Feinsinnige Psychologate über eine trübsinnige Dame - Franziska König - E-Book

Feinsinnige Psychologate über eine trübsinnige Dame E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Dezember 1998 in einen Roman verwandeln. Das Leben selber führt Regie.

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Meinem lieben Onkel Hartmut zugeeignet

Franziska (Kika) im Jahre 1998 in einem Fotomaton in Wien

Aus dem Leben einer Geigerin

Unser Leben währet 840 Monate und wenn es hoch kommt, so sind´s 960.

Monate, die sich im Nachhinein in schlanke bis vollschlanke Romane verwandeln.

Willst Du mich einen Monat lang begleiten?

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches

Hier die Familie vorweg:

Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich(*1909)

Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des Vorhergehenden (*1910)

(Die Großeltern mütterlicherseits)

Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in Grebenstein (*1913)

Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Lindalein, (*1973) unsere Kusine aus Amerika, die von 1997 bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte

Ein Buch ohne Vorwort.

Du kannst gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

Dezember 1998

Dienstag, 1. Dezember

Mittwoch, 2. Dezember

Donnerstag, 3. Dezember

Srinagar, Juni 1973

Freitag, 4. Dezember

Samstag, 5. Dezember

Sonntag, 6. Dezember

Nachtrag 2025: Leider nie wiedergesehen

Montag, 7. Dezember

Dienstag, 8. Dezember

Mittwoch, 9. Dezember

Donnerstag, 10. Dezember

Freitag, 11. Dezember

Samstag, 12. Dezember

Sonntag, 13. Dezember

Montag 14. Dezember

Dienstag, 15. Dezember

Mittwoch, 16. Dezember

Donnerstag, 17. Dezember

Freitag, 18. Dezember

Samstag, 19. Dezember

Sonntag, 20. Dezember

Montag, 21. Dezember

Dienstag, 22. Dezember

Mittwoch, 23. Dezember

Donnerstag, 24. Dezember

Freitag, 25. Dezember

Samstag, 26. Dezember

Sonntag, 27. Dezember

Montag, 28. Dezember

Dienstag, 29. Dezember

Mittwoch, 30. Dezember

Donnerstag, 31. Dezember

Personenverzeichnis:

Dezember 1998

Dienstag, 1. Dezember

Trossingen - Pfaffenbach

Schneeverkrustet und etwas grau

Von Rehlein habe ich die Eigenschaft übernommen, den Menschen beim Wort zu nehmen, und auch wenn Rehlein in dieser Hinsicht während all der Ehejahre oftmals über Buz gestöhnt hat, nehme ich Buzens Zeitangaben noch immer ernst: Pünktlich um acht Uhr morgens saß ich wie bestellt und nicht abgeholt im Hotel. Zwar hatte ich ein Journal vor mir ausgebreitet, doch mein Blick hing am Zifferblatt der großen Uhr, und die ratlose Frage, wo die Herrschaften wohl blieben, (mit spitzen Lippen gedacht, wie Omi Mobbl zuweilen) hatte sich mir in den Kopf gesogen und behinderte mich beim konzentrierten Lesen.

Schließlich beugte ich mich wieder über das Blatt. Interessiert las ich, daß Steffi Grafs Trainer Heinz Günthardt ein Leben zwischen zwei Frauen führe, und während ich mich noch in das Leben eines Heinz Günthardt einarbeitete, zeigte sich der süße Buz mit seinem entzückenden Lächeln, dem keine Frau widerstehen kann.

Buz griff sich ein Tagesjournal, und im Duett warteten wir auf unsere Freundin Veronika, die hier im Hotel residierte.

Da die Veronika sehr lange nicht erschien, dachten wir uns einen kleinen Schabernack aus: Ich sollte oben an ihre Türe pochen und ausrufen: „Frau H., Sie wissöt abbbr, daß Sie um zwölf naus müssöt, oder?“

Sie wissen aber, daß Sie das Zimmer bis um zwölf besenrein geräumt haben müssen, oder?

Doch die Veronika kam diesen Überlegungen zuvor. Sie hatte verschlafen und schämte sich so süß. Beim schämen sah sie ganz verschmitzt aus. Buz musste jedoch schon bald aufbrechen, da noch eine finale Schülerin auf der Agenda stand: Ein junges Fräulein aus der Ex-DDR, das Buz in „Fräulein Nu“ umbenannt hatte, da es oftmals „nu“ sagt. Fräulein Nu war mit seinen Eltern ebenfalls im Hotel Schoch abgestiegen, und von einer Woge an Erfurcht gepackt worden, als es am anderen Ende des Frühstückssalons den zukünftigen Professor gewahrte. Es lächelte uns nett, aber vorläufig etwas verunsichert an, was bedeutet, daß wir uns mit diesem Fräulein erst anwärmen müssen, bevor die Eierschalen der Verlegenheit, die einen in der Aura eines fremden Menschen zuweilen zu umhüllen pflegen, gänzlich abgebröckelt sind.

Die Veronika, die aus Nürnberg herbeigereist war, um in Buzens Unterrichtszimmer zu hospitieren, versuchte Buz 150 Mark aufzunötigen.

„Komm... Hospitierungsgeld..“ murmelte sie verlegen, während sie etwas unbeholfen versuchte, die Scheine in Buzens Jackettasche zu stopfen.

„Wenn du mir das Hospitierungsgeld aufdrängst, so bekommst du eine Hospitierungs-Ohrfeige!“ scherzte Buz auf liebenswert übermütige Weise, und wimmelte das Geld wieder ab.

Ich wiederum spaßte darüber, wie dies wohl sei, wenn eine Frau eine heiße Nacht mit einem Herrn verbringt, und am Morgen 200 Mark auf ihrem Nachtkästchen liegen, während der Herr selber bereits verschwunden ist. Nur noch die beiden Scheine erinnern daran, daß es ihn wirklich gegeben hat.

Dann schwenkte ich die Rede auf jenes Abenteuer, das heut auf mich wartete: Die Reise nach Pfaffenbach; einen Ort, den weltweit wohl kaum jemand kennt. Außer mir sei noch eine Pianistin aus Ungarn geladen, die das Konzert mit mir bestreiten soll. Aber was machen wir bloß, wenn die Frau des Herrn, der sich diese beiden Musikantinnen eingeladen hat, unwirsch auf den Besuch zweier Damen reagiert? Grad, weil ihr Mann halt plötzlich ganz anders ist als sonst? Interessiert und aufmerksam.

Als ich wenig später in meiner Wohnung an der Violine stand, überkamen mich allerlei bedrückende Gedanken: Ich bereute es, dem Fräulein Nu und seinen Eltern nicht die Hand gereicht zu haben, um mich vorzustellen und die Bekanntschaft zu intensivieren. Zudem reute es mich noch viel mehr, daß ich Buzen nichts für Rehlein mitgegeben habe. Ich dünkte mich so schäbig - in jener Art, wie es mich alljährlich am 23. Dezember während meiner präweihnachtlichen Deprimanz anweht - aber wenigstens hatte ich Buz und Veronika liebevollst ein Vesper zubereitet.

Alles in mir zentrierte sich auf die Reise um 15:06.. Was wäre es schön, wenn ich meinen Wahnblasenbildungen im Gehirn endlich mal die Zunge hätte zeigen können. Die Tür einfach schließen, loslaufen und sich nicht mehr umschauen, so wie Buz es zu handhaben pflegt. Wenn Buz eine Türe hinter sich schließt, so schließt er gleichzeitig ein kleines Kapitel seines Lebens ab; die Sinne ganz und gar auf das nächste Kapitel gerichtet; doch bei mir will dies einfach nicht so recht funktionieren. Ich musste nochmals nach dem Herd schauen, den ich doch seit gestern Mittag gar nicht mehr benutzt hatte. Die Tagebücher stellte ich in ein anderes Eck im Zimmer, weil ich mir ausmalte, wie die Italiener nebenan zündeln, und das halbe Haus in Brand gerät. Auf diese Weise, so sah ich im Geiste eine Zeitungsmeldung vor mir, blieben die Tagebücher einer Dame vor den gierig züngelnden Flammen verschont.... bloß daß sie wenig später den Löscharbeiten der Freiwilligen Feuerwehr zum Opfer fielen, zwängte sich ganz gegen meinen Willen eine unbequeme Zeile dahinter.

Bahnhof Gengenbach:

Dort wurde ich von Herrn Grün, meinem Gastgeber, mit einem farblich passenden Merzedes abgeholt (ebenfalls grün). Neben ihm saß die quirlige Pianistin aus Ungarn und begrüßte mich nach ungarischer Sitte und auf gut Glück mit einem Doppelkuss, auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, ob ich überhaupt nett und kusswürdig bin. Man kann´s nur hoffen.

Herr Grün, so erfuhr ich bald, ist bislang unverehelicht geblieben. Er wohnt in einem Dreiherrenhaus mit Vater und Bruder.

Den Vater lernte ich im Laufe des Abends auch kennen. Überraschenderweise sah er deutlich jugendlicher und besser aus, als der leicht ungesund wirkende, übergewichtige Herr Grün, in dessen Wohnung jedoch immerhin ein Heimtrainer herumsteht. Womöglich hat sich Herr Grün bereits tausendfach vorgenommen, ein neues Leben zu beginnen, worin der Heimtrainer eine Riesenrolle spielen würde?

Zunächst wurde Kaffee serviert.

Ich war so gespannt auf Frau Homoris Klavierspiel, zumal bereits eine CD von ihr als Gastgeschenk auf dem Tische lag: Mozarts Variationen über den Weihnachtsmann, und die Mondscheinsonate.

Dem Kaffeetrunk schmiegte sich die erste Probe an:

Gleich zu Beginn zeigte die Angelika jene östlich selbstbewusste Art, unter der ein musizierender Normbürger sehr leicht zu einem verlegenen Schüler zusammenschrumpft. Der Ostler legt seine Höflichkeit ab wie einen Mantel, da es ihm „nur um die Musik“ geht. Der Mitspieler wird zum demütigen Diener der Kunst erklärt, und über all dem schwebt das Motto „Qualität beginnt mit Qual.“

Herr Grün scheint ein netter Mann zu sein, und erinnert mich ein wenig an meinen Onkel Andi: Ein einfaches, mildes Naturell.

Nach der Arbeit lud er uns auf ein Glas Wein in seiner Kuschelecke ein. Die Angelika räkelte sich lose auf dem Sofa und fühlte sich völlig daheim. Herr Grün erzählte, daß seine Mutti vor nicht allzulanger Zeit, 60 ½- jährig, starb. Eines Tages fiel sie einfach tot um, ohne zuvor krank gewesen zu sein. Der Sekundentod.

Mittwoch, 2. Dezember

Blass, bißl verzuckert.

Doch der Schnee schmolz pö a pö hinweg

Sehr angenehm auf einem zum Bett umfunktionierbaren Sofa genächtigt.

Traumesfetzen: Es dämmerte so schön und zart. Den ganzen Tag lang war ich nur sesselträg herumgesessen, und nun schien Eile geboten, meine üppigen Pfunde in den Griff zu bekommen und endlich loszujoggen. Doch als ich mich soeben hinabbog, und mich anschickte, meine Schuhe zuzubinden, knarzte es im Windfang. Buzens Studentin Colette stattete uns zusammen mit dem Professor Kebap, dem Neuen an ihrer Seite, einen Besuch ab. In Gegenwart des Professors benahm ich mich auf auffallende Weise so, als sei ich heimlich verliebt (ohne es zu sein). Ich wurde rot und stotterte dummes Zeug.

„Na??“ las man in Rehleins Blicken, während die Colette ein wenig befremdet, der Professor jedoch gerührt und erfreut ausschaute. („Sie kann´s wohl nicht verbergen, daß sie in verbotenen Gefühlen entflammt ist?!?“ las man in seinem amüsierten Blick)

Herr Grün, unser gutmütiger Herbergsvati, hatte schon beizeiten das Haus verlassen. Auf dem Küchentisch lag ein vollgeschriebener Zettel für uns, und die Wortwahl erinnerte an einen lieben Verwandten: Er wünsche uns ein vergnügliches Proben.

Doch vor den Fleiß hatte sich die Faulheit geschoben: zunächst saß ich mit der Angelika am Frühstückstisch. Die frischen Honigbrötchen mundeten unglaublich, und die Angelika war begeistert von dem köstlichen Bourbon-Vanille-Joghurt. Dann vertrat sie die gewagte These, daß es so großartige Pianisten wie früher heutzutage gar nicht mehr gäbe. Es erinnerte leicht an die Colette, die gerne Worte des Professors aufgreift und in die Welt hinaus trägt: Beispielsweise referiert sie mit ernster und gewichtiger Miene darüber, wieviel Prozent der Geiger die Franck-Sonate völlig fehlinterpretieren, da sie gar nicht wissen, was sie da spielen. Und ich fürchte direkt, daß Franck - sollte man die Gedankengänge des Professors nachempfinden - überhaupt nicht wusste, was er da geschrieben hat.

Was die im Osten alles so quatschen - und dies mit größtem Selbstbewußtsein: Daß Gershwin zweitklassige Musik sei. Ich fühlte mich an Lisa Smirnova erinnert, eine junge aufstrebende Pianistin, die ihre Lehrerin Anna Kantor, bei der sie alles gelernt hat, als provinziell hinstellte. In grobem Undank reiste Lisa Smirnova nach Hannover, um sich bei dem Scharlatan Karlheinz Kämmerling den „letzten Schliff“ zu holen. Hahaha, da kann man ja nur lachen! Dann dachte ich an Frau Leonskaja, die außer ihrem Idol Svjatoslav Richter niemanden gelten lässt. Man sitzt diesen Menschen gegenüber, und wird nicht so recht warm mit ihnen. Es wundert mich bloß immer, woher sie ihre Selbstsicherheit nehmen. „Ich wundere mich sehr, woher Ihr Eure Selbstsicherheit nehmt, wo ihr doch selber nur Mittelklasse seid“, doch um solch kühne Worte anzubringen, gebricht es einem schlicht an Mut zur Dreistigkeit. Die im Grunde amüsierlichen Worte: „Es gibt nur drei Sorten von Pianisten: Schwule Pianisten, jüdische Pianisten und schlechte Pianisten“ sind in die Köpfe hineingebrannt, als handele es sich dabei um ein unumstößliches Naturgesetz.

Bei diesen musikerinternen Themen war die Angelika sehr in der Spur. Sie berichtete von Konzerten, die sie gehört habe: Bei Alfred Brendel und Murray Perahia habe sie sich zu Tode gelangweilt, und bloß ein Jazzpianist, dessen Name ihr jedoch entfallen war, gefiel ihr. Mir persönlich schien die Redewendung „zu Tode gelangweilt“, und hinzu auf einen Kollegen gemünzt, der sich doch große Mühe gibt, ziemlich starker Tobak zu sein.

Wundersamerweise ging die Zeit beim Proben ganz schnell vorbei, und überhaupt gestaltete sich die Probenarbeit schon erfeulicher.

Zur nachmittäglichen Stunde promenierten wir durch den wie ausgestorben daliegenden Ort. Ich sehnte mich so sehr nach Rehlein.

Die Angelika schwärmte sehr von ihrem Freund Istvan, der ein unglaublicher Mensch sei. Wir steuerten das Café König an.

„Mein Café!“ rief ich verbindend aus. Ich bestellte mir einen Irischen und einen köstlichen Apfelkuchen, der aus lauter hauchdünn zusammengeschichteten Apfelscheiben bestand. Die Angelika orderte einen Cappuccino und eine Eierlikörtorte, die gar mit einem Praliné verziert war. So saßen wir sehr nett beieinander und unterhielten uns ein wenig über die Art, wie wir leben. Die Angelika möchte sehr gerne Kinder haben. „Mit Istvan hundert!“ sagte sie gar. Ein Foto von ihrem Exmann Laszlo bekam ich auch zu Gesicht, da sie es nicht über´s Herz gebracht hatte, es aus ihrem Portemonnaie zu entfernen, um einen sauberen Schlußstrich zu ziehen. Sie liebt ihn leider immer noch, erzählte sie - auch wenn er ein eher verschlossener Mensch ist. Er sei leider äußerst zynisch, denn seine Mutter war immer sehr kalt zu ihm.

Daheim ist dann schon bald Hausherr Dieter Grün von der Arbeit zurückgekehrt. Er hatte uns Spezialitäten mitgebracht: Hefegebäck das ausschaute wie kleine Äolsharfen. Genußfreudig beschmiert man sich die Teile mit Butter, ehe man sie zum Munde führt.

Der Dieter erzählte von seinem Bruder, der ebenfalls hier in diesem Dreiherrenhaus wohnt, den wir jedoch noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Früher, als 15-jähriger litt er unter starkem Übergewicht. Dann besuchte er einen Arzt, magerte ab, und nach einer psychologischen Behandlung aß er nie wieder mit der Familie am Tisch. Bei einem IQ-Test stellte sich heraus, daß er so intelligent sei, wie einst Albert Einstein, von dem es jedoch andererseits heißt, sooooo wahnsinnig intelligent sei der nun auch wiederum nicht gewesen. Alles Geschwafel - einer schwätzt es dem Anderen nach.

In Dieters schickem Merzedes fuhren wir nach Zell am Harmersbach, um einen kleinen Stadtbummel zur Vorweihnachtszeit zu unternehmen. Wir fuhren an einem riesigen aufgeblasenen Weihnachtsmann vorbei, und schauten uns die Schaufenster an. Die kleine, so völlig ausgestorbene und doch weihnachtlich herausgeputzte Stadt gefiel mir sehr. An einer Stelle stand gar ein ungeheuer hoher Weihnachtsbaum.

Schließlich kehrten wir in jenem Gasthaus ein, worin wir in drei Tagen konzertieren sollen. Doch zuvor huschte ich noch schnell in eine bereitstehende Telefonzelle und rief Rehlein an, um ein bißchen Süßholz zu raspeln. Rehlein war so unglaublich nett, und der Telefonhörer verwandelte sich in einen Aura-Duschkopf.

Im Schankstubeninneren roch es leider so durchdringend nach Tabak, daß ich um den schönen neuen Pullover bangen mußte, den Rehlein mir geschenkt hat. Die Angelika fand´s jedoch toll, daß hier geraucht wird, und sog ihrerseits an superschlanken und länglichen Cigaretten der Marke „Eve“.

Wir hatten an einem, für drei Leute eigentlich viel zu langen Tisch platz genommen, und ich saß am allerungünstigsten, indem ich nämlich wie bei einem Tennismatch dauernd blitzschnell den Kopf je bis zum Anschlag hin- und herrücken mußte. Denn, schaute ich immer nur auf den Dieter drauf, so wäre es gar zu plump weiblich, und schaute ich nur auf die Angelika mit ihrem rosa gefärbten Mund und den papageienblau bepinselten Augendeckeln, so würde es wirken, als wolle ich meine aufkeimende Verliebtheit für den Herrn angestrengt verbergen. Der Wein stimmte mich warmherzig, und das Leben schien mir leicht und lebenswert.

Doch dann mußte die Angelika so lang mit ihrem Exmann Laszlo telefonieren, der an einem Bänderriß litt, und froh war, jemanden zu haben, dem er die Ohren volljammern konnte.

Donnerstag, 3. Dezember

Zartblauer Winterhimmel. Kaum noch Schnee

Ein wenig blöde an meiner Weckerschrillerei war, daß ich fesselnde Traumenden verpasst habe. Einmal trat in meinem Traum die Frauke ins Zimmer. Fraukes Miene war auf Sturm gestellt und verhieß nichts Gutes. Ich erinnerte mich, daß ich die Frauke gestern bereits gesehen und darüber hinaus vergessen hatte, sie zu grüßen. Zerknirscht sprach ich sie darauf an. Die Frauke, im Vorsturm dessen, daß gleich eine Standpauke folgen würde, räusperte sich, und dann klingelte der Wecker, und ich habe nicht mehr erfahren dürfen, warum die Frauke so böse war. Dann wiederum fuhr ich mit Buzen zu einer blassen und unscheinbaren Kirche. Buz fuhr unbedacht auf einen hohen Sandhügel drauf, weil er vergessen hatte, abzubremsen. Doch auf der Höhe des Sandhügels begann das Auto ganz langsam in den Sand einzusickern. Langsam genug, so daß es uns glücklich gelang, uns zu befreien – und dies wäre, so Buz, ja wirklich kein Akt, das Auto nachher wieder hervorzuschaufeln.

Im wahren Leben führe ich hier mit der Angelika ein Leben wie im Sanatorium - fernab von jeglicher Zivilisation. Die meisten Anwohner sind auf Maloche oder sitzen, alt geworden, im Sorgenstuhl vor dem Fernseher. Die Straßen sind wie leergefegt. Beim Frühstück sprach ich auf lose Weise davon, daß wir hier jetzt auf ewig so zusammenleben könnten. Die Angelika könne mir schwärmerische Geschichten von ihrem Freund Istvan erzählen, bloß kommt er bis zum Ende des Theaterstücks nicht vor.

Der rührende Dieter hatte zu den leckeren Oberharmersbacher Harfenbrötchen einen Zettel gelegt. Pappte man all die kleinen Zettel, die er uns bereits bereit gelegt hat zusammen, so käme dabei bald ein ganzer Brief heraus. „Karpe diem!“ schrieb er heut so süß, und: „Blamiert mich bitte nicht und übt schön!“

Beim Weiterfrühstücken sprachen wir über Wettbewerbe und wieviel wir so üben. Die Angelika: Elf Stunden vor ihrer Prüfung!

Dann probten wir und spielten das ganze Programm auf Tonband. Am Anfang war ich so nervös, als sei´s im Konzert, zumal die Angelika ja schon angedeutet hatte, ob es mir wohl tatsächlich ernst damit sei, alles auswendig zu spielen?? Was wäre, wenn ich hochkant hinausflöge und vielleicht beschämt „Ach ne!“ murmeln müsse, so wie es dem 89-jährigen Herrn Herberger in seinem letzten Konzert ergangen ist? (Dem allerdings sogar von Noten), und so stellte ich beim Spielen viel zu hohe Ansprücke an mich, und flog in der Beethoven-Sonate tatsächlich einmal hinaus. Die Beethoven Sonate gefiel mir auf dem Tonband am allerwenigsten, da die Angelika mehr so „stehend“ und in gedrosseltem Tempo zu spielen pflegt.

Mittags nahmen wir eine Brotzeit ein und plauderten eher unverbindlich: Zum Beispiel über die Schnecken in Taiwan. Plötzlich fiel mir siedendheiß ein, daß ich Ming im Jahre 1973 seine erste Liebe mit einem Mädchen namens Ute verdorben habe. Kurzfristig stimmte mich der Gedanke daran ganz autistisch.

Srinagar, Juni 1973

Wir waren mit dem Opa unterwegs. Unsere Heimkehr von Taiwan nach Österreich. Ming hatte sich in ein hübsches Mädchen verliebt, und diesem Mädchen sagte ich beim Frühstück einfach, und hinzu auf unbekümmerte Weise: „Der Iwan liebt dich!“

Der süße Ming war so erschüttert über diese unsensiblen Worte einer Zehnjährigen, daß er sich ganz verlegen vom Tisch entfernte und nicht wiederkehrte. Da wurde ich von Reue geflutet, und diese Reue hat bis heute nicht so richtig nachlassen wollen.

Die Ute haben wir nie wieder gesehen, und wissen nicht einmal, wie sie mit Familiennamen heißt. Ich weiß nur noch, daß sie fließend englisch sprach, und die Kellner gern herumkommandierte.

Am Nachmittag liefen wir unter zartblauem Himmel zu Edeka, wo es allerhand zu kaufen gab. Holzbrettchen, wo allerlei draufgepinselt war. Beispielsweise alberne Gedichte über den Opa oder den Vati. Na, unser Opa würde sich ja „bedanken“, wenn man ihm etwas Derartiges schenken würde. Etwa dies:

Der Opa will sein Enkelkind genießen, drum muß er das Ereignis heut begießen

Auwei geschrien!

Die Angelika kaufte Unmengen an Süßigkeiten für ihre Lieben, und dem Istvan kaufte sie Wollsocken.

Daheim übte ich in der Küche. Ich „klopfte Steine“, denn schließlich galt´s, jenen heiß- und kalten Schreckensschauern, die einen auf der Bühne bisweilen durchzucken, durch unendliches Repetieren entgegenzuwirken.

Als wir uns schließlich müde geübt hatten, warteten wir wie Haustiere auf unser Herrchen, den Dieter, der heut auf Wörkoholiker-Manier nach einem besonders anstrengenden Arbeitstag erst um halb elf heimkehrte.

Als er dann endlich wieder in die heimischen Pantoffeln steigen, und das einengende Gewand des Beamten abstreifen durfte, begann ein gemütlicher Abend in der Küche. Auch der 64-jährige Vater zeigte sich, und brachte selbstgebackene Gutsles mit. Obwohl der Dieter gewiss kein Beau ist, und darüber hinaus einen unappetitlich langen Bart trägt, wie der Bindinger1, bei dem einst die Eidotter vom Frühstück hängen blieben, beginnt er mich doch zu rühren, so daß ich der Simone in meinem Abbo heut bereits von seinen Zettelchen berichtet habe, die er uns immer schreibt und gut sichtbar irgendwo hinklebt. Sie klingen allesamt, als seien sie von einem Verwandten ersten Grades geschrieben! berichtete ich gerührt.

Zum Abendessen gab es den köstlichen Salat von der Angelika, Brot mit Leberpastete und Wein.

„In Vino Caritas!“ scherzte der Dieter so entzückend. Bei diesem Abendessen, das bis nach zwei Uhr nachts dauern sollte, konnten wir je unser volles Scherzkekstum entfalten. Es herrschte eine Bombenstimmung. Die Angelika lachte immer so entzückend zu den gezündeten Scherzen. Ich ließ mein ganzes Erheiterungsrepertorium ab.

1 der gefürchtete Mathematikprofessor von Ludwig Thoma aus den Lausbubengeschichten

Freitag, 4. Dezember

Bleich und schnieselnd

Am Morgen fühlte ich mich so heizungsträg. Man erhebt sich in ein modernes Theaterstück hinein, sollte etwas tun und bringt doch förmlich nichts zuwege. Im Traum hatte ich grade grandiose Händel-Opern erfunden, gesungen und gestisch bewedelt.

Im wahren Leben spülte ich zunächst das Geschirr. Das mittlerweile traditionell gewordene gemütliche Frühstück mit der Angelika zog sich bis in die Mittagsstunden hin. Schon haben wir uns ein wenig befreundet, und sogar verwandtschaftliche Gefühle beginnen sich zu bilden. Ich wühlte alte, erheiternde Anekdoten aus meinem Leben hervor. Von Opas Alltag: Wie er mal Mobblns Brille aufsetzte, durch die er nichts sehen konnte. Da er sie aber bezahlt hatte, behielt er sie trotzdem auf. Als Schwabe hatte der Opa die allerbilligste Brille gekauft, die es überhaupt gibt. Beide Brillen sahen völlig gleich aus. Erst als Mobbl am Abend das Fernsehprogramm studieren wollte, bemerkte man die Verwechslung.

Dann erzählte ich, daß Mobbl immer nur ORF 2 schaut, und wie der Opa sie bei ihren Filmen und Seifenopern gelegentlich auf leicht ungezogene Weise molestiert. Wenn auf dem Bildschirm jemand sagt: „Du hast keinen Anstand!“ dann frägt der Opa auf höchst störende Weise: „Wer kann keinen Handstand?“ anekdötelte ich, und die Angelika lachte vergnügt.

Unter dem Spiegel steht ein gerahmtes Foto von einem zirka einjährigen kleinen Buttje, der ganz ernst schaut. Ich muß dabei immer an den süßen Buz denken, der so erschreckend schnell sechzig geworden ist, auch wenn man das Gefühl hat, sein Leben habe doch eben erst angefangen.

Während ich all dies zusammendachte, schaute ich im Spiegel ein wenig darauf, den Bogen im Sinne Buzens nicht gar zu gekantet zu halten, und ihn auch mal bis zur Spitze durchzuziehen.

Zur Mittagsstund ist der Dieter nach Hause gekommen, und brachte uns eine Dose dänischer Butterkekse mit. Er selber hat an solchen Kostbarkeiten manchmal fünf bis sechs Wochen lang Freude, während wir uns kaum bremsen konnten, wenn wir einmal damit angehoben hatten, zu naschen.

Schließlich brachen wir zu unserem geplanten Ausflug nach Freiburg auf. Zunächst fährt man durch eine Ortschaft mit Namen „Grün“.

„Da muß i immer an mich selber denkö!“ scherzte der Dieter.

„Ich freue mich immer, wenn wir durch Grün fahren!“ sagte ich verbindend.

Zunächst hörten wir auf der Reise durch die verzuckerte Landschaft Chorwerke von Bach, und zuweilen wedelte der Dieter auf Art eines Musikliebhabers- und kenners genüßlich mit der Hand dazu.

Mehr als eine Stunde lang hat die Fahrt gedauert.

Der Dieter erzählte uns, daß er jetzt Lust bekäme „Brötli“ zu backen, da ihm gerade so weihnachtlich zumute sei. Früher haben sie um diese Jahreszeit mit der Oma Strohsterne gebastelt.

Obwohl ich immer versuche, nett und aufmerksam zu sein, war ich plötzlich von einem Autismusstrudel in die Tiefe gezogen worden. Meine Wangen fühlten sich so schön ofenwarm an. Dann hörten wir auch noch Schumanns erste Symphonie, die von der Angelika jedoch nicht so toll gefunden wurde, was aber wahrscheinlich an einer herabgeleierten und ausgelutschten Wiedergabe lag? Die Angelika ist in jener Musiktradition erzogen worden, daß in der Musik immer etwas passieren müsse.