichtssaal.
Gleich daran anschmiegend knabberte ich das nächste Ehedrama an, das ich allerdings bereits gekannt habe: Dorneck gegen Dorneck. Es handelte von einem eifersüchtigen Ehemann mit aufgeschäumter Konzertpianistenfrisur. Einem Pudelkrönchen auf dem Haupt.
Ein fürchterliches Drama, das mit Schüssen im Gerichtssaal endete: Der Ehemann erschoss seine Frau und sich selber, bevor die Scheidung von berufenen Lippen ausgesprochen werden konnte, so daß man als rechtmäßiges Ehepaar Einlass an der Himmelspforte begehrte.
„Wie bitte?? Sie haben soeben Ihre Frau erschossen!“ zürnt Petrus. Doch das ist eine andere Geschichte.
Rührenderweise wurde ich auf die Sekunde pünktlich um 14.30 h zum Konzert nach Lauchringen abgeholt. Dem anvisierten Ort zur Huld hatte Buz das Auto mit jungem Gemüse, sprich, musikalischen Setzlingen gefüllt, um das höchstwahrscheinlich dünn gesäte und überalterte Publikum aufzufüllen und ein wenig zu verjüngern.
Der kleinen Tino auf der Rückbank war von zwei Damen umrahmt: Buzens neuer und lebhafter taiwanesischen Schülerin „Hanlin“, sowie der jungen Französin Marie-Hélène - erinnernd an einen verschüchterten und doch humorvollen kleinen Maulwurf, der ans Licht geführt werden soll. In ihrem Mäntelchen hatte sie sich ganz klein gemacht und schaute dennoch gnitz und erwartungsfroh hervor. Buz war lustig und vergnügt, da er sich im Kreise der jungen Leute so wohlfühlte.
Die Kirche von Lauchringen sah von außen enttäuschend aus: Ein wettergegerbter, schmuddeliger und plumper Betonklotz. Innen war es jedoch sehr hübsch und wohnzimmerlich gemütlich: Helles freundliches Kirchenmobilar - direkt vom Baumarkt!
Willkommengeheißen wurden wir von einer netten alten Dame und dem Geistlichen, Herrn Ihle. Ich war überrascht: Er, den ich am Telefon für einen gutmütigen älteren Herrn gehalten hatte, entpuppte sich als ganz junger Mensch mit roter, gemähter und flächendeckender Burschenfrisur, sowie einem farblich passenden ausufernd zierenden Schnauzbart, für den er eigentlich noch zu jung schien, so daß es im übertragenen Sinne ein bißchen so gewirkt hat, als habe ein Dreijähriger sich bereits mit einem Verdienstorden geschmückt. Ein sehr netter Herr, der mir später nach der Darbietung gar ein Sträußlein überreicht hat.
Dann begann das Konzert.
33 Hörfreudige waren erschienen, doch ganz genial wurde es leider nicht. Buzens Worte, daß ich kräftig, am Steg, obertonreich und vibrierend spielen solle, hatte ich noch im Ohr, und bemühte mich drum, seine guten Lehren umzusetzen.
Auch zum Publikum fand ich nicht den rechten Draht. Zwar wurde am Ende der Sätze applaudiert, doch wenn ich nach der Darbietung eines Werkes wiederkehrte und mich verbeugte, dann klatschte niemand mehr, so daß ich mich gedemütigt ins Leere verbeugen mußte. Man fühlt sich als Komiker, der vergebens auf eine erhoffte Lachsalve wartet.
Wenigstens war die C-Dur Fuge von Bach sehr gelungen, und dennoch konnte man keinen großen Triumph empfinden, da Buz sich eher gedämpft äußerte: „Schöön“, sagte er (mit zwei öös und ohne Ausrufungszeichen, so wie hier zu sehen).
Im Landgasthof „Zollhaus“ hielten wir eine Rast ab. Wir nahmen in der rustikalen Stube an einem Stammtisch Platz, und wurden immer vergnügter. Die jungen Leute inspirierten Buz durch ihre bloße Anwesenheit, so daß er seinen Liebesgram darüber stundenweise vergaß. Doch ob solch gesellige Zusammenkünfte nach Rehleins Gusto wären? Buz schleppte nämlich die Freizeit-Revue herbei, um uns unser Horoskop vorzulesen. Rehlein hätte dies als armselig empfunden, doch Buz ist ja ein einfacher Mensch.
Wir fuhren nach Trossingen zurück. An einer Stelle rief ich: „Nicht so hurtig!“ und dann erörterten wir, was „hurtig“ wohl auf chinesisch hieße: „Kuài“. Alles heißt immer bloß „kuai“ (schnell). Kann man im Chinesischen nicht zwischen hurtig, flott, ungestüm, rasend und geschwind differenzieren?
Ich erzählte, daß ich gelesen hätte, wie man in sieben Jahren Millionär wird: Zunächst solle man versuchen, ganz schnell 36 000 Mark zusammenzusparen, um ein Jahr lang sorglos leben zu können. Nicht mehr ausgehen, keine Autobahnraststätten besuchen, keine BILD-Zeitung mehr, und wenn man verreisen will nach einer kostenlosen Mitfahrgelegenheit Ausschau halten. Doch noch bevor die interessante Geschichte zuende erzählt worden war, fuhr Buz auf schnittige Weise in der Zeppelinstraße ein, wo es galt Hanlin und Marie-Hélène abzuliefern. Soeben lief eine sumo-kämpferische Gestalt durch die regenfeuchte, kalte Nacht. Der Fagottprofessor, bzw. natürlich Fagottopurofessa Kleinberg aus Japan war´s.
„Der Akio!“ rief die Hanlin wissend, da es sich bei dem hochdotierten Professor offenbar um einen Nachbarn handelt, mit dem man nun die nächsten Jahre verleben wird, so daß man bereits aufs kumpelige „Du“ geschaltet hatte. Wehmütig dachte ich darüber nach, daß die beiden Fräuleins sich nun am Beginn eines lebendigen und interessanten Studiums befinden, wo man jede Menge neue Leute kennenlernt, und mit hoher Wahrscheinlichkeit über kurz oder lang der Liebe seines Lebens begegnen wird; sei es in Form eines nochverehelichten oder aber frischgeschiedenen Professoren (=Chefarzts) oder eines Kommilitonen (=Patienten). Eine Variantensymphonie im Stile der Schwarzwaldklinik! Man selber nimmt in dieser übertragenen Gleichung die Rolle einer Krankenschwester ein.
Daheim bei mir warteten wir noch ab, bis der Tatort zuende aufgenommen war, damit wir endlich die „Lindenstraße“ anschauen könnten.
Beim Warten darauf scherzte ich, daß wir den Tino gar nicht mehr abgeben müssten, denn seine Mutti hatte keine Quittung verlangt. „Wir könnten behaupten, wir hätten ihn ihr abgekauft!“ sagte Buz, „und würden ihn hier als Diener aufstellen.“
Der Tino schaukelte unentwegt auf dem leicht knarzigen Schaukelstuhl, und Buz las Mings amüsanten Brief vor, worin zu lesen war, daß sich der Onkel Eberhard einfach in ein falsches Auto gesetzt hat:
Der Onkel hielt einen Stapel alter Bücher von unvorstellbarem Wert im Arm, und wartete auf den Abholdienst. Als er das vermeintliche Auto an der Ampel stehen sah, riss er den Kofferraum auf, schmiss die Bücher hinein, riss die Beifahrertüre auf, setzte sich hektisch auf den Beifahrersitz und musste beschämt feststellen, daß er in ein gänzlich fremdes Auto gestiegen war.
Endlich hatte der „Tatort“ ein Ende gefunden. Das Band spulte geräuschvoll zurück, und wir konnten mit dem Lindenstraßengenuss loslegen: Die Berta als Sprechstundenhilfe ist nun gezwungen, mit der ihr so verhassten Lisa, die ein Auge auf den Hajo (Bertas Lebensgefährten) geworfen hat, zusammenzuarbeiten.
Leider fühlt sich die arme Berta unverstanden und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Kein Mensch scheint sie zu verstehen, und der Hajo redet immer quer an ihr vorbei, so daß sie sich schließlich heulend ins Schlafzimmer eingeschloss.
Sonnig. Nur am Abend regnete es
In der Nacht litt ich wieder stark am Schreckensgespenst der postkonzertalen Depression: Sie mit ihren kalten, klammen Handschuhen griff nach mir. Ein Leiden, dem man hilflos ausgeliefert ist, wenn´s denn erst nach einem gegriffen hat. All die positiven Denkschablonen, die einem zu gesunden Zeiten so überzeugend erschienen waren, verwandeln sich in viel zu enge Kleidungsstücke, in die hineinzusteigen einem nicht mehr so recht gelingen will. Plötzlich erfasst einen eine namenlose, kalte Angst davor, daß man schon bald 36 Jahre alt ist. Es zeigt sich die Ziellinie im Leben, und was hat man erreicht? Nichts! Dann dachte ich an das Sträußlein, das ich in Buzens Kofferraum vergessen hatte, und fühlte mich als schäbiger, desorganisierter Mensch.
An einer Stelle, kurz vor meinem Bett, hat sich ein abscheulich anzusehender bräunlicher Pilzbefall in die Wand hineingefressen. Dann begann auch noch meine entzündete Ferse zu schmerzen.
Aber als ich mich am Morgen erhob, war das nächtliche Leiden wie weggeblasen. Geträumt hatte ich, daß Ming bei Herrn Kämmerling eine Lektion im Cembalospiel erhielt, und auf Art eines unwilligen Schülers ständig wüste Fratzen schnitt, wenn Herr Kämmerling mal kurz nicht hinschaute.
Schließlich erhob ich mich zum Tagesgeschehen.
Der Tino saß wieder die ganze Zeit im Schaukelstuhl und las zum Geknarze der Schaukelei in seinem Heldenbuch.
„Soll ich Brötchen holen?“ frage ich jeden Morgen, da sich unser Zusammenleben schon ein wenig eingependelt hat.
„Das mußt du wissen!“ sagte der kleine Tino, so wie einst unser Dienstmädchen Renette zu ihrer Brotherrin Rehlein zu sagen pflegte: „Das müssen Siej wissen!“ (plattdeutsch eingefärbt), wenn Rehlein frug: „Was wollen Sie denn heute im Haushalt bewerkstelligen, Fräulein Renette?“ Und so erzählte ich dem Tino rasch von der Renette, einem etwa 15 Jahre alten Fräulein, das von seinem Vater, einem robusten, fleißigen Herrn von praktischem Wesen, gerne als Dienstmädchen vermietet wurde. Dies geschah im Jahre 1976, als Kinderarbeit noch nicht so verpönt war wie heut.
Dann verließ ich das Haus, und blieb beklemmend lange aushäusig, dieweil mich das Dalton-Syndrom erfasst hatte, und sich immer noch etwas Anderes auf meinen Weg schob. Beispielsweise ein Besuch in der Volksbank.
Auf meinem Sparbuch befinden sich jetzt stolze 3100 Mark, doch es hat immer noch keine Zinsen getragen.
Tino und ich frühstückten heut mit Fernsehuntermalung. Wir schauten den Tatort „Engele, Engele, flieg!“ Die Geschichte handelte von einem zweieinhalbjährigen Mädchen, das aus dem Fenster fiel.
Hoch oben aus einem grauen Plattenbau in irgendeiner trostlosen Großstadt stürzte das noch so frische Lebenslicht aus einer armseligen Küche in die Tiefe. In der Wohnung lebte eine alleinerziehende Mutti mit ihrem 14-jährigen Sohn. Die größte, oder vielleicht sogar einzige Freude in ihrem Leben war der Fernseher.
Mittags kochte ich: Es gab Geschnetzeltes mit Brokkoli, Mandelplättchen und Spaghetti, und während ich noch kochte, ist der Tino von der Orchesterprobe der Schulmusiker heimgekehrt.
„Und? Wie wars?“
„Gar nicht schlecht. Die Leute haben gut zusammengespielt!“ meinte er fachkundig.
Leider tauchen in meiner armseligen kleinen Dachwohnung ständig neue Mängel auf, an die man zuvor gar nicht gedacht hätte: So wie in „Gunters Zimmer“1 hie und da der Vorhang abbröckelt, fällt auch beständig der Herddeckel herab, wenn man es grad nicht brauchen kann. Der dampfende Topf mit der mühsam zurechtgeschnippelten Mahlzeit droht dann quer durch´s Zimmer geschubbst zu werden und Unheil anzurichten.
Als Buz kam, lief im Mittagsmagazin soeben ein kleiner Report über die röllchenfrisurige Komponistin Sofia Gubaidulina, die in Japan einen Preis eingeheimst hat - wo doch die Japaner von Tuten und Blasen keine Ahnung haben - so zumindest denken die Russen über ihre japanischen Artgenossen. Aber künstlerisch wertvolle Pornofilme drehen - das können die Japaner fantastisch! „Man denke nur an die beiden Streifen: „Im Reich der Sinne“ und „Im Reich der Leidenschaft!“, brach ich eine Lanze für die japanische Kultur.
Ich erinnerte mich, wie ich einst mit Mobbln im Kino saß: Wir schauten „Im Reich der Leidenschaft“. (Packend und atmosphärisch von der ersten Sekunde an)
Zurück zum Mittagsmagazin und der preisgekrönten Komponistin. Sogar Gidon Kremer hatte sich für ihre Werke begeistert. Man sah und hörte ihn dabei, wie er einen langen Ton aushielt, während das Orchester ein geheimnisvolles Rascheln unterlegte. Es klang wie alle moderne Musik, so wie ja Mireilles Mutti angeblich ausschaut, wie alle deutschen Frauen. Dann gab die Tondichterin noch ein paar schwer zu deutende Worte von sich. Vielleicht sollte man es aber lieber anders formulieren: Worte, die sich auf die Schnelle nur mit Mühe deuten ließen. Irgendetwas mit vertikal und horizontal. (Leider in gänzlich unverständlichem deutsch)
Seiner Gewohnheit zur Huld ist Buz nach dem Essen losgezogen um Kuchen zu kaufen. Als er nach einer knappen viertel Stunde wieder zurückkehrte, schien er mir merkwürdig geläutert - solcherart, als sei er auf dieser kurzen Wegstrecke einem Heiligen begegnet.
Ich spülte das Geschirr, und Buz sagte so rührend, daß er doch auch gerne mal spülen wolle und stellte dienstbeflissen den Wok, der doch gerade fertiggeputzt war, auf den Herd zurück.
„Du hast doch schon so einen köstlichen Kuchen besorgt, du lieber Schatz! Noch nützlicher machen kann man sich doch gar nicht!“ sagte ich warm, da ich immer so außerordentlich nett zu Buzen bin, seitdem ich eigenohrig hatte mit anhören müssen, wie grob Tatjana P. mit ihrem alten Vater, dem berühmten Geiger Viktor Pikeisen umzuspringen pflegte.
Um 1987
In der städtischen Sparkasse einer schwäbischen Kleinstadt bereiteten sich Vater und Tochter auf einen Duoabend vor. Die Tochter am Klavier gab sich äußerst herrisch und dominant. Sie tobte herum wie eine unerbittliche Eislauftrainerin und schrie:
„Ритм!! Вы должны играть ритмично!!!“
Zu deutsch„Riiiiitmuss! Du musst riiitmisch spielen! Bang, bang, bang!!!“ (Furchterregend und streng)
Der Kuchen - je ein magisches Dreieck mit Äpfeln und gerösteten Mandelplättchen - mundete uns sehr.
Buz mußte schon bald wieder in die Hochschule aufbrechen, und ich war mit dem kleinen Tino wieder allein. Inzwischen ist er etwas aufgetaut, und ich habe mich an das Leben an seiner Seite gewöhnt. Um ihn bei Laune zu halten, legte ich ihm den Film „Wenn alle Deutschen schlafen“ ein. Eine Geschichte von Jurek Becker, der von seiner Kindheit erzählt, und der Tino war begeistert. Hie und da hörte man ihn laut auflachen.
Ich räumte Gunters Zimmer auf. Im Schrank fand ich die Hochzeitsbroschüre von der Margarethe und las sehr interessiert darin herum. „Was wir nicht schätzen“ – so las man - : „Kindergeschrei ab Mezzoforte, Brautentführungen...“
Ich joggte in einer sehr angenehmen Frische unter einem zart rosa und orangegefärbten, etwas müde wirkenden und doch freundlichem Herbstsonnenschein um den Gaugersee herum.
Den Abend verbrachten Buz und ich mit Buzens Studentin Britta im „Krug“. Wir sprachen über John Glenn (77), den ältesten Mann, der je ins All geschossen wurde.
Zu gesetzter Stunde betrat auch „die Ratte“, der Ovidiu die Gaststube. Er schaute sich suchend um, bevor er sich zu uns gesellte, um mit Buzen auf listig rumänische Art G´schäfterln auszuhandeln.
Buz war vom Wein sehr warmherzig gestimmt. Wir unternahmen noch einen Nachtspaziergang zum Gaugersee. Hie und da zeigte sich der Vollmond durch die fahrenden Wolkengebilde. Der alte Mond, der schon zu Mozarts Zeiten geschienen hat, wirkte heut zufrieden und verschmitzt.
Der kleine Tino war daheim geblieben war, weil er mit den Plaudereien der Erwachsenen nicht viel anzufangen versteht. Um viertel nach eins war er immer noch wach, und las in seinem Heldenbuch.
1 Noch immer heißt das Zimmer so, obwohl ich die Wohnung im Jahre 1991 übernommen habe, nachdem der Gunter nach Amerika auswanderte
Zunächst weiß bewölkt und nieselnd.
Dann wiederum herbst- und zärtlich
eingefärbt und beleuchtet
Ich träumte, daß ich die Tochter eines ganz anderen Ehepaars war.
Wegen eines Bagatelldelikts waren meine Eltern und ich je zu neun Monaten Knast ohne Bewährung verurteilt worden. Mutter und Tochter kamen in den Frauentrakt und der Vater in den Männertrakt, und einmal in der Woche durfte er uns besuchen. Stets ein Höhepunkt in unserem öden Knastleben, denn dadurch, daß man sich so selten sah, wurden sehr nette gesellige Beisammenseins draus, auch wenn sie immer nur zwanzig Minuten dauerten. Ansonsten wurde mir die Zeit im Knast (bis zum 21. Juni) doch sehr lang.
Allerdings leuchtete die Abendsonne zuweilen derart intensiv in orangegetöntem puren Gold durch ein großes Fenster, und ergoss sich auf die breite Holztreppe, die von den Zellen in den Speisesaal hinabführte. Auf dieses Naturschauspiel freute ich mich immer sehr. Auch bei Regen und Sturm zeigte sich die Sonne jeden Tag ganz kurz: Immer dann, wenn ich die knarzeligen Stufen hinablief. Es war, als habe sie nur auf mich gewartet und wolle mir kurz zuzwinkern.
Schließlich erhob ich mich zum Tagesgeschehen. Der Tino saß wie alle Tage bereits am Tisch und las.
Gestern hatte in Trossingen ein so wunderschönes Wetter geherrscht, daß ich richtig glücklich war, hier gelandet zu sein. Doch heut war´s wieder trüb und nieselig.
Auf dem Wege zur Hochschule traf ich die abgehalfterte Exe von Herrn Wachtenberg. Eine putzige kleine Frau, wie dir Oma sagen würde. In den Sommerferien sei ein Klavierlehrer in den Bergen tödlich verunfallt, und nun hatte sie sich bereit erklärt, dessen Schülerschar zu übernehmen. Da standen wir und plauderten ein wenig. Man verspricht einander, gelegentlich mal anzurufen, und stiebt wieder auseinander. Frägt sich nur, wie lange man sich im Kopf des Weiterstrebenden noch hält, bevor man sich nach Art einer Wolke wieder auflöst.
Mittags fuhren wir ab. Die Fahrt nach Kassel verlief angenehm zügig. Das Wetter lichtete sich schön herbstlich auf, so, als wolle es immer dort schön sein, wo ich gerade bin. Wir hörten unser Tripelkonzert von Beethoven - vor rund vier Jahren in Westerstede aufgeführt - und ich war richtig erschrocken, wie pampig und quadratisch das Orchester unter der Stabführung eines Ulrich W. klang. Der Roman, unser Cellist, bemühte sich die ganze Zeit um große Genialität, doch stellenweise klang es nach einem Wunderkind, dem ein allzu schwieriges Werk aufgebürdet worden war. Gottlob spielten Ming & ich ganz toll.
Ferner hörten wir aus dem Münchner Herkulessaal einen jungen Pianisten, der so ernst klang. Er spielte eine Rachmaninoff-Sonate, die sich durch mein Ohr sehr „durchgenommen“ anhörte: die Nuancen schienen mir „von fremder Hand“ angepappt, und nicht dem Inneren des Pianisten entsprossen. Dann hat er noch eine lustige Buggi-Wuggi-Etüde draufgegeben, auf daß das Publikum Kopf stünde, doch auch dies in fremden und gläsernen Farben. Bald schon dämmerte es draußen auf zauberische Weise und ich sagte: „So wie es nach einem langen Tag schließlich dunkel wird, so wird man nach einem langen Leben schließlich alt.“ Und dies stimmte: Es dämmerte, und kein Mensch konnte die Dunkelheit mehr aufhalten, auch wenn es einem währenddessen so schien, als würde es für den Moment immer gleich ausschauen.
Als es dunkel war, machten wir eine kurze Wanderung an Buzens Lieblingsstelle, dem hohen Dörnberg. Der Vollmond leuchtete intensiv durch scherenschnittartiges Geäst, und mir war zumute, als sei man in ein altes Märchenbuch hineingestiegen, weil man viel zu intensiv gelesen, und die Realität hinter sich gelassen hat.
Bald darauf klingelten wir bei der Oma. Gleich zwei Damen öffneten uns die Tür: die Reinmachefee Frau Reimich, die sehr emsig im Bad beschäftigt war, und sich ihrem niederen Berufsstand zufolge gleich mit „Ella“ vorstellte. Ferner Frau Cionczyk, die Dame, die im Hause gegenüber lebt. 79 Jahre alt, und somit bereits im Gnadenalter steckend.
Die Oma war sehr nervös, und zunächst gab es anstrengende Wortschlachten drum, wer denn nun wo zu nächtigen plane. Buzen zog es ins Hotel, weil er wahrscheinlich unter sich bleiben wollte. Ich bereitete uns ein Abendessen zu, während der kleine Tino nur stumm am Tische saß. Über den Teller, auf den ich den Schinken gebeigt hatte, sagte die Oma mürrisch: „Hör mal Mädchen, warum hast du denn jetzt diesen Teller genommen?“ und wenn ich kurz den Raum verließ, hieß es: „Wo geht es denn jetzt wieder hin, das Mädchen?...biddö?“
Der Tino blieb einmal so lange auf dem Klo verschollen, daß wir uns schon wunderten. Aber als ich nach ihm schaute, hatte er sich ins Bett gelegt und war eingeschlafen.
Die Oma wurde wieder ganz süß. Buz und Oma schmiedeten Pläne, wie es mit mir weitergehen solle, und wurden sehr vergnügt bei der Idee, ich könne zum Onkel Eberhard nach Berlin ziehen, um in Hartmuts Zimmer zu residieren. Als Buz sich anschickte, das Haus zu verlassen, um sich einen gemütlichen Abend mit Wein und Illustrierten im Hotel zu gönnen, sagte die Oma: „Jetzt drück mich nochmal ganz fest!“ und als sie sich noch für´s Bett schick machte, sagte sie: „Und nachher gibst du mir die vielen Küsse, die ich so nötig habe!“
Beim Bettbrung sagte die Oma ganz oft zu mir: „Ich hab dich soooo lieb!“ und war sehr anschmiegsam.
Doch dann war Omas Wecker abgängig. Er hatte sich in Luft aufgelöst. Vergebens suchten wir daran herum, und die Oma rief befehlend, fast ein wenig feldwebelig: „Kuck doch mal genau!“
Nieselnd – dazwischen jedoch zuweilen zauberisch aufgelichtet
Wunderbat auf dem von Buzen so liebevoll zubereiteten Bett in Omas Wohnzimmer genächtigt. Am Morgen meines 36. Geburtstags war der kleine Tino der erste Gratulant. Buz, der in der Pension Winter genächtigt hatte, schellte an der Tür, vergaß allerdings zu gratulieren. Weniger deshalb, weil er nicht daran gedacht hatte, als vielmehr, weil er es nicht so eng sieht, den Wievielten wir wohl heut haben. Dann hat er den kleinen Tino gleich auf einen Spaziergang auf den Burgberg entführt, da das Frühstück noch nicht hergerichtet war.
Die Oma war leider wieder sehr schlecht gelaunt. Auf grämliche Weise kommandierte sie mich herum.
„Gott ach Gott! Liegt ES denn noch im Bett??“ verdächtigte sie mich unverhohlen fehl.
„Wo ist denn der Junge?“...
„Biddö!“...
„Sieh mal zu, daß du den Tisch gescheit herrichtest!“...
„Mach mal zu, Mädchen!“ und auch die Oma vergaß ganz, daß ich Geburtstag hatte.