Die Bibliothek der besonderen Kinder - Ransom Riggs - E-Book
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Die Bibliothek der besonderen Kinder E-Book

Ransom Riggs

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Beschreibung

Der dritte Band der »Besonderen Kinder«-Reihe von Ransom Riggs Nachdem ihre Freunde von den feindlichen Wights entführt wurden, machen Jacob und Emma sich auf eine gefährliche Suche, um sie und die gefangenen Ymbrynen – so nennen sich die Schutzpatroninnen besonderer Kinder – zu befreien. Die Spurt führt sie in die Zeitschleife Devil's Acre, wo der Abschaum der Gesellschaft der Besonderen lebt, und schließlich zur geheimen Festung der Wights. Dort decken sie ein noch größeres Geheimnis auf: Caul, Miss Peregrines böser Bruder, will die sagenumwobene Seelenbibliothek Abaton finden und sich mithilfe der dort verborgenen Kräfte zum Herrscher der Besonderenwelt aufzuschwingen. Und Jacob ist der Schlüssel dazu … Mit seiner Fantasy-Reihe um die besonderen Kinder hat der amerikanische Bestseller-Autor Ransom Riggs eine faszinierende mystisch-magische Welt erschaffen, in die man auch dank der geheimnisvollen historischen Fotos in jedem Roman wunderbar eintauchen kann. Die komplette Fantasy-Reihe des amerikanischen Bestseller-Autors Ransom Riggs im Überblick: Band 1 - Die Insel der besonderen Kinder Band 2 - Die Stadt der besonderen Kinder Band 3 - Die Bibliothek der besonderen Kinder Band 4 - Der Atlas der besonderen Kinder Band 5 - Das Vermächtnis der besonderen Kinder Band 6 - Die Zukunft der besonderen Kinder Bonus - Die Legenden der besonderen Kinder

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Seitenzahl: 576

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Ransom Riggs

Die Bibliothek der besonderen Kinder

Roman

Aus dem Englischen von Silvia Kinkel

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das mitreißende Finale der »Besondere Kinder«-Trilogie

Nur knapp sind Jacob und Emma in einer Londoner U-Bahn-Station dem Tod entkommen. Noch überwältigt von Jacobs neuer Gabe, begeben sie sich auf eine gefährliche Suche, um ihre Freunde und Miss Peregrine aus den Fängen der Wights, zu befreien. Ihre abenteuerliche Reise führt sie in eine weitere Zeitschleife, genannt Devil’s Acre. In diesem viktorianischen Slum haust der Abschaum der »Besonderen«, der Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Dort kommen Jacob und Emma dem Geheimnis um die sagenumwobene »Seelenbibliothek« Abaton auf die Spur, das über das Schicksal aller besonderen Kinder entscheiden wird.

Inhaltsübersicht

Für meine MutterDas Ende der Welt,Glossar der Besonderen1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelÜber die Fotos
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Für meine Mutter

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Das Ende der Welt,

die Tiefen des Meeres,

das Dunkel der Zeit,

du hast sie alle drei gewählt.

 

E.M. Forster

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Glossar der Besonderen

BESONDERE Der geheimnisvolle Teil jeder Spezies, Mensch oder Tier, der mit übernatürlichen Fähigkeiten gesegnet – und verflucht – ist. Einst respektiert, heute jedoch gefürchtet und gejagt, leben Besondere abseits der Gesellschaft im Verborgenen.

ZEITSCHLEIFE Ein abgegrenzter Raum, in dem sich ein einziger Tag endlos wiederholt. Geschaffen und aufrechterhalten von Ymbrynen, die so ihre besonderen Schützlinge vor Gefahren abzuschirmen vermögen. Während des Aufenthalts in der Zeitschleife altern deren Bewohner nicht. Deshalb sind sie jedoch keineswegs unsterblich: Jeder Tag, den der Bewohner überspringt, ist wie angesammelte Schuld, die in einem grausamen Tempo eingelöst wird, wenn er sich zu lange außerhalb der Zeitschleife aufhält.

YMBRYNEN Die ihre Gestalt verändernden Matriarchinnen im Reich der Besonderen. Sie können sich in Vögel verwandeln, die Zeit manipulieren und sind mit dem Schutz der besonderen Kinder betraut. In der alten Sprache der Besonderen bedeutet das Wort ymbryne (imm-brinn ausgesprochen) »Umlauf« oder »Kreislauf«.

HOLLOWGAST Ehemalige Besondere, die zu Monstern mutierten und nach den Seelen ihrer früheren Brüder hungern. Verwesende Leichname mit muskulösen Kiefern, in denen ihre tentakelgleichen Zungen lauern. Besonders gefährlich, weil sie unsichtbar sind. Ausschließlich wenige Besondere können sie sehen – Jacob Portman ist vermutlich der einzige noch lebende Besondere, der über diese Fähigkeit verfügt. (Sein verstorbener Großvater besaß sie ebenfalls.) Bis vor kurzem konnten Hollows nicht in Zeitschleifen eindringen, weshalb diese der bevorzugte Aufenthaltsort der Besonderen sind. Eine neuere Entwicklung macht dies jedoch möglich.

WIGHTS Ein Hollowgast, der genügend Seelen Besonderer gefressen hat, wird zu einem Wight, der für alle sichtbar ist und bis auf ein Detail wie ein normaler Mensch wirkt: die pupillenlosen, weißen Augen. Brillant, manipulativ und sehr geschickt darin, sich anzupassen – dank dieser Fähigkeiten haben die Wights sich über Jahre in die Gesellschaft der Menschen wie auch der Besonderen einschleusen können. Jeder kann ein Wight sein: dein Lebensmittelhändler, dein Busfahrer, dein Therapeut. Mit Mord, Angst und Entführung gehen sie gegen die Besonderen vor. Dabei nutzen sie die Hollowgasts als monströse Verbündete. Ihr Ziel besteht darin, an den Besonderen Rache zu üben und die Kontrolle über sie zu gewinnen.

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1. Kapitel

Das Monster stand nicht mal eine Zungenlänge entfernt, den Blick auf unsere Kehlen gerichtet, das verschrumpelte Gehirn voller Mordgelüste. Sein Hunger nach uns erfüllte die Luft. Hollows gieren nach den Seelen von Besonderen, und wir waren vor ihm angerichtet wie ein Büfett: der mundgerechte Addison behauptete sich tapfer zu meinen Füßen, den Schwanz wütend aufgestellt; Emma drückte sich schutzsuchend an mich, immer noch zu benommen, um mehr als eine Streichholzflamme zustande zu bringen. Mit dem Rücken pressten wir uns gegen die zertrümmerte Telefonzelle. Wenige Schritte von uns entfernt sah die U-Bahn-Station aus wie ein Nachtklub nach einem Bombenanschlag. Aus geborstenen Rohren entwich zischend Dampf und verteilte sich zu gespenstischen Schwaden. Zersplitterte Anzeigentafeln baumelten wie Gehängte von der Decke. Ein Meer von Glassplittern bedeckte den Weg zu den Gleisen, reflektierte das hysterische Blinken der roten Notbeleuchtung, als sei sie eine riesige Diskokugel. Wir saßen fest, zwischen einer Betonwand auf der einen und schienbeinhohen Glassplittern auf der anderen Seite, nur zwei Schritte von einer Kreatur entfernt, deren natürlicher Instinkt darin bestand, uns zu zerlegen – und doch rührte sie sich nicht, um den Abstand zwischen uns zu verkürzen. Der Hollow wirkte wie angewurzelt, schwankte auf den Fersen wie ein Betrunkener oder Schlafwandler, der faulende Schädel schlaff herabhängend, die Zungen ein Nest voller Schlangen, die ich in den Schlaf gezaubert hatte.

Ich. Ich hatte das getan. Jacob Portman, ein Niemandsjunge aus Nirgendwo, Florida. Diese Kreatur – der Finsternis und den Alpträumen schlafender Kinder entsprungen – ermordete uns nur deshalb nicht auf der Stelle, weil ich es ihr gesagt hatte. Weil ich ihr unmissverständlich mitgeteilt hatte, gefälligst ihre Zunge von meinem Hals abzuwickeln. Zurück, hatte ich gesagt. Steh auf, hatte ich befohlen – in einer aus Gurgellauten bestehenden Sprache, von der ich nicht gedacht hätte, dass ein menschlicher Mund sie hervorbringen kann – und erstaunlicherweise hatte der Hollow gehorcht, die Augen herausfordernd auf mich gerichtet. Irgendwie hatte ich diese Bestie gezähmt, einen Bann über sie gelegt. Aber schlafende Kreaturen wachen früher oder später auf, und ein Bann lässt nach, vor allem jener, der in höchster Not ausgesprochen wurde, und ich spürte, wie es unter der reglosen Oberfläche in dem Monster brodelte.

Addison stubste mich mit der Nase an der Wade. »Es werden noch mehr Wights kommen. Lässt uns dieses Biest vorbei?«

»Rede noch mal mit ihm«, murmelte Emma benommen. »Sag ihm, er soll verschwinden.«

Ich suchte nach den Worten, aber die waren plötzlich scheu. »Ich weiß nicht, wie.«

»Du hast es doch vor einer Minute auch getan«, sagte Addison. »Es hat sich angehört, als stecke ein Dämon in dir.«

Vor einer Minute, bevor ich überhaupt wusste, dass ich dazu in der Lage bin, waren die Worte auf meiner Zunge gewesen, warteten nur darauf, ausgesprochen zu werden. Jetzt, wo ich sie erneut benötigte, war es so, als wollte ich mit bloßen Händen Fische fangen. Jedes Mal wenn ich eines berührte, entwischte es mir sofort wieder.

Verschwinde!, schrie ich.

Das war meine normale Sprache. Der Hollow rührte sich nicht. Ich spannte den Rücken an, starrte in die pechschwarzen Augen und versuchte es noch einmal.

Hau ab! Lass uns in Ruhe!

Wieder meine normale Sprache. Der Hollow neigte den Kopf zur Seite, wie ein neugieriger Hund, blieb jedoch ansonsten unbeweglich wie eine Statue.

»Ist er weg?«, fragte Addison.

Die anderen waren unsicher; nur ich konnte ihn sehen. »Er ist noch da«, sagte ich. »Keine Ahnung, warum es nicht klappt.«

Ich fühlte mich dumm und leer. Hatte sich meine Gabe so schnell wieder verflüchtigt?

»Mach dir nichts draus«, sagte Emma. »Hollows sind sowieso nicht zugänglich für Argumente.« Sie streckte die Hand aus und entzündete eine Flamme, die aber sofort wieder erlosch. Die Anstrengung schien sie auszulaugen. Ich verstärkte den Griff um ihre Taille, damit sie nicht umfiel.

»Schone deine Kräfte, Streichholz«, sagte Addison. »Ich bin sicher, dass wir sie noch brauchen werden.«

»Wenn es sein muss, kämpfe ich sogar mit kalten Händen«, erwiderte Emma. »Hauptsache, wir finden die anderen, bevor es zu spät ist.«

Die anderen. Ich sah sie noch immer vor mir, ihr Nachbild langsam vor den Schienen verblassend: Horace, die akkurate Kleidung verwüstet; Bronwyn, ihre Stärke machtlos gegen die Gewehre der Wights; Enoch, benommen vom Sturz; Hugh, der das Chaos nutzte, um Olive die schweren Schuhe auszuziehen, damit sie entschweben konnte; Olive, an der Ferse gepackt und zurückgezogen, bevor sie außer Reichweite war. Alle weinten vor Angst, wurden mit vorgehaltener Waffe in den Zug gestoßen, waren fort. Fort waren sie, zusammen mit der Ymbryne, die zu finden uns fast das Leben gekostet hatte, und rasten nun durch Londons Eingeweide einem schlimmeren Schicksal als dem Tod entgegen. Es ist vorbei, dachte ich. Es war in dem Moment vorbei, als Cauls Soldaten Miss Wrens von Eis ummantelten Zufluchtsort stürmten. Es war schon zu spät, als wir Miss Peregrines teuflischen Bruder für unsere geliebte Ymbryne hielten. Aber ich schwor mir, dass ich unsere Freunde und unsere Ymbryne finden würde, koste es, was es wolle. Und wenn ich nur ihre Leichen fand oder es gar bedeutete, unsere Körper dem Leichenberg hinzuzufügen.

Irgendwo in der blinkenden Dunkelheit musste es einen Ausgang zur Straße geben. Eine Tür, eine Treppe, eine Rolltreppe, weit weg am anderen Ende der Wand. Aber wie schafften wir es bis dorthin?

Verzieh dich!, schrie ich den Hollow in einem letzten Versuch an.

Meine Sprache, was sonst. Der Hollow grunzte wie ein Schwein, rührte sich aber nicht. Es war zwecklos. Die Wörter waren verschwunden.

»Plan B«, sagte ich. »Er hört nicht auf mich, also gehen wir um ihn herum und hoffen, dass er sich nicht bewegt.«

»Um ihn herum? Wie denn?«, fragte Emma.

Wenn wir einen großen Bogen um den Hollow machen wollten, mussten wir durch Berge von Glasscherben waten – die scharfen Kanten würden Emmas nackte Waden zerschneiden und Addisons Pfoten zerfetzen. Was waren die Alternativen? Ich konnte den Hund tragen, dann blieb aber noch Emma. Ich konnte mir ein schwertförmiges Glasstück suchen und es dem Biest in die Augen rammen – eine Methode, die mir früher schon einmal nützlich gewesen war –, aber es wäre dann nicht auf der Stelle tot, würde vermutlich aus seiner Starre aufschrecken und uns töten. Was blieb, war ein schmaler, glasfreier Spalt zwischen dem Monster und der Wand. Die Lücke war höchstens einen halben Meter breit. Es würde eng werden, selbst wenn wir uns mit dem Rücken an der Wand entlangschoben. Ich hatte Angst, dass wir dem Hollow zu nahe kamen oder ihn sogar aus Versehen berührten und dadurch aus der zerbrechlichen Trance rissen, die ihn in Schach hielt. Unsere einzige Möglichkeit schien darin zu bestehen, uns Flügel wachsen zu lassen und über ihn hinwegzufliegen.

»Kannst du ein Stück gehen?«, fragte ich Emma. »Oder zumindest humpeln?«

Sie drückte die Knie durch und löste den Griff um meine Hüfte, um zu sehen, ob sie ohne Halt stehen konnte. »Ich kann humpeln.«

»Dann machen wir Folgendes: Mit dem Rücken zur Wand schieben wir uns an ihm vorbei, durch den Spalt dort. Es ist nicht gerade viel Platz, aber wenn wir vorsichtig sind …«

Addison wurde klar, was ich vorhatte, und er wich in die Telefonzelle zurück. »Sollen wir ihm wirklich so nahe kommen?«

»Wir haben keine Wahl.«

»Und wenn er aufwacht, während wir …«

»Wird er nicht«, erwiderte ich und täuschte Zuversicht vor. »Macht nur keine ruckartigen Bewegungen – und was auch passiert, berührt ihn auf keinen Fall.«

»Du musst unsere Augen ersetzen«, sagte Addison. »Möge der Vogel uns beistehen.«

Ich suchte mir auf dem Boden eine lange Scherbe und schob sie in meine Tasche. Wie in Zeitlupe bewegten wir uns die zwei Schritte bis zur Wand, pressten unsere Rücken gegen die kalten Fliesen und schoben uns Zentimeter für Zentimeter auf den Hollow zu. Den Blick auf mich gerichtet, folgten seine Augen jeder unserer Bewegungen. Wieder ein paar winzige Schritte weiter. Der faulige Gestank des Hollows schlug uns entgegen und trieb mir die Tränen in die Augen. Addison hustete, und Emma hielt sich die Nase zu.

»Noch ein kleines Stück«, flüsterte ich, und meine Stimme klang seltsam angespannt. Ich zog die Scherbe aus der Tasche, hielt sie mit dem spitzen Ende nach vorn. Dann machte ich den nächsten Schritt, und noch einen. Wir waren jetzt so nah, dass ich den Hollow mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Ich höre sein Herz unter den Rippen schlagen, es wurde mit jedem unserer Schritte schneller. Er wehrte sich, kämpfte mit jeder Nervenzelle, um sich aus meiner Kontrolle zu winden. Beweg dich nicht, formte ich in Menschensprache mit den Lippen die Wörter. Du gehörst mir. Ich kontrolliere dich. Beweg dich nicht.

Ich zog die Brust ein, presste jeden einzelnen Wirbel gegen die Wand und presste mich tiefer in den schmalen Spalt zwischen Wand und Hollow.

Beweg dich nicht. Beweg dich nicht.

Einen Fuß weiterschieben, den anderen nachziehen. Einen Fuß weiterschieben, den anderen nachziehen. Ich hielt den Atem an, während der des Hollows schneller wurde. Feucht und keuchend, ein ekelhafter schwarzer Nebel, der aus seinen Nüstern stieg. Der Drang, uns zu verschlingen, musste unerträglich sein. Genauso wie mein Drang, wegzulaufen. Aber ich ignorierte dieses Gefühl, denn wenn ich ihm nachgab, würde ich mich verhalten wie ein Opfer und nicht wie ein Gebieter.

Beweg dich nicht. Beweg dich nicht.

Nur noch ein paar Schritte, ein paar Schritte, dann wären wir an ihm vorbei. Seine Schulter nur eine Haaresbreite von meiner Brust entfernt.

Beweg …

… und dann tat er es. Der Hollow drehte abrupt den Körper, stand mir frontal gegenüber.

Ich erstarrte. »Rührt euch nicht«, sagte ich zu den anderen, dieses Mal laut. Addison barg die Schnauze zwischen den Pfoten und Emma blieb wie angewurzelt stehen, ihr Arm quetschte meinen wie eine Schraubzwinge. Ich wappnete mich für das, was jetzt kommen mochte – seine Zungen, seine Zähne, das Ende.

Zurück mit dir, zurück!

Immer nur meine Sprache.

Sekunden verstrichen, aber erstaunlicherweise tötete er uns immer noch nicht. Dem Heben und Senken der Brust nach zu urteilen, war die Bestie anscheinend wieder erstarrt.

Probeweise schob ich mich ein paar Millimeter weiter. Der Hollow folgte mir mit einer leichten Drehung – wie eine auf mich gerichtete Kompassnadel war sein Körper in perfekter Übereinstimmung mit meinem –, aber er griff uns nicht an, öffnete nicht einmal das Maul. Welchen Zauber auch immer ich über ihn gelegt hatte, wenn er zerbrochen wäre, würden wir schon nicht mehr leben.

Der Hollow beobachtete mich nur. Wartete auf Anweisungen, die zu geben ich nicht in der Lage war. »Falscher Alarm«, sagte ich, und Emma atmete erleichtert auf.

Wir schlüpften aus dem Spalt, schälten uns von der Wand und rannten so schnell fort, wie Emma humpeln konnte. Sobald wir ein bisschen Abstand zwischen uns und den Hollow gebracht hatten, schaute ich zurück. Er hatte sich umgedreht, so dass er mich sehen konnte.

Bleib stehen, murmelte ich in Menschensprache. Gut.

***

Wir liefen durch einen Schleier aus Dampf, bis endlich eine Rolltreppe in Sicht kam. Sie war durch den Stromausfall erstarrt und umgeben von einem Heiligenschein aus schwachem Tageslicht, ein verlockender Bote der Welt über uns. Die Welt der Lebenden, die Welt des Jetzt. Eine Welt, in der ich Eltern hatte. Sie waren beide hier, in London, atmeten diese Luft. Nur einen Spaziergang entfernt.

Hallo, ihr beiden!

Unvorstellbar. Und noch unvorstellbarer: Vor nicht einmal fünf Minuten hatte ich meinem Vater alles erzählt. Jedenfalls die Kurzfassung mit entsprechender Interpretation: Ich bin so, wie Grandpa Portman gewesen ist. Ich bin besonders. Sie verstanden es gewiss nicht, aber jetzt wussten sie es wenigstens. Mein Verschwinden kam ihnen nun wohl weniger wie ein Verrat vor. Ich konnte immer noch die Stimme meines Vaters hören, die mich anflehte, zurückzukommen. Und während wir dem Licht entgegenhumpelten, musste ich plötzlich gegen den beschämenden Drang ankämpfen, Emmas Arm abzuschütteln und wegzulaufen – dieser erstickenden Dunkelheit zu entfliehen, meine Eltern zu finden und um Verzeihung zu bitten, und dann in ihr schickes Hotelbett zu kriechen und zu schlafen.

Aber das war völlig undenkbar. Ich konnte das nie tun. Ich liebte Emma, das hatte ich ihr auch gesagt, und ich würde sie niemals zurücklassen. Und nicht etwa, weil ich so edelmütig, tapfer oder ritterlich war. Ich bin nichts davon. Ich hatte Angst, dass es mich in Stücke reißen würde, sie zurückzulassen.

Und die anderen, die anderen. Unsere armen, verlorenen Freunde. Wir mussten ihnen nach – aber wie? Seit sie mit dem Zug verschwunden waren, hatte kein weiterer die Station passiert. Und nach der Explosion, nach den Schüssen würden auch keine mehr kommen. Damit blieben uns nur zwei Möglichkeiten, die beide gleich schrecklich waren: ihnen zu Fuß durch die Tunnel zu folgen und zu hoffen, keinen weiteren Hollows zu begegnen, oder die Rolltreppe hinaufzusteigen und dem gegenüberzutreten, was uns dort erwartete – sehr wahrscheinlich ein Wight-Aufräumtrupp.

Für mich stand fest, welche Möglichkeit ich bevorzugte. Ich hatte genug von der Dunkelheit und mehr als genug von Hollows.

»Lasst uns raufgehen«, sagte ich und schob Emma in Richtung der reglosen Rolltreppe. »Wir suchen uns einen sicheren Platz, an dem wir unseren nächsten Schritt planen und du wieder zu Kräften kommen kannst.«

»Auf keinen Fall!«, erwiderte sie. »Wir können die anderen nicht einfach aufgeben. Mach dir keine Gedanken um mich.«

»Wir geben die anderen ja nicht auf. Aber wir müssen realistisch bleiben. Wir sind verletzt und wehrlos, und die anderen sind mittlerweile vermutlich meilenweit entfernt, längst aus der U-Bahn raus und auf halbem Weg zu einem anderen Ort. Wie wollen wir sie überhaupt finden?«

»So, wie ich euch gefunden habe«, sagte Addison. »Mit meiner Nase. Besondere haben ein ganz eigenes Aroma – eines, das nur Hunde meiner Art erschnuppern können. Und ihr seid ein Trupp besonders stark riechender Besonderer. Angst intensiviert den Geruch anscheinend, und wenn man nicht oft badet …«

»Dann folgen wir ihnen!«, entschied Emma.

Mit erstaunlicher Kraft zog sie mich in Richtung der Schienen. Doch ich entwand ihr meinen Arm und hielt sie stattdessen fest. »Es fahren keine Züge mehr, und wenn wir zu Fuß gehen …«

»Es ist mir egal, ob es gefährlich ist. Ich lasse die anderen nicht im Stich.«

»Es ist nicht nur gefährlich, es ist sinnlos. Sie sind weg, Emma.«

Sie riss sich los und humpelte auf die Schienen zu, stolperte, fing sich wieder. Sag etwas, formte ich mit den Lippen zu Addison. Er lief um sie herum und stellte sich ihr in den Weg.

»Ich fürchte, er hat recht. Wenn wir ihnen zu Fuß folgen, wird die Duftspur unserer Freunde längst verflogen sein, bevor wir sie aufspüren können. Selbst meine profunden Fähigkeiten haben ihre Grenzen.«

Emma starrte in den Tunnel, dann zu mir. Die Qual stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ich streckte die Hand aus. »Bitte, lass uns gehen. Das bedeutet nicht, dass wir aufgeben.«

»Also schön«, sagt sie betrübt. »Also schön.«

Aber als wir gerade zur Rolltreppe gehen wollten, hörten wir ein leises Rufen in der Dunkelheit, weiter hinten bei den Schienen.

»Hier drüben!«

Die Stimme war schwach, aber vertraut, der russische Akzent. Es war der Falt-Mensch. Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit, bis ich seine zusammengekrümmte Gestalt neben den Schienen liegen sah, einen Arm erhoben. Er war während des Handgemenges angeschossen worden, und ich dachte, die Wights hätten ihn zusammen mit den anderen in den Zug gestoßen. Aber da lag er und winkte uns.

»Sergei!«, schrie Emma.

»Ihr kennt ihn?«, fragte Addison misstrauisch.

»Er war einer von Miss Wrens Besonderen-Flüchtlingen«, sagte ich. In dem Moment drang von oben das Heulen etlicher Sirenen herab und stach mir in den Ohren. Ärger nahte – möglicherweise als Hilfe verkleidet –, und ich fürchtete, dass sich unsere Chance auf einen sauberen Abgang soeben in Luft auflöste. Aber wir konnten den Falt-Menschen nicht einfach zurücklassen.

Addison tippelte zu ihm und wich dabei den größten Scherbenhaufen aus. Emma hakte sich wieder bei mir ein, und wir schlurften hinterher. Sergei lag auf der Seite, mit Glassplittern bedeckt und blutüberströmt. Die Kugel hatte anscheinend ein lebenswichtiges Organ getroffen. Die runden Gläser seiner Nickelbrille hatten Sprünge. Er rückte sie zurecht, um mich sehen zu können. »Ist ein Wunder, ist ein Wunder«, krächzte er, und seine Stimme war so dünn wie ein zweiter Teeaufguss. »Ich habe dich in der Sprache des Monsters sprechen gehört. Ist ein Wunder.«

»Ist es nicht«, antwortete ich und kniete mich neben ihn. »Es ist schon wieder vorbei. Ich kann es nicht mehr.«

»Wenn Gabe in dir ist, dann für immer.«

Aus Richtung Rolltreppe erklangen Stimmen und Schritte. Ich räumte die Glassplitter beiseite, damit ich die Hände unter den Falt-Menschen schieben konnte. »Wir nehmen dich mit«, sagte ich.

»Lasst mich«, krächzte er. »Es wird bald mit mir aus sein …«

Ich ignorierte seine Worte und hob ihn hoch. Er war zwar lang wie eine Bohnenstange, aber federleicht. Ich hielt ihn in meinen Armen wie ein riesiges Baby, seine knochigen Beine baumelten über meinen Ellbogen, während sein Kopf schlaff an meiner Schulter lag.

Zwei Gestalten kamen mit donnernden Schritten die letzten Stufen der Rolltreppe herunter, standen dann umgeben von fahlem Tageslicht am Fuß der Treppe und spähten in die Dunkelheit hier unten. Emma zeigte auf den Boden, und wir ließen uns leise auf die Knie fallen, hofften, sie würden uns übersehen – hofften, es wären nur Zivilisten, die einen Zug erwischen wollten. Aber dann hörte ich das Rauschen eines Walkie-Talkies, und beide Männer schalteten Taschenlampen ein, deren Strahl von ihren Leuchtwesten reflektiert wurde.

Möglicherweise waren es Ersthelfer – oder aber als solche verkleidete Wights. Ich war nicht sicher, bis sie gleichzeitig ihre Panorama-Sonnenbrillen abnahmen.

Natürlich.

Unsere Möglichkeiten hatten sich soeben halbiert. Nun blieb nur noch der Tunnel. So angeschlagen, wie wir waren, würden wir ihnen nie davonlaufen können. Aber solange sie uns nicht entdeckten, hatten wir noch eine Chance.

Inmitten des Chaos auf dem Bahnsteig hatten sie uns bisher offenbar übersehen. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen flitzten über den Boden. Emma und ich wichen zurück in Richtung der Gleise. Wenn wir nur unbemerkt in den Tunnel gelangen konnten … aber Addison rührte sich verdammt noch mal nicht.

»Komm schon«, zischte ich.

»Das sind Sanitäter, und dieser Mann hier braucht Hilfe«, sagte er viel zu laut. Sofort schnellten die Lichtkegel vom Boden hoch und herüber zu uns.

»Bleibt, wo ihr seid!«, befahl einer der Männer mit dröhnender Stimme und zog seine Waffe aus dem Holster, während der andere mit seinem Walkie-Talkie hantierte.

Und dann, als ich gerade den Falt-Menschen auf die Gleise runterlassen und mich mit Emma neben ihn knien wollte, passierten rasch hintereinander zwei völlig unerwartete Dinge. Das erste war, dass ein Donnern aus dem Tunnel drang und in der Ferne ein Frontscheinwerfer sichtbar wurde. Das zweite kündigte sich durch ein schmerzhaftes Stechen in meinen Eingeweiden an: Der Hollow war aus seiner Starre erwacht und kam rasch näher. In dem Moment sah ich auch schon, wie er durch Rauchschwaden auf uns zupflügte, die schwarzen Lippen zurückgezogen und mit den Zungen auf die Luft einprügelnd.

Wir saßen fest. Wenn wir versuchen würden, die Treppe zu erreichen, würden wir erschossen und zerfleischt. Wenn wir auf die Gleise sprangen, würden wir vom Zug erfasst werden. Und wir konnten auch nicht mit dem Zug fliehen, denn es dauerte noch mindestens zehn Sekunden, bis er hielt, und noch mal zwölf, bis sich die Türen öffneten, und weitere zehn, bis sie sich wieder schlossen. Bis dahin waren wir tot. Also tat ich das, was ich meistens tue, wenn mir die Ideen ausgehen – ich schaute zu Emma. An ihrem verzweifelten Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass auch sie die Ausweglosigkeit der Situation erkannte – und an ihrem angespannten Kiefer las ich ab, dass sie trotzdem handeln würde. Aber erst, als sie schon mit ausgebreiteten Handflächen losstolperte, fiel mir ein, dass sie den Hollow ja gar nicht sehen konnte. Ich wollte es ihr sagen, sie festhalten, aber ich brachte kein Wort heraus und konnte sie nicht packen, ohne den Falt-Menschen fallen zu lassen. Und dann war Addison neben ihr, bellte den Wight an, während Emma erfolglos versuchte, eine Flamme zu entzünden – ein Funke, noch ein Funke, nichts, wie ein leeres Feuerzeug.

Der Wight brach in Gelächter aus, zog den Hahn seiner Waffe zurück und zielte auf sie. Der Hollowgast kam auf mich zugerannt, jaulte als Kontrapunkt zum Kreischen der Zugbremsen hinter mir. Da wusste ich, dass es das Ende war und ich nichts tun konnte, um es aufzuhalten. In dem Moment entspannte sich etwas in mir, und gleichzeitig verschwand dieser Schmerz, den ich immer spürte, wenn ein Hollow in der Nähe war. Dieser Schmerz war wie ein schrilles Heulen, und als es leiser wurde, entdeckte ich darunter verborgen ein anderes Geräusch, ein Murmeln an der Grenze zum Unbewussten.

Ein Wort.

Ich tauchte danach. Umschlang es mit beiden Armen, holte aus und schleuderte es mit der Kraft eines Major League Pitchers heraus. Ihn, schrie ich in einer mir unbekannten Sprache. Es war nur eine Silbe, die jedoch ganze Bände voller Bedeutungen enthielt. Und als es meiner Kehle entrann, zeigte sich eine sofortige Wirkung. Der Hollow bremste im Sprung, rutschte auf seinen Füßen ein Stück, drehte sich dann ruckartig zur Seite und ließ seine Zunge herausschnellen, die über den Bahnsteig peitschte und sich dreimal um das Bein des Wights schlang. Aus dem Gleichgewicht gebracht, gab dieser einen Schuss ab, der von der Decke abprallte. Dann wurde er kopfüber in die Luft gerissen, wo er schreiend herumzappelte.

Meine Freunde brauchten einen Moment, um zu verstehen, was gerade passiert war. Während sie glotzend dastanden und der andere Wight in sein Walkie-Talkie brüllte, hörte ich, wie hinter uns die Türen des Zuges aufgingen.

Jetzt oder nie.

»Kommt!«, schrie ich, und sie gehorchten. Emma rannte stolpernd, und Addison verhedderte sich fast in ihren Beinen, während ich mich fast mit dem schlaksigen blutenden Mann in den schmalen Türen verkeilte, bis wir am Ende alle über die Türschwelle in den Wagen stürzen konnten.

Noch mehr Schüsse ertönten, der Wight feuerte blindlings auf den Hollow.

Die Türen schlossen sich bis zur Hälfte und gingen wieder auf. »Bitte von den Türen zurücktreten«, ertönte eine freundliche Ansage vom Band.

»Seine Füße!«, sagte Emma und zeigte auf die Schuhe des Falt-Menschen. Die Spitzen ragten ein Stück aus dem Wagen. Ich drehte mich mit meiner Last, um die Füße hineinzuziehen, und in den endlosen Sekunden, bis sich die Türen wieder schlossen, schoss der zappelnde Wight wild um sich, bis der Hollow seiner überdrüssig wurde und ihn gegen die Wand schleuderte, wo er auf den Boden rutschte und als regloser Haufen liegen blieb.

Der andere Wight rannte zum Ausgang. Ihn auch, versuchte ich zu sagen, aber es war zu spät. Der Zug setzte sich ruckend in Bewegung.

Ich schaute mich um, war dankbar, dass sich in dem Waggon, in den wir getaumelt waren, außer uns niemand befand. Was wohl normale Menschen von uns halten würden?

»Alles okay?«, fragte ich Emma. Sie setzte sich auf, atmete keuchend und sah mich forschend an.

»Dank dir«, antwortete sie. »Hast du den Hollow wirklich dazu gebracht, das zu tun?«

»Ich denke schon«, sagte ich und konnte es selbst nicht recht glauben.

»Das ist wie ein Wunder«, sagte sie leise, und ich hätte nicht sagen können, ob sie sich fürchtete oder beeindruckt war oder beides.

»Wir verdanken dir unser Leben«, sagte Addison und rieb zutraulich den Kopf an meinem Arm. »Du bist ein ganz besonderer Junge.«

Der Falt-Mensch lachte. Ich schaute zu ihm hinunter und sah, wie er mich durch eine Maske des Schmerzes angrinste. »Siehst du?«, sagte er. »Wie ich gesagt. Ist Wunder.« Dann wurde sein Gesicht ernst. Er packte meine Hand und schob ein rechteckiges Stück Papier hinein. Ein Foto.

»Meine Frau, mein Kind«, sagte er. »Vor langer Zeit von unseren Feinden mitgenommen. Falls du die anderen findest, vielleicht findest du auch …«

Ich betrachtete das Foto und erschrak. Es war das brieftaschengroße Porträt einer Frau, die ein Baby auf dem Arm hielt. Sergei hatte das Bild zweifellos lange mit sich herumgetragen. Die Personen auf dem Bild wirkten zwar glücklich, aber das Foto selbst – oder das Negativ – war stark beschädigt, vielleicht nur knapp einem Feuer entkommen und solcher Hitze ausgesetzt gewesen, dass die Gesichter zerstückelt waren. Sergei hatte seine Familie nie zuvor erwähnt. Seit wir ihn kannten, hatte er immer nur davon gesprochen, eine Armee der Besonderen aufbauen zu wollen – von einer Zeitschleife zur nächsten zu ziehen und taugliche Überlebende der Überfälle und Säuberungsaktionen zu rekrutieren. Er hatte uns nie verraten, wofür er eine Armee haben wollte: um seine Familie zurückzubekommen.

»Wir werden sie finden«, sagte ich.

Wir wussten beide, wie vermessen dieses Versprechen war, aber es zu hören, war genau das, was er jetzt brauchte.

»Danke«, sagte er, und sein Körper erschlaffte in einer sich ausbreitenden Blutlache.

»Er hat nicht mehr lange«, sagte Addison und kam näher, um Sergei das Gesicht abzulecken.

»Vielleicht habe ich genug Hitze, um seine Wunde auszubrennen«, sagte Emma. Sie rutschte zu ihm und rieb ihre Handflächen aneinander.

Addison schnüffelte im Bauchbereich am Hemd des Falt-Menschen. »Hier. Hier ist er verletzt.« Emma legte die Hände auf beide Seiten der Wunde, und als ich das Brutzeln des Fleisches hörte, stand ich auf, weil mir übel wurde.

Ich schaute aus dem Fenster. Wir fuhren immer noch aus der Station hinaus, vielleicht verlangsamt, weil Trümmer auf den Gleisen lagen. Das Flackern der Notbeleuchtung hob wahllos Details aus der Dunkelheit hervor. Der Körper des toten Wights steckte zur Hälfte in Glasscherben. Die zerdrückte Telefonzelle, Schauplatz meines Durchbruchs. Der Hollow – erschrocken machte ich seine Umrisse aus – trottete neben dem Zug auf dem Bahnsteig entlang, ein paar Waggons hinter uns, so lässig wie ein Jogger.

Stopp. Bleib weg, spie ich dem Fenster entgegen, in Menschensprache. Ich konnte nicht klar denken, der Schmerz und das Heulen stellten sich dem wieder in den Weg.

Wir nahmen Geschwindigkeit auf und fuhren in den Tunnel. Ich presste mein Gesicht gegen die Scheibe, verrenkte mich, um noch etwas sehen zu können. Es war dunkel, stockdunkel – und dann, in einem Lichtblitz wie von einer Kamera, sah ich den Hollow als Momentaufnahme – im Flug, seine Füße hatten sich vom Bahnsteig gelöst, während er seine Zungen wie Lassos um das Geländer des letzten Waggons warf.

Wunder. Fluch. Ich hatte den Unterschied noch nicht herausgefunden.

***

Ich nahm Sergeis Beine und Emma seine Arme. Behutsam hoben wir ihn an und legten ihn auf eine lange Sitzbank, wo der Bewusstlose unter einem Werbeplakat für Pizza zum Selbermachen vom Ruckeln des Zuges geschaukelt wurde. Wenn er sterben würde, schien es nicht richtig, dass er das auf dem Boden tat.

Emma zog sein dünnes Hemd hoch. »Es hat aufgehört zu bluten«, sagte sie. »Aber wenn er nicht bald in ein Krankenhaus kommt, wird er sterben.«

»Er kann in jedem Fall sterben«, sagte Addison. »Vor allem in einem Krankenhaus hier in der Gegenwart. Stellt euch vor: Er wacht in drei Tagen auf, die Seite heilt, aber alles andere versagt, weil es um zweihundert und der-Vogel-weiß-wie-viele Jahre gealtert ist.«

»Kann sein«, erwiderte Emma. »Andererseits wäre ich überrascht, wenn in drei Tagen überhaupt noch einer von uns lebt, in welchem Zustand auch immer. Wir können nichts weiter für ihn tun.«

Ich hatte sie diese Frist früher schon erwähnen hören: Zwei oder drei Tage war der längste Zeitraum, den ein Besonderer, der in einer Zeitschleife lebte, sich in der Gegenwart aufhalten konnte, ohne rapide zu altern. Das war lang genug für einen Besuch in der Gegenwart und um zwischen Zeitschleifen zu reisen, aber so kurz, dass man nie in Versuchung kam, sich länger aufzuhalten. Nur Draufgänger und Ymbrynen machten Ausflüge in die Gegenwart, die länger als ein paar Stunden dauerten; falls sie sich verspäteten, waren die Folgen lebensgefährlich.

Emma richtete sich auf. In dem fahlen gelben Licht sah sie krank aus. Sie kam auf die Füße und griff nach einer der Halteschlaufen. Doch ich nahm ihre Hand und zog Emma neben mich auf die Sitzbank. Über die Maßen erschöpft sackte sie gegen meinen Körper. Ich war genauso fertig, hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen und nichts Anständiges gegessen, bis auf die wenigen Gelegenheiten, bei denen wir gefressen hatten wie Schweine. Wie lange lief ich jetzt schon davon, umgeben von Grauen, und hatte diese verdammten Schuhe an den Füßen, in denen ich Blasen bekam? Ich wusste es nicht. Am schlimmsten war jedoch, dass jedes Mal, wenn ich in der Hollow-Sprache redete, etwas aus mir herausgeschnitten zu werden schien, von dem ich nicht wusste, wie ich es wieder einfügen sollte. Das ermüdete mich auf mir unbekannte Weise. Ich hatte eine neue Ader in mir entdeckt, eine Mine voller Kraft, die es abzubauen galt, aber diese Mine war begrenzt, und ich fragte mich, ob ich beim Aufbrauchen der Kraft gleichzeitig mich selbst aufzehrte.

Aber darüber würde ich mir ein anderes Mal den Kopf zerbrechen. Jetzt wollte ich einen friedlichen Moment genießen, den es so selten gab. Vielleicht war es egoistisch von mir, dass ich den Hollow, der unserem Zug folgte, nicht erwähnte. Aber was sollten wir auch dagegen unternehmen? Er würde uns entweder kriegen oder nicht. Uns töten oder auch nicht. Das nächste Mal, wenn er uns einholte – und ich war sicher, dass es ein nächstes Mal gab –, würde ich entweder die Worte finden, um seiner Zunge Einhalt zu gebieten oder nicht.

Addison sprang auf die gegenüberliegende Sitzbank, entriegelte mit der Pfote ein Fenster und schob es auf. Das wütende Geräusch des Zuges und ein Schwall warmer, stinkender Tunnelluft strömten herein. Addison saß da und schnupperte aufmerksam, mit zuckender Schnauze und konzentriertem Blick. Für mich roch die Luft faulig und wie abgestandener Schweiß. Aber er schien noch etwas anderes wahrzunehmen, etwas, das einer sorgfältigen Interpretation bedurfte.

»Kannst du sie riechen?«, fragte ich.

Der Hund hörte mich, ließ sich aber Zeit, bevor er antwortete, die Augen gen Decke gerichtet, als müsse er erst einen Gedanken zu Ende bringen. »Kann ich«, sagte er. »Ihre Spur ist klar und frisch.«

Sogar bei dieser hohen Geschwindigkeit konnte er die minutenalten Spuren von Besonderen schnuppern, die in einem früheren Zug eingeschlossen gewesen waren. Ich war beeindruckt, und das sagte ich ihm auch.

»Danke«, antwortete er. »Aber es ist nicht allein mein Verdienst«, fügte er hinzu. »Irgendjemand muss in ihrem Waggon ein Fenster geöffnet haben, sonst wäre die Spur wesentlich schwächer. Vielleicht hat Miss Wren das getan, weil sie weiß, dass ich versuchen würde, ihnen zu folgen.«

»Sie wusste, dass du hier warst?«, fragte ich.

»Wartet«, erwiderte Addison in scharfem Ton. Der Zug wurde langsamer und fuhr in eine Station ein. Das Schwarz vor dem Fenster wich schlagartig hellen Fliesen. Addison schob die Nase aus dem Fenster und schloss die Augen, voller Konzentration. »Ich glaube nicht, dass sie hier ausgestiegen sind, aber haltet euch sicherheitshalber bereit.«

Emma und ich standen auf und gaben unser Bestes, den Falt-Menschen vor Blicken zu schützen. Mit einiger Erleichterung sah ich, dass nur wenige Menschen auf dem Bahnsteig warteten. Seltsam, dass überhaupt Züge fuhren. Als wäre nichts passiert. Vermutlich hatten die Wights dafür gesorgt, weil sie hofften, dass wir den Köder schlucken und in den Zug springen würden. Dann hätten sie es leichter, uns aufzuspüren. Zwischen den Londoner Pendlern, die zur Arbeit fuhren, fielen wir auf wie bunte Hunde.

»Gib dich ganz cool«, sagte ich zu Emma. »Als würdest du hierhergehören.«

Mein Vorschlag schien sie zu amüsieren, denn sie unterdrückte nur mühsam ein Lachen. Es war ja auch lustig, weil wir nirgendwo hingehörten, am wenigstens hierhin.

Der Zug hielt, und die Türen gingen auf. Addison sog erneut tief die Luft ein. Eine Frau in dunkelblauem Caban mit einem Buch in der Hand betrat unseren Waggon. Als sie uns sah, fiel ihr die Kinnlade runter, sie machte auf dem Absatz kehrt und stieg wieder aus. Nein danke. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Wir waren verdreckt, in groteske alte Klamotten gekleidet und waren auch noch mit Blut bespritzt. Vermutlich sahen wir so aus, als hätten wir den armen Kerl hinter uns gerade umgebracht.

»Mach auf cool«, schnaubte Emma.

Addison zog seine Nase aus dem offenen Fenster zurück. »Wir sind auf der richtigen Spur«, sagte er. »Miss Wren und die anderen sind eindeutig hier gewesen.«

»Sie sind nicht ausgestiegen?«, fragte ich.

»Ich glaube nicht. Aber wenn ich sie in der nächsten Station nicht mehr riechen kann, sind wir zu weit gefahren.«

Mit einem schmatzenden Geräusch schlossen sich die Türen, und der Zug setzte sich surrend wieder in Bewegung. Ich wollte gerade vorschlagen, dass wir uns andere Kleidung besorgen sollten, als Emma neben mir aufschreckte, als sei ihr etwas eingefallen.

»Addison?«, begann sie, »was ist mit Fiona und Claire passiert?«

Bei der Erwähnung ihrer Namen durchfuhr mich eine neue Welle Übelkeit erregender Sorge. Wir hatten die beiden zuletzt in Miss Wrens Menagerie gesehen, wo Fiona bei Claire geblieben war, weil die zu krank zum Reisen war. Caul erzählte uns, dass sie die Menagerie überfallen und die Mädchen gefangen genommen hätten. Aber er hatte auch behauptet, dass Addison tot sei, seinen Informationen war also nicht zu trauen.

»Ah«, seufzte Addison und nickte betrübt. »Schlechte Nachrichten … Ich gebe zu, dass ich ein bisschen gehofft habe, ihr würdet nicht fragen.«

Jegliche Farbe wich aus Emmas Gesicht. »Erzähl es uns.«

»Natürlich«, sagte er. »Kurz nach eurer Abreise wurden wir von einem Trupp Wights überfallen. Wir haben sie mit Weltuntergangseiern beworfen, sind in alle Richtungen davongelaufen und haben uns versteckt. Das große Mädchen mit dem zerzausten Haar …«

»Fiona«, sagte ich mit pochendem Herzen.

»Sie nutzte ihre Gabe, Pflanzen wachsen zu lassen, um uns zu verstecken – in Bäumen und unter Büschen. Wir waren so gut getarnt, dass die Wights Tage gebraucht hätten, um uns alle aufzustöbern, aber sie setzten Gas ein und trieben uns damit aus unserem Versteck.«

»Gas!«, schrie Emma. »Diese Bastarde haben geschworen, es nie wieder zu benutzen!«

»Offenbar haben sie gelogen«, sagte Addison.

In einem von Miss Peregrines Alben hatte ich ein Foto eines solchen Angriffs gesehen: Wights mit gespenstischen Masken und Sauerstoffkanistern, aus denen sie Giftgas in die Luft strömen ließen. Dieses Gas war zwar nicht tödlich, aber es rief ein Brennen in Hals und Lunge hervor, verursachte schreckliche Schmerzen und konnte angeblich die Ymbrynen in ihrer Vogelgestalt fixieren.

»Nachdem sie uns zusammengetrieben hatten«, fuhr Addison fort, »wurden wir nach dem Aufenthaltsort von Miss Wren befragt. Sie haben ihren Turm auf den Kopf gestellt, nach Karten, Tagebüchern und ich weiß nicht was gesucht – und als die arme Deirdre versuchte, sie aufzuhalten, wurde sie erschossen.«

Vor meinem geistigen Auge blitzte das einfältige Gesicht der Emu-Raffe auf, so niedlich mit diesen vorstehenden Zähnen. Mein Magen zog sich zusammen. Wer konnte solch ein Wesen töten? »Das ist ja furchtbar«, sagte ich.

»Furchtbar«, stimmte Emma flüchtig zu. »Und die Mädchen?«

»Die Kleinen wurden von den Wights gefangen«, antwortete Addison. »Und das andere Mädchen … nun ja, es gab ein Handgemenge mit einigen der Soldaten, nahe am Abhang, und sie ist gestürzt.«

Ich blinzelte. »Was?« Für einen Moment verschwamm alles vor meinen Augen, dann sah ich wieder klar.

Emma spannte den Körper an, aber ihr Gesicht zeigte keine Regung. »Was meinst du mit ›gestürzt‹? Wie tief?«

»Es war ein steiler Abhang. Mindestens dreihundert Meter.« Addisons fleischige Wangen sackten herab. »Es tut mir so leid.«

Kraftlos ließ ich mich auf den Sitz fallen. Emma blieb stehen, den Haltegriff so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Nein«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Nein, das kann nicht sein. Vielleicht konnte sie sich bei dem Sturz irgendwo festhalten. An einem Ast oder Felsvorsprung …«

Addison betrachtete den mit Kaugummiflecken übersäten Boden. »Möglich.«

»Oder die Bäume unten haben ihren Sturz abgefedert und sie wie ein Netz aufgefangen! Sie kann mit ihnen sprechen, musst du wissen.«

»Ja«, sagte er. »Es gibt immer Hoffnung.«

Ich versuchte mir vorzustellen, wie man bei einem solchen Sturz von einem stacheligen Nadelbaum aufgefangen wird. Unmöglich. Die leise Hoffnung, die Emma entfacht hatte, erlosch bereits wieder. Ihre Beine begannen zu zittern, sie ließ den Haltegriff los und sackte neben mir auf die Bank.

Mit feuchten Augen blickte sie zu Addison. »Tut mir leid wegen deines Freundes.«

Er nickte. »Gleichfalls.«

»Wenn Miss Peregrine bei uns gewesen wäre, hätte all das niemals passieren können«, flüsterte sie. Und dann senkte sie langsam den Kopf und weinte.

Ich wollte sie in die Arme nehmen, aber dann würde ich mich ihr in diesem privaten Augenblick aufdrängen, ihn zu meinem machen, wo er doch allein ihr gehörte. Also saß ich einfach nur da, schaute auf meine Hände und ließ Emma um ihre verlorene Freundin trauern. Addison wandte sich ab, aus Respekt, wie ich annahm, aber auch, weil wir in die nächste Station einfuhren.

Die Türen gingen auf. Addison steckte den Kopf aus dem Fenster, schnupperte die Luft auf dem Bahnsteig, knurrte jemanden an, der in unseren Waggon einsteigen wollte, und zog den Kopf wieder herein. Als sich die Türen schlossen, hatte Emma sich gefangen und die Tränen weggewischt.

Ich drückte ihre Hand. »Alles in Ordnung?«, fragte ich und wünschte, mir würde etwas Geistreicheres einfallen.

»Das muss es ja wohl sein, oder?«, antwortete sie. »Für diejenigen, die noch am Leben sind.«

Für manch einen mag es kaltschnäuzig wirken, wie sie ihren Schmerz in einer Kiste wegsperrte, aber ich kannte sie mittlerweile gut genug, um sie zu verstehen. Sie besaß ein Herz von der Größe Frankreichs, und den wenigen Glücklichen, die sie liebte, gehörte jeder Zentimeter davon. Allerdings stellte genau diese Größe auch eine Gefahr dar. Wenn sie zu viel Gefühl zuließ, würde es sie zerstören. Also musste sie ihr Herz zähmen, es besänftigen und verschließen. Die schlimmsten Schmerzen auf eine Insel verbannen, die rasch davon bevölkert wurde – und auf der sie eines Tages leben würde.

»Erzähl weiter«, sagte sie zu Addison. »Was passierte mit Claire?«

»Die Wights haben sie mitgenommen. Sie haben ihre beiden Münder geknebelt und sie in einen Sack gesteckt.«

»Aber sie war noch am Leben?«, fragte ich.

»Und bissig. Jedenfalls gestern Mittag. Dann haben wir Deirdre auf unserem kleinen Friedhof beerdigt, und ich bin nach London aufgebrochen, um Miss Wren zu finden und euch zu warnen. Eine von Miss Wrens Tauben führte mich zu ihrem Versteck, und ich habe mich gefreut, als ich sah, dass ihr vor mir da gewesen seid – aber leider auch die Wights. Sie belagerten das Versteck bereits, und ich musste gleich darauf hilflos mit ansehen, wie sie das Gebäude stürmten und – na ja, den Rest kennt ihr ja. Ich bin euch gefolgt, als sie euch zur U-Bahn schleppten. Als dann der Tumult ausbrach, sah ich meine Chance gekommen, euch zu helfen, und habe sie ergriffen.«

»Ich danke dir«, sagte ich und stellte fest, dass uns bisher gar nicht klar gewesen war, wie viel wir ihm schuldeten. »Wenn du uns nicht weggezogen hättest …«

»Nun ja, es besteht kein Grund, bei hypothetischen Unannehmlichkeiten zu verweilen«, unterbrach er mich. »Zudem hatte ich auch gehofft, dass ihr mir als Gegenleistung für meine Ritterlichkeit helfen könnt, Miss Wren aus den Klauen der Wights zu retten. So unwahrscheinlich das auch klingt. Ihr müsst wissen, dass sie mir alles bedeutet.«

»Natürlich werden wir dir helfen«, sagte ich. »Tun wir das nicht jetzt schon?«

»Gewiss«, sagte er. »Aber ihr müsst euch darüber im Klaren sein, dass Miss Wren als Ymbryne für die Wights wertvoller ist als die besonderen Kinder. Von daher könnte es schwieriger sein, sie zu befreien. Das befürchte ich zumindest, selbst wenn es uns auf wundersame Weise gelingen sollte, eure Freunde zu retten …«

»Moment mal«, fiel ich ihm ins Wort. »Wer sagt denn, dass Miss Wren schwieriger …«

»Es stimmt«, unterbrach mich Emma. »Sie werden sie hinter Schloss und Riegel sicher verwahren, keine Frage. Aber wir werden sie nicht zurücklassen. Wir lassen niemanden zurück, niemals wieder. Du hast unser Wort als Besondere.«

Der Hund schien damit zufrieden zu sein. »Danke«, sagte er und legte plötzlich die Ohren an. Er sprang auf einen Sitz, um aus dem Fenster zu schauen, während wir in die nächste Station einfuhren. »Versteckt euch«, sagte er und duckte sich. »Es sind Feinde in der Nähe.«

***

Die Wights erwarteten uns. Ich entdeckte zwei von ihnen als Polizisten verkleidet inmitten der wartenden Pendler. Sie suchten mit Blicken die Waggons ab, während der Zug langsam zum Stehen kam. Wir duckten uns unter die Fenster und hofften, dass sie uns übersehen würden – aber ich wusste, wie unwahrscheinlich das war. Der Wight mit dem Walkie-Talkie hatte nach unserer Flucht offenbar über Funk Bescheid gegeben; diese hier wussten wohl, dass wir im Zug waren. Jetzt mussten sie ihn nur noch durchsuchen.

Der Zug hielt an, und Menschen strömten hinein, aber nicht in unseren Waggon. Ich spähte durch die offene Tür und sah einen der Wights auf dem Bahnsteig. Mit raschen Schritten kam er in unsere Richtung und nahm dabei jeden Waggon in Augenschein.

»Einer nähert sich uns«, murmelte ich. »Wie steht’s mit deinem Feuer, Em?«

»So gut wie leer«, antwortete sie.

Er war jetzt schon sehr nahe. Nur noch vier Waggons entfernt, drei.

»Dann macht euch bereit zum Weglaufen.«

Nur noch zwei Waggons. Dann ertönte die sanfte Tonbandstimme: »Die Türen schließen. Bitte zurücktreten.«

»Haltet den Zug auf!«, schrie der Wight. Aber die Türen gingen bereits zu.

Er schob einen Arm in den noch offenen Spalt. Die Türen gingen wieder auf. Er stieg ein – in den Waggon neben unserem.

Mein Blick wanderte zu der Tür, die die Waggons miteinander verband. Sie war mit einer Kette verschlossen – ich dankte Gott für seine kleinen Gaben.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir legten den Falt-Menschen auf den Boden in eine Ecke, wo wir vom Waggon des Wights aus nicht gesehen werden konnten.

»Was können wir tun?«, fragte Emma. »Sobald der Zug wieder hält, kommt der Wight hier rein und findet uns.«

»Sind wir absolut sicher, dass es ein Wight ist?«, fragte Addison.

»Wachsen Katzen auf Bäumen?«, erwiderte Emma.

»Nicht in diesem Teil der Welt.«

»Wenn alles möglich ist, können wir natürlich nicht sicher sein. Aber was Wights anbelangt, gibt es ein altes Sprichwort: Wenn du nicht sicher bist, dann geh davon aus.«

»Also gut«, sagte ich. »Sobald sich die Türen öffnen, rennen wir zum Ausgang.«

Addison seufzte. »Ständig dieses Fliehen«, sagte er so verächtlich, als sei er ein Feinschmecker, dem jemand ein labberiges Stück amerikanischen Käse angeboten hat. »Das ist so phantasielos. Könnten wir nicht versuchen, uns rauszuschleichen? Uns unter die Wartenden zu mischen? Das bedarf wenigstens einer gewissen Kunstfertigkeit. Und dann spazieren wir einfach davon, würdevoll und unbemerkt.«

»Ich hasse das Fliehen genauso sehr wie jeder andere auch«, sagte ich. »Aber Emma und ich sehen aus wie Axtmörder aus dem neunzehnten Jahrhundert, und du bist ein Hund mit einer Brille. Wir können gar nicht übersehen werden.«

»Bis sie endlich Kontaktlinsen für Hunde herstellen, habe ich leider keine andere Wahl«, brummte Addison.

»Wo steckt dieser Hollowgast, wenn man ihn braucht?«, fragte Emma plötzlich.

»Wurde vom Zug überrollt, wenn wir Glück haben«, antwortete ich. »Außerdem, wie meinst du das?«

»Nur, dass er uns vorhin schon nützlich gewesen ist.«

»Und davor hat er uns beinahe umgebracht – zweimal! Nein, dreimal! Wie auch immer ich es geschafft habe, ihn zu kontrollieren, es war zur Hälfte unbeabsichtigt. Und wenn es mir nicht noch einmal gelingt? Dann sind wir auf der Stelle tot.«

Emma antwortete nicht sofort, sondern sah mich einen Moment lang forschend an, nahm dann meine Hand, die total verdreckt war, und küsste sie behutsam, einmal, zweimal.

»Wofür war das?«, fragte ich überrascht.

»Du hast echt keine Ahnung, wie?«

»Wovon?«

»Dass du durch und durch ein Wunder bist.«

Addison stöhnte.

»Du hast eine erstaunliche Gabe«, flüsterte Emma. »Ich bin sicher, dass du nur ein wenig Übung brauchst.«

»Mag sein. Aber etwas zu üben bedeutet, am Anfang Fehler zu machen, was in diesem Fall bedeutet, dass Menschen sterben.«

Emma drückte meine Hand. »Mit ein bisschen Druck kann ich dich doch dabei unterstützen, eine neue Fähigkeit zu vervollkommnen?«

Ich versuchte zu lächeln, aber es gelang mir nicht. Mein Herz schmerzte zu sehr bei der Vorstellung, wie viel Schaden ich anrichten konnte. Diese »Fähigkeit« fühlte sich an wie eine geladene Waffe, von der ich nicht wusste, wie man sie benutzt. Verdammt, ich wusste ja nicht einmal, welches Ende ich von mir weghalten musste! Besser, ich legte sie weg, bevor sie in meinen Händen explodierte.

Wir hörten ein Geräusch am anderen Ende des Waggons, schauten hoch und sahen, wie die Tür aufging. Die war nicht mit einer Kette verschlossen, und zwei in Leder gekleidete Teenager kamen in unseren Waggon gestolpert, ein Junge und ein Mädchen. Sie lachten und reichten eine Zigarette zwischen sich hin und her.

»Wir bekommen Ärger«, sagte das Mädchen und küsste ihn auf den Hals.

Der Junge strich sich eine dandyhafte Haarsträhne aus den Augen. »Ich mache so was oft, Süße« – dann entdeckte er uns und erstarrte, die Brauen spitz nach oben gezogen. Die Tür, durch die sie gekommen waren, fiel mit einem Knall hinter ihnen zu.

»Hey«, sagte ich lässig, als würden wir nicht neben einem sterbenden, blutüberströmten Mann auf dem Boden kauern. »Was geht ab?«

Dreht jetzt nicht durch. Verratet uns nicht.

Der Junge runzelte die Stirn. »Seid ihr …«

»Verkleidet«, erwiderte ich. »Haben es mit dem Kunstblut ein bisschen übertrieben.«

»Oh«, sagte der Junge und glaubte uns eindeutig nicht.

Das Mädchen starrte auf den Falt-Menschen. »Ist er …«

»Betrunken«, sagte Emma. »Hat sich um den Verstand gesoffen. Deshalb hat er unser ganzes verdammtes Kunstblut auf dem Boden verschüttet. Und auf sich selbst.«

»Und uns«, fügte Addison hinzu. Die Köpfe der Kids gingen ruckartig in seine Richtung, und ihre Augen wurden noch größer.

»Du Idiot«, zischte Emma. »Halt die Klappe.«

Der Junge zeigte mit zitternder Hand auf den Hund. »Hat er etwa gerade …«

Addison hatte nur zwei Wörter gesagt, wir hätten es als eine durch ein Echo hervorgerufene Täuschung abtun können, aber er war zu stolz, um sich dumm zu stellen.

»Natürlich nicht«, sagte er und reckte die Nase in die Luft. »Hunde beherrschen keine der menschlichen Sprachen – abgesehen von luxemburgisch, das aber nur Banker und Luxemburger verstehen und uns von daher wenig nutzt. Nein, ihr müsst etwas Verdorbenes gegessen haben und leidet unter Wahnvorstellungen. Und wenn es euch nicht allzu viel ausmacht, würden meine Freunde und ich gern eure Kleidung leihen. Zieht euch also bitte aus.«

Bleich und zitternd begann der Junge, seine Lederjacke abzustreifen, aber kaum hatte er einen Arm herausgezogen, da gaben seine Knie nach, und er fiel ohnmächtig zu Boden. Und dann begann das Mädchen zu schreien und hörte nicht mehr auf.

Sofort fing der Wight an, gegen die verschlossene Tür zu schlagen. Seine Augen blitzten mordlustig.

»So viel zum Wegschleichen«, sagte ich.

Addison drehte sich um und schaute zur Zwischentür. »Eindeutig ein Wight«, sagte er und nickte weise.

»Ich bin echt froh, dass wir diese Unklarheit beseitigt haben«, sagte Emma.

Es gab einen Ruck, und Bremsen quietschten. Wir fuhren in eine Station ein. Ich zog Emma auf die Füße und bereitete mich darauf vor, loszurennen.

»Was ist mit Sergei?«, fragte Emma und schaute zu ihm.

Es würde schwierig genug sein, mit einer geschwächten Emma vor zwei Wights davonzulaufen; mit dem Falt-Menschen in meinen Armen wäre es unmöglich.

»Wir müssen ihn hierlassen«, sagte ich. »Man wird ihn finden und zum Arzt bringen. Das ist seine größte Chance – und unsere.«

Überraschenderweise stimmte sie zu. »Ich glaube, das würde er auch so wollen.« Sie eilte rasch zu ihm. »Tut mir leid, dass wir dich nicht mitnehmen können. Aber ich bin sicher, dass wir uns wiedersehen werden.«

»In der nächsten Welt«, krächzte er und öffnete die Augen einen Spalt. »In Abaton.«

Mit diesen geheimnisvollen Worten und dem Schreien des Mädchens, das uns in den Ohren klingelte, kam der Zug zum Stehen, und die Türen gingen auf.

***

Wir waren weder kunstfertig noch unauffällig. Wir rannten einfach, so schnell wir konnten.

Der Wight sprang aus seinem Waggon und in unseren herein. In dem Moment waren wir bereits an dem schreienden Mädchen und über ihren ohnmächtigen Freund hinweg durch eine andere Tür auf den Bahnsteig gestürmt, wo wir gegen die Massen andrängelten, die wie ein Schwarm laichender Fische hineinzuströmen versuchten. Im Unterschied zu den anderen Stationen platzte diese fast aus allen Nähten.

»Dahin!«, schrie ich und zog Emma zu dem Schild AUSGANG, das in der Ferne leuchtete. Ich hoffte, dass Addison irgendwo um unsere Füße war, aber in dem Gewimmel konnte ich den Boden kaum erkennen. Zum Glück kehrten Emmas Kräfte zurück – oder sie hatte einen Adrenalinschub –, denn ich hätte sie nicht gleichzeitig stützen und uns durch diesen menschlichen Ansturm bugsieren können.

Nachdem wir gut sechs Meter und etwa fünfzig Leute zwischen uns und den Zug gebracht hatten, kam der Wight aus dem Abteil geschossen, stieß Pendler beiseite und schrie: Ich bin Polizeibeamter! und Aus dem Weg! und Haltet diese Kinder auf! Aber entweder hörte ihn bei dem hallenden Lärm in der Station niemand – oder niemand beachtete ihn. Ich schaute mich um und sah ihn näher kommen. In dem Moment begann Emma, Leute rechts und links ins Stolpern zu bringen, indem sie im Laufen Beinchen stellte. Menschen schrien und stürzten, rissen andere mit sich. Als ich noch einmal zurückschaute, kämpfte sich der Wight nur noch mühsam voran, trat auf Beine und Rücken und erntete dafür Schläge mit Regenschirmen und Aktentaschen. Dann blieb er frustriert und mit rotem Gesicht stehen, um sein Pistolenhalfter zu öffnen. Aber mittlerweile befanden sich zu viele Menschen zwischen uns, und obwohl er sicher keine Skrupel gehabt hätte, einfach in die Menge zu feuern, war er nicht so dumm, das zu tun. Außerdem hätte es die dann ausbrechende Panik für ihn noch schwieriger gemacht, uns zu erwischen.

Als ich mich zum dritten Mal umblickte, war er weit zurückgefallen und wurde zunehmend von der Menge verschluckt. Vielleicht war es ihm auch gar nicht so wichtig, uns zu erwischen. Schließlich waren wir weder eine große Bedrohung noch eine fette Beute. Vielleicht hatte der Hund recht: Verglichen mit einer Ymbryne waren wir die Mühe kaum wert.

Auf halbem Weg zum Ausgang lichtete sich die Menge so weit, dass wir rennen konnten. Aber kaum waren wir ein paar Schritte gelaufen, da packte mich Emma am Ärmel und hielt mich zurück. »Addison!«, schrie sie, wirbelte herum und drehte sich suchend in alle Richtungen. »Wo ist Addison?«

Einen Moment später kam er aus dem dicksten Knäuel der Menge gesprungen, ein langer weißer Stofffetzen hing an einem Dorn seines Halsbands. »Ihr habt auf mich gewartet!«, rief er. »Ich hatte mich im Strumpf einer Dame verheddert …«

Als seine Stimme ertönte, wandten sich sofort Köpfe nach ihm um.

»Komm schon, wir müssen weiter!«, drängte ich.

Emma zupfte das Strumpfstück von Addisons Halsband, und wir rannten weiter. Vor uns befanden sich ein Aufzug und eine Rolltreppe. Die Treppe funktionierte, war jedoch sehr voll, also steuerte ich uns in Richtung Aufzug. Wir rannten an einer Frau vorbei, die von Kopf bis Fuß blau angemalt war, und ich drehte im Laufen unwillkürlich den Kopf zu ihr um. Ihr Haar war blau gefärbt, ihr Gesicht blau geschminkt, und sie trug einen hautengen, ebenfalls blauen Overall.

Sie war gerade erst aus meinem Blickfeld verschwunden, als ich jemanden entdeckte, der noch sonderbarer aussah: ein Mann, dessen Kopf vertikal in zwei Hälften unterteilt war, die eine kahl und völlig verbrannt, die andere unberührt, das Haar zu einer eleganten Welle gelegt. Falls Emma ihn auch bemerkte, so wandte sie sich ihm jedenfalls nicht zu. Vielleicht war sie so daran gewöhnt, echte Besondere zu treffen, dass sie diese besonders aussehenden Normalen kaum registrierte. Aber wenn es nun keine normalen Menschen sind?, dachte ich. Wenn es Besondere sind, und statt in der Gegenwart sind wir in einer anderen Zeitschleife gelandet? Wenn …

Dann sah ich zwei Jungen mit glühenden Schwertern, die an einer Wand mit Münzautomaten kämpften, jedes Aufeinandertreffen der Säbel wurde von einem Knall begleitet – und die Realität hatte mich wieder. Das waren Nerds. Und ob wir in der Gegenwart waren.

Etwa sieben Meter vor uns öffneten sich die Fahrstuhltüren. Wir hechteten hinein, prallten mit den Händen gegen die hintere Wand, während Addison hinterhergestolpert kam. Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, dass ich zwei Dinge sah: Der Wight tauchte aus dem Gewimmel auf und verfolgte uns, und weiter hinten bei den Schienen, wo der Zug gerade losfuhr, sprang der Hollowgast vom Dach des letzten Waggons zur Decke der Station, bewegte sich wie eine Spinne vorwärts, indem er sich mit seinen Zungen von Strebe zu Strebe hangelte, die schwarzen Augen auf mich gerichtet.

Doch dann schlossen sich die Türen, und wir schwebten sanft nach oben. Plötzlich sagte jemand: »Wo brennt’s, Kumpel?«

Ein Mann mittleren Alters stand in der hintersten Ecke, verkleidet und höhnisch grinsend. Sein Hemd war zerrissen, das Gesicht übersät mit aufgemalten Schnittwunden, und an das Ende eines Arms war im Stil von Captain Hook eine blutverschmierte Kettensäge geschnallt.

Emma sah ihn und trat rasch einen Schritt zurück. »Wer bist du?«

Er lächelte leicht gekränkt. »Ach, ich bitte dich …«

»Wenn du unbedingt wissen willst, wo es brennt, dann …« Sie hob die Hände, aber ich hielt sie zurück.

»Er ist keiner«, sagte ich.

»Und ich dachte, ich hätte mir dieses Jahr ein eindeutiges Kostüm ausgesucht«, murmelte der Mann. Er zog eine Augenbraue hoch und hob die Kettensäge. »Mein Name ist Ash. Du weißt schon … Armee der Finsternis?«

»Von beidem nie gehört«, erwiderte Emma. »Wo ist deine Ymbryne?«

»Meine was?«

»Er hat sich nur verkleidet«, versuchte ich Emma zu erklären, aber sie hörte mich gar nicht.

»Ganz egal, wer du bist«, sagte sie, »eine Armee können wir gut gebrauchen, und Bettler dürfen nicht wählerisch sein. Wo sind deine Leute?«

Der Mann verdrehte die Augen. »L-O-L. Ihr seid echt witzig. Alle sind im Konferenzzentrum, wo sonst?«

»Er trägt ein Kostüm«, flüsterte ich Emma zu. Und dann, an den Mann gewandt: »Sie sieht nicht viele Filme.«

»Ein Kostüm?« Emma runzelte die Stirn. »Aber er ist ein erwachsener Mann.«

»Na und?«, sagte der Mann und betrachtete uns von oben bis unten. »Und wen stellt ihr dar? Walking Dorks? Die Liga Außergewöhnlicher Klabusterbeeren?«

»Besondere Kinder«, sagte Addison, dessen Ego es nicht zuließ, dass er noch länger schwieg.

Noch bevor Addison etwas hinzufügen konnte, fiel der Mann in Ohnmacht. Sein Kopf schlug mit einem so lauten Klonk auf dem Boden auf, dass ich zusammenzuckte.

»Du musst damit aufhören«, ermahnte Emma den Hund, konnte sich das Grinsen aber nicht verkneifen.

»Geschieht ihm recht«, sagte Addison. »Was für ein unhöflicher Mensch. Und jetzt schnell, schnappt euch seine Brieftasche.«

»Auf keinen Fall!«, protestierte ich. »Wir sind keine Diebe.«

Addison schnaubte. »Ich wage zu behaupten, dass wir es nötiger brauchen als er.«

»Warum in aller Welt ist er so angezogen?«, fragte Emma.

Der Fahrstuhl klingelte und hielt an.

»Ich glaube, du wirst es gleich erfahren«, antwortete ich.

***

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und wie durch Zauber breitete sich vor uns das Tageslicht aus, so hell, dass wir die Augen abschirmen mussten. Während wir auf den belebten Bürgersteig hinaustraten, sog ich gierig die frische Luft ein. Überall tummelten sich kostümierte Menschen: Superhelden in Elasthan, stark geschminkte, herumwatschelnde Zombies, Zeichentrickmädchen mit Waschbärenaugen, die Streitäxte schwangen. Sie scharten sich in ungleichen Grüppchen zusammen und überfluteten die für den Autoverkehr gesperrte Straße, wurden wie Motten vom Licht von einem riesigen grauen Gebäude angezogen, an dem ein Transparent verkündete: HEUTECOMIC-MESSE!

Emma schreckte zurück in Richtung Aufzug. »Was ist das?«

Addison spähte über den Rand seiner Brillengläser zu einem grünhaarigen Joker, der gerade seine Gesichtsfarbe nachbesserte. »Ihrer Aufmachung nach zu urteilen scheint es eine Art religiöser Feiertag zu sein.«

»Etwas Ähnliches«, sagte ich und drängte Emma weiter. »Aber du brauchst keine Angst zu haben, es sind nur verkleidete Normale, und genauso sehen wir auch aus. Sorgen müssen wir uns nur wegen des Wights.« Ich unterschlug den Hollow, hoffte, wir hätten ihn durch die Fahrt mit dem Aufzug abgeschüttelt. »Wir sollten uns irgendwo verstecken, bis er verschwunden ist, uns dann zurück in die U-Bahn schleichen und …«

»Das ist nicht nötig«, unterbrach mich Addison und trottete mit zuckender Nase auf die überfüllte Straße.

»Hey!«, rief Emma ihm nach. »Wo willst du hin?«

Aber er kehrte auf einem Umweg bereits zurück.

»Ein Hoch auf das Glück!«, rief er und wedelte mit dem Schwanz. »Meine Nase sagt mir, dass unsere Freunde hier aus der U-Bahn gebracht worden sind, mit diesem Aufzug. Wir sind auf dem richtigen Weg!«

»Den Vögeln sei Dank!«, jubelte Emma.

»Denkst du, dass du ihrer Spur folgen kannst?«, fragte ich.

»Ob ich das denke? Man nennt mich nicht umsonst Addison den Erstaunlichen! Es gibt nicht ein Aroma, ein Bouquet oder ein besonderes Eau de Toilette, das ich nicht auf hundert Meter riechen könnte …«

Wenn es um seine eigene Großartigkeit ging, vergaß Addison alles andere, selbst wenn die Lösung dringender Probleme anstand. Und seine stolze, dröhnende Stimme verlieh diesem Thema nur allzu gern Ausdruck.

»Okay, wir haben es begriffen«, unterbrach ich ihn, aber er redete unbeirrt weiter, während er sich seiner Nase folgend auf den Weg machte.

»… ich könnte einen Besonderen in einem Hollow-Stapel finden, eine Ymbryne in einem Vogelhaus …«

Wir folgten ihm in die Menge der Kostümierten, zwischen die Beine eines Zwergs auf Stelzen hindurch, um einen Haufen untoter Prinzessinnen herum, und fast auf Kollisionskurs mit Pikachu und Edward mit den Scherenhänden, die auf der Straße Walzer tanzten. Natürlich wurden unsere Freunde hierhergebracht, dachte ich. Es war die perfekte Tarnung – nicht nur für uns, die wir inmitten von all dem völlig normal aussahen, sondern auch für Wights, die eine Schar besonderer Kinder entführten. Selbst wenn einer von ihnen es gewagt hätte, um Hilfe zu schreien, wer hätte das ernst genommen und eingegriffen? Um uns herum schauspielerten alle, improvisierten gestellte Kämpfe, knurrten in Monsterkostümen, stöhnten wie Zombies. Ein paar seltsame Kinder, die schrien, dass sie von Leuten gekidnappt wurden, die ihnen ihre Seele rauben wollten? Das würde nicht einmal ein Stirnrunzeln hervorrufen.