Der Atlas der besonderen Kinder - Ransom Riggs - E-Book
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Ransom Riggs

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Beschreibung

Endlich! Die Abenteuer der besonderen Kinder und ihrer faszinierenden Lehrerin Miss Peregrine gehen weiter - hier kommt »Der Atlas der besonderen Kinder«, Teil 4 von Ransom Riggs' herausragender Fantasy-Bestseller-Serie! Miss Peregrine kehrt gemeinsam mit Jacob, Emma und den anderen besonderen Kindern in Jacobs Heimat Florida zurück. Gemeinsam versuchen sie, sich in die moderne Zeit einzufügen – inklusive langen Strandspaziergängen und anderen normalen Tätigkeiten. Doch die amerikanischen Zeitschleifen, in denen sich die Besonderen vor der Welt verbergen, sind noch weitgehend unerforscht und schon bald ist Miss Peregrine von der Idee fasziniert, einen Atlas der Schleifen anzufertigen. Dann findet Jacob heraus, dass sein Großvater Abe nicht alleine gegen die Monster gekämpft hat, die die besonderen Kinder jagen - und dass Abes Partner noch lebt. Aber auch altbekannte Feinde sind lebendiger, als es Jacob lieb ist.... Für alle Fans fantastischer Lektüre mit dem besonderen Etwas und der großartigen Verfilmung von Tim Burton »Ein wunderbar packendes, mystisches Fantasy-Buch, das sich so leicht in keine Schublade zwängen lässt.« FAZ.net über »Die Insel der besonderen Kinder« Die komplette Fantasy-Reihe des amerikanischen Bestseller-Autors Ransom Riggs im Überblick: Band 1 - Die Insel der besonderen Kinder Band 2 - Die Stadt der besonderen Kinder Band 3 - Die Bibliothek der besonderen Kinder Band 4 - Der Atlas der besonderen Kinder Band 5 - Das Vermächtnis der besonderen Kinder Band 6 - Die Zukunft der besonderen Kinder Bonus - Die Legenden der besonderen Kinder

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Ransom Riggs

Der Atlas der besonderen Kinder

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Kinkel

Knaur e-books

Über dieses Buch

Miss Peregrine kehrt gemeinsam mit Jacob, Emma und den anderen besonderen Kindern in Jacobs Heimat Florida zurück. Gemeinsam versuchen sie, sich in die moderne Zeit einzufügen – inklusive langen Strandspaziergängen und anderen normalen Tätigkeiten.

Doch die amerikanischen Zeitschleifen, in denen sich die Besonderen vor der Welt verbergen, sind noch weitgehend unerforscht und schon bald ist Miss Peregrine von der Idee fasziniert, einen Atlas der Schleifen anzufertigen.

Dann findet Jacob heraus, dass sein Großvater Abe nicht alleine gegen die Monster gekämpft hat, die die besonderen Kinder jagen – und dass Abes Partner noch lebt. Aber auch altbekannte Feinde sind lebendiger, als es Jacob lieb ist …

Inhaltsübersicht

PrologKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19
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Prolog

Nie zuvor habe ich so oft an meinem Verstand gezweifelt wie in jener ersten Nacht, als die Vogelfrau und ihre Schützlinge kamen, um mich vor der Irrenanstalt zu retten. Dahin sollte ich nämlich gerade gebracht werden und saß eingekeilt zwischen meinen beiden fleischigen Onkeln auf dem Rücksitz des Wagens meiner Eltern, als sich urplötzlich eine Wand aus besonderen Kindern vor unserem Auto aufbaute. Als wären sie aus meiner Fantasie direkt in unsere Einfahrt gesprungen, erstrahlten sie im Licht unserer Scheinwerfer wie eine Anordnung von Engeln.

Schlitternd kam der Wagen zum Stehen. Eine Staubwolke verhüllte alles vor unserer Windschutzscheibe. Hatte ich ihr Echo heraufbeschworen, ein flackerndes Hologramm, das aus den Tiefen meines Geistes projiziert wurde? Alles schien glaubwürdiger, als dass meine Freunde tatsächlich hier sein konnten. Besondere lassen nahezu alles möglich erscheinen, aber ein Besuch von ihnen gehörte zu den wenigen unmöglichen Dingen, derer ich mir noch sicher sein konnte.

Es war meine Entscheidung gewesen, Devil’s Acre zu verlassen. Wieder nach Hause zu gehen, wohin meine Freunde mir nicht folgen konnten. Ich hatte gehofft, durch meine Rückkehr die losen Enden meines Leben wieder zusammenzufügen: das Normale und das Besondere, das Gewöhnliche und das Ungewöhnliche.

Noch so ein Ding der Unmöglichkeit. Mein Großvater hatte versucht, seine Leben miteinander zu verknüpfen, und war gescheitert, am Ende entfremdet von seiner besonderen und auch von seiner normalen Familie. Indem er sich weigerte, ein Leben gegenüber dem anderen zu bevorzugen, hatte er sich dazu verdammt, beide zu verlieren – und ich stand im Begriff, dasselbe zu tun.

Ich schaute hoch und sah durch den sich legenden Staub, dass sich eine Gestalt auf uns zubewegte.

»Wer zur Hölle sind Sie?«, fragte mein Dad.

»Alma LeFay Peregrine, kommissarische Vorsitzende des Ymbrynen-Rates und Headmistress dieser besonderen Kinder. Wir sind uns bereits begegnet, aber daran werden Sie sich wohl kaum erinnern. Kinder, sagt Guten Tag.«

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KAPITEL 1

Es ist seltsam, was der Verstand verarbeiten kann und wogegen er sich sträubt. Ich hatte gerade den wundersamsten Sommer überlebt, den man sich nur vorstellen kann – war zurückgesprungen in vergangene Jahrhunderte, hatte unsichtbare Monster gezähmt, mich in die Exfreundin meines Großvaters verliebt. Aber erst hier, in der gewöhnlichen Gegenwart, im vorstädtischen Florida in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, fand ich es schwer, meinen Augen zu trauen.

Da war Enoch – auf unsere beigefarbene Couchgarnitur gefläzt schlürfte er Cola aus dem Tampa-Bay-Seeräuber-Becherglas meines Vaters; da war Olive, die die Schnürsenkel ihrer Schuhe löste, um zur Decke zu schweben und mit unserem Ventilator Karussell zu fahren. Da waren Horace und Hugh in unserer Küche. Horace studierte die Fotos an der Kühlschranktür, während Hugh die Schränke nach einem Snack durchwühlte. Da war Claire, die Kinnladen beider Münder offen stehend, während sie auf den großen schwarzen Monolithen von Fernseher an der Wand starrte. Da war Millard. Die Wohndesign-Zeitschriften meiner Mutter schwebten vom Sofatisch hoch und klappten in der Luft hängend auf, während er sie durchblätterte. Die Form seiner nackten Füße drückte sich in unseren Teppich. Es war ein Vermischen der Welten, wie ich es mir schon tausend Mal vorgestellt, aber nicht einmal im Traum für möglich gehalten hatte. Doch hier war es nun: das Vorher und das Nachher, die mit der Kraft von Planeten zusammenprallten.

Millard hatte bereits versucht, mir zu erklären, wie es kam, dass sie alle hier sein konnten, allem Anschein nach, ohne dass es für sie gefährlich war und sie sich fürchten mussten. Der Zusammenbruch der Zeitschleife, bei dem wir beinahe in Devil’s Acre ums Leben gekommen wären, hatte ihre innere Uhr zurückgesetzt. Den Grund verstand auch er nicht richtig, aber zumindest liefen sie nicht mehr Gefahr, rasend schnell zu altern, wenn sie sich zu lange in der Gegenwart aufhielten. Sie alterten jetzt einen Tag nach dem anderen, so wie ich es tat, als hätten sie nicht den größten Teil des 20. Jahrhunderts damit verbracht, ein und denselben Tag immer wieder zu erleben. Es war zweifellos ein Wunder – ein noch nie da gewesener Durchbruch in der Geschichte der Besonderen –, und doch war die Art und Weise, wie es dazu kam, nicht halb so erstaunlich wie die Tatsache, dass sie überhaupt hier waren: dass Emma neben mir stand, die wunderschöne, starke Emma, ihre Hand mit meiner verschränkt, ihre grünen Augen leuchtend, während sie staunend den Raum betrachtete. Emma, von der ich so oft geträumt hatte in den langen, einsamen Wochen seit meiner Rückkehr nach Hause. Sie trug ein praktisches, graues Kleid, das ihr bis über die Knie fiel, feste flache Schuhe, in denen sie bei Bedarf schnell rennen konnte, das rotblonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Jahrzehntelang war sie darauf angewiesen, dass alles praktisch sein musste. Aber weder die Verantwortung noch das Gewicht der Jahre, die sie trug, hatten den mädchenhaften Funken löschen können, der sie von innen heraus leuchten ließ. Sie war gleichermaßen hart und weich, sauer und süß, alt und jung. Dass sie so viel beinhaltete, liebte ich an ihr am meisten. Ihre Seele war unergründlich.

»Jacob?«

Sie sprach mit mir. Ich versuchte zu antworten, aber meine Gedanken versanken in träumerischem Treibsand.

Sie wedelte mit der freien Hand vor meinem Gesicht herum und schnipste mit den Fingern, wobei ihr Daumen funkte wie ein Feuerstein. Ich schreckte auf und kehrte aus meinen Tagträumen zurück in die Realität.

»Hey«, sagte ich. »Entschuldige.«

»Wo warst du?«

»Ich war nur –« Ich machte eine fahrige Handbewegung, als würde ich Spinnenweben aus der Luft schlagen. »Es tut gut, dich zu sehen, das ist alles.« Einen ganzen Satz zustande zu bringen fühlte sich an, als müsse ich ein Dutzend Luftballons in meinen Armen halten.

Ihr Lächeln konnte den Anflug von Besorgtheit nicht verbergen. »Mir ist klar, wie seltsam es für dich sein muss, dass wir alle hier hereingeschneit kommen. Hoffentlich haben wir dich nicht zu sehr erschreckt.«

»Nee. Na ja, vielleicht ein bisschen.« Ich wies mit dem Kopf auf den Raum und alles darin. Fröhliches Chaos begleitete unsere Freunde, wo auch immer sie sich aufhielten. »Du bist sicher, dass ich nicht träume?«

»Bist du denn sicher, dass ich nicht träume?« Sie nahm kurz auch meine andere Hand und drückte sie. Ihre Wärme und Festigkeit schienen der Welt eine gewisse Stabilität zu verleihen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich mir im Laufe der Jahre vorgestellt habe, diese Kleinstadt einmal zu besuchen.«

Einen Moment lang war ich verwirrt, aber dann … natürlich. Wie konnte ich das vergessen? Mein Großvater. Abe hatte hier schon gelebt, bevor mein Vater auf die Welt kam: Ich erinnerte mich an seine Adresse in Florida auf den Briefen, die Emma aufbewahrt hatte. Ihr Blick wanderte ins Leere, als würde sie sich in Erinnerungen verlieren. Ich verspürte einen Hauch von Eifersucht – und schämte mich sofort dafür. Sie hatte ein Recht auf ihre Vergangenheit, und es stand ihr zu, sich durch den Zusammenprall unserer Welten genauso ankerlos zu fühlen wie ich.

Miss Peregrine kam hereingestürmt wie ein Tornado. Sie hatte ihren Reisemantel abgelegt und trug ein auffälliges grünes Tweedjackett samt Reithosen, als sei sie soeben auf dem Rücken eines Pferdes hier eingetroffen. Während sie den Raum durchquerte, verteilte sie Befehle.

»Olive, komm von da oben runter! Enoch, Füße vom Sofa!«

Dann winkte sie mich mit dem Zeigefinger zu sich und deutete in Richtung Küche. »Mr. Portman, es gibt Angelegenheiten, die deiner Aufmerksamkeit bedürfen.«

Emma hakte sich bei mir ein und begleitete mich, wofür ich ihr dankbar war; das Zimmer drehte sich immer noch um mich herum.

»Geht ihr knutschen?«, fragte Enoch. »Wir sind doch gerade erst angekommen!«

Emmas freie Hand schoss vor und sengte die Spitzen seiner abstehenden Haare an. Enoch fuhr zusammen und schlug mit der flachen Hand auf seinen rauchenden Kopf. Ich lachte so herzhaft, dass sich ein Teil der Spinnenweben aus meinem Schädel verflüchtigte.

Ja, meine Freunde waren real und wirklich hier. Und nicht nur das: Miss Peregrine hatte gesagt, dass sie eine Weile bleiben würden. Sie sollten etwas über die moderne Welt lernen und Ferien machen. Das war eine wohlverdiente Erholung von dem Elend in Devil’s Acre – das zu ihrer vorübergehenden Heimat geworden war, nachdem ihr stolzes altes Haus auf Cairnholm nicht mehr existierte. Natürlich waren sie willkommen, und ich war unbeschreiblich dankbar, sie hier zu haben. Aber wie sollte das funktionieren? Was war mit meinen Eltern und Onkeln, die Bronwyn in diesem Moment in der Garage bewachte?

Es war zu viel, als dass ich mich mit allem auf einmal herumschlagen konnte, also schob ich es für den Augenblick beiseite.

Miss Peregrine unterhielt sich vor dem offenen Kühlschrank mit Hugh. Die beiden wirkten inmitten des Edelstahls und des nüchternen Designs der modernen Küche meiner Eltern grotesk fehlplatziert – wie zwei Schauspieler, die auf das falsche Filmset spaziert waren. Hugh wedelte mit einer Plastikpackung Streichkäse.

»Aber hier gibt es nur seltsame Nahrungsmittel, und ich habe seit Jahrhunderten nichts mehr gegessen!«

»Jetzt übertreib mal nicht so, Hugh.«

»Tue ich nicht. Auf Devil’s Acre ist es 1886, und dort haben wir gefrühstückt.«

Horace kam aus unserer begehbaren Speisekammer marschiert. »Ich bin fertig mit meiner Bestandsaufnahme und offen gesagt entsetzt. Eine Tüte Backpulver, eine Dose in Salz eingelegte Sardinen und eine Schachtel mit von Rüsselkäfern befallenen Keksen. Hat die Regierung die Lebensmittel rationiert? Herrscht Krieg?«

»Wir lassen uns meistens Essen liefern«, sagte ich und stellte mich neben ihn. »Meine Eltern kochen im Grunde nicht.«

»Und warum haben sie dann diese bombastische Küche?«, fragte Horace. »Ich mag ja ein versierter Chef de Cuisine sein, aber selbst ich kann nichts aus Luft kochen.«

Die Wahrheit lautete, mein Vater hatte die Küche in einer Design-Zeitschrift gesehen und entschieden, dass er sie unbedingt haben musste. Die Kosten versuchte er damit zu rechtfertigen, dass er versprach, kochen zu lernen und dann legendäre Dinnerpartys für die Familie zu schmeißen – aber, wie so viele seiner Pläne verlief auch dieser nach ein paar Kochstunden im Sande. Und nun besaßen sie diese irrsinnig teure, riesige Küche, die hauptsächlich dafür genutzt wurde, Tiefkühlgerichte oder Reste von Take-aways aufzuwärmen. Aber statt das zu erzählen, zuckte ich nur mit den Schultern.

»Ihr werdet ganz sicher nicht in den nächsten fünf Minuten verhungern«, sagte Miss Peregrine und scheuchte sowohl Horace als auch Hugh aus der Küche. »Also dann. Du hast vorhin ein bisschen wackelig auf den Beinen gestanden, Mr. Portman. Fühlst du dich jetzt gut?«

»Mit jeder Minute besser«, versicherte ich ein bisschen verlegen.

»Möglicherweise leidest du unter einem leichten Zeitschleifen-Lag«, stellte Miss Peregrine fest. »In deinem Fall ein bisschen verzögert. Das ist absolut normal bei Zeitreisenden, vor allem bei denen, für die es neu ist.« Sie sprach über ihre Schulter hinweg mit mir, während sie sich durch die Küche bewegte und in jeden Schrank spähte. »Die Symptome sind für gewöhnlich unbedeutend, wenn auch nicht immer. Wie lange ist dir schon schwindelig?«

»Erst seit ihr hier aufgetaucht seid. Aber wirklich, es geht mir gut und –«

»Was ist mit nässenden Geschwüren, Beulen an den Füßen oder Migräne?«

»Nichts.«

»Plötzliche Verwirrtheitszustände?«

»Äh … nicht, dass ich mich erinnere.«

»Über unbehandelte Zeitschleifen-Lags macht man keine Witze, Mr. Portman. Es sind schon Menschen daran gestorben. »Hey – Kekse!« Sie holte eine Schachtel aus einem Schrank, schüttete sich einen Keks auf die Hand und schob ihn sich in den Mund. »Schnecken in deinem Kot?«, fragte sie kauend.

Ich schluckte ein Kichern herunter. »Nein.«

»Unerwartete Schwangerschaft?«

Emma zuckte zurück. »Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Soweit wir wissen, gab es davon erst einen Fall«, sagte Miss Peregrine. Sie legte die Kekspackung fort und sah mich fest an. »Der Betroffene war männlich.«

»Ich bin nicht schwanger«, sagte ich ein bisschen zu laut.

»Und dafür danken wir Gott!«, rief jemand aus dem Wohnzimmer.

Miss Peregrine tätschelte meine Schulter. »Klingt so, als hättest du das Schlimmste überstanden. Aber ich hätte dich warnen sollen.«

»Ist vielleicht besser, dass Sie es nicht getan haben«, sagte ich. Ich wäre paranoid geworden, ganz davon zu schweigen, dass ich den vergangenen Monat damit verbracht hätte, heimlich Schwangerschaftstests durchzuführen und meinen Kot nach Schnecken abzusuchen. Dann hätten meine Eltern mich schon viel früher in die Klapsmühle gebracht.

»Na gut«, sagte Miss Peregrine. »Und nun, bevor wir uns alle entspannen und es uns gut gehen lassen, ein bisschen Arbeit.« Sie marschierte in einem engen Radius zwischen dem Doppelbackofen und dem Gemüsespülbecken umher. »Punkt eins: Sicherheit und Schutz. Ich habe dieses Haus bis zur Grundstücksgrenze ausgekundschaftet. Es wirkt alles ruhig, aber der Schein kann trügen. Irgendetwas, was ich über eure Nachbarn wissen sollte?«

»Als da wäre?«

»Kriminelle Vergangenheit? Gewaltbereitschaft? Häufiger Feueralarm?«

Wir hatten lediglich zwei Nachbarn: Mrs. Melloroos, eine an den Rollstuhl gefesselte Achtzigjährige, die das Haus nur mithilfe der bei ihr lebenden Krankenschwester verließ, und ein deutsches Ehepaar, das den größten Teil des Jahres irgendwo anders auf der Welt verbrachte und seinen geschmacklosen Riesenkasten im Cape-Cod-Stil nur im Winter nutzte.

»Mrs. Melloroos ist manchmal ein bisschen neugierig«, sagte ich. »Aber solange niemand in ihrem Vorgarten unverhohlen seiner Besonderheit nachgeht, wird sie uns bestimmt keinen Ärger machen.«

»Ist registriert«, sagte Miss Peregrine. »Punkt zwei: Hast du seit deiner Rückkehr die Anwesenheit von Hollowgasts gespürt?«

Allein die Erwähnung dieses Wortes, das seit Wochen weder meine Lippen noch meine Gedanken passiert hatte, jagte meinen Blutdruck in die Höhe.

»Nein«, versicherte ich rasch. »Warum? Gab es weitere Überfälle?«

»Keine Überfälle. Überhaupt kein Anzeichen von ihnen. Aber genau das beunruhigt mich. Und nun, was deine Familie betrifft –«

»Haben wir denn nicht alle in Devil’s Acre getötet oder gefangen?«, fiel ich ihr ins Wort, nicht bereit, das Hollowgast-Thema so schnell abzuhaken.

»Nicht alle. Eine kleine Gruppe konnte nach unserem Sieg zusammen mit ein paar Wights entkommen. Wir glauben, dass sie sich nach Amerika abgesetzt haben. Und obwohl ich bezweifle, dass sie sich dir nähern würden – ich wage zu behaupten, dass sie ihre Lektion gelernt haben –, kann ich nur vermuten, dass sie irgendetwas planen. Und Vorsichtsmaßnamen können nicht schaden.«

»Sie fürchten sich vor dir, Jacob«, sagte Emma stolz.

»Echt?«, fragte ich.

»Nach der Abreibung, die du ihnen verpasst hast, wären sie dumm, es nicht zu tun«, ertönte Millard aus der Küchenecke.

»Höfliche Menschen belauschen keine Privatgespräche«, schnaubte Miss Peregrine.

»Ich habe nicht gelauscht, ich war hungrig. Außerdem wurde ich geschickt, um Sie zu bitten, Jacob nicht ganz mit Beschlag zu belegen. Wir sind schließlich einen verdammt weiten Weg hergekommen, um ihn zu sehen.«

»Die anderen haben Jacob sehr vermisst«, wandte sich Emma an Miss Peregrine. »Fast so sehr wie ich.«

»Vielleicht ist es tatsächlich Zeit, dass du dich an alle wendest«, sagte Miss Peregrine zu mir. »Halte eine Begrüßungsrede. Gib ein paar Grundregeln bekannt.«

»Grundregeln?«, fragte ich. »Was zum Beispiel?«

»Sie sind meine Schutzbefohlenen, Mr. Portman, aber das hier ist deine Stadt und deine Zeit. Ich brauche deine Hilfe, um alle von Schwierigkeiten fernzuhalten.«

»Sorg nur dafür, dass alle etwas zu essen bekommen«, sagte Emma.

Ich wandte mich an Miss Peregrine. »Was wollten Sie vorhin über meine Familie sagen?«

Sie konnten nicht bis in alle Ewigkeit in der Garage gefangen gehalten werden, und die Frage, was wir mit ihnen anfangen sollten, beunruhigte mich durchaus.

»Keine Sorge«, sagte Miss Peregrine. »Bronwyn hat die Situation unter Kontrolle.«

Die Worte waren ihr kaum über die Lippen, als aus Richtung der Garage ein so lauter Knall ertönte, dass die Wände wackelten. Durch die Vibration kippten Gläser aus dem Küchenregal und zersprangen klirrend auf dem Fußboden.

»Hört sich ganz so an, als sei die Situation nicht unter Kontrolle«, sagte Millard.

Wir rannten los.

◊ ◊ ◊

»Bleibt, wo ihr seid!«, rief Miss Peregrine in Richtung Wohnzimmer.

Ich stürmte aus der Küche, den hinteren Flur entlang. Emma war direkt hinter mir. Adrenalin schärfte meine Sinne. Ich war nicht sicher, was mich in der Garage erwartete. Rauch? Blut? Es hatte sich angehört wie eine Explosion, aber womit ich definitiv nicht rechnete, war, meine Eltern und Onkel friedlich schlafend wie Babys in unserem Wagen vorzufinden. Die Motorhaube des Autos hatte eine tiefe Delle in das heruntergelassene Garagentor gedrückt, und auf dem Boden glitzerten Splitter der zerbrochenen Scheinwerfer. Der Motor lief im Leerlauf.

Bronwyn stand hinter dem Wagen, mit der baumelnden Stoßstange in der Hand. »Oh, das tut mir echt leid«, sagte sie und ließ die Stoßstange mit einem scheppernden Klong auf den Boden fallen.

Als mir klar wurde, dass ich den Motor abstellen musste, bevor wir alle erstickten, löste ich mich von den anderen und lief zur Fahrertür. Sie war abgeschlossen. Natürlich. Meine Familie hatte versucht, sich in ihrer Panik vor Bronwyn zu verschanzen.

»Ich kann sie öffnen«, sagte Bronwyn. »Tretet zurück!«

Sie stellte sich breitbeinig vor die Tür und packte den Griff mit beiden Händen.

»Was hast du –«, begann ich zu fragen, aber da hatte sie die Tür schon mit einem heftigen Ruck aus den Angeln gerissen. Nach den Regeln der Physik sorgten Gewicht und Schwung nun dafür, dass ihr die Tür aus den Händen quer durch die Garage flog, wo sie sich in die rückwärtige Wand bohrte. Die davon ausgehende Vibration war so stark, dass sie mich zurückwarf.

»Heiliges Kanonenrohr«, sagte Bronwyn in die klingelnde Stille hinein, die dem Lärm folgte.

Die Garage ähnelte allmählich den zerbombten Häusern, die ich während des Krieges in London gesehen hatte.

»Bronwyn!«, schrie Emma und nahm die schützenden Hände wieder vom Kopf herunter. »Du hättest jemanden enthaupten können!«

Ich beugte mich in die nun leere Türöffnung, langte über meinen schlafenden Vater hinweg und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Meine Mutter war gegen meinen schnarchenden Vater gesackt. Auf der Rückbank schliefen meine Onkel Arm in Arm. Trotz des Lärms hatte sich keiner von ihnen gerührt. Ich kannte nur eine Substanz, die Menschen in so tiefen Schlaf versetzen konnte: ein zu Puder zerriebenes Stück von Mother Dust. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich Bronwyn einen kleinen Beutel mit dem Präparat in der Hand halten, während sie versuchte, zu erklären, was passiert war.

»Der Mann auf der Rückbank«, sagte sie und zeigte auf meinen Onkel Bobby, »ich habe gesehen, wie er sein … sein kleines …« Sie zog Bobbys Mobiltelefon aus ihrer Tasche.

»Handy«, sagte ich.

»Genau, das«, bestätigte sie. »Also habe ich es ihm weggenommen, woraufhin alle so wütend wurden wie ein Sack Frettchen, und dann habe ich das gemacht, was Miss P mir gezeigt hat.«

»Du hast den Puder eingesetzt?«, fragte Miss Peregrine.

»Ich habe sie direkt damit angepustet, aber sie sind nicht sofort eingeschlafen. Jacobs Dad hat den Motor gestartet …« Bronwyn zeigte auf das zerbeulte Garagentor, und ihr versagten die Worte.

Miss Peregrine tätschelte ihr den Arm. »Ja, Liebes, ich sehe es. Du hast alles ganz richtig gemacht.«

»Jaaa«, sagte Enoch. »Du hast ganze Arbeit geleistet.«

Wir drehten uns zur Tür und sahen, dass die anderen Kinder uns dicht gedrängt vom Flur aus beäugten.

»Ihr solltest doch bleiben, wo ihr wart«, sagte Miss Peregrine.

»Nach dem Lärm?«, erwiderte Enoch.

»Tut mir leid, Jacob«, sagte Bronwyn. »Sie wurden so wütend, und ich wusste nicht, was ich tun soll. Ich habe sie doch nicht verletzt, oder?«

»Ich denke nicht.« Ich hatte den durch Mother Dust hervorgerufenen, samtigen Schlaf selbst schon erlebt, und es war für ein paar Stunden gar nicht mal der schlechteste Zustand. »Kann ich das Handy meines Onkels mal sehen?«

Bronwyn reichte es mir. Der Bildschirm war spinnenförmig gesprungen, aber lesbar. Als er aufleuchtete, sah ich eine Reihe von Nachrichten, die meine Tante geschickt hatte.

Was ist los?

Wann bist du zu Hause?

Alles okay?

Als Antwort hatte mein Onkel angefangen zu tippen Ruf die Cops und … Dann merkte er vermutlich, dass er das ja genauso gut selbst tun konnte. Aber bevor es ihm gelang, hatte Bronwyn ihm das Telefon weggenommen. Wenn sie nur ein paar Sekunden langsamer gewesen wäre, hätten wir jetzt vielleicht Besuch von einer Spezialeinheit.

Meine Brust zog sich zusammen, als mir plötzlich klar wurde, wie schnell unsere Lage gefährlich und kompliziert werden konnte. Teufel, dachte ich, schaute von dem zerstörten Auto über die zerstörte Wand bis zum zerstörten Tor. Das war sie bereits.

»Keine Sorge, Jacob. Ich habe schon heiklere Situation behoben.« Miss Peregrine ging um den Wagen herum und begutachtete den Schaden. »Deine Familie wird bis morgen früh tief schlafen, und ich schlage vor, dass wir das ebenfalls tun.«

»Und was dann?«, entfuhr es mir, und der Angstschweiß brach mir aus. Allerdings war es in der nicht klimatisierten Garage auch drückend schwül.

»Sobald sie aufwachen, lösche ich ihre jüngsten Erinnerungen und schicke deine Onkel nach Hause.«

»Aber was werden sie …«

»Ich werde ihnen erklären, dass wir entfernte Verwandte väterlicherseits aus Europa sind, die Abes Grab besuchen wollen. Und was deinen Termin in der Nervenheilanstalt betrifft, so fühlst du dich bereits sehr viel besser und brauchst keine psychiatrische Behandlung mehr.

»Und was ist mit –«

»Oh, sie werden es glauben«, unterbrach sie mich. »Normale sind sehr beinflussbar nach dem Löschen von Erinnerungen. Vermutlich könnte ich sie sogar davon überzeugen, dass wir Besucher von einer Mondkolonie sind.«

»Bitte, Miss Peregrine, hören Sie auf damit.«

Sie lächelte. »Ich bitte um Verzeihung. Ein Jahrhundert als Headmistress schult einen darin, aus Gründen der Zweckdienlichkeit Fragen vorherzusehen. Und jetzt kommt, Kinder, wir müssen den Plan für die kommenden Tage besprechen. Es gibt viel über die Gegenwart zu lernen, und was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«

Sie begann, alle zurück in Richtung Wohnzimmer zu treiben, während die Kinder sie mit Fragen und Beschwerden bombardierten.

»Wie lange können wir bleiben?«, fragte Olive.

»Gehen wir morgen früh auf Erkundungsreise?«, fragte Claire.

»Ich würde gern etwas essen, bevor ich jämmerlich zugrunde gehe«, klagte Millard.

Ich verließ als Letzter die Garage, zögerte nicht nur, weil ich mich schlecht fühlte, meine Familie über Nacht hier zurückzulassen, sondern auch, weil mich deren drohende Gedächtnisauslöschung beunruhigte. Miss Peregrine wirkte zuversichtlich, aber das hier würde eine umfangreichere Auslöschung sein als die in London. Dort hatte sie gerade einmal zehn Minuten ihrer Erinnerung ausradiert. Wenn sie nun nicht genug oder zu viel löschte? Wenn mein Dad alles vergaß, was er über Vögel wusste, oder meine Mum das ganze Französisch, das sie in der Schule gelernt hatte?

Eine Minute lang betrachtete ich die Schlafenden, und eine neue Last legte sich auf meine Schultern. Ich fühlte mich plötzlich ungemütlich erwachsen, während meine Familienmitglieder – verletzlich, friedlich, ein bisschen sabbernd – beinahe aussahen wie Babys.

Vielleicht gab es noch einen anderen Weg.

Emma schob den Kopf durch die offene Tür. »Alles okay? Ich fürchte, die Jungs proben den Aufstand, wenn nicht bald das Abendessen serviert wird.«

»Ich war nicht sicher, ob ich sie allein lassen soll«, sagte ich und deutete mit dem Kopf auf meine Familie.

»Sie werden nicht verschwinden und müssen nicht bewacht werden. Bei der Dosis, die sie bekommen haben, schlafen sie wie Murmeltiere.«

»Ich weiß. Es ist nur … ich fühle mich ein bisschen schlecht.«

»Das brauchst du nicht.« Sie kam zu mir und stellte sich neben mich. »Es ist nicht deine Schuld. Ganz und gar nicht.«

Ich nickte. »Ich finde es nur traurig.«

»Was?«

»Dass Abe Portmans Sohn nie erfahren wird, was für ein besonderer Mann sein Vater gewesen ist.«

Emma nahm meinen Arm und legte ihn sich um die Schultern. »Ich finde es hundert Mal trauriger, dass er nie erfahren wird, was für ein besonderer Mann sein Sohn ist.«

Ich beugte mich gerade vor, um sie zu küssen, als das Handy meines Onkels in meiner Tasche summte. Wir zuckten beide zusammen. Ich holte es heraus und entdeckte eine neue Nachricht von meiner Tante.

Ist der verrückte J jetzt in der Klapse?

»Was ist?«, fragte Emma.

»Nichts Wichtiges.« Ich schob das Handy zurück in meine Tasche und wandte mich der Tür zu. Plötzlich schien es mir gar keine so schlechte Idee zu sein, meine Familie über Nacht in der Garage zu lassen. »Komm schon, lass uns überlegen, was wir zu Abend essen.«

»Bist du sicher?«, fragte Emma.

»Absolut.«

Beim Hinausgehen schaltete ich das Licht aus.

◊ ◊ ◊

Ich schlug vor, Pizza bei einem Restaurant zu bestellen, das so spät noch lieferte. Nur ein paar der Kinder wussten überhaupt, was Pizza war. Und sich Essen liefern zu lassen war ihnen völlig fremd.

»Sie bereiten es woanders zu und bringen es dir nach Hause?«, fragte Horace, als habe allein die Vorstellung etwas Skandalöses an sich.

»Pizza – ist das floridianische Küche?«, fragte Bronwyn mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier.

»Nicht wirklich«, antwortete ich. »Aber vertraut mir, es wird euch schmecken.«

Ich gab telefonisch eine Riesenbestellung durch, und wir machten es uns auf den Sofas und Sesseln im Wohnzimmer bequem, während wir auf die Lieferung des Essens warteten. Miss Peregrine flüsterte mir ins Ohr: »Ich glaube, es ist Zeit für die Rede.« Ohne eine Antwort abzuwarten, räusperte sie sich und verkündete, dass ich etwas zu sagen habe. Also stand ich auf und begann verlegen, zu improvisieren.

»Ich bin so froh, dass ihr alle hier seid! Keine Ahnung, ob ihr wisst, wo meine Familie mich heute Abend hinbringen wollte, aber es ist kein schönes Ziel. Ich meine …« Ich zögerte. »Ich meine, es mag dort für manche Menschen gut sein, ihr wisst schon, mit echten geistigen Problemen, aber … lange Rede, kurzer Sinn, Leute, ihr habt mir den Arsch gerettet.«

Miss Peregrine runzelte die Stirn.

»Du warst es, der unsere … Hintern gerettet hat«, sagte Bronwyn mit einem Seitenblick auf ihre Headmistress. »Wir haben uns nur revanchiert.«

»Na dann, danke. Als ihr hier aufgetaucht seid, habe ich im ersten Moment gedacht, ich würde träumen. Seit wir uns kennengelernt haben, war es mein größter Wunsch, dass ihr mich hier besuchen kommt. Deshalb konnte ich kaum glauben, dass es wirklich passiert. Ich hoffe, ich kann dafür sorgen, dass ihr euch hier genauso wohlfühlt wie ich mich bei euch in der Zeitschleife.« Ich nickte und schaute zu Boden, war plötzlich verlegen. »Also, was ich sagen will, ist, ich freue mich wahnsinnig, dass ihr hier seid, ich liebe euch, Leute. Ende des Vortrags.«

»Wir lieben dich auch!«, rief Claire, sprang aus ihrem Sessel, kam zu mir gelaufen und umarmte mich. Olive und Bronwyn schlossen sich ihr an, und schon bald wurde ich von allen so ungestüm umarmt, dass mir fast die Luft wegblieb.

»Wir sind so glücklich, hier zu sein!«, sagte Claire.

»Und nicht in Devil’s Acre«, fügte Horace hinzu.

»Wir werden so viel Spaß haben!«, trällerte Olive.

»Entschuldige, dass wir einen Teil deines Hauses zerstört haben«, sagte Bronwyn.

»Was meinst du mit wir?«, erwiderte Enoch.

»Ich bekomme keine Luft mehr«, keuchte ich. »Ihr drückt mich zu fest.«

Die Meute ging so weit auseinander, dass ich einatmen konnte. Dann quetschte sich Hugh in die frei gewordene Lücke und bohrte mir den Finger in die Brust.

»Du weißt schon, dass nicht alle von uns hier sind, oder?« Eine einzelne Biene umkreiste ihn aufgeregt. Die anderen Kinder wichen zurück, ließen Hugh und seiner wütenden Biene ein bisschen Raum.

Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, was er meinte, aber dann schämte ich mich. »Tut mir leid, Hugh. Ich wollte Fiona nicht ausschließen.«

Er schaute hinunter auf seine fusseligen Ringelsocken. »Manchmal kommt es mir so vor, als hätten alle außer mir sie vergessen.« Seine Unterlippe zitterte, und dann ballte er die Fäuste, damit es aufhörte. »Sie ist nicht tot.«

»Ich hoffe, du hast recht.«

Trotzig sah er mir in die Augen. »Ist sie nicht.«

»Okay. Ist sie nicht.«

»Ich vermisse sie wirklich, Jacob.«

»Wir anderen auch«, versicherte ich. »Ich wollte sie nicht übergehen, und ich habe sie auch nicht vergessen.«

»Entschuldigung angenommen«, sagte Hugh und wischte sich übers Gesicht. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer.

»Unglaublich«, sagte Millard nach einem Moment der Stille. »Das nenne ich einen Fortschritt.«

»Normalerweise redet er mit keinem von uns auch nur ein Wort«, sagte Emma. »Er ist wütend und will der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen.«

»Du hältst es nicht für möglich, dass Fiona noch lebt?«, fragte ich.

»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, sagte Millard.

Miss Peregrine zuckte zusammen und legte den Finger an die Lippen – sie war geräuschlos durch den Raum zu uns geschlichen. Sie legte die Hände auf unsere Rücken und schob uns dicht zusammen. »Wir haben bei jeder Zeitschleife und jeder Besonderengemeinschaft, mit der wir in Kontakt stehen, Bescheid gegeben«, sagte sie leise. »Wir haben Mitteilungen, Rundschreiben, Fotos, detaillierte Beschreibungen verschickt. Ich habe sogar Miss Wrens Taubenscouts losgeschickt und sie die Wälder nach Fiona absuchen lassen. Bisher ohne Erfolg.«

Millard seufzte. »Wenn sie noch am Leben wäre, das arme Ding, hätte sie dann nicht mittlerweile Kontakt zu uns aufgenommen? Wir sind doch leicht zu finden.«

»Vermutlich«, sagte ich. »Aber hat man auch versucht … ihre …«

»Ihre Leiche zu finden?«, beendete Millard den Satz für mich.

»Millard, bitte«, ermahnte ihn die Headmistress.

»War das taktlos? Hätte ich einen weniger exakten Terminus wählen sollen?«

»Sei einfach nur leise«, zischte Miss Peregrine.

Millard mangelte es nicht an Gefühl, er war nur nicht gut darin, Rücksicht auf die Empfindungen anderer zu nehmen.

»Der Sturz, der Fiona vermutlich das Leben kostete«, sagte Millard, »ereignete sich in der Zeitschleife von Miss Wrens Menagerie, die mittlerweile zusammengebrochen ist. Falls ihr Körper sich noch dort befindet, ist er nicht mehr zu retten.«

»Ich habe schon daran gedacht, eine Trauerfeier abzuhalten«, sagte Miss Peregrine. »Aber sobald ich das Thema anspreche, stürzt Hugh in eine tiefe Depression. Ich fürchte, wenn wir ihn zu sehr drängen …«

»Er will nicht einmal neue Bienen adoptieren«, sagte Millard. »Er sagt, er könne sie nicht so lieben wie die anderen, weil sie Fiona nie begegnet sind, also behält er nur die eine, die mittlerweile schon ziemlich alt ist.«

»Hört sich so an, als würde dieser Tapetenwechsel ihm guttun«, sagte ich.

In dem Moment klingelte es an der Tür. Keinen Augenblick zu früh, denn die Stimmung im Raum wurde mit jeder Sekunde gedrückter.

Claire und Bronwyn wollten mir durch den Flur folgen, aber Miss Peregrine blaffte sie an. »Das ist keine gute Idee! Ihr seid noch nicht bereit, um mit Normalen zu reden.«

Ich hielt es nicht für sonderlich riskant, wenn sie dem Pizzaboten begegneten – bis ich die Tür öffnete und einen Jungen sah, den ich aus der Schule kannte. Er balancierte auf beiden Händen je einen Stapel Pizzas.

»94,60«, murmelte er und riss dann die Augen auf, weil er mich offenbar erkannt hatte. »Oh, verdammt. Portman?«

»Justin. Hey.«

Sein Name lautete Justin Pamperton, aber alle nannten ihn nur Pampers. Er gehörte zu den kiffenden Skatern, die am Rande des Parkplatzgeländes der Schule herumgeisterten.

»Du siehst gut aus«, sagte er. »Geht es dir jetzt, ähm, besser?«

»Wie meinst du das?«, fragte ich und wollte es nicht wirklich wissen. Also zählte ich schnell das Geld ab, das er bekam. (Ich hatte die Sockenschublade meiner Eltern durchwühlt, weil sie dort immer ein paar Hundert Dollar bunkerten.)

»Es heißt, du seist, na ja, durchgeknallt. Nichts für ungut.«

»Ähm, nein«, erwiderte ich. »Es geht mir gut.«

»Echt, jetzt?« Er nickte wie eine Wackelkopffigur.

»Ich habe nämlich gehört –« Er verstummte mitten im Satz. Im Haus lachte jemand.

»Alter! Feierst du gerade eine Party?«

Ich nahm ihm die Pizzas ab und schob ihm die Geldscheine in die Hand. »So in der Art. Behalt den Rest.«

»Mit Mädchen?« Er versuchte, ins Haus zu spähen, aber ich verstellte ihm die Sicht. »In einer Stunde habe ich Feierabend. Ich könnte ein paar Dosen Bier besorgen …«

Nie zuvor wollte ich jemanden auf meiner Veranda so dringend loswerden.

»Sorry, ist irgendwie privat.«

Er wirkte beeindruckt. »Du schaffst das schon, Kumpel.« Er hob die Hand für ein High-five, merkte dann, dass ich nicht konnte, weil ich die Pizzaschachteln in den Händen hielt, ballte die Faust und schüttelte sie. »Wir sehen uns in einer Woche, Portman.«

»In einer Woche?«

»Schule, Bruder! Auf welchem Planeten bist du denn unterwegs?« Er joggte zurück zu seinem wartenden Kombi, schüttelte den Kopf und lachte leise vor sich hin.

◊ ◊ ◊

Sobald die Pizza verteilt war, verstummte das Geplapper, und für volle drei Minuten waren nur die Geräusche schmatzender Münder und ein gelegentliches zufriedenes Grunzen zu hören.

Justins Worte gingen mir nicht aus dem Kopf. In einer Woche fing die Schule wieder an, daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Bevor meine Eltern entschieden, ich sei unzurechnungsfähig, und mich einweisen wollten, hatte ich mich entschlossen, wieder zur Schule zu gehen. Mein Plan sah vor, es lange genug zu Haus auszuhalten, bis ich meinen Abschluss hatte, und dann nach London zu fliehen, um mit Emma und meinen Freunden zusammen zu sein. Aber nun waren die Freunde, die ich so weit entfernt wähnte, und die Welt, die ich für unerreichbar hielt, direkt auf meiner Türschwelle gelandet, und in nur einer Nacht hatte sich alles verändert. Meine Freunde waren frei und konnten sich aufhalten, wo immer (und wann immer) sie wollten. Könnte ich wirklich Tag für Tag langweilige Unterrichtsstunden, Mittagspausen und Schülerversammlungen über mich ergehen lassen, während all das auf mich wartete?

Möglicherweise nicht, aber es überforderte mich, das jetzt zu entscheiden, mit Pizza auf dem Schoß und immer noch benommen von dem Gedanken, wie das alles nur sein konnte. Die Schule fing erst in einer Woche wieder an. Mir blieb also noch Zeit. Und im Augenblick genügte es, zu essen und die Gesellschaft meiner Freunde zu genießen.

»Das ist das beste Essen der Welt!«, verkündete Claire mit dem Mund voller zerlaufenem Käse. »Das werde ich jetzt jeden Abend essen.«

»Nicht, wenn du diese Woche überleben willst«, erwiderte Horace und entfernte mit penibler Präzision die Oliven von seinem Pizzastück. »Das enthält mehr Natrium als das gesamte Tote Meer.«

»Angst, dass du zu dick wirst?« Enoch lachte. »Der dicke Horace. Das würde ich gern sehen.«

»Das werde ich zu verhindern wissen«, erklärte Horace. »Meine Kleidung ist nämlich im Gegensatz zu deinen Kartoffelsäcken maßgeschneidert.«

Enoch schaute an seinen Kleidungsstücken hinunter – ein kragenloses graues Hemd unter einer schwarzen Weste, eine ausgefranste schwarze Hose und schwarze Lederschuhe, die ihren Glanz schon vor langer Zeit verloren hatten.

»Das habe ich aus Pah-rii«, sagte er mit übertrieben französischem Akzent, »von einem modewussten Typen, der die Sachen nicht länger brauchte.«

»Von einem toten Typen«, ergänzte Claire und verzog angewidert den Mund.

»Leichenhallen sind die besten Secondhand-Boutiquen der Welt«, schwärmte Enoch und nahm sich noch ein Riesenstück Pizza. »Du musst dir die Klamotten nur holen, bevor der Insasse undicht wird.«

»Und da geht er hin, mein Appetit.« Mit einem lauten Knall stellte Horace seinen Teller auf den Sofatisch.

»Iss auf«, schimpfte Miss Peregrine. »Wir verschwenden kein Essen.«

Horace seufzte und nahm seinen Teller wieder in die Hand. »Manchmal beneide ich Nullings. Er könnte hundert Pfund zulegen, und niemand würde es merken.«

»Nur zu deiner Information: Ich bin gertenschlank«, sagte Millard und produzierte ein Geräusch, das nur von seiner Hand stammen konnte, mit der er auf seinen nackten Bauch klatschte. »Komm her und fühl, falls du mir nicht glaubst.«

»Ich verzichte, danke.«

»Um Vogels willen, zieh dir etwas an, Millard«, sagte Miss Peregrine. »Was habe ich über unnötige Nacktheit gesagt?«

»Was spielt es für eine Rolle, wenn mich niemand sehen kann?«, erwiderte Millard.

»Es ist schlechtes Benehmen.«

»Aber hier ist es so heiß!«

»Auf der Stelle, Mr. Nullings.«

Millard erhob sich vom Sofa und grummelte irgendetwas über Zimperliesen, als er an uns vorbeisauste. Eine Minute später kam er schon wieder zurück und hatte ein Badetuch locker um die Hüfte geschlungen.

Aber auch das missbilligte Miss Peregrine und schickte ihn erneut fort. Als er dann wieder auftauchte, hatte er offenbar meinen Kleiderschrank geplündert und maßlos übertrieben: Wanderstiefel, Wollhosen, Mantel, Schal, Mütze, Handschuhe.

»Millard, du wirst einen Hitzschlag bekommen!«, rief Bronwyn.

»Wenigstens muss sich mich niemand im Naturzustand vorstellen«, erklärte er, was den gewünschten Effekt erzielte, Miss Peregrine zu verärgern. Sie sagte, dass es Zeit für den nächsten Kontrollgang sei, und verließ das Zimmer.

Das Lachen, das viele von uns mühsam zurückgehalten hatten, platzte jetzt ungehemmt heraus.

»Hast du ihr Gesicht gesehen?«, fragte Enoch. »Sie war kurz davor, dich zu erwürgen, Nullings!«

Die Dynamik zwischen den Kindern und Miss Peregrine hatte sich ein bisschen verschoben. Sie wirkten jetzt mehr wie Teenager – echte, die anfingen, gegen Autorität zu rebellieren.

»Ihr seid alle ungezogen!«, rief Claire. »Hört sofort damit auf.«

Nun ja, nicht alle rebellierten.

»Findest du es nicht ermüdend, dauernd wegen kleiner Dinge zurechtgewiesen zu werden?«, fragte Millard.

»Kleine Dinge!« Enoch prustete erneut los. »Millard hat ein – auu!«

Claire hatte ihn mit ihrem zweiten Mund in die Schulter gebissen, und während sich Enoch die Stelle rieb, sagte sie: »Nein, ich finde es nicht ermüdend. Und es ist seltsam, wenn du in einer gemischten Gruppe ohne guten Grund nackt bist.«

»Ah, papperlapapp«, sagte Millard. »Stört es sonst noch jemanden?«

Alle Mädchen hoben die Hand.

Millard seufzte. »Also gut. Ich werde mich bemühen, jederzeit vollständig angezogen zu sein, damit sich niemand wegen biologischer Tatsachen unwohl fühlt.«

◊ ◊ ◊

Wir redeten und redeten. Es gab so vieles, bei dem wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand bringen wollten! Wir glitten so schnell wieder in eine entspannte Vertrautheit, dass es sich anfühlte, als wären wir nur wenige Tage voneinander getrennt gewesen. Dabei waren es fast sechs Wochen. In dieser Zeit war viel passiert – bei den anderen sowieso –, und ich hatte ja nur gelegentlich Updates durch Emmas Briefe erhalten. Abwechselnd beschrieben sie Abenteuer, die sie erlebt hatten, als sie mithilfe des Panloopticons Orte von Besonderen erforschten – allerdings nur Zeitschleifen, die vorher schon von den Ymbrynen ausgekundschaftet worden waren und als sicher galten. Schließlich wusste niemand, was sich hinter all diesen Türen des Panloopticons verbarg.

Sie hatten eine Zeitschleife in der alten Mongolei besucht und einen Besonderenschäfer getroffen, der die Sprache der Schafe beherrschte. Er hütete seine Herde ohne Stock oder Hund, nur mit dem Klang seiner Stimme.

Olives Favorit war der Ausflug zu einer Zeitschleife im Atlasgebirge Nordafrikas, wo in einer kleinen Stadt alle Bewohner so schweben konnten wie sie. Die Menschen hatten über den ganzen Ort Netze gespannt, damit sie sich fortbewegen konnten, ohne sich mit Gewichten beschweren zu müssen. Sie hüpften wie Akrobaten ohne Schwerkraft von einer Stelle zur nächsten. Am Amazonas gab es ebenfalls eine Zeitschleife, die zu einem gern besuchten Ort geworden war: eine fantastische Stadt im Dschungel, die aus Bäumen bestand. Wurzeln und Zweige waren zusammengeknotet zu Straßen, Brücken und Häusern. Die Besonderen dort konnten Pflanzen manipulieren, ähnlich Fionas Fähigkeit – was Hugh so deprimierte, dass er sofort aus der Zeitschleife hinausgestürmt und nach Devil’s Acre zurückgekehrt war.

»Es war heiß und die Insekten furchtbar«, erzählte Millard, »aber die Einwohner waren überaus nett und haben uns gezeigt, wie man aus Pflanzen fantastische Arzneien herstellt.«

»Und sie fischen mit einem speziellen Gift, das die Fische betäubt, aber nicht tötet«, sagte Emma. »Und dann holen sie nur die aus dem Wasser, die sie wirklich wollen. Absolut brillant.«

»Wir haben auch noch andere Ausflüge unternommen«, sagte Bronwyn. »Em, zeig Jacob deine Schnappschüsse!«

Emma sprang neben mir vom Sofa hoch und lief los, um die Bilder aus ihrem Koffer zu holen. Kurz darauf kehrte sie mit Fotos in der Hand zurück, und wir versammelten uns im Schein einer Stehlampe, um sie anzuschauen.

»Ich habe erst vor Kurzem mit dem Fotografieren angefangen und weiß immer noch nicht so recht, was ich da eigentlich tue …«

»Jetzt sei nicht so bescheiden«, sagte ich. »Du hast ein paar der Fotos in deinen Briefen mitgeschickt, und sie waren toll.«

»Stimmt! Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

Emma war alles andere als angeberisch, andererseits machte sie keinen Hehl aus ihren Erfolgen. Die Schüchternheit in Bezug auf ihre Fotos konnte nur bedeuten, dass sie hohe Ansprüche hatte. Zum Glück für uns beide war sie ein Naturtalent. Mir fällt es nämlich schwer, Begeisterung vorzutäuschen. Aber trotz der perfekten Komposition und Belichtung (nicht, dass ich ein Experte wäre) war es das Motiv, was die Bilder wirklich interessant machte – und erschreckend.

Das erste Foto zeigte etwa ein Dutzend Menschen der viktorianischen Zeit, die, so lässig wie die Teilnehmer eines Picknicks, auf seltsam geneigten Hausdächern posierten, die aussahen, als hätte ein Riese sie zertrümmert.

»Ein Erdbeben in Chile«, erklärte Emma. »Leider habe ich das Bild nicht auf Archivpapier abgezogen, und deshalb ist es schon sehr gealtert, seit wir Devil’s Acre verlassen haben.«

Sie zeigte das nächste Foto: ein Zug, der aus den Schienen gesprungen und auf die Seite gekippt war. Um ihn herum standen und saßen Kinder – vermutlich Besondere –, die lachten, als hätten sie eine Menge Spaß.

»Ein Zugunglück«, sagte Millard. »Der Zug transportierte irgendeine flüchtige Chemikalie, und wenige Minuten nachdem dieses Foto gemacht wurde, zogen wir uns auf einen sicheren Abstand zurück und sahen, wie der Zug Feuer fing und es eine ungeheure Explosion gab.«

»Was war der Grund für diese Reisen?«, fragte ich. »Diese Orte wirken weitaus weniger amüsant als eine coole Zeitschleife im Amazonasgebiet.«

»Wir haben Sharon geholfen«, sagte Millard. »Du erinnerst dich – der große Bootsmann mit der Kutte aus Devil’s Acre? Der Ratten als Freunde hat?«

»Wie könnte ich den vergessen?«

»Mithilfe der Zeitschleifen des Panloopticons bastelt er an einer neuen und verbesserten Hungersnot- und Brandkatastrophen-Tour. Und er hat uns gebeten, die Frühversion zu testen. Neben dem Erdbeben in Chile und dem Zugunglück gab es auch noch eine Stadt in Portugal, über die es Blut regnete.«

»Im Ernst?«, fragte ich.

»Da bin ich nicht mitgefahren«, sagte Emma.

»Das war klug«, sagte Horace. »Die Flecken sind nie wieder rausgegangen.«

»Das klingt jedenfalls so, als hättet ihr eine sehr viel spannendere Zeit erlebt als ich«, sagte ich. »Ich glaube, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, habe ich das Haus vielleicht sechs Mal verlassen.«

»Das wird sich jetzt hoffentlich ändern«, sagte Bronwyn. »Ich wollte schon immer Amerika sehen – und vor allem die Gegenwart. Ist es sehr weit bis New York City?«

»Ich fürchte schon«, antwortete ich.

»Oh.« Sie ließ sich nach hinten in die Sofakissen sinken.

»Ich möchte gern nach Muncie in Indiana«, sagte Olive. »Der Reiseführer sagt, du hast nicht gelebt, wenn du Muncie nicht gesehen hast.«

»Welcher Reiseführer?«

»Planet der Besonderen: Nordamerika«, sagte Olive und hielt ein Buch mit einem zerfledderten grünen Umschlag hoch. »Darin wird Muncie sechs Jahre in Folge als Amerikas normalste Stadt ausgezeichnet. In jedem Jahr absolut durchschnittlich.«

»Das Buch ist doch völlig veraltet«, warf Millard ein. »Aller Wahrscheinlichkeit nach nutzlos.«

Olive ignorierte ihn. »Offenbar ist dort nie etwas Ungewöhnliches, aber auch gar nichts Außergewöhnliches passiert. Nie!«

»Nicht alle von uns finden normale Menschen so interessant wie du«, sagte Horace. »Darüber hinaus ist es vermutlich überlaufen mit Besonderentouristen.«

Olive, die ihre Bleischuhe nicht trug, schwebte über den Tisch zum Sofa und ließ das Buch in meinen Schoß fallen. Es war auf der Seite aufgeschlagen, die die einzige für Besondere geeignete Unterkunft nahe Muncie zeigte – ein Ort namens Clownmouth House in einer Zeitschleife am Stadtrand.

 

 

Mich schauderte, und dabei klappte das Buch zu.

»Wir müssen nicht den ganzen Weg bis Indiana auf uns nehmen, um Orte zu finden, die gewöhnlich sind«, sagte ich. »Davon haben wir jede Menge hier in Englewood. Vertraut mir.«

»Ihr könnt alle machen, was immer ihr wollt«, sagte Enoch. »Mein einziger Plan für die kommenden zwei Wochen besteht darin, bis mittags zu schlafen und dann meine Zehen in warmen Sand zu bohren.«

»Das klingt gut«, sagte Emma. »Gibt es hier in der Nähe einen Strand?«

»Auf der anderen Straßenseite«, sagte ich.

Emma Augen leuchteten auf.

»Ich hasse Strände«, sagte Olive. »Ich kann nie meine blöden Bleischuhe ausziehen, und das verdirbt den ganzen Spaß.«

»Wir könnten dich an einem Felsblock am Rand des Wassers festbinden«, schlug Claire vor.

»Klingt märchenhaft«, grummelte Olive, schnappte sich den Planet der Besonderen von meinem Schoß und schwebte damit in eine Ecke. »Ich werde einfach den Zug nach Muncie nehmen und euch aus der Ferne zuwinken.«

»Du wirst nichts dergleichen tun.« Miss Peregrine war wieder ins Wohnzimmer gekommen. Ich fragte mich, ob sie uns vom Flur aus belauscht hatte, statt einen Kontrollgang zu machen. »Ihr habt euch gewiss ein bisschen Erholung verdient, aber gemäß unserer Verantwortung können wir die kommenden Wochen nicht nur faulenzen.«

»Hä?«, rief Enoch. »Ich kann mich genau daran erinnern, dass Sie sagten, wir seien im Urlaub.«

»Ein Arbeitsurlaub. Wir können es uns nicht leisten, die Bildungsmöglichkeiten zu verschwenden, die uns durch unseren Aufenthalt hier zur Verfügung stehen.«

Bei dem Wort Bildung erhob sich lautes Stöhnen im Raum.

»Haben wir nicht sowieso schon genug Unterricht?«, jammerte Olive. »Mein Gehirn könnte platzen.«

Miss Peregrine warf ihr einen warnenden Blick zu und ging mit energischen Schritten in die Mitte des Zimmers. »Ich will keine Beschwerden mehr hören«, sagte sie. »Mit der außergewöhnlichen neuen Freiheit des Reisens, die ihr erhalten habt, seid ihr für die Wiederaufbaubemühungen unschätzbar wertvoll. Mit der richtigen Vorbereitung könnt ihr eines Tages Botschafter für andere Besondere werden, Erforscher neuer Zeitschleifen und Territorien, Planer und Kartografen, Anführer und Baumeister – genauso entscheidend für das Wiederherstellen unserer Welt, wie ihr es für die Vernichtung der Wights gewesen seid. Wollt ihr das etwa nicht?«

»Doch, natürlich«, versicherte Emma. »Aber was hat das damit zu tun, keine Ferien zu machen?«

»Bevor ihr irgendetwas von all dem werden könnt, müsst ihr lernen, euch in dieser Welt zurechtzufinden. Der Gegenwart. Amerika. Ihr müsst euch mit der Ausdrucksweise und den Gewohnheiten vertraut machen und am Ende in der Lage sein, als Normaler durchzugehen. Wenn ihr das nicht könnt, seid ihr eine Gefahr für euch selbst und uns alle.«

»Sie wollen also, dass wir …«, begann Horace, »›Normalisierungsunterricht‹ bekommen?«

»Ja. Ich möchte, dass ihr bei eurem Aufenthalt hier so viel wie möglich lernt und nicht nur eure Gehirne in der Sonne braten lasst. Und zufällig kenne ich einen sehr fähigen Lehrer.« Miss Peregrine wandte sich mir zu und lächelte. »Mr. Portman, nimmst du die Aufgabe an?«

»Ich?«, rief ich. »Ich bin nicht gerade ein Experte für das Normale. Es gibt einen Grund, warum ich mich bei euch so zu Hause fühle, Leute.«

»Miss P hat recht«, widersprach Emma. »Du bist perfekt dafür. Du hast dein ganzes Leben hier verbracht. Du bist in dem Glauben aufgewachsen, normal zu sein, aber du bist einer von uns.«

»Na ja, eigentlich bin ich davon ausgegangen, die nächsten Wochen in einer Gummizelle zu verbringen«, sagte ich. »Aber da das nicht der Fall sein wird, könnte ich euch ja ein, zwei Sachen beibringen.«

»Normalisierungsunterricht!«, trällerte Olive. »Das wird Spaß machen!«

»Es gibt so viel zu behandeln«, sagte ich. »Wann und wo fangen wir an?«

»Morgen früh«, sagte Miss Peregrine. »Jetzt ist es schon spät, und alle brauchen ein Bett.«

Sie hatte recht – es war fast Mitternacht, und meine Freunde hatten ihren Tag in Devil’s Acre vor dreiundzwanzig Stunden (und etwa hundertdreißig Jahren) begonnen. Wir waren alle erschöpft. Ich bereitete genügend Schlafplätze vor – in unseren Gästezimmern, auf Sofas und in einem Knäuel von Decken in der Besenkammer für Enoch, der seinen Schlafplatz gern dunkel und nestähnlich hatte. Miss Peregrine bot ich das Bett meiner Eltern an, da sie es ja nicht benutzen würden, aber sie lehnte ab.

»Ich weiß das Angebot zu würdigen, aber lass Bronwyn und Miss Bloom dort schlafen. Ich werde heute Nacht Wache halten.« Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, der so viel bedeutete wie: Und nicht nur über das Haus. Es kostete mich meine ganze Beherrschung, nicht die Augen zu verdrehen. Sie müssen sich keine Sorgen machen, hätte ich beinahe gesagt. Emma und ich gehen die Dinge sehr langsam an. Aber war das überhaupt ihre Angelegenheit? Ich war so genervt, dass ich mich, sobald Miss Peregrine verschwunden war, um Olive und Claire ins Bett zu bringen, sofort auf die Suche nach Emma machte. Als ich sie gefunden hatte, schlug ich ihr vor: »Möchtest du mein Zimmer sehen?«

»Unbedingt«, antwortete sie, und wir schlichen uns durchs Wohnzimmer und die Treppe hinauf.

◊ ◊ ◊

Ich hörte Miss Peregrines Stimme bis nach oben. Sie kam aus einem der Gästezimmer, wo sie ein langsames, trauriges Schlaflied sang. Wie alle Schlaflieder der Besonderen war es schwermütig und lang – dieses hier erzählte die Sage von einem Mädchen, das mit Geistern befreundet war –, was bedeutete, dass uns mindestens ein paar Minuten blieben, bevor Miss P nach Emma schauen kam.

»In meinem Zimmer herrscht ziemliches Chaos«, warnte ich sie vor.

»Ich habe schon mit zwei Dutzend Mädchen in einem Schlafsaal gewohnt«, sagte sie. »Mich schockt nichts mehr.«

Ich öffnete meine Zimmertür, schaltete das Licht ein, und Emma fiel die Kinnlade herunter.

»Was ist das alles für Zeug?«

»Ah«, sagte ich. »Richtig.« Ich fragte mich, ob ich einen Fehler gemacht hatte. Mein Zimmer zu erklären würde Zeit kosten, die wir ansonsten mit Kuscheln verbringen konnten.

Ich hatte kein Zeug. Ich hatte Sammlungen. Und davon besaß ich viele, in Bücherregalen längs der Wand verteilt. Ich würde mich nicht als Messie bezeichnen – und ich war auch kein Hamsterer –, aber Dinge zu sammeln war eine der Möglichkeiten gewesen, als Kind mit der Einsamkeit umzugehen. Wenn dein bester Freund dein fünfundsiebzigjähriger Großvater ist, verbringst du viel Zeit damit, das zu tun, was Großväter tun, und für uns bedeutete das, jeden Samstagmorgen zu Garagenverkäufen zu gehen. (Grandpa Portman mochte ja ein Besonderenkriegsheld und ein echt krasser Hollowgast-Jäger gewesen sein, aber nur wenige Dinge begeisterten ihn mehr als ein Schnäppchen auf einem Flohmarkt.)

Ich durfte mir bei jedem Garagenverkauf etwas aussuchen, das weniger als 50 Cents kostete. Multipliziere das mit mehreren Flohmärkten pro Wochenende, so trug ich im Laufe eines Jahrzehnts eine große Zahl alter Schallplatten, Billig-Detektivromane mit albernen Covern, MAD-Magazine und andere Dinge zusammen, die objektiv betrachtet Ramsch waren, aber dennoch in den Regalen arrangiert wurden wie Schätze. Meine Eltern flehten mich oft an, auszumisten und mal etwas wegzuwerfen. Tatsächlich hatte ich ein paar halbherzige Versuche unternommen, war jedoch nie besonders weit gekommen. Der Rest des Hauses war so groß und modern und leer, dass ich eine Art Horror vor leeren Flächen entwickelt hatte. Deshalb bevorzugte ich es, den einzigen Raum in diesem Haus, über den ich die Kontrolle hatte, bis in den letzten Winkel vollzupacken. Aus diesem Grund hatte ich auch die Wand hinter dem Bett bis hoch zur Decke mit Landkarten beklebt und die neben der Tür mit alten Plattencovern.

»Oh, wow. Du liebst Musik!« Emma löste sich von mir und betrachtete die Plattencover, die wucherten wie Schuppen. Ich begann meine Deko zu hassen.

»Tut das nicht jeder?«, fragte ich.

»Nicht jeder tapeziert seine Wände damit.«

»Ich stehe vor allem auf ältere Sachen«, sagte ich.

»Ich auch«, pflichtete sie mir bei. »Ich mag die neuen Gruppen nicht, mit ihren lauten Gitarren und den langen Haaren.« Sie schnappte sich mein Exemplar von Meet the Beatles! und zog nachdenklich die Nase kraus.

»Diese Platte wurde veröffentlicht vor, was denn … fünfzig Jahren?«

»Sag ich ja. Aber du hast nie erwähnt, dass du auch auf Musik stehst.«

Sie ging die Wand entlang und fuhr mit der Hand über die Cover, sah sich alle genau an. »Es gibt vieles, das ich nicht über dich weiß, aber ich würde gern mehr erfahren.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte ich. »Auf gewisse Weise habe ich das Gefühl, wir kennen einander schon eine Ewigkeit, aber manchmal ist es so, als wären wir uns gerade erst begegnet.«

»Zu unserer Verteidigung muss gesagt sein, dass wir auch ganz schön beschäftigt waren – mit Dingen wie am Leben zu bleiben, alle Ymbrynen zu retten und so. Aber jetzt haben wir Zeit.«

Wir haben Zeit. Wann immer ich die Worte hörte, spürte ich in meiner Brust ein elektrisierendes Gefühl des Möglichen.

»Spiel mir eine vor«, sagte Emma und deutete mit dem Kopf zur Wand. »Welche auch immer deine Lieblingsplatte ist.«

»Ich weiß nicht, ob ich eine Lieblingsplatte habe«, sagte ich. »Es gibt so viele.«

»Ich möchte mit dir tanzen. Such eine aus, zu der man gut tanzen kann.«

Sie lächelte und schaute sich dann weiter alles an. Ich überlegte einen Moment lang und schnappte mir Harvest Moon von Neil Young. Ich zog die Platte aus der Hülle, legte sie auf den Plattenteller und ließ die Nadel vorsichtig in der Rille vor dem letzten Song hinunter.

Warmes Knistern drang aus den Lautsprechern, und dann erklang der Titelsong, wehmütig und süß. Ich hoffte, Emma würde zu mir in die Zimmermitte kommen, wo ich rasch ein bisschen Platz für uns zum Tanzen geschaffen hatte, aber sie hatte meine Wand mit den Landkarten entdeckt. Dort hingen mehrere Lagen übereinander – Weltkarten, Stadtpläne, Pläne von U-Bahn-Netzen, Faltkarten, die ich aus alten Ausgaben des National Geographic gerissen hatte.

»Die sind wunderbar, Jacob.«

»Ich habe viel Zeit damit verbracht, mir vorzustellen, irgendwo anders zu sein«, sagte ich.

»Ich auch.«

Sie gelangte zu meinem Bett, das an der Kopf- und Wandseite von Landkarten umgeben war. Sie stieg auf die Steppdecke, um die Karten näher in Augenschein zu nehmen.

»Manchmal muss ich daran denken, dass du erst sechzehn bist«, sagte sie. »Echte sechzehn. Irgendwie unfassbar.«

Sie drehte sich um und schaute staunend zu mir herunter.

»Warum sagst du das?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ist einfach komisch. Du wirkst nicht wie sechzehn.«

»Und du nicht wie neunundachtzig.«

»Ich bin erst achtundachtzig.«

»Ach so, klar, wie achtundachtzig wirkst du natürlich.«

Sie lachte und schüttelte den Kopf, schaute dann wieder zur Wand.

»Komm herunter«, sagte ich. »Tanz mit mir.«

Sie schien mich nicht gehört zu haben. Sie war jetzt zum ältesten Teil meiner Landkartenwand gekommen – den ich mit meinem Großvater angefertigt hatte, als ich acht oder neun war, auf allem Möglichen, von Millimeterpapier bis Bastelpapier. Wir hatten so manch langen Sommertag damit verbracht, zu zeichnen und kartografische Symbole zu erfinden. Wir malten seltsame Kreaturen an den Rand, überschrieben reale Orte auf den Karten mit unseren eigenen Fantasienamen. Als mir klar wurde, worauf sie starrte, wurde mir ein bisschen schwer ums Herz.

»Ist das Abes Handschrift?«, fragte sie.

»Wir haben viele Projekte zusammen gemacht. Im Grunde war er mein bester Freund.«

Emma nickte. »Meiner auch.« Mit den Fingern fuhr sie ein paar der Wörter nach, die er geschrieben hatte – Lake Okeechobee –, dann wandte sie sich ab und stieg wieder vom Bett herunter. »Aber das ist lange her.«

Sie kam zu mir, nahm meine Hände und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Wir wiegten uns langsam im Takt der Musik.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Das hat mich überrumpelt.«

»Ist schon okay. Ihr wart so lange zusammen. Und jetzt bist du hier …«

Ich spürte, dass sie den Kopf schüttelte. Lass uns diesen Moment nicht ruinieren. Ihre Hände lösten sich von meinen und glitten um meine Taille. Ich senkte meine Wange gegen ihre Stirn.

»Stellst du dir immer noch manchmal vor, jemand anderer zu sein?«, fragte sie mich.

»Nicht mehr«, sagte ich. »Zum ersten Mal seit langer Zeit bin ich glücklich, der zu sein, der ich bin.«

»Ich auch«, sagte sie, hob ihren Kopf von meiner Schulter, und ich küsste sie.

Wir tanzten und küssten uns, bis das Lied zu Ende war. Schließlich erfüllte nur noch ein leises Knistern den Raum, aber wir tanzten weiter, weil wir noch nicht bereit waren, den Moment enden zu lassen. Ich versuchte, die seltsame Wendung, die alles genommen hatte, zu vergessen, und wie ich mich gefühlt hatte, als sie meinen Großvater erwähnte. Sie musste etwas verarbeiten, und das war in Ordnung – auch wenn es sich meiner Vorstellungskraft entzog.

Für den Moment, so sagte ich mir, zählte nur, dass wir zusammen und in Sicherheit waren. Vorerst musste das genügen. Es war mehr, als wir je gehabt hatten. Es gab keine Uhr, die ablief bis zu dem Moment, an dem sie zu Staub zerfiel. Es gab keine Bomber, die die Welt um uns herum in ein Flammenmeer verwandelten. Es lauerten keine Hollowgasts draußen vor der Tür. Ich wusste nicht, was die Zukunft für uns bereithielt, aber in diesem Moment genügte es, einfach zu glauben, dass wir eine hatten.

Ich hörte unten Miss Peregrines Stimme. Das war unser Stichwort.

»Bis morgen«, flüsterte Emma mir ins Ohr. »Gute Nacht, Jacob.«

Wir küssten uns noch einmal. Es war wie ein elektrischer Impuls, der meinen ganzen Körper kribbeln ließ. Dann schlüpfte sie durch die Tür hinaus, und zum ersten Mal seit dem Eintreffen meiner Freunde war ich allein.

◊ ◊ ◊

In jener Nacht konnte ich kaum schlafen. Das lag weniger am Schnarchen von Hugh, der mit einem Stapel Decken bei mir auf dem Fußboden kampierte, als vielmehr an dem Summen in meinem Kopf, der nun voller Ungewissheiten und aufregender neuer Möglichkeiten war.

Als ich Devil’s Acre vor ein paar Wochen verließ, um nach Hause zurückzukehren, fand ich es der Mühe wert, Englewood noch ein paar Jahre zu ertragen, wenn ich dafür meinen Schulabschluss bekam und meine Eltern Teil meines Lebens sein konnten. Dennoch drohte die Zeit bis zum Schulende eine Qual zu werden, vor allem, wenn Emma und meine Freunde in Zeitschleifen auf der anderen Seite des Atlantiks feststeckten. Aber so viel hatte sich in nur einer Nacht verändert. Jetzt musste ich vielleicht gar nicht mehr warten. Jetzt musste ich mich vielleicht gar nicht mehr für das eine oder das andere entscheiden: besonders oder normal, dieses Leben oder jenes. Ich wollte und brauchte beides, wenn auch nicht in gleichem Maße. Ich interessierte mich nicht für einen normalen Lebensweg – mich mit jemandem zu verbinden, der nicht verstand, wer ich war, oder Kinder zu haben, vor denen ich mein halbes Leben verbergen musste, so wie mein Großvater es getan hatte.

Dennoch wollte ich nicht als Highschool-Abbrecher durchs Leben gehen – Hollowgast-Bezwinger kann man nicht unbedingt in einen Lebenslauf schreiben. Und obwohl meine Mom und mein Dad nie Eltern des Jahres werden würden, wollte ich auch sie nicht völlig aus meinem Leben streichen. Auch mochte ich mich der normalen Welt nicht so entfremden, dass ich mich darin nicht mehr zurechtfinden würde. Die Besonderenwelt war wunderbar, und ich wusste, dass ich ohne sie nie vollständig sein würde, aber sie konnte auch extrem stressig und überwältigend sein. Um langfristig bei Verstand zu bleiben, musste ich eine Verbindung zu meinem normalen Leben halten. Ich brauchte dieses Gleichgewicht.

Vielleicht mussten sich die kommenden ein oder zwei Jahre gar nicht wie eine Haftstrafe anfühlen, während ich auf all das wartete. Vielleicht konnte ich mit meinen Freunden und mit Emma zusammen sein und meine Familie und mein Zuhause haben. Emma könnte sogar mit mir zur Schule gehen. Und die anderen womöglich auch. Wir könnten gemeinsam Kurse besuchen. Zusammen mittagessen, zu albernen Schulbällen gehen. Natürlich! Gäbe es einen perfekteren Ort, um das Leben und die Gewohnheiten normaler Teenager kennenzulernen als die Highschool? Nach einem Semester wären sie in der Lage, sich problemlos als Normale auszugeben (sogar ich hatte es irgendwann gelernt), sich unter die anderen Menschen zu mischen, wenn wir das Amerika der Besonderen eroberten. Wann immer die Zeit es erlaubte, würden wir zurückreisen nach Devil’s Acre, um beim Wiederaufbau der Zeitschleifen zu helfen und die Besonderenwelt hoffentlich immun gegen zukünftige Bedrohungen zu machen.

Leider waren meine Eltern der Schlüssel zu all dem. Sie konnten es leicht oder schwierig werden lassen. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, dass meine Freunde hier sein konnten, ohne dass meine Mom und mein Dad ausflippten! Wenn wir nicht auf Zehenspitzen um sie herumschleichen müssten, aus Angst, dass ein unbeabsichtigtes Zeigen besonderer Fähigkeiten sie schreiend auf die Straße rennen ließ.

Es musste doch etwas geben, das ich meinen Eltern sagen konnte und das sie glauben würden! Irgendetwas, um meine Freunde zu erklären. Ihre Anwesenheit, ihre Sonderbarkeit –möglicherweise sogar ihre Fähigkeiten. Ich zerbrach mir den Kopf auf der Suche nach der perfekten Geschichte. Sie waren Austauschschüler, die ich in London kennengelernt hatte. Sie hatten mir das Leben gerettet, mich aufgenommen, und ich wollte mich dafür revanchieren. (Mir fiel auf, dass das gar nicht mal so weit von der Wahrheit abwich.) Zufällig waren sie auch noch super Zauberkünstler, die ständig für ihre Auftritte übten. Meister der Illusion. Mit so ausgefeilten Tricks, dass man einfach nicht herausfand, wie sie es machten.

Vielleicht. Vielleicht gab es eine Möglichkeit. Und dann konnten die Dinge so gut sein.

Mein Gehirn war eine Hoffnungen erzeugende Maschine.