Vom „guten“ Geiger zum gloriosen Virtuosen - Franziska König - E-Book

Vom „guten“ Geiger zum gloriosen Virtuosen E-Book

Franziska König

0,0

Beschreibung

Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Dezember 2003 in einen Roman verwandeln sollen. Das Leben selber führt Regie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 178

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Gedenken an meine liebe Oma Ella

Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.

„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.

Drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.

Erzählt werden Geschichten aus dem wahren Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.

Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches

Hier die Familie vorweg:

Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für

Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Julchen, Mings neue Liebe (*1983)

Ein Buch ohne Vorwort. Sie können gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

Dezember 2003

Montag, 1. Dezember

Dienstag, 2. Dezember

Mittwoch, 3. Dezember

Donnerstag, 4. Dezember

Freitag, 5. Dezember

Samstag, 6. Dezember

Sonntag, 7. Dezember

Montag, 8. Dezember

Dienstag, 9. Dezember

Mittwoch, 10. Dezember

Donnerstag, 11. Dezember

Freitag, 12. Dezember

Samstag, 13. Dezember

Sonntag, 14. Dezember

Montag, 15. Dezember

Dienstag, 16. Dezember

Mittwoch, 17. Dezember

Donnerstag, 18. Dezember

Freitag, 19. Dezember

Samstag, 20. Dezember

Sonntag, 21. Dezember

Montag, 22. Dezember

Dienstag, 23. Dezember

Mittwoch, 24. Dezember

Donnerstag, 25. Dezember

Freitag, 26. Dezember

Samstag, 27. Dezember

Sonntag, 28. Dezember

Montag, 29. Dezember

Dienstag, 30. Dezember

Mittwoch, 31. Dezember

Dezember 2003

Montag, 1. Dezember Musikhochschulstadt Trossingen

A ls ich gestern zu später Stund' aus dem Wirtshaus „Traube“ zurückkehrte, öffnete mein japanischer Flurnachbar kurz und neugierig die Tür, um sie augenblicklich und grußfrei wieder zu schließen, nachdem er gesehen hatte, daß bloß ich es war.

Hernach stieg ich ins Bett und schlief ausgezeichnet. Ich träumte ganze Romane zusammen und befand mich in einem gänzlich anderen Leben. Doch im Wachzustand fehlte mir schlicht der Antrieb, mich auf das Erlebte zu besinnen, und mir die fesselnden Verästelungen des Traumgeschehens ins Hirn zurückzuhämmern.

Ich weiß nur noch, daß wir auf unserem Lebenswege an einem Schulhof vorbeikamen, in dem lauter Halbmohren spielten. „Der Halbmohr ist im Kommen!“ erläuterte ich Ming. Eine Vorahnung, daß es eines Tages vielleicht nur noch Halbmohren auf der Welt geben wird, bewehte mich. Doch wär's der einzige Erdbewohner, so wäre es ja wiederum seltsam, ihn noch als Halbmohr zu bezeichnen?

In diesem Zusammenhang erinnerte ich mich an die Hilde, Mutter zweier Halbmohren. Als ihr Erstling, das süße kleine Yüsslein im November 1999 auf die Welt kam, dachte sie noch froh: „Es wird wohl kaum verwechselt werden, denn mein Baby ist ja ein halber Mohr!“ Doch damals kamen in Stuttgart nur halbe Mohren auf der Welt, da es sich in Mohrenkreisen herumgesprochen hatte, daß man sich heutzutage leicht von einer liebeshungrigen Dame durchfüttern lassen kann.

„Sie sind Wachs in unseren Händen!“ (wurde erzählt.)

Dies alles dachte ich, während ich noch im Bette lag, und so quasi hilflos miterleben mußte, wie meine Kräfte von Minute zu Minute schwanden.

Dann erhob ich mich aber doch, und verließ das Haus, dieweil ich doch gar nichts zu essen hatte.

Ich trat auf die Straße und überlegte „Links oder rechts?“

Wieder stand ich an einer Weggabelung des Lebens, die schicksalsentscheidend sein könnte, und entschied mich, die Bäckerei aufzusuchen, auch wenn ich mir diese Entscheidung nicht leichtgemacht hatte.

Ich liebe es, wenn das feine Glöckchen an der Türe bimmelt. Erwartungsfroh betrat ich die Bäckerei und kaufte dem so redlichen Fräulein zwei Seelen ab, die ich wenig später vor dem Fernsehbildschirm verspeiste.

Wieder bewahrheiteten sich Worte aus der „Glücksformel“: Analog zum Tüchtigkeitspegel sinkt der Freudenpegel. In meinem Gehirn formierten sich Ideen über Putzorgien und zu Erledigendes, doch mein Energieflämmchen glimmte so schwach, daß ich mich bei all den Plänen im übertragenen Sinne so fühlte wie jemand, der sich etwas Großartiges kaufen möchte. Und auch wenn er weiß, daß sich in seinem Börsl bloß mehr ein paar Pfennige befinden, kramt er trotzdem angestrengt und konzentriert darin herum.

Ich besuchte das Autohaus Rieble, weil ich hoffte, man könne mir dort meinen Kilometeranzeiger wieder instand setzen. Dem Hausherrn Thomas Fritsche machte ich ein Kompliment zu jenem paprikaroten Auto, das er mit unlängst aufgeschwatzt hat. Es führe gut, so ich.

„Ha, dös tut mir jetzt richtig gut!“ sagte Herr Fritsche, der sich ansonsten fast immer nur Klagen anhören muß. Ich erklärte ihm, daß man einen guten Begleiter am Klavier daran erkennt, daß man hinterher, wenn das Konzert verklungen ist, und man sich wieder auf dem Heimweg befindet, nicht sagen könnte, ob das nun ein Mann oder eine Frau gewesen war. Er hat schlicht nicht gestört, und an meinem Auto störe mich auch nur eine Kleinigkeit. Mir war es peinlich, die Autowerkstatt mit solch einer Lappalie zu behelligen, während Thomas Fritsche schon geahnt hatte, daß das Lämple leider „net unter Garantie stünd'“. Da müscht mr tief in die eigene Tasche greifö da müsste man tief in die eigene Tasche greifen, so daß er diese Aufgabe rasch einem Lehrling übertrug und sich ebenso rasch entfernte. Ich erfuhr, daß mich „der Spaß“ 80 € kosten würde, und um zwei Uhr solle ich nochmals vorsprechen.

Doch ich verzichtete auf das Lämple, weil man nicht so viel Geld für solch einen Unsinn ausgeben sollte.

Zur Mittagsstund raffte ich mich dazu auf, am See zu joggen. Trossingen als Stadt erinnert mich im übertragenen Sinne immer so an ein Haus von einem Heimwerkerstypus, beispielsweise jenes von Herrn Berke in Aurich, das sich seit Jahrzehnten in unfertigem Zustande befindet. Nach menschlichem Ermessen wird Herr Berke in diesem Leben wohl nicht mehr mit der Arbeit fertig.

Und in Trossingen? Überall Absperrungen, aufgerupfte Straßen, häßliche Häuser an denen umständlich herumgeweißelt wird, so daß sie hernach wirken, wie ein allzu weißer Zahn im Munde eines welken alternden Menschen. Zu weiß um wahr zu sein.

Als ich in der sepia getönten bergenden Dämmerstimmung um den Gaugersee herum lief, fühlte ich mich dankbar, froh und zufrieden

Unterwegs begegnete ich zwei Damen: Einer Wandersfrau und einer Joggerin, und während die Joggerin nur kurz, wie ein Wirbelwind meinen Lebensweg kreuzte, lief die Wandersfrau die ganze Zeit vor mir her.

Und auf dem Heimweg lief die geheimnisvolle Wandersfrau wieder die ganze Zeit vor mir her. Neben ihr hielt ein Autofahrer, der höflich um eine Auskunft bat Doch die Szene nahm groteske Züge an. Die Wandersfrau ging überhaupt nicht auf die Worte des Fragenden ein, und lief stur geradeaus, als sei das Auto mit dem Fahrer unsichtbar. Nun hätte der Herr ja mich fragen können, denn wie bereitwillig hätte ich dem solchermaßen Gedemütigten Auskunft erteilt! Doch den Fahrer hatte der Mut verlassen, so daß er mich nun behandelte, als sei ich unsichtbar.

Ob man die hübsche Nicole mal wieder anrufen sollte? Man denkt's, und tut's doch nicht.

Daheim beschmierte ich mir ein Laugenweckle mit Honig und freute mich auf „Hallo Deutschland“ vor.

Wir Zuschauer erfuhren, daß Heinos Tochter Petra Selbstmord verübt hat. Doch der Heino nahm den Tod seiner Tochter erstaunlich gefasst auf, und wird seine Heile-Welt-Tour, die er derzeit auf einem Dampfer abhält, deswegen nicht unterbrechen.

Ferner erfuhr man, daß König Harald von Norwegen an Blasenkrebs erkrankt sei, so daß ihn sein Sohn Haakon nun vertreten muß. Einige der zahllosen schalen Aufgaben des Vaters hat er bereits übernommen: Beispielsweise ein Schiff auf den Namen „Harald“ zu taufen.

Am Abend rief ich die Hilde an, doch ich telefonierte sehr geistesabwesend und hatte mir mit der Hilde gar nichts Rechtes zu sagen, da ich währenddessen in meinem Elektronotizbücherl „blätterte“, und von einem Schrecken durchzuckt worden war, ein wichtiges Konzert einfach vergessen zu haben. Doch die Durchzuckung erwies sich im Nachhinein als überflüssig, da dieses Konzert erst im nächsten Jahr stattfindet. Und doch ebbte der Schreck nur schleppend ab.

Dann rief mich Rehlein an. Rehlein jammerte über meinen Schaukelstuhl vom Sperrmüll, an welchem Buz sich bereits für zirka 250 € (Rehleins Lohn für Näharbeiten) Löcher in seine Beinkleider gerupft habe.

Dienstag, 2. Dezember

Sonnig. Dann mattete der Himmel wieder ab, und wurde von Wolkenschwaden durchzogen

Wieder wurde ich in der Nacht sehr von meinem eruptiven Katarrh gepeinigt.

Als ich am Morgen zum Fenster hinblinzelte, herrschte so ein wahnwitzig schönes Wetter. Ein Wetter, das es in dieser Form nur in der häßlichen Stadt Trossingen gibt. Buz einst: „Daß sich eine so häßliche Stadt unter ein so schönes Wetter zwängt? Kaum zu glauben!“

Mein Schlafzimmer wurde in den überirdisch schönen Glanz flüssigen Goldes getunkt. Ein Erlebnis, das man ansonsten nur aus Nahtoderfahrungsschilderungen zu kennen glaubt.

In der oberen Apotheke hat es den chinesischen Heiltee, von dem ich mir eine Linderung meines Leidens erhofft hatte, nicht gegeben.

„Gar nicht?“ frug ich hilflos, nachdem der Apotheker doch klar und deutlich gesagt hatte, daß es den nicht gäbe. [„Und wenn Sie sich noch so sehr auf den Kopf stellen!“]←Nein, dies hatte er natürlich nur gedacht. Und so besuchte ich eben den Bioladen, um mich hernach an meinen Einkäufen zu laben. Der Bioverkäufer Gerald hat sich gar nicht gefreut, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Mehr noch - er schien mich total vergessen zu haben.

Daheim schrieb ich an mehreren Briefen herum, auch wenn mein Geistespegel, dem beginnenden Auramangel geschuldet, nun rapide absank. Allen schrieb ich von Omas Exitus, wobei ich nicht wußte, ob jene Passagen, über das Strapsband zum Jenseits, die ich mir ausgedacht hatte, überhaupt pietätvoll sind.

In meinem kleinen roten Schuftbuch hatte ich Namen von Leuten eingetragen, die mir in meinen alten Tagebüchern begegnet sind, oder einfach meine Sinne durchzogen haben. Vom Verstauben bedrohte Bekanntschaften, die man dringend wachbusseln sollte, und dauernd fing ich neue Briefe an und arbeitete nach der Geigenbauermethode:

Der kluge Geigenbauer beginnt ständig mit der Arbeit an einer neuen Violine, und hängt die bleichen noch unbelebten Geigenkorpüsse nach Art von Wäschestücken an eine Leine. Doch jede Geige ist einen Tick weiter als die hinter ihr hängende, und gegen Ende werden die Geigen rapide nacheinander fertig.

Und auch bei mir wurden drei meiner Briefe fertig: An Herrn Heike, und meine Freundinnen Elfie und Simone. Doch abgesandt habe ich sie bislang nicht.

Als ich das Haus verließ, kollidierte mein „Aus der Türe treten“ mit meinem Flurnachbarn, dem Posaunenbläser Hikaru. „Hallo“ sagte ich etwas zurückhaltend und – wie hier zu sehen – ohne Ausrufungszeichen, doch der Hikaru nickte überhaupt nur ganz kurz angebunden und entfernte sich eilig. Die Gesellschaft in Trossingen ist zutiefst gespalten, da viele Musiker einen Kleinkrieg gegeneinander führen. Waffen, die nichts kosten, und doch tief in die Seele einschneiden: Kränkende Ignorierungen oder aber kleine Bosheiten hinter dem Rücken des Feindes anzuzetteln.

Später spürte ich dies erneut, als ich am Nachmittag zu Aldi strebte: Unter mir hörte ich, wie der Komiker Frank G. das Haus verließ, so daß ich mich gleich totstellte, bis er ganz weg war. Vom Flurfenster oben hat man noch auf seine blank polierte Hochglanzglatze draufschauen können.

Dies alles, weil man sich die ölige falsche Freundlichkeit im Vorübergehen ersparen möchte.

Auf dem Wege zu Aldi kam ich an verschiedenen Erinnerungsfixpunkten vorbei. Z.B. der Christian Messner- Straße, wo Frau Reimers Schüler Johannes P. lebt, der einmal eine große Geburtstagsparty schmiss, zu dem er sich das Rektorenehepaar Reimer geladen hatte, mit dem er sich vor seinen Kommilitonen schmückte.

Von meinem Freund Xie erfuhr ich dann, daß sich Herr Reimer an diesem Abend sinnlos betrunken hat, und in der Folge zotige Witze riss, die ihm in nüchternem Zustand die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten. Und dies vor den Ohren der Damen!

Die Reimers habe ich lange nicht gesehen, und weiß soomit nicht, was aus ihnen geworden ist. Ob die süppelige Frau Reichenberg noch als Sekretärin im Rektoramt tätig ist? Ich stellte mir vor, wie ich dem Rektorenehepaar begegne, und auf Art von der Christiane in Aurich sage: „Hääää!?!?!?! Ihr seidimmer nochda?? Ihr müsst doch Mitte siebzig sein?!“

Am Nachmittag schaltete ich den Pfarrer Fliege ein. Die abscheuliche Titelmelodie seiner Sendung sitzt mir einfach abrufbereit im Hirn, und dabei sollte man sie auf die CD „Musik zum kotzen“ draufbrennen.

Eine alte Frau sollte nach 52 Jahren ihren Sohn wiedersehen, den sie einst als wenige Wochen altes Baby in einem Säuglingsheim zurücklassen mußte. Der Pfarrer Fliege schwätzte wieder so viel, und dabei war ich doch so auf das Wiedersehen gespannt. Doch zuvor lernten wir noch die vier Halbgeschwister des Sohnes kennen, und erfuhren, daß sein verstorbener Vater ein sehr warmherziger Mensch gewesen sei.

Dann standen sich Mutter und Sohn gegenüber und fielen einander in die Arme.

„Dieser Moment gehört ihnen allein…“ sülzte der Geistliche…

Dann war's aber auch schon bald dunkel. Stellvertretend für den Hikaru nebenan nervte es mich, daß ich immer so sporadisch wie aus dem Nichts heraus aufübe, und kein System in meinem Tagesablauf zu erkennen ist. Ich übe nämlich dann, wenn ich es ausgelost habe, statt die Arbeit, so wie es löblich wäre, in einem Schwung zu erledigen und abzuhaken wie ein normaler Mensch, und dann endlich Ruhe zu geben.

Am Abend rief mich Rehlein so nett an. Es lag in den Lüften, daß heut Mann und Sohn nach Hause kämen. Buz hatte Rehlein aus London angerufen, und überglücklich verkündet, daß er erster Klasse fliegen durfte. Buz war begeistert, weil ihn die Fluggesellschaft einfach dazu eingeladen hat, und dies aus dem einzigen Grunde, weil er so nett sei! Etwas, das mittlerweile groß in Mode ist: Die Flugesellschaft sucht sich ihren nettesten Kunden aus, und lädt ihn ein, erster Klasse zu fliegen. Auf diese Weise geben sich die Kunden alle große Mühe, der netteste Kunde zu werden.

Ming wiederum habe aus Amsterdam angerufen, und sein Kommen angekündigt, berichtete Rehlein in großer Vorfreude.

Später rief Rehlein nochmals an, um zu berichten, daß Herr Herberger am Samstag verstorben sei. Er habe verfügt, daß man um seine Beerdigung kein Aufheben machen möge, und außerdem vermachte er sich selber der Anatomie. Ich war so traurig, daß ich fast weinte, zumal mich die bestürzende Nachricht beim Hören der schönen Brahms Symphonien ereilte.

Abends wollte ich duschen, doch leider schien mein Duschschlauch durch Buzens unkundiges Duschen unbrauchbar geworden zu sein, so daß es aus dem verzwirbelten Schlauch heraus nässte und trülte, während der Duschkopf selber nur noch schlappe Rinnsäle absonderte.

Vor dem Bettgang las ich in der „Glücksformel“, daß Singeltum sehr ungesund sei und unglücklich mache.

Mittwoch, 3. Dezember

Sehr neblig

Wegen meinem hartnäckigen Husten bekomme ich manchmal leichte Erstickungsanfälle, denen zufolge ich ähnelnd dem Opa kurz vor seinem Exitus laut aufröchelnd um mein Leben kämpfen muß.

Nach meinem allmorgendlichen Besuch in der Bäckerei besuchte ich den Zeitschriftenladen gegenüber vom „Bären“.

„Vier €uro!“ sagte die normalerweise sehr nette Verkäuferin ganz ungeduldig und fast schroff zu einem älteren Herrn, der offenbar nicht mehr so gut hörte. Aber auch dem nächsten Kunden gegenüber gab sie sich kühl und verschlossen wie eine Auster. Es handelte sich um einen Professor unter einer russischen Pelzmütze. Wahrscheinlich war sie der vielen Ausländer, die kein Deutsch sprechen überdrüssig geworden, so wie ich es mittlerweile auch bin. Doch der entwurzelte alte Mann dauerte mich.

Zu mir war die Tresendame wiederum gewohnt höflich. Ich bekam einen Adventskalender geschenkt, auf dem das Trossinger Rathaus abgebildet war. Die Buchstaben in den Fenstern ergeben zusammen ein Lösungswort, das man auf eine Postkarte schreiben muß. Bis jetzt bildeten sich die Buchstaben „TRO“ , so daß den Kandidaten bereits eine Ahnung beschleicht. Interessant wäre es, wenn derjenige, dessen Postkarte mit dem richtigen Lösungswort gezogen wird, der neue Bürgermeister von Trossingen werden dürfte.

Im Mittagsmagazin konnte man heut einen ersten Blick auf Armin Meiwes, den Menschenfresser von Rotenburg werfen, dem heut der Prozess eröffnet wurde. Er lächelte freundlich und gewinnend, wie ein Konzertpianist, der die Bühne betritt.

Einmal schrillte das Telefon, und ich hatte schon geahnt, daß es Buz ist. „Ich habe es geaaaahnt, du süßer Schatz!“ sagte ich in fiebriger Freude und Ergriffenheit zu unserem Heimkömmling. Aus Buz ist ein lieber, milder alter Mann geworden.

Buz hatte ein Strafmandat bekommen, und ihm wurde vorgeworfen, daß er sein Auto am 31. Oktober einfach in Leer auf einem Behindertenparkplatz abgestellt habe. Aber an diesem Tage wurde doch unsere Oma zu Grabe getragen, und so viele Leute könnten bezeugen, Buz auf der Beerdigung in Grebenstein gesehen zu haben!

Da wurden meine süßen Eltern nett und vergnügt, denn damit ist man ja praktisch aus dem Schneider.

Abends telefonierte ich mit der Veronika über den so jähen Heimgang des Verblichenen: Herr Herberger habe seine treue Haushälterin Ulrike in der vergangenen Woche zweimal nachts um vier Uhr angerufen, und die mitfühlende Ulrike, radelte durch die Nacht…

Dann fand man ihn tot in seinem Bett, den Telefonhörer auf der Brust, und eine Stimme im Hörerinneren sagte aufgeregt: „Rolf! Rolf! Hörst du mich??“

Zwar habe er seiner Haushälterin versprochen, ihr sein Instrumentarium zu vermachen, doch es existiere nichts Schriftliches.

Zur Zeit ist seine Tochter Uschi aus Übersee da, und Ulrike und Alfonse müssen sich mit ihr treffen, um die letzten Testamentsfinessen zu besprechen, weswegen die sensible Ulrike bereits auf Kohlen sitzt, da man ja nie weiß, was die bösen Töchter im Schilde führen.

Schon vor langer Zeit hat die Ulrike dem Generalmusikdirektor von Baden-Baden die Partitur des Requiems des Verstorbenen zugeschickt. Ein Werk, das Herr Herberger doch so gerne noch zu Lebzeiten gehört hätte.

„S' liegt au noch irgendwo herum!“ habe der Generalmusikdirektor auf lose und mäßig interessierte Weise gesagt, als ihm die Ulrike einmal in der Stadt begegnet ist.

Einer der zehn Auslosepunkte in meinem Schuftbuch lautete: „Bank & Post“, und im Falle eines Drankommens könnte es zu einer unverhofften Begegnung mit Herrn Reimer kommen, auf den ich voller Zorn bin, da er Buz aus reiner Bosheit bzw. psychotischen Motiven heraus um seine Professur betrogen hat, und der um diese Uhrzeit durch die Straßen zu laufen pflegt, um sich vielleicht ein passendes Lokal für sein Mittagsmahl zu suchen.

Ich konditionierte mich bereits darauf, indem ich zwar auf meiner Violine übte, im Geiste jedoch eine Begegnung nach so vielen Jahren durchspielte. Aber vielleicht würde es uns beiden ja gar nicht so vorkommen, als seien viele Jahre vergangen, da wir einander die ganze Zeit in Gedanken mit durchs Leben geschleppt werden.

Dieser Punkt kam dann aber doch nicht dran, und stattdessen brach ich um 15:48 zum joggen auf.

Obwohl ich in der Glücksformel gelesen hatte, daß man negative Gedanken auf keinen Fall kultivieren solle, dachte ich die ganze Zeit bös über Herrn Reimer nach. Sollte ich eine Einladung zum Vorunterrichten nach Trossingen bekommen, so wolle ich dem Ministerium schreiben, und bitten, den Rektor von der Kommission auszuschließen, da er mir das Leben so schwer gemacht hat. Und zum Beweis, daß er nicht unbefangen ist, lege ich den Brief bei, den er mal von der Rektorenkonferenz aus Köln geschrieben hat, als er noch im lodernden Feuer der Verliebtheit stand, und sich große Hoffnung auf ein Abenteuer gemacht hat.

In der Baarstraße huschte mir eine schwarze Katze über den Weg, und der Nebel wurde immer dichter. Ich stellte mir vor, wie der Nebel, durch den man vereinzelte Weihnachtslichter erahnen konnte noch dichter wird, so daß später im Buch des Lebens über diesen Tag in unfreiwillig gereimter Form zu lesen stünd: „An diesem Tag wurde der Neben unnatürlich dicht. Man sah die Hand vor Augen nicht.“

Donnerstag, 4. Dezember

Feucht, neblig und geheimnisvoll

Am Morgen träumte ich wie immer höchst verdrießlich: Auf meiner Agenda stand ein Konzert in Frankfurt am Main in einem ordentlichen Saal mit Bühne, und es tröpfelten gar etliche Interessierte ein. Um 19:30 sollte es beginnen, doch andauernd kam mir etwas dazwischen.

In einer viertel Stunde sollte das Konzert anheben, und eine freundliche Dame hatte bereits eine Begrüßungsrede gehalten. Doch immer kam mir noch etwas dazwischen. Zu Beginn stand Bachs C-Dur Sonate auf dem Programm, so daß ich beständig von Lampenfieberwogen gepackt wurde.

Nun aber knarzte bereits die Bühne, der Bogen war gespannt, die Geige hielt ich in der Hand, doch in dem Moment, wo ich mich innerlich straffte, um einen ersten Schritt Richtung Bühne zu gehen, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß ich ganz anders gekleidet war, als gedacht. Statt in meinen Konzertschuhen staken meine Füße in klobigen und leicht morastigen Stiefeln, wo bei dem einen hinzu der Schnürsenkel gerissen war, so daß der Schuh den Zuhörern die Zunge zu zeigen schien wie ein freches Kind, dem man ein paar Orkanwatschen hinabhauen sollte. Und statt des Konzertkleides trug ich einen ausgebleichten alten Sommerfummel Rehleins, der eigentlich für die Altkleidersammlung gedacht war.

Die verständnisvolle Dame, die die freundlichen Einführungsworte gemacht hat, wurde nun doch ein bißchen ungeduldig, als ich so lange in den Plastikköffern vergeblich nach meinen Konzertschuhen herumwühlte, und man zudem noch bald damit rechnen mußte, daß das Publikum sich zu einer Herde ballt, im Kollektiv entrüstet erhebt und geht.

Ich erwachte kurz und träumte an anderer Stelle weiter:

Ich fuhr im Auto und kam an eine Stelle mit zwei Autobahneinmündungen. Da ich aber nicht wusste, welche zu nutzen sei, fuhr ich auf einen großen mit weißen Kieseln ausgelegten Parkplatz dazwischen. Dort stieg ich aus, beschirmte meine Augen im glitzernden Sonnenschein, und überlegte, wie es jetzt weitergehen solle? In meiner Hand befand sich ein Eishorn der Firma Schöller, das in der Sonne bereits zart anschmolz. Ein junger Mann frug anmacherisch, ob er wohl etwas von meinem Eis haben dürfe? Zuerst sagte ich: „Sonst gern. Aber im Moment nicht“. Dann aber wurde mir bewußt, daß man nicht jeden Anmacher wegwimmeln könne, und ich sagte: „Warum nicht?“