Der fünfte Teller - Franziska König - E-Book

Der fünfte Teller E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist dazu eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebenswege zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Juli 2003 in eine Symphonie verwandeln sollten. Der Alltag selber diktiert die Handlung.

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Meinem liebsten Ming gewidmet

Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.

„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.

Drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.

Erzählt werden Geschichten aus dem wahren Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.

Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches

Hier die Familie vorweg:

Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in TrossingenRehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Ein Buch ohne Vorwort. Sie können gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

Juli 2003

Dienstag, 1. Juli

Mittwoch, 2. Juli

Donnerstag, 3. Juli

Freitag, 4. Juli

Samstag, 5. Juli

Sonntag, 6. Juli

Montag, 7. Juli

Dienstag, 8. Juli

Mittwoch, 9. Juli

Donnerstag, 10. Juli

Freitag, 11. Juli

Samstag, 12. Juli

Sonntag, 13. Juli

Montag, 14. Juli

Dienstag, 15. Juli

Mittwoch, 16. Juli

Donnerstag, 17. Juli

Freitag, 18. Juli

Samstag, 19. Juli

Sonntag, 20. Juli

Montag, 21. Juli

Dienstag, 22. Juli

Mittwoch, 23. Juli

Donnerstag, 24. Juli

Freitag, 25. Juli

Samstag, 26. Juli

Sonntag, 27. Juli

Montag, 28. Juli

Dienstag, 29. Juli

Mittwoch, 30. Juli

Donnerstag, 31. Juli

Personenverzeichnis

Juli 2003

Dienstag, 1. Juli Ofenbach/ Niederösterreich

Sehr heiß und schön sonnig, doch hin und wieder wurde die Sonne von einem Wolkenstaubwedel hinweggewischt. Am Abend regnete es

Beim Einschlafen mußte ich über die Feindschaftspflege im Alter nachdenken.

Lustvoll begibt sich der Alternde in einen Zirkulus Diaboli aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Beständig sucht man nach Untermauerungen seines Dauergrolls.

Und während ich noch darüber nachdachte, wurde ich dem Irdischen in einen Traum entsogen: Beim Planschen im Meer bildete sich vor meinen Augen überraschend ein riesiger Tsunami.

Schließlich hatte ich mich aber doch auf die Füße gewuchtet. Ich wollte Ming eine Freude bereiten, und deckte den Frühstückstisch auf der Terrasse schön wie in einem Pfarrhaus am Sonntag. Sogar die Milch schäumte ich kunstvoll auf, so wie Ming sie in seinem Morgenkaffee liebt.

Nach einer Weile saßen wir auf Art eines älteren Ehepaares am Tisch. Ming war mit den Gedanken ganz woanders, und sagte allenfalls gelegentlich und einsilbig: „M-hm“, so daß man hätte meinen können, die Erbmasse von unserem Onkel Eberhard bräche sich Bahn.

„Ich finde Männer so langweilig!“ maulte ich, „man weiß gar nicht, was man mit ihnen so reden soll. Welch Glück, daß ich nicht verheiratet bin.“

Dies sagte ich, obwohl ich doch in den Fantasien meiner Tante Bea stocksauer und sehr verbittert bin, daß ich sitzengeblieben und keinen vernünftigen Mann abbekommen habe.

Versuche ich dem Beätchen zu erklären, daß ich im Alter keinen alten Tatterich am Bein haben möchte, so denkt die Bea: „Da machtse sich was vor!“ Und da sie von diesem Gedanken nicht abrücken möchte, habe ich mich nun damit abgefunden und versuche mich somit beätchenkonform zu fühlen wie eine verbitterte Sitzengebliebene.

Tatsächlich hätte ich im Leben einige wenige Chancen auf ein Normglück gehabt: Thomas, Gustavo, Xie, Herrn Heike? Mit ein wenig Glück sogar den ein oder anderen Professor der Musikhochschule, dem ich damals in jungen Jahren nicht ganz gleichgültig war, und bei dem man nur hätte beherzt zugreifen müssen – doch mir ging´s wie der Prinzessin in der Geschichte vom König Drosselbart. Keiner schien mir auf Dauer tauglich.

Nach dem Essen machten wir es uns auf der Terrasse gemütlich. Ming las das Buch über jenen, der über das Kuckucksnest flog weiter, und es fehlten ihm bloß mehr 15 Seiten. Man liest, und sieht die Ziellinie vor sich.

Ich bat Ming, mir auf englisch vorzulesen, und einmal sprach es aus mir, und ich machte eine leicht spöttisch klingende Bemerkung darüber, daß es so akzentvoll klänge, als würde Buz mit der Swetlana telefonieren.

Das war gewiss nicht so nett von mir, da Ming davon leicht einschnappte. Ming meinte gar, bei mir und bei Buz und Rehlein würde man sich ständig fühlen wie ein Prüfling, der sich hätte besser vorbereiten sollen.

Wieder hatte ich die Situation ungenügend – nämlich überhaupt nicht - von der Seite des Betrachteten aus betrachtet.

Doch als Ming dann etwas öliger im Klange, sprich, mehr Mut zur Lächerlichkeit las, überzeugte es mich schon mehr.

Da erst wurde mir klar, daß solch harsche Kritik letztendlich doch auch etwas Gutes bewirkt. Riefe man Gidon Kremer an und sagte: „Was spielen Sie denn immer so artifiziell, unnatürlich verfeinert und überinterpretiert?“ So würde er hocherbost den Hörer aufklatschen. („Hat Sie jemand um Ihre Meinung gebeten?!?“) Doch am nächsten Abend würde er anders spielen.

Wir verstanden uns wieder gut, und ich erzählte Ming, wie die meisten Deutschen sich gekränkt fühlen, wenn man die Qualität ihrer amerikanischen Aussprache in Zweifel zieht.

Dann las ich in Mings Aura die „Glücksformel“ und geriet über den Text hinweg ins Plappern.

„Wenn ich dieses Buch endlich zuende gelesen habe, so bekommt´s der Herwig geschenkt!“ rief ich aus, und sann bereits darüber nach, was auf dem Brieflein stehen würde, das ich dem Geschenk beifügen würde:

„Lieber Herwig! Ich habe im Leben sehr viel über Dich nachgedacht. Vieles, was ich gedacht habe war falsch, manches gar überflüssig – doch jetzt könnte ich mir vorstellen, daß Du nach der Lektüre sagen würdest: „In meinem Leben ist zwar alles blöd gelaufen, aber ich bin glücklich!“ – Ein Hans-im-Glück-Gefühl wünsche ich Dir. Erst wenn man sich von all dem irdischen Ballast und seinen eigenen Spinnereien befreit hat, kann man glücklich werden!“

Doch das stimmt nicht….sann ich weiter: Das Glück fußt auf vier Säulen, von denen eine unsichtbar ist: „Gesundheit“. Wenn man nicht darüber nachdenken muß, bleibt Unzufriedenheit über die Finanzen, sein Äußeres, die Mitmenschen, die künstlerische Durststrecke, die hinter einem liegt, und die künstlerische Kahlfläche, die vor einem liegt. Um dauerhaft glücklich zu werden – sprich, nicht nur minutenweise, wie in manch einem Schlager besungen – sollte man sein Hirn auf die Größe einer Rosine schrumpfen lassen.

Zu diesem Zwecke lege man sich kopfbedeckungsfrei in die pralle Mittagssonne….“

Ich hatte gar nicht bemerkt, daß ich die ganze Zeit laut gedacht hatte, aber einmal schäumte der lesende Ming kurz auf, weil ich ihm dauernd dazwischenredete, so daß er mit seinem Buch womöglich niemals fertig wird?

„Daß man für 15 Seiten zwei Stunden braucht, ist mir noch nie untergekommen!“ sagte er im Stile vom Herwig.

Heut übte ich sehr fleißig auf meiner Violine. Ich heftete eine 45 minütige Schulstunde an die andere, und Mittags schaute ich „Vera“, obgleich es mir, wenn Ming da ist, kein übermäßiger Genuß ist:

Eine Frau, die gestern dreißig geworden war, und somit in einem neuen, deutlich unfrischeren Lebensabschnitt stak als noch vorgestern, litt darunter, daß ihr zehnjähriger Sohn in die Jugendpsychiatrie eingeliefert worden war. Er war gewalttätig und aggressiv geworden, und die Frau tat mir so leid, da es kaum etwas Schlimmeres gibt, als Problemkinder.

Außerdem hatte sich ihre Oberlippe selbstständig gemacht, und bewegte sich neurosenbedingt immer ganz von alleine und gegen ihren Willen.

Ming und ich kochten. Es gab Maiskolben und eine köstliche warme Zwiebel-Tomatenspeise.

Vor dem Badezimmer entdeckte ich einen kleinen Zwerggrashüpfer, und versuchte ihn zu retten, bevor jemand drauftappt. Doch mitten im Rettungsvorgang starb der kleine Grashüpfer an Altersschwäche. Ein bewegender, bestürzender Moment!

Der lesefreudige Ming las jetzt Tom Sawyer auf englisch, und währenddessen hörte man in den Nachrichten, daß das Wetter wieder kalt und regnerisch zu werden droht. Außerdem sah man einen Videoklip, den der Menschenfresser Armin Meiwes aus Rotenburg nach einem gemeinsamen Segelausflug für seine Freunde gedreht hat. Er sprach rührend warm: „…hat mir so viel Freude bereitet!“ und zum Schluß sagte er freundlich: „Euer Armin!“

„Schade, daß der Armin so entgleist ist!“ sagte ich wertungsfrei wie die Omi.

Abends sehnte ich mich nach der Omi, und rief sie an. Die Omi meinte, es ginge mit ihr bergab. Sie sitzt jetzt da, und wartet auf den Sensemann.

Noch vor wenigen Worten hätte sie bei seinem Erscheinen gesagt: „Liebes Herr Todchen! Noch einige drei Tage!“ Doch heut würde sie sagen: „Da bist du ja endlich! Das hat aber gedauert. Heiliger Strohsack!“

Rehlein am Telefon berichtete, daß das Beätchen wegen meinem Brief neulich so böse gewesen sei. ‚Ich hätte mich da rauszuhalten, und es sei unverschämt!‘ habe die Bea Rehlein als Mutter höchst unschön begackert. Davon fühlte ich mich seelisch in die Tiefe gesogen und auch beim Duschen mußte ich pausenlos darüber nachdenken. Ich hatte schlicht vergessen, daß die Erwachsenen es hassen, kritisiert zu werden, weil ich stattdessen fehlgedacht hatte, sie würden in sich gehen und sich bessern.

Doch da kennt man die Erwachsenen schlecht…

Abends regnete es los, und bei Dunkelheit mußten wir die Wäsche retten.

Bei den Vitzthums habe ich mich noch immer nicht gemeldet, weil ich ja abends immer dichten muß. Nicht selten geht der ganze Abend für die Dichterei ins Tagebuch drauf.

Mittwoch, 2. Juli

Wundersamerweise meistens schön

In der Nacht träumte ich depressionsschürend und anstrengend in einem:

Für den „Musikalischen Sommer“ war blitzschnell vereinbart worden, das Ravel Trio aufs Programm zu setzen. Sebastian Hess, ein renommierter Cellist aus Bayern, hatte gelobt, die Noten vorbeizubringen, und von allen Seiten her hieß es streng und scharf, ich müsse unbedingt zuhause bleiben, um die Noten nicht zu verpassen. Doch der Sebastian kam nicht – auch wenn ich noch so herbeisaugend auf die wie gefegt wirkende Graf-Enno Straße schaute, und den Kopf bis zur Schmerzesgrenze Richtung Horizont bog.

Im frühen Morgengrauen schlich ich durch die Wohnung, und das Wetter, an dem wir bislang so viel Freude hatten, sah trübe und verquollen aus. Grünlich, häßlich und unfreundlich, die Wolken euterprall mit grauem Regenwasser vollgesogen, so als wolle uns Mobbl im Jenseits bedeuten: „Ihr trauert ja überhaupt nicht um mich! Ist doch alles nur Geschwätz!“

Ich nahm mir vor, mich bei der Frühstückszubereitung so anzufühlen, als sei Ming der neue Geistliche, und ich seine neue Haushälterin, die sich noch bewähren muß, bevor sie sich wie eine Ehefrau fühlen darf.

Mir fiel eine Eigenschaft vom Beätchen ein:

Die Neigung, jemanden unschön vor den Kopf zu stoßen.

Dann wiederum mußte ich dran denken, daß ich es so nett fand, daß das Beätchen im Jahre 1999 mal mein Glück in die Hand genommen hat, als sie einfach frisch von der Leber weg zu mir und dem Arthur sagte: „Warum heiratet ihr eigentlich nicht?“

Ich fand das damals sehr nett und aufmerksam, zumal man zu einem solch bedeutsamen und zukunftsweisenden Ratschlag viel Mut bündeln muß. Doch eine hochneurotische Frau wie beispielsweise das böse Uschilein hätte an meiner Statt womöglich ausgerufen: „Da hast du dich rauszuhalten!“

Jetzt frühstückte ich mit Ming.

Ming - zwar gutmütig gestimmt - verdächtigte mich, statt des Kathreiners echten Kaffee genommen zu haben, und hinzu einen, den man doch hätte filtern müssen, und beklagte, daß die Tasse davon einen ganz schwarzen Innenrand bekommen hatte.

Um zwölf Uhr schaltete ich gewohnheitsmäßig „Vera“ ein:

Eine burschikose junge Frau mit multikolorierter Bürstenfrisur sagte einem schlappen Typen die Meinung. Einem weibischen Menschen mit ganz toten Augen. Es handelte sich offenbar um einen Nichtsnutz und Schnorrer, der sich durchfüttern ließ, und hinzu schlecht über seine Gastgeberin sprach, auf die er heimlich ein Kopfgeld von hundert Euro angesetzt hatte.

Der „Angeklagte“, der rhetorisch leider nicht so begabt schien, wurde nun von links und rechts von zwei aufgebrachten Frauen befaucht und verbal behackt.

Zum Kochen (Reis mit Lauch und Zucchini im Wok) schauten wir „Britt“, wo ein erbitterter Zwist ausgefochten wurde. Zwei Töchter stritten auf ihre Mutti ein, und solcherlei Zwistverzwirbelungen lassen sich tatsächlich nur lösen, wenn man einander das Hirn auspustet.

Ming lag im Garten in der Sonne, und ich beplapperte ihn damit, wie das wohl wäre, wenn er plötzlich spürt, daß ihm etwas über den Rücken kriecht. Und wenn er sich umdreht um nachzuschauen, sieht er eine grüne Mamba, die es sich nun auf seinem Rücken bis auf weiteres gemütlich macht.

Etwas, das einem Ehepaar aus Erkelenz tatsächlich widerfahren ist, auch wenn es bei denen bloß ein Phyton war, der abends einfach ins Wohnzimmer kroch.

Nachmittags brach ich zum Einkaufen auf. Ming mähte den Rasen und rief mir zu, daß ich hundert Deka Prosciutto mitbringen möge. Doch dies wäre ja ein Kilogramm gewesen.

An der Fleischtheke bemühte ich mich sehr, österreichisch und einheimisch zu klingen, doch es gelang mir nicht. Das Klassenzimmersyndrom vor mir selber←hahaha!

Dann kaufte ich mir ein interessantes Eis der Firma „Cremissimo“: Eis-Patisserie! Dies tat ich, dieweil man heut morgen mit einer Ärgerlichkeit konfrontiert worden war: Ming hatte gestern vergessen, das Eis in den Kühlschrank zu stellen, so daß bloß mehr eine klebrige und süße Suppe im Plastikbehälter schwamm.

In „Hallo Deutschland“ gab´s etwas Unterhaltsames zu sehen: Die geheimen Staatsakten über die „Affäre Friedman mit Prostituierten aus Osteuropa“ wurden irrtümlich einem schlichten Pizzabäcker zugefaxt, und die Erzählstimme frug launig: „Wer war das? Eine schusselige Staatsanwältin? Ein Intrigant? Ein Antisemit?“

Abends riefen wir den Onkel Andi an, der heut seinen 54. Geburtstag feiert, und erfuhren, daß die Lisel derzeit in Amerika sei, dieweil ihnen der Storch am 22. Juni einen ersten Urenkel beschert hat. Doch Uropi Andi hatte vergessen wie er heißt.

Einmal entspannte ich den gelben Sonnenschirm im Garten so ungeschickt, und Mings sanft tadelnd hinterfragende Art treibt mich oftmals auf die Palme, so daß ich sehr an mich halten mußte, die Vorsätze aus der Glücksformel – nicht immer gleich Gegengift zu spritzen – durchzuhalten. Doch mir gelang´s! Ich versetzte mich in Ming hinein, und spürte den Tadel aus seiner Sicht nach.

Und Ming hatte Recht: Erst denken, dann handeln!

Heute joggte ich allein. Ich rannte bis nach Schleinz, dieweil Ming dafür so emsig im Garten geschuftet hatte, daß der frischgemähte Rasen wie die Frisur eines Herrn nach einem Frisörbesuch ausgeschaut hat.

Wieder daheim rief ich die Vitzthums an.

Der Georg klang müde und erfreut in einem, und wir verabredeten uns für viertel nach neun zu einem Umtrunk.

Zuerst spielte ich mit Ming noch den ersten Satz vom Milhaud-Trio, einem Werk, das Ming im Sommer mit zwei weitgereisten Interpreten (Sharon aus den USA, und Dodik aus Rußland) spielt, und gab mir große Mühe, initiativ, lustig und peppig zu spielen. Hernach spielten wir Simchas Torah aus Baal Shem, einem - wie ich finde - nur pseudogenialen Werk. Ming wollte die Triolen etwas klebriger und trioliger haben, und als ich´s machte, freute sich Ming, da man den klagenden Unterton auf diese Weise deutlich besser zur Geltung bringen konnte.

Da Ming immer so viel vor hat, war ich heut allein bei den Vitzthums.

Wir saßen im Garten, und ich erfuhr, daß der 83-jährige Vati von Frau Vitzthum nach seiner Beinamputation immer noch Lebenslust hat, dieweil er so gerne Krimis liest, und aus der Spannung, wer wohl der Mörder sein mag, eine gewisse Lebensfreude schöpft. Aber vielleicht auch daraus, daß Andere noch ärger dran sind als er, indem sie nämlich ermordet wurden.

Mit ihrer Tochter Marion haben sich die Eheleute noch nicht wieder angewärmt, obwohl die Marion die verhängnisvolle Affäre mit ihrem Freund beendet habe. Der Freund beharrte auf aufdringlichste Weise darauf, daß die Vitzthums 781 €uro Gerichtskosten auf sich nehmen, und drohte, im Verweigerungsfalle Rundbriefe zu verteilen. Zunächst in der Kalgasse, und später im ganzen Ort. Dort würden bedrohliche Einzelheiten solcherart zu lesen stehen: „G.V., der in Wirklichkeit Vladimir Schnjebakow heißt, und dessen Eltern Kommunisten sind…“

*Unter dem Einfluß ihres Freundes und einer Psychosekte stehend hatte die Marion einen unbescholtenen Herrn aus Herrn Vitzthums Kollegenkreis der Unzucht mit Minderjährigen bezichtet.

Der Vitzthum schmunzelte über diesen Unsinn, der nicht mehr ernst zu nehmen sei.

Allgemein rechnet man jedoch kaum damit, daß sich die Marion an Muttis Geburtstag meldet, und die Hand zur Versöhnung ausfährt.

Ich erzählte vom verschwundenen Ehemann meiner Großkusine in Amerika, und naschte dazu viel zu viele Salzmandeln: Am Abend nach der Eheschließung wollte er kurz mal Zigaretten holen und kehrte nicht wieder. „Wie in einem schlechten Roman“, fügte ich scherzend hinzu.

Dann lief ich durch die wunderschöne warme Sternennacht über den Kalgassenbuckel hinweg, und dachte mir Opa & Mobbl dazu, damit ich mich nicht so einsam fühle.

Donnerstag, 3. Juli

Manchmal schön sonnig, und doch regnete es mindestens dreimal von vorne los

Eine Sache nagte sehr in mir:

Daß Herr Prusch für sein nettes Päckchen und die große Freude, die er mir damit gemacht hat, noch immer keinen Dank erhalten hat.

Im Spiegel sah ich leider häßlich aus. Der gestrige Umtrunk bei Vitzthums schien sich in mein Gesicht gebrannt zu haben. Aus dem Spiegel schaute mich eine verkommene Säuferin mit ganz verschwollenen Schweinsäuglein an. Einen Anblick, den ich durch ein Lächeln zu verhübschen suchte – vergebens! Mehr noch: Beim ungelenken Versuch, durch hascherlshafte Grimassierungen gewaltsam etwas besser auszusehen, fühlte ich mich wie ein Interpret, der ein Werk Beethoven zu einem artifiziellen Klangklumpen verkommen und auftönen lässt, der dem Meister die Haare zu Berge stehen ließe.

Zum Frühstück schauten Ming und ich einen wunderbaren japanischen Film von Akira Kurosawa: „Nach dem Regen“. Wir waren begeistert! Wie bei jedem Kunstwerk lernte man ständig dazu:

Über eine wüst keifende Frau („Jemand hat mir meinen Reis gestohlen!!“) wurde allgemein gedacht, daß sie ganz unglücklich sei, und es viel besser wäre, wenn alle freundlich zu ihr seien. Ein Herr trat auf die Zeternde zu und sagte freundlich: „Ich entschuldige mich für diesen Jemanden!“

Eine Thematik, die mich heute den ganzen Tag begleitete. Der Gedanke, daß die Feinde, die einem das Leben zur Hölle machen, zutiefst unglückliche Menschen sind, hilft bei der Suche nach dem Glück enorm, denn angesichts dieser bedauernswerten Kreaturen im Morast des Unglücks, ist jedweder Groll zum Zerbröseln verurteilt.

Zur Zeit liegen - sechs angestrickten Strümpfen nicht unähnelnd - sechs begonnene Briefe hier herum. Doch bei meinen Ausloseleien kam kein einziges Mal „Briefschreiben“ dran. Schade, denn in diesem zwischenmenschlichen Austausch ist immer ein Launenaufschwung für mich versteckt.

Mein Brief ans Lindalein ist sehr humorvoll, doch er liegt hier herum, die Linda bekommt ihn nicht, und man entfernt sich im übertragenen Sinne mit Lichtgeschwindigkeit vom Lindalein.

Beim Üben wird zur Zeit oftmals das Konflikt-Doc mit dem Beätchen in meinem Kopf geöffnet, so daß ich mich zuweilen beim Auswendigspiel gar nicht gescheit auf meinen Text konzentrieren kann.

Der Konflikt hat sich jedoch bereits ein bißchen abgeschwächt, weil ich heut schon so viel Positives gedacht habe.

Um die Mittagsstund herum ballten sich virtuose Passagen, die ich dem Beätchen schreiben könnte, in meinem Kopf zusammen. Ich könnte ihr auseinandersetzen, daß es nicht nur Hinterbliebene von Verstorbenen und Begrabenen, sondern auch Hinterbliebene von Hinweggeheirateten gibt, die sich durch ihre Heirat in einen Fremden verwandeln. Als gänzlich fremde Ehehälfte entschrumpfen sie dem Leben eines Jemanden, der ihnen einen riesengroßen Platz in seinem Inneren eingerichtet hatte.

Im übertragenen Sinne fühle ich mich mit Ming & Linda so, als hätten Opa & Mobbl sich getrennt, der Opa wäre jetzt mit einer „Mai-Ling“ liiert, - die Omi mit einem weißhaarigen „Herrn Schramm“, und mir als Enkelin würde befohlen „mich da rauszuhalten“.