Der Auschwitz-Prozess - Devin O. Pendas - E-Book

Der Auschwitz-Prozess E-Book

Devin O. Pendas

4,8
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die deutsche Vergangenheit vor Gericht

Im Winter 1963 begann vor den Augen der Weltöffentlichkeit der erste Auschwitz-Prozess, die größte und wichtigste juristische Aufarbeitung des Holocaust. Devin Pendas erzählt auf Basis umfangreicher Quellenforschung die Geschichte dieses Verfahrens, das die Öffentlichkeit spaltete und bei dem nicht nur 22 NS-Täter, sondern auch die deutsche Vergangenheit vor Gericht standen.

Viele Jahre mussten vergehen, bis eine deutsche Staatsanwaltschaft nach dem Krieg erstmals umfassende Ermittlungen gegen die Verbrechen einleitete, die im Vernichtungslager Auschwitz begangen worden waren. Es sollte der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte werden. Angeklagt waren SS-Ärzte und Lager-Aufseher. Hunderte von Zeugen wurden vernommen. Verhandelt wurde auch über die Unterstützung Hitlers durch weite Kreise der deutschen Bevölkerung, über Verdrängen und Erinnern – und nicht zuletzt über das schwierige Leben derjenigen, die den Holocaust überlebt hatten.

Devin Pendas zeigt, wie die bundesdeutsche Gesellschaft in diesem Prozess mit dem Holocaust konfrontiert wurde. Sein Buch berichtet eindrücklich aus dem Frankfurter Schwurgerichtssaal, Täter wie Opfer erhalten durch seine detailreiche Darstellung ein Gesicht. Ein Stück deutscher Geschichte, bei dem das Recht an seine Grenzen stieß.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 761

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Devin O. Pendas

DER AUSCHWITZ-PROZESS

VÖLKERMORD VOR GERICHT

Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Binder

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965. Genocide, History, and the Limits of the Law bei Cambridge University Press, Cambridge (England).

Der Übersetzer dankt Werner Renz, dem Archivar des Fritz Bauer Instituts Frankfurt am Main, für seine Beratung in vielen Sachfragen, die Hilfe bei der Suche einiger Quellen und seine so aufmerksame wie kritische Durchsicht der fertigen Übersetzung. K. B.

August 2013

Copyright © 2006 by Devin O. Pendas

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat: Dr. Christiane Fritsche, Düsseldorf

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-09245-0V002

www.siedler-verlag.de

Meiner Mutter und Großmutter und in Erinnerung an meinen Großvater

Inhalt

Einleitung

1. Vor dem Prozess

2. Widersprüche im deutschen Strafrecht: Motiv – Tat – Schuld

3. Die Akteure im Strafprozess

4. Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss April bis Oktober 1963

5. Der Prozess beginnt Dezember 1963 bis Februar 1964

6. Beweisaufnahme Februar 1964 bis Mai 1965

7. Die Plädoyers Mai bis August 1965

8. Das Urteil

9. Reaktionen in der Öffentlichkeit

10. Schluss: Völkermord und die Grenzen des Rechts

Nachwort zur deutschen Ausgabe

Dank

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Personenregister

Einleitung

Dieses Buch ist eine Geschichte des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965), des größten, öffentlichkeitswirksamsten und bedeutendsten NS-Prozesses, der nach 1945 vor einem westdeutschen Gericht geführt wurde. Insgesamt 6000 Prozesse dieser Art haben zwischen 1945 und 1980 stattgefunden, der Auschwitz-Prozess war der dramatischste und politisch folgenreichste unter ihnen.1 Doch selbst wenn er aufwühlender und bedeutender gewesen sein mag als die anderen Verfahren, in zweierlei Hinsicht war er auch ein typischer NS-Prozess. Erstens wurde er, wie alle NS-Verfahren, die in der Bundesrepublik Deutschland eröffnet wurden, nachdem diese ihre volle rechtliche Souveränität erlangt hatte, nach dem einschlägigen deutschen (und nicht nach internationalem) Recht geführt; zweitens stand wie in den meisten dieser Verfahren seit den späten 1950er Jahren auch im Auschwitz-Prozess die Shoah im Zentrum, der Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden.2 Das heißt die Justiz der Bundesrepublik Deutschland musste versuchen, dem Völkermord, mit den Mitteln des normalen Strafrechts beizukommen. Wie sah dieser Versuch im Einzelnen aus? Wo lagen seine Stärken und Schwächen, wo seine Grenzen? Welche rechtlichen, politischen und kulturellen Probleme, welche Konsequenzen ergaben sich aus der Tatsache, dass der Völkermord als Teil der eigenen Geschichte vor Gericht nach nationalem Recht verhandelt wurde?

Das sind die Fragen, denen ich mit diesem Buch nachgegangen bin, indem ich mir einen bestimmten Prozess vorgenommen und seine Geschichte im Einzelnen untersucht habe. Zu Beginn des Auschwitz-Prozesses saßen 22 Personen auf der Anklagebank, bei Prozessende waren es noch 20.3Sieben dieser Angeklagten wurden wegen Mordes, zehn wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, drei erreichten einen Freispruch. Das Strafmaß lag zwischen dreieinviertel Jahren und lebenslanger Haft. In 183 Sitzungen, verteilt über 20 Monate, wurden über 350 Zeugen vernommen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende. Gut zwei Dutzend Juristen – Staatsanwälte, Anwälte der Verteidigung sowie Anwälte von Nebenklägern aus aller Welt – stritten über Wesen und Bedeutung von Massenmord, Folter und Völkermord. In seinem – mündlichen wie schriftlichen – Urteil versuchte das Gericht, innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen die Verbrechen von Auschwitz zu sühnen.4 Die westdeutsche Öffentlichkeit verfolgte diesen Prozess mit makabrer Faszination, feindseliger Gleichgültigkeit, tief empfundener Scham und Reue – eine merkwürdige Mischung.

Mit dem Auschwitz-Prozess stießen Recht und Justiz an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, auf systematischen Völkermord angemessen zu antworten. Das bundesdeutsche Strafrecht war auf Verbrechen ganz anderer Art ausgerichtet: auf gewöhnliche Verbrechen, wie sie zumeist Einzeltäter oder kleine Gruppen aus persönlichen Motiven begehen. Die rechtlichen Kategorien, die entwickelt worden waren, um zwischen Angeklagten je nach von ihrer subjektiven Einstellung zur Tat zu unterscheiden, erwiesen sich als – bestenfalls – irreführend, sobald sie auf ein Verbrechen angewandt wurden, dessen Durchführung nicht völlig von der besonderen persönlichen Motivation der zahlreichen Täter abhing. Die Judenvernichtung im Dritten Reich hatte nicht nur ungeheuerliche Ausmaße, sie war auch bürokratisch geplant und organisiert, sie stand unter staatlicher Leitung. Darum waren die persönlichen Motive der zu Tausenden beteiligten Täter nur untergeordnete Faktoren beim Massenmord, der weit über jeden Einzelnen von ihnen hinausging. Ohne die willige Beteiligung von Tätern wie jenen, die in Frankfurt am Main vor Gericht standen, wäre Auschwitz kaum möglich gewesen, und doch lässt sich seine furchtbare Realität nicht als Folge individueller Taten erklären, die aus individuellen Gründen begangen wurden. Auch in diesem Fall war das Ganze größer als die Summe seiner Teile. Wegen dieses quasi exponentiellen Charakters des NS-Völkermordes war es sehr schwer, dieses Verbrechen mit den Mitteln des deutschen Rechts zu erfassen; nicht nur im Auschwitz-Prozess.

Zudem muss der Frankfurter Prozess auch als politischer Prozess betrachtet werden. Nicht, dass er ein illegitimer Versuch gewesen wäre, mit rechtlichen Mitteln außerrechtliche Ziele zu erreichen; nein, das Vorhaben, Auschwitz zu sühnen, musste notwendigerweise auch politisch bedeutsame Fragen aufwerfen.5Zum einen war der Kalte Krieg im Gerichtssaal stets präsent, zum anderen stand die Frage im Raum, wie es um die Demokratie in der Bundesrepublik, um das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit bestellt war. Weil Auschwitz nicht nur ein historisches, sondern auch ein politisches Problem war, war der Prozess in Frankfurt am Main ein politischer Prozess.

Wissenschaftlich wurde die Geschichte der westdeutschen NS-Prozesse bislang auf zumeist ziemlich allgemeiner Ebene behandelt. Grob gesprochen hat die Beschäftigung mit diesen Verfahren drei Phasen durchlaufen: Erste Versuche, die rechtliche und politische Seite der NS-Prozesse zu thematisieren, gab es bereits in den 1960er Jahren.6 In den 1980er Jahren bemühte man sich dann um einen vorläufigen, häufig kursorischen, oft auch polemischen Überblick.7 Und in letzter Zeit schließlich entstanden gründlichere, empirisch fundierte Untersuchungen zu den Prozessen, die sich auf Archivrecherchen stützen.8 Diese neuere Literatur ist insofern von Bedeutung, als sie die politische und rechtliche Komplexität der NS-Prozesse in der Bundesrepublik insgesamt beleuchtet. So zeigt sich, dass man nicht von den NS-Prozessen im Sinn eines einheitlichen Ganzen sprechen kann, vielmehr müssen die einzelnen Verfahren in ihrer Verschiedenheit und in ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext gesehen werden.

Prozesseröffnung im Plenarsaal des Frankfurter Römer: die Angeklagten Victor Capesius und Oswald Kaduk – im Gespräch mit den Verteidigern Friedrich Jugl und Anton Reiners –, dahinter die Angeklagten Emil Hantl und Stefan Baretzki (mit Sonnenbrille).

© Schindlerfoto, Oberursel

So wertvoll diese neueren Untersuchungen zu den NS-Prozessen auch sind: Keine von ihnen liefert eine umfassende, empirisch fundierte Geschichte einzelner Verfahren. Um aber die Unterschiede der NS-Prozesse in ihrem zeitlichen Verlauf betrachten und sie in ihren politischen und rechtlichen Kontext einordnen zu können, sind detaillierte Einzeldarstellungen dringend erforderlich. Der Auschwitz-Prozess war der prominenteste NS-Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik; zudem war er, mit Blick auf den vor Gericht verhandelten Gegenstand und die Anwendung von normalem Strafrecht auf NS-Verbrechen, typisch für die 1960er Jahre. Insofern ist er für die von mir intendierte Untersuchung besonders geeignet.

Schon in den 1960er Jahren erkannte man, welche Bedeutung dem Prozess in Frankfurt am Main zukommen würde. Nicht nur die Medien berichteten ausführlich (vgl. Kapitel 9), vielmehr kamen schon kurz nach Prozessende mehrere hervorragende Bücher auf den Markt. Hermann Langbeins zweibändige »Dokumentation« enthält kurze Bemerkungen zur Vorgeschichte des Prozesses sowie im Wesentlichen ausgedehnte Exzerpte aus Zeugenaussagen, die Langbein selbst während des Prozesses mitprotokolliert hat.9 Sein Buch ist typologisch aufgebaut, entsprechend der Organisation des Lagers, ; dies macht deutlich, dass sich Langbeins Interesse weniger auf den Prozess als auf Auschwitz selbst konzentrierte. Sein Buch ist als eine Geschichte des Lagers zu lesen, so wie sie während des Prozesses von den Augenzeugen erzählt wurde. In Bernd Naumanns »Auschwitz. Bericht über die Strafsache Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt« sind die Prozessberichte des Journalisten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammengefasst.10 Mit feiner Ironie und mit dem Blick eines Romanciers für aussagekräftige Einzelheiten entwirft Naumann ein lebendiges Porträt des Prozesses, zeigt diesen als gelebte Erfahrung. Dafür untersucht er die rechtlichen Grundlagen des Prozesses nicht ausführlich und er verzichtet darauf, im Nachhinein wie ein Historiker einen Blick auf die Vorgänge zu werfen, die hinter der Fassade der öffentlich sichtbaren abliefen. Und Peter Weiss’ Theaterstück »Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen« schließlich ist ein Dialog nach dem Vorbild einer griechischen Tragödie; den Wortlaut hat der Autor direkt aus dem Prozess übernommen.11Dieses Stück, für die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts ebenso bedeutsam wie Weiss’ älteres Avantgarde-Werk »Marat/Sade«, ist allerdings weniger eine Geschichte des Auschwitz-Prozesses als eine dramatische Darstellung des tragischen Charakters der Moderne.12

In den letzten Jahren ist der Frankfurter Prozess auf wachsendes Interesse auch in der Wissenschaft gestoßen. Dies ist zu einem guten Teil den Aktivitäten des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main zu verdanken.13 Neben seiner Archivarbeit präsentierte es im Jahr 2004 eine große Ausstellung über den Prozess14 und dokumentierte die Vorgeschichte sowie den Verlauf des Verfahrens auf DVD-ROM. Damit wurden die relevanten Dokumente aus den Gerichtsakten (Anklageschrift, Urteil etc.), die komplette Transkription des 430-stündigen Tonbandmitschnitts der Zeugenaussagen sowie viele Beweisstücke und Fotos einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.15 Darüber hinaus veröffentlichte das Institut zwei Aufsatzsammlungen zum Auschwitz-Prozess.16 Insbesondere Irmtrud Wojak, damals stellvertretende Direktorin des Instituts, der Archivar Werner Renz und die kanadische Historikerin Rebecca Wittmann leisteten hervorragende Arbeit; ihnen verdanken wir wichtige neue Erkenntnisse zum Prozess und seiner Geschichte.17 So hat Wojak die zentrale Rolle untersucht, die der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer spielte; sie hat die Bedeutung des Prozesses für die politische Kultur der Bundesrepublik in den 1960er Jahren hervorgehoben, dem ambivalenten Charakter dieser Auswirkungen allerdings zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.18 Renz trug auf der Grundlage der Originaldokumente mehr als jeder andere Forscher vor ihm dazu bei, dass wir heute vieles über die internen Abläufe des Prozesses wissen.19Wittmann hat das zentrale Paradox herausgearbeitet, das den Auschwitz-Prozess ihrer Meinung nach durchzogen hat: Die Anklage musste auf Normen und Regelungen der Nationalsozialisten zurückgreifen, um zu beweisen, dass die Angeklagten eben diese Normen verletzt hatten, als sie die Verbrechen begingen.20 Die Frage der persönlichen Initiative war von zentraler Bedeutung für den Prozess, darin hat die Historikerin recht; was aber den Rückgriff der Anklage auf NS-Normen und -Regelungen angeht, so war dieser womöglich weniger paradox, als Wittmann glaubt: Denn die Angeklagten wurden nicht nur vor Gericht gestellt (und verurteilt), weil sie über verbrecherische Befehle hinausgingen, sondern auch, weil sie diese befolgten. Für mich liegt das eigentliche Paradox des Prozesses daher weniger in dem Versuch, NS-Verbrechen nach NS-Normen unter Anklage zu stellen, als vielmehr darin, dass dem deutschen Recht grundsätzlich ein Verständnis von Verbrechen und menschlichem Handeln zugrunde liegt, das dem widersprach, was sich in der organisierten Judenvernichtung manifestiert hat. Mit Recht hat Wittmann zudem die Bedeutung hervorgehoben, die Zeugenaussagen von Überlebenden für den Prozess hatten: Sie waren Hauptbeweisquelle.21 Möglicherweise aber hat sie unterschätzt, welche psychologischen und epistemologischen Schwierigkeiten die Zeugen zu überwinden hatten, als sie versuchten, eine zusammenhängende Darstellung von Auschwitz als einem Ort des systematischen Massenmordes zu geben. Doch wie dem auch sei, mithilfe der genannten Arbeiten können wir die Geschichte des Frankfurter Auschwitz-Prozesses und seine Bedeutung für die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte nun Stück für Stück zusammensetzen. Zuvor allerdings müssen wir uns möglichst umfassende Kenntnisse über das deutsche Recht und die Situation in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren verschaffen.22

Um den Auschwitz-Prozess verstehen zu können, muss man sich klarmachen, welche Rolle die NS-Prozesse generell in der und für die Bundesrepublik Deutschland spielten. Die westdeutsche Geschichte in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ist ganz unterschiedlich beschrieben worden: als Geschichte der »Demokratisierung«, der »Modernisierung« und der »Verwestlichung«.23Trotz ihres unterschiedlichen methodischen Vorgehens stimmen all diese Ansätze darin überein, dass Demokratie und Liberalismus in der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre hinein einen unsicheren Stand hatten. Mochte die Gefahr einer umfassenden neofaschistischen Restauration geringer gewesen sein, als manche Zeitgenossen fürchteten, das Erbe des Nationalsozialismus lastete dennoch schwer auf der jungen Demokratie.24Das Gleiche gilt für die älteren autoritären, ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Traditionen.25 Die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik sind nicht nur durch einen Bruch mit der deutschen Vergangenheit gekennzeichnet, es gab auch Kontinuität. Die bundesdeutsche Demokratie war nach der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 keine unumstößliche Tatsache auf institutioneller Ebene, sondern sie war, wie Ulrich Herbert schrieb, ein »Lernprozess«26.Eine zentrale Frage dabei war, wie man mit den Kontinuitäten der deutschen Geschichte verfahren sollte, v. a. mit dem Erbe des Nationalsozialismus. Dass Strafverfahren ab Ende der 1950er Jahre zu einer wichtigen Antwort auf diese Frage wurden, stand keineswegs von vornherein fest, nicht 1949 und auch 1955 noch nicht.

Die Auffassung, dass die NS-Gräueltaten nicht zu den unvermeidlichen Schrecken des Kriegs gerechnet werden dürfen, sondern im vollen Sinn des Wortes »Verbrechen« waren, hatte sich während des Weltkriegs bei den Alliierten herausgebildet und wurde zu einem Kernstück ihrer Politik gegenüber Deutschland.27 Seit Gründung der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) im Oktober 1942 und insbesondere mit der Moskauer Deklaration vom November 1943 gaben die Alliierten deutlich zu erkennen, dass sie die Verantwortlichen nach dem Krieg strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen würden.28 Die Moskauer Deklaration unterschied zwei Kategorien von NS-Verbrechen (und schloss damit Verbrechen gegen deutsche Staatsbürger oder Staatenlose implizit aus): erstens Taten, die an einem bestimmten Ort begangen wurden, und zweitens Verbrechen, die »Hauptverbrechern« zur Last gelegt wurden und die keine genauen geographischen Grenzen hatten. Für erstere Verbrechen verantwortliche Täter sollten dahin überstellt werden, wo sie die Taten begangen hatten, und nach dortiger Rechtsprechung abgeurteilt werden; über das Schicksal der sogenannten Hauptverbrecher sollte nach Kriegsende eine »gemeinsame Entschließung der alliierten Regierungen« entscheiden.29 Doch trotz des Versprechens, die Hauptverbrecher gemeinsam zu belangen, konnten sich die alliierten Regierungen bis Kriegsende nicht einigen, wie man im Einzelnen mit den Tätern verfahren sollte – ob mit den Mitteln des Strafrechts oder durch Sammelhinrichtungen.30

In Absprache mit den Vereinigten Staaten berief die britische Regierung für den 26. Juni 1945 eine Konferenz der Alliierten in London ein: Dort sollte ein Abkommen über die juristische Verfolgung der Hauptkriegsverbrecher geschlossen werden. Die Verhandlungen waren allerdings zäh und schwierig. Dies hing einerseits mit den unterschiedlichen Rechtstraditionen von Angloamerikanern und ihren europäischen Kollegen zusammen, andererseits mit den persönlichen Animositäten zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Delegationsleiter, die zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten führten. Am 8. August 1945 jedoch verabschiedete die Konferenz das sogenannte Londoner Statut31 – die Rechtsgrundlage für den Internationalen Militärgerichtshof, der vom 29. Oktober 1945 bis zum 1. Oktober 1946 in Nürnberg tagte und vor dem sich 22 führende Nationalsozialisten verantworten mussten.32

Das Londoner Statut war auch die Grundlage für das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10. Es wurde am 20. Dezember 1945 erlassen und war die rechtliche Basis sowohl für die folgenden alliierten Verfahren gegen NS-Verbrecher (die zwölf sogenannten Nachfolgeprozesse in Nürnberg und andere Verfahren) als auch für die Prozesse, die während der Besatzungszeit vor deutschen Gerichten geführt wurden. In dieser Zeit wurden, so die offizielle Statistik von 1965, von (west-)alliierten Gerichten in Deutschland insgesamt 5025 Deutsche verurteilt.33

In unserem Zusammenhang ist zu diesem, wie es etwas ungenau genannt wurde, »Kriegsverbrechen-Programm«34 zweierlei zu sagen: Erstens hat es die neue Rechtskategorie »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (crime against humanity) geschaffen, eines von drei Verbrechen, die im Londoner Statut definiert wurden und die für alle folgenden Verfahren nach dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 10 galten.35Die Verfolgung von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« sollte rechtlich Schutz geben vor »Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation und anderen unmenschlichen Taten«, verübt an der Zivilbevölkerung »vor und während des Krieges« sowie vor »Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen«, wenn sie mit anderen im Londoner Statut definierten Verbrechen in Verbindung standen.36

Die im Wesentlichen aus dem älteren Rechtsbegriff des Kriegsverbrechens abgeleitete Kategorie »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« war insofern von Bedeutung, als dieser Straftatbestand den Rechtsschutz auch auf deutsche Staatsbürger und Staatenlose ausdehnte, also auf jene Opfer, die in der Moskauer Deklaration mit ihrem Territorialprinzip ausgeschlossen gewesen waren.37Die eigentliche Neuerung war jedoch folgende Feststellung: Manche Taten seien so ungeheuerlich gewesen, dass die auf dem Dogma der nationalen Souveränität über staatliche Handlungen im Inland basierende traditionelle Immunität nicht mehr haltbar sei.38 Zwar fiel der Völkermord der Nationalsozialisten eindeutig unter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definierte Taten, doch wurde diese Rechtskategorie nicht als Gesetz gegen Völkermord konzipiert, sondern als umfassenderer Begriff – er sollte auf viele staatliche Handlungen, nicht nur auf Massenmord und Ausrottung anwendbar sein.39

Daneben – und dies ist der zweite bedeutende Aspekt der Nürnberger und der anderen alliierten Kriegsverbrecherprozesse für die Geschichte westdeutscher NS-Prozesse – versuchten die Alliierten, insbesondere die Amerikaner, solche Strafprozesse für das Projekt einer »Neuorientierung« der deutschen Gesellschaft zu nutzen, die weggeführt werden sollte von Autoritarismus, Militarismus und Nationalsozialismus. Neben Entnazifizierungs- und offiziellen Umerziehungsprogrammen waren Strafprozesse die dritte Säule dieses Projekts.40 In Nürnberg, so hofften die Alliierten, würde nicht nur die Gerechtigkeit siegen, sondern auch die Wahrheit. 1950 sagte der ehemalige Chef der US-Militärregierung in Deutschland General Lucius D. Clay über die Nürnberger Prozesse, sie hätten, indem sie den ganzen Umfang der NS-Verbrechen aufgedeckt hätten, »den Nationalsozialismus in Deutschland vollends [zerstört]«.41Trotz aller Erfolge (und Fehler) des alliierten Kriegsverbrechen-Programms: Clays optimistisches Urteil über die Wirkung, die es seiner Meinung nach auf die deutsche Bevölkerung hatte, lässt sich nicht aufrechterhalten. Es mag sein, dass, wie Donald Bloxham schrieb, »die Prozessakten blieben, unzerstörbar«.42 Doch für die Einstellung der Deutschen zum Nationalsozialismus hatten die Prozesse deutlich weniger direkte Folgen, als die Alliierten wohl gehofft hatten.

Tatsächlich wurden die Nürnberger Prozesse von den Deutschen im Allgemeinen nicht gut aufgenommen, weder von Juristen noch von der Bevölkerung.43 Selbst Deutsche, die die Taten der Nationalsozialisten für Verbrechen hielten und eine Bestrafung verlangten, hatten ein ungutes Gefühl bei der von den alliierten Gerichten gewählten Form:

Dass die Angeklagten in Nürnberg überhaupt zur Rechenschaft gezogen, verurteilt, bestraft worden sind, werden die meisten von uns als Akt historischer Gerechtigkeit empfinden. Aber niemand, der das Schuldprinzip ernst nimmt, und vor allem kein verantwortlich denkender Jurist, wird sich mit dieser vagen Empfindung zufrieden geben und geben dürfen. Der Gerechtigkeit ist nicht schon dann Genüge geschehen, wenn den Schuldigen irgendeine Strafe trifft, mag sie auch im Hinblick auf das Maß seiner Schuld zufällig die angemessene sein. Der Gerechtigkeit ist nur dann Genüge geschehen, wenn den Schuldigen eine Strafe trifft, die auf sorgfältiger und gewissenhafter Abwägung seiner nach den Sätzen des geltenden Rechts strafwürdigen Verfehlung durch einen gesetzlich berufenen Richter beruht.44

Genau deshalb hielten viele Deutsche die alliierten Strafverfahren für falsch.In einer Entschließung, der alle Verteidiger im Nürnberger Prozess beitraten, erhob Hermann Görings Anwalt Otto Stahmer zwei Einwände gegen das Verfahren. Erstens stünden die »im [Londoner] Statut enthaltenen strafrechtlichen Grundsätze in Widerspruch zu der Maxime ›nulla poena sine lege‹ [Keine Strafe ohne Gesetz]«.45Und zweitens seien »die Richter ausschließlich von Staaten bestimmt worden, die nur die eine Seite in diesem Krieg vertraten«.46Laut Stahmer standen Ankläger und Richter also auf derselben Seite; daher sah er einen weiteren Rechtsgrundsatz verletzt, nämlich die Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Dass seine Rechtsgrundlage auf einem Gesetz ex post facto beruhe – dieser erste Einwand gegen das Nürnberger Verfahren fand besonders bei deutschen Juristen Anklang. Deutsche Rechtsexperten (auch die Verfasser des Grundgesetzentwurfs) erkannten die Gültigkeit der im Londoner Statut zugrunde gelegten Rechtsgrundsätze zwar grundsätzlich an – aber nur für künftige Verbrechen und nicht für die rechtliche Beurteilung der NS-Verbrechen.47Der zweite Einwand dagegen fand v. a. Zustimmung in der deutschen Bevölkerung. Nürnberg galt, wie der Titel einer bekannten deutschen Darstellung des Prozesses lautete, als »Tribunal der Sieger«.48»Sehr vielen Deutschen erschienen die Prozessergebnisse als maßlose Übertreibungen und Beschönigungen einer Rachejustiz.«49 Der deutsche Verteidiger Robert Servatius ging sogar noch weiter, als er Nürnberg einen »Rückfall in die Barbarei« nannte.50 Die Form des Verfahrens in Nürnberg und der anderen alliierten Prozesse war also die Ursache dafür, dass viele Deutsche die Wahrheit nicht akzeptierten, die mit diesen Prozessen ans Licht kam.51

Parallel zum alliierten Kriegsverbrechen-Programm erteilten die überlasteten Besatzungsbehörden deutschen Gerichten die Genehmigung, wegen NS-Verbrechen an deutschen Bürgern oder Staatenlosen zu ermitteln, allerdings hatte dies nach dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu geschehen.52 Deutsche Gerichte mussten den Straftatbestand »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« auch auf Taten anwenden, die nach deutschem Recht zu der Zeit, als sie verübt worden waren, keine Straftatbestände gewesen waren.53(In dieser Hinsicht besonders umstritten waren Denunziationen.) Unter diesen Bedingungen vor Gericht verhandelt wurden v. a. Fälle, bei denen es entweder überwiegend um relativ unbedeutende Verbrechen wie Körperverletzung und dergleichen ging oder um außergerichtliche Hinrichtungen in der Endphase des Dritten Reichs, als Offiziere und Beamte versucht hatten, die Bevölkerung durch drakonische Strafen zum fanatischen Widerstand anzutreiben. Insgesamt wurden auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik zwischen 1945 und 1950 5228 Menschen von deutschen Gerichten verurteilt.54 Weil die Anklagen meist von Privatpersonen erhoben wurden und weil keine systematischen Ermittlungen stattfanden, galten diese Prozesse in der Öffentlichkeit jedoch häufig als politische Racheakte.55 Zudem waren viele Richter und Staatsanwälte, wenn sie solche Fälle zu bearbeiten hatten, empört über den in ihren Augen offenkundigen Verstoß gegen das Verbot, ex post facto-Gesetze anzuwenden.56

Die bemerkenswert starke Loyalität, mit der sich deutsche Juristen in der Nachkriegszeit an dieses Rückwirkungsverbot klammerten, wäre ihrerseits eine genauere Untersuchung wert. Selbst wenn nicht völlig auszuschließen ist, dass jene Loyalität aufrichtiger Überzeugung oder dem Wunsch entsprang, die Sünden der Vergangenheit nicht zu wiederholen und Nationalsozialisten nicht so zu behandeln, wie diese andere behandelt hatten – indem sie nämlich Sondergesetze erlassen hatten (die nur für bestimmte Gruppen galten oder rückwirkend angewendet wurden) –, sind solche Erklärungen eher selbstgerecht und ziemlich zweifelhaft. Weil viele deutsche Richter und Staatsanwälte auch nach dem Ende des Dritten Reichs im Amt blieben, ist vielmehr anzunehmen, dass vielen nichts an einer konsequenten Verfolgung der NS-Verbrechen lag. Schließlich war in zahlreichen Fällen auch die eigene Karriere nicht über jeden Zweifel erhaben.57

Angesichts der ablehnenden Haltung deutscher Gerichte bei Anklagen wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« kann es nicht verwundern, dass sie, sobald sie dazu die Möglichkeit hatten, die Verfolgung von NS-Verbrechen nach Maßgabe des alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 10 einstellten und stattdessen das reguläre deutsche Strafrecht anwandten. Im Januar 1950 gestattete das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 13 deutschen Gerichten bei an alliierten Staatsbürgern begangenen Verbrechen die Rechtsprechung auf der Grundlage des deutschen Rechts. Am 31. August 1951 hoben die Briten in ihrer Zone die Genehmigung für deutsche Gerichte auf, nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu ermitteln. Damit stellten sie es den Gerichten letztlich frei, die in Deutschland üblichen Rechtsvorschriften anzuwenden. Und schließlich beseitigte die Alliierte Hohe Kommission am 5. Mai 1955 mit dem Gesetz A-37 die letzten Einschränkungen, die die Kontrollratsgesetze Nr. 10 und Nr. 13 deutschen Gerichten auferlegt hatten, und gewährte diesen volle rechtliche Selbstständigkeit. Von nun an wurden alle NS-Prozesse an westdeutschen Gerichten nach regulärem Strafrecht geführt.

Etwa zur gleichen Zeit brach bei den alliierten Behörden eine Art »Amnestiefieber« aus.58Tatsächlich gab es in den frühen 1950er Jahren in der Bundesrepublik eine gut organisierte Kampagne zur Freilassung verurteilter »Kriegsverbrecher«.59 Diese Kampagne, an der sich nicht selten in erster Reihe auch hochrangige ehemalige Nationalsozialisten wie Werner Best beteiligten, zielte nicht nur darauf ab, weiteren Strafverfolgungen einen Riegel vorzuschieben, vielmehr sollte sie auch frühere Urteile kippen.60 So wandelten die Alliierten unter starkem deutschen Druck nicht nur viele Urteile gegen Offiziere um, die wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden waren, sondern auch gegen Personen, die wegen ihrer Beteiligung am Völkermord der Nationalsozialisten vor Gericht gestanden hatten.61

Sobald die deutsche Justiz zwischen 1950 und 1955 nach und nach aus der alliierten Kontrolle entlassen wurde, konnte sie NS-Verbrechen so verfolgen, wie es ihr beliebte. Da die Ansicht, das Londoner Statut und das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10 verletzten das Rückwirkungsverbot, unter deutschen Juristen weitverbreitet war, erstaunt es kaum, dass der Bundestag am 30. Mai 1956 mit dem 1. Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts die beiden Rechtskategorien Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit annullierte, ebenso wie die im alliierten Gesetz vorgesehenen Richtlinien für das Strafmaß (auch die Todesstrafe). Tatsächlich anerkennt das Grundgesetz zwar den Vorrang des Völkerrechts (Artikel 25); ausdrücklich aber verbietet es rückwirkend geltend gemachte Strafverfolgungsnormen (Artikel 103).62 Damit wurde sichergestellt, dass das Verbrechen des Völkermordes, wie es im deutschen Strafrecht kodifiziert wurde (§ 220 StGB), nur auf künftige Verstöße angewandt werden durfte, nicht aber auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Dies deckt sich mit dem deutschen Recht, wonach Art und Maß einer Strafe dem Gesetz zu entsprechen haben, das wirksam war, als die entsprechende Straftat begangen wurde (§ 2 StGB).

In den 1950er Jahren ging an bundesdeutschen Gerichten die Zahl von Ermittlungen und Prozessen wegen NS-Verbrechen stark zurück.63Zwischen 1945 und 1949 wurden von deutschen Gerichten 4419 Personen verurteilt, nur 15 davon allerdings wegen Verbrechen in Konzentrationslagern.64 Anders die zweite Periode der Strafverfolgung von Nationalsozialisten zwischen 1950 und 1958: Sie war von einer »halbherzige[n] justizielle[n] Aufarbeitung der NS-Vergangenheit«65 gekennzeichnet. Als die deutschen Gerichte nach 1950 ihre rechtliche Selbstständigkeit de facto wiedererlangten, sank die Zahl der Ermittlungen, Strafverfolgungen und Verurteilungen von NS-Verbrechen drastisch. Noch 1948 wurden an deutschen Gerichten mit 1819 Personen mehr Menschen als in jedem anderen Jahr wegen NS-Verbrechen schuldig gesprochen (davon allerdings nur 25 wegen Mordes).661949 gab es noch 1523 Verurteilungen; doch schon im Jahr darauf sank die Zahl der Schuldsprüche auf 809, ging 1951 auf 259 zurück und nahm immer weiter ab, bis 1955 nur noch 21 Personen verurteilt wurden.67 Auch die Zahl der Ermittlungen ging dramatisch zurück, von 2495 im Jahr 1950 auf 467 im Jahr 1952 und auf schließlich 183 im Jahr 1957.68

Die Zeit zwischen Anfang und Mitte der 1950er Jahre war nicht günstig für Staatsanwälte und Richter, die an der Verfolgung von NS-Verbrechen interessiert waren. Sie wurden, so meint Adalbert Rückerl, der langjährige Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, durch drei Faktoren behindert.69 Erstens litten die Justizverwaltungen unter chronischem Personalmangel; die dort tätigen Juristen waren zudem in ihrer juristischen Ausbildung kaum auf intensive historisch-dokumentarische Ermittlungstätigkeiten vorbereitet worden, wie sie nun nötig gewesen wären. Eine zweite Hürde bildeten die komplexen Voraussetzungen der deutschen Rechtsprechung. Da die meisten NS-Verbrechen außerhalb Deutschlands begangen worden waren, konnte vor deutschen Gerichten nur dann Anklage erhoben werden, wenn der mutmaßliche Täter in ihrem Zuständigkeitsgebiet lebte oder dort verhaftet wurde. Das wiederum hätte vorausgesetzt, dass die Strafverfolgungsbehörden genau dort nach Schuldigen suchten. Da aber weder auf nationaler noch auf regionaler Ebene systematische Untersuchungen wegen NS-Verbrechen angestellt wurden, begannen Ermittlungen fast immer erst dann, wenn Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen waren. Und drittens schließlich schien es im allgemeinen politischen Klima der 1950er Jahre stets opportuner, »Kriegsverbrecher« als ein Problem der Vergangenheit zu betrachten, als unglückliches Erbe aus der Besatzungszeit, das man am besten hinter sich ließ.70

Tatsächlich herrschte in den 1950er Jahren, wenn es um neue NS-Prozesse ging, eine äußerst ablehnende Atmosphäre, und es wäre falsch, ausschließlich die Justiz für den jähen Rückgang der Ermittlungen wegen NS-Verbrechen verantwortlich zu machen. Fritz Bauer, hessischer Generalstaatsanwalt und treibende Kraft beim Auschwitz-Prozess, sagte später einmal, Richter und Staatsanwälte hätten bis Mitte der 1950er Jahre das Gefühl gehabt, »den Schluss ziehen zu dürfen, nach der Auffassung von Gesetzgebung (Parlament) und Exekutive (Regierung) sei die juristische Bewältigung der Vergangenheit abgeschlossen«71. Zwar mögen einer konsequenteren Strafverfolgung von NS-Verbrechen sicherlich auch praktische Schwierigkeiten im Weg gestanden haben, doch war dies stets auch ein politisches Problem.72

Während der Verhandlungen über die deutsche Souveränität gelang es Bundeskanzler Konrad Adenauer, der Forderung nach einer allgemeinen Amnestie für deutsche »Kriegsverbrecher« mit dem Argument auszuweichen, die meisten der von alliierten Gerichten verurteilten Täter seien Opfer politischer Verfolgung und könnten freigelassen werden, die wenigen wirklichen Verbrecher aber verdienten ihre Strafe.73 Damit gelang es ihm, eine Position in der Mitte zu finden zwischen denjenigen, die jede Art von Kriminalisierung ehemaliger Nationalsozialisten ablehnten (wie z. B. die wieder entstehende nationale Rechte oder der nationalistische Flügel der Freien Demokratischen Partei, FDP) und den Besatzungsbehörden, die versuchten, von ihrem Kriegsverbrechen-Programm zu retten, was zu retten war.74 Indem Adenauer unbeirrt an der Auffassung festhielt, es gebe nur wenige wirkliche NS-Verbrecher, verschaffte er seiner Regierung den Alliierten gegenüber politischen Spielraum und konnte so, mit Blick auf die große Mehrheit ehemaliger Nationalsozialisten, einen großzügigen Rehabilitierungskurs einschlagen. Ob mit einer teilweisen, aber großzügigen Amnestie für weniger schwere NS-Verbrechen im Jahr 1949 oder mit der förmlichen Rehabilitierung und Wiedereinstellung von NS-Beamten und Polizeioffizieren auf Basis des sogenannten 131er-Gesetzes von 1951 – in jedem Fall verfolgte die Regierung Adenauer eine Strategie, die Jeffrey Herf »Demokratisierung durch Integration« genannt hat.75 Diese Strategie wurde durch Adenauers ebenfalls erfolgreiche Bemühungen flankiert, das Problem der NS-Vergangenheit durch Reparationszahlungen an Israel und nicht-israelische Opfer zu internationalisieren.76

Dieses »Schweigen« im Hinblick auf die NS-Vergangenheit hat Hermann Lübbe als funktionale Bedingung für die Stabilisierung der bundesdeutschen Demokratie verstanden.77 Dem haben andere entgegengehalten, jene Stille in den 1950er Jahren sei nicht so tief gewesen, wie im Allgemeinen angenommen. Dennoch: Die 1950er Jahre waren im Vergleich zur unmittelbaren Nachkriegszeit und zu den 1970er und 1980er Jahren, was die NS-Vergangenheit angeht, eine Ära konservativer Zurückhaltung.78 Für Mary Fulbrook ist

das Erstaunlichste an den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik (…) nicht die relativ starke personelle Kontinuität in den oberen Rängen vieler Bereiche des westdeutschen Lebens, sondern der Umfang, in welchem Männer, die, wenn sie auch nicht geradezu Kriegsverbrecher waren, sondern politische Opportunisten und unmoralische Mitläufer, toleriert wurden oder sogar hohe Ämter besetzen konnten.79

Dennoch müssen die 1950er Jahre, wie Norbert Frei mit Recht betont, differenzierter betrachtet werden, nämlich als eine Zeit, in der einerseits ehemalige Nationalsozialisten, auch solche, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten, politisch und gesellschaftlich rehabilitiert wurden, in der andererseits aber parallel dazu die NS-Ideologie auf weitgehende Ablehnung stieß und der neue demokratische Staat auf vorsichtige Akzeptanz.80 Die ersten Jahre der Bundesrepublik sind weder als vollständige Restauration des alten Regimes noch als radikaler, von demokratischen Überzeugungen getragener Bruch mit der Vergangenheit zu verstehen; es gab keine »Stunde Null«. So unvollkommen die Bemühungen der Bundesrepublik, mit dem Erbe der NS-Vergangenheit fertig zu werden, in den 1950er Jahren auch waren, packte man doch vieles im Großen und Ganzen vernünftig und tatkräftig an.81

Angesichts der sich mehrenden Skandale um ehemalige Nationalsozialisten in hohen öffentlichen Ämtern (wie z. B. Theodor Oberländer, Hans Globke oder Wolfgang Fränkel) begann gegen Ende der 1950er Jahre die Strategie der Demokratisierung durch Integration zu bröckeln.82 Dabei spielten die Bemühungen der DDR-Regierung keine unbedeutende Rolle; schließlich versuchte sie, mit dem Vorwurf, die Bundesrepublik habe im Umgang mit der NS-Vergangenheit versagt, Propagandaerfolge zu erzielen.83Nachdem die ostdeutsche Regierung sich 1961 dazu entschlossen hatte, die DDR durch den Bau der Berliner Mauer zu stabilisieren, folgte sie in ihren Beziehungen zur Bundesrepublik vordringlich zwei Maximen.84 Erstens wollte sie ihre Autorität im Inland dadurch legitimieren, dass sie den alten Mythos von der DDR als dem einzigen wahrhaft »antifaschistischen« deutschen Staat weiter ausbaute.85 Zweitens bemühte sie sich nach außen um einen legitimen Platz in der internationalen Gemeinschaft und versuchte daher, die westdeutsche Hallstein-Doktrin zu durchlöchern, nach der Bonn nicht nur der DDR diplomatische Beziehungen versagte, sondern auch jedem anderen Staat, der diese anerkannte. Eine aggressive Propagandakampagne gegen die »faschistische Restauration« in der Bundesrepublik schien für beide Absichten zweckdienlich zu sein. So ließ sich einerseits die antifaschistische Glaubwürdigkeit der DDR hervorheben und andererseits Druck auf die bundesdeutsche Regierung ausüben, mit den Ostblock-Staaten zu verhandeln, um an Beweismaterial gegen NS-Verbrecher zu kommen.86

Dass die Strategie der Demokratisierung durch Integration in den späten 1950er Jahren an Überzeugungskraft verlor, hatte auch mit einer Reihe neuer Prozesse zu tun. 1958 konfrontierten sie die westdeutsche Öffentlichkeit zum ersten Mal seit Nürnberg wieder mit dem ganzen Schrecken der NS-Verbrechen und zugleich mit dem Ausmaß, in dem die Justiz deren Verfolgung vernachlässigt hatte. Der Arnsberger Prozess gegen sechs ehemalige Wehrmachtsoffiziere wegen Mordes an Zwangsarbeitern in der Nähe von Warstein im März 1945 und der Prozess gegen den SS-General Max Simon und fünf seiner Untergebenen, die deutsche Zivilisten noch im April 1945 zum Tod verurteilt hatten, sorgten zum ersten Mal für öffentliche Kritik an der außerordentlich milden Behandlung, die NS-Verbrecher vor bundesdeutschen Gerichten erwarten durften.87Noch größere Beachtung fand der Prozess gegen Walter Martin Sommer, die »Bestie von Buchenwald«, in dessen Verlauf dramatische Augenzeugenberichte die unglaubliche Brutalität der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern ans Licht brachten, und das drastischer als je zuvor.88 Zu Kontroversen führte, dass der KZ-Arzt Hans Eisele, ein Zeuge im Prozess, tiefer in die Verbrechen verwickelt war als Sommer selbst. Eisele war von alliierten Gerichten zum Tode verurteilt, 1952 aber aus der Haft entlassen worden. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er anschließend als entlastet eingestuft und konnte seine Arztpraxis in München erfolgreich weiter betreiben. Nach den Enthüllungen im Prozess gegen Sommer floh er, da er nun mit weiterer Strafverfolgung rechnen musste, nach Ägypten. Dort kämpfte er mit Erfolg gegen seine Auslieferung und brachte sich durch den Vorwurf, er sei Opfer einer jüdischen Verschwörung, zusätzlich in Verruf.89

Als ob all dies noch nicht Beweis genug gewesen wäre für die Halbherzigkeit, mit der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt wurden, machte der Ulmer Einsatzgruppenprozess im Sommer 1958 noch deutlicher, wie sehr es an ernsthaften, auch systematischen Bemühungen fehlte, zumindest nach den schlimmsten NS-Tätern zu suchen. Der Hauptangeklagte in Ulm, Bernhard Fischer-Schweder, einst Polizeichef in Tilsit, hatte in den Jahren 1941/42 die Massenhinrichtungen von Juden und Kommunisten in der Region tatkräftig unterstützt. Per Zufall und durch eine Reihe geradezu absurder Ereignisse, während derer sich Fischer-Schweder ständig aus der Affäre zu ziehen suchte, indem er öffentlich auf seinem Recht zur Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft bestand, kam sein Fall schließlich den Ulmer Behörden zu Ohren.90Mit einigen seiner Kollegen wurde er schließlich im August 1958 in Ulm vor Gericht gestellt und wegen Beihilfe zum Mord zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.91Dazu die Juristin Lore Maria Peschel-Gutzeit: »Aus der Ruhe der fünfziger Jahre wurde die westdeutsche Gesellschaft 1958 durch den Ulmer ›Einsatzgruppenprozess‹ aufgeschreckt (…) Durch die Berichterstattung der Medien rückte erstmals seit den alliierten Prozessen der 40er Jahre wieder in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit, welche Verbrechen vor allem in Osteuropa verübt worden waren.«92

Mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess und der Affäre um Hans Eisele wurde Strafverfolgungsbehörden und führenden Politikern klar, dass es einer staatlicher Initiative bedurfte, um die Verfolgung von NS-Verbrechen systematisch zu betreiben und weitere Skandale zu verhindern. Missbilligend schrieb Ernst Müller-Meiningen jr. in der Süddeutschen Zeitung, nichts sei bislang getan worden gegen »Verbrecher aus jenen Tagen«.93

Die offizielle Reaktion auf derart kritische Stimmen erfolgte überraschend zügig. Am 3. Oktober 1958 entschlossen sich die Justizminister der Bundesländer und West-Berlins während ihrer Jahrestagung in Bad Harzburg, eine zentrale Ermittlungsstelle für NS-Verbrechen einzurichten, die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg.94 Einen Monat später, am 6. November 1958, wurde ein Ministerialvertrag unterzeichnet, der den Status der Zentralen Stelle als gemeinsame Einrichtung der Länderjustizministerien festlegte sowie ihre personelle und finanzielle Ausstattung durch die Bundesländer regelte.95Die Zentrale Stelle war keine Strafverfolgungs-, sondern nur eine Ermittlungsbehörde mit der Aufgabe, Material über NS-Verbrechen zu sammeln, Verdächtige zu identifizieren und ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Gegebenenfalls wurde dieses Material der Staatsanwaltschaft übergeben, meistens derjenigen, die am Wohnort des mutmaßlichen Täters für die Strafverfolgung zuständig war. Politisch lässt sich, wie Marc von Miquel gezeigt hat, der überraschende Beschluss der Länderjustizminister mit ihrem Wunsch erklären, Entschlossenheit zu demonstrieren; man wollte Skandale vermeiden, ohne die politisch ungleich schwierigere Frage anpacken zu müssen, wie mit ehemaligen Nationalsozialisten in den eigenen Ämtern und Justizbehörden umzugehen sei.96

Mit Gründung der Zentralen Stelle begann für die Geschichte der bundesdeutschen NS-Prozesse unbestritten eine neue Phase. Zwar stieg die Zahl der Urteile nicht sofort an, doch war eine rasche Zunahme offizieller Vorermittlungsverfahren zu verzeichnen.97Bereits 1959 liefen in der Zentralen Stelle etwa 400 solcher Verfahren, 1965/66 waren es 6372.98Zwischen 1958 und den späten 1970er Jahren, als sich unter dem Einfluss der amerikanischen Fernsehserie Holocaust die Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik noch einmal erheblich änderte, gab es, und dies lässt sich ohne Übertreibung sagen, einen Prozess juristischer Aufarbeitung des NS-Erbes in der Bundesrepublik. Die NS-Verfahren wurden nicht zum einzigen, wohl aber zum bedeutendsten Forum für die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Zwar standen, wie Heiner Lichtenstein mit einigem Recht betont, NS-Prozesse nur selten im Rampenlicht, aber es gab bedeutsame Ausnahmen von dieser Regel, die man nicht unterschätzen sollte.99So fanden in dieser Zeit diverse, äußerst öffentlichkeitswirksame Prozesse statt, die die Einstellung der Bevölkerung zu Nationalsozialismus und Judenverfolgung nachhaltig veränderten: an erster Stelle der Auschwitz-Prozess, aber auch der Ulmer Einsatzgruppenprozess, das Verfahren gegen Hermann Krumey und Otto Hunsche, beide Mitarbeiter von Adolf Eichmann, etwas später der Majdanek-Prozess und, nicht zu vergessen, der Eichmann-Prozess in Jerusalem.

Vor diesem Hintergrund ist der Auschwitz-Prozess beispielhaft für eine ganze Ära. Seine Anfänge reichen bis in die Zeit vor die Gründung der Zentralen Stelle zurück, auch kam der Prozess erst durch eine Reihe von Zufällen in Gang; dennoch steht er eher für die 1960er als für die 1950er Jahre. Die frühen 1960er Jahre waren eine Periode des Übergangs, heraus aus der Anfangsepoche der Bundesrepublik, in der die NS-Vergangenheit äußerst vorsichtig behandelt wurde und NS-Verbrecher aktiv rehabilitiert wurden, hin zu den späten 1960er und 1970er Jahren, als eine jüngere Generation viel emotionaler auf die NS-Vergangenheit und v. a. auf den Völkermord an den Juden reagierte und dieses Engagement häufig mit Forderungen nach radikalen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen verband.100Der Auschwitz-Prozess bildete eine bedeutsame Brücke zwischen diesen beiden Epochen. Wenn, wie Marc von Miquel meint, die 1960er Jahre wirklich einerseits im »Schatten der NS-Vergangenheit« standen und man andererseits bemüht war, »den Schatten zu entkommen«,101 dann ist der Auschwitz-Prozess ein zentraler Aspekt dieses Versuchs, die Last der Vergangenheit abzuschütteln.

Die Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe, der sich die Justiz nun umfassender annahm, verlagerte sich damit, und dies ist von großer Bedeutung, in den Rechtsbereich. Dabei sollte man eines nicht vergessen: Es war die Form des Rechts als System von Grundsätzen zur juristischen Beurteilung von Konflikten, die die grundlegenden Regeln für den Auschwitz-Prozess festlegte.102 Durch das Verfahren wurde das Handeln der verschiedenen Prozessbeteiligten in eine bestimmte Richtung gelenkt. Die rechtliche Form entschied darüber, welche Dinge von wem gesagt werden konnten, und v. a., wie Beweismaterial zu bewerten und schuldhaftes Verhalten festzustellen war. Allerdings schließt die allgemeine Struktur des deutschen Rechts selbstständiges Handeln und zufällige Entwicklungen in Rechtsverfahren keineswegs aus. Vielmehr legen rechtliche Strukturen die Grenzen fest, innerhalb derer die Prozessteilnehmer agieren und die sie für ihre eigenen Zwecke zu mobilisieren und zu manipulieren suchen.

Gleichzeitig erschöpft sich das Recht nicht in juristischem Formalismus. Prozesse haben auch eine darstellende Funktion. Zumindest repräsentieren sie die legitime Autorität des Staates, zu urteilen und Zwang auszuüben.103 Das Recht ist nicht nur ein in sich abgeschlossenes, selbstreferentielles Instrument zur Verhaltensregulierung und Urteilsfindung in Konfliktfällen, sondern, auf einer repräsentativen Ebene, auch ein Modus zur Artikulation und um gerichtliche Verfahren sowie Entscheidungen gegenüber der Gesellschaft zu rechtfertigen.104 Solche Repräsentationen aber haben grundsätzlich die Neigung zu »entgleiten«, denn was sie bedeuten, steht niemals eindeutig fest, und insofern sind sie offen für Auslegungsstreitigkeiten und für die schöpferische Neuinterpretation der Straftaten, die repräsentiert werden. Prozesse sind also nicht nur juristische Auseinandersetzungen um Schuld oder Nichtschuld, sondern auch Kämpfe um Repräsentation, um Darstellung und Formen der Darstellung, um so die umstrittene Bedeutung von Schuld zu entschlüsseln.

Unter dem Strich haben sich also vier Kontexte als bedeutsam für die Geschichte des Auschwitz-Prozesses herauskristallisiert: Erstens auf der allgemeinsten Ebene die Zwänge des Rechts selbst, sowohl in seiner juristischen als auch in seiner repräsentativen Dimension; zweitens auf einer etwas weniger allgemeinen Ebene der besondere Kontext des deutschen Rechts, v. a. der Rechtsbegriffe bei Tötungsdelikten, wie sie in NS-Fällen zur Anwendung kamen und kommen. Drittens haben wir den internationalen politischen Kontext des Kalten Kriegs und des deutsch-deutschen Kampfes um internationale Anerkennung; sowie viertens schließlich die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik selbst, die Art und Weise, wie der Auschwitz-Prozess Bewegung in alte Einstellungen zur NS-Vergangenheit sowie in das Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Zusammenhang mit NS-Verbrechen brachte und wie er zugleich neue Ansichten entstehen ließ und formte. Nur in der Zusammenschau dieser vier Kontexte lässt sich der Auschwitz-Prozess wirklich verstehen.

1 Vgl. Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag 1984, S. 329.

2 Vgl. Falko Kruse, »NS-Prozesse und Restauration: Zur justitiellen Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik«, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.), Der Unrechts-Staat: Recht und Justiz im Nationalsozialismus, Bd. 1, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1983, S. 180ff.

3 Für zwei Angeklagte – Gerhard Neubert und Heinrich Bischoff – wurde der Prozess aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzt. Gegen Neubert wurde daraufhin im sogenannten zweiten Auschwitz-Prozess vom 14. Dezember 1965 bis zum 16. September 1966 Anklage erhoben; Bischoff starb, bevor das Verfahren gegen ihn wieder aufgenommen werden konnte. Das Verfahren gegen den Angeklagten Hans Nierzwicki wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 5. Dezember 1963 mit Beschluss der 3. Strafkammer beim LG Frankfurt am Main vom 11. Dezember 1963 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten abgetrennt und gemäß § 205 StPO vorläufig eingestellt.

4 Das Urteil liegt inzwischen vollständig in einer kritischen Ausgabe vor: Friedrich-Martin Balzer und Werner Renz (Hg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965,Bonn: Pahl-Rugenstein 2004. Ich zitiere jedoch aus einer früher veröffentlichten Version, weil sie leichter zugänglich ist. Vgl. Christiaan F. Rüter u. a. (Hg.), Justiz und NS-Verbrechen: Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, 1945–1966, Bd. 21, Amsterdam: University Press Amsterdam 1979.

5 Das ist die klassische Definition politischer Prozesse: vgl. Otto Kirchheimer, Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Neuaufl., Hamburg: EVA 1993 [1965]; aber auch: Charles F. Abel und Frank H. Marsh, In Defense of Political Trials, Westport, Conn.: Greenwood 1994.

6 Vgl. Reinhard Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht, hg. von Dietrich Goldschmidt, Stuttgart: Kreuz 1964; Hermann Langbein, Im Namen des deutschen Volkes. Zwischenbilanz der Prozesse wegen nationalsozialistischer Verbrechen, Wien: Europa Verlag 1963; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten in der Bundesrepublik, Flensburg: Christian Wolff 1963; Peter Schneider und Herman J. Meyer (Hg.), Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse. Gemeinschaftsvorlesung des studium generale Wintersemester 1966/67, Mainz: Gutenberg-Universität 1968.

7 Vgl. Nationalsozialismus und Justiz. Die Aufarbeitung von Gewaltverbrechen damals und heute, Münster: agenda 1993; Volker Ducklau, Die Befehlsproblematik bei NS-Tötungsverbrechen. Eine Untersuchung anhand von 900 Urteilen deutscher Gerichte von 1945 bis 1965, Dissertation, Universität Freiburg 1976; Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, rev. Neuaufl., München: Piper 1994 [1984]; Albrecht Götz, Bilanz der Verfolgung von NS-Straftaten, Köln: Bundesanzeiger 1986; Bernd Hey, »NS-Prozesse: Versuch einer juristischen Vergangenheitsbewältigung«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 6 (1981), S. 51–70; ders., »NS-Gewaltverbrechen. Wissenschaft und Öffentlichkeit. Anmerkungen zu einer interdisziplinären Tagung über die Vergangenheitsbewältigung«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9 (1984), S. 86–91; Redaktion Kritische Justiz (Hg.), Der Unrechts-Staat. Recht und Justiz im Nationalsozialismus, 2 Bde., Baden-Baden: Nomos 1983–1984; Landeszentrale für Politische Bildung NRW (Hg.), Vereint Vergessen? Justiz- und NS-Verbrechen in Deutschland, Düsseldorf: Landeszentrale für Politische Bildung Nordrhein-Westfalen 1993; Michael Ratz u. a., Die Justiz und die Nazis. Zur Strafverfolgung von Nazismus und Neonazismus seit 1945, Frankfurt am Main: Röderberg 1979; Rückerl, NS-Verbrechen; Julius H. Schoeps und Horst Hillerman (Hg.), Justiz und Nationalsozialismus: Bewältigt – Verdrängt – Vergessen, Stuttgart: Burg 1987; Jürgen Weber und Peter Steinbach (Hg.), Vergangenheitsbewältigung durchStrafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München: Günter Olzog 1984.

8 Vgl. Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 33, Tübingen: Mohr Siebeck 2002; Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Europäische Hochschulschriften: Reihe III Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 911, Frankfurt am Main: Peter Lang 2001; Friedrich Hoffmann, Die Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Hessen, Baden-Baden: Nomos 2001; Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren. Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Göttingen: Wallstein 2004.

9 Vgl. Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess: Eine Dokumentation, 2 Bde., Frankfurt am Main: Neue Kritik 1995 [1965].

10 Das 1965 erschienene Buch erlebte mehrere Neuauflagen und wurde ins Englische übersetzt, vgl. Bernd Naumann, Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u. a. vor dem Schwurgericht Frankfurt,Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1965; ders., Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt, gekürzte Auflage der Fischer Bücherei, Frankfurt am Main: Fischer 1968 sowie die Neuauflage der 1968er Ausgabe: ders., Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht Frankfurt, Berlin: Philo Verlag 2004. Im Folgenden wird aus der Ausgabe von 1965 zitiert.

11 Vgl. Peter Weiss, Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1965.

12Vgl. Robert Cohen, Understanding Peter Weiss,Columbia: University of South Carolina Press 1993; James E. Young, Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation,Bloomington: Indiana University Press 1988. Allgemeiner: Stephan Braese (Hg.), Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, Göttingen: Wallstein 2004.

13 Im Institut sind heute fast alle Akten zu finden, die mit dem Prozess zu tun haben, nicht nur Kopien der Originalprozessakten, sondern auch die internen »Handakten« der Anklagevertretung sowie zahlreiche private Aufzeichnungen verschiedener Prozessbeteiligter und eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten.

14 Die Ausstellung wurde im März 2004 im Haus Gallus in Frankfurt am Main eröffnet, wo auch der erste Prozess stattfand. Vgl. den Ausstellungskatalog: Irmtrud Wojak (Hg.), Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63, Frankfurt am Main, Köln: Snoeck Verlagsgesellschaft 2004.

15 Vgl. Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente, DVD-ROM, hg. vom Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, Berlin: Directmedia Publishing GmbH 2004 (Digitale Bibliothek, Bd. 101); 2., durchges. und verb. Aufl., Berlin 2005; 3. Aufl., Berlin 2007 (48679 Bildschirmseiten, 528 Abb., 100 Stunden O-Ton-Auswahl). Leider erschien die DVD-ROM zu spät, um in diesem Buch Berücksichtigung zu finden.

16 Vgl. Irmtrud Wojak (Hg.), »Gerichtstag halten über uns selbst …« Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses,Fritz Bauer Institut Jahrbuch 2001 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main: Campus 2001; sowie: dies. und Susanne Meinl (Hg.), Im Labyrinth der Schuld. Täter – Opfer – Ankläger,Fritz Bauer Institut Jahrbuch 2003 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main: Campus 2003.

17 Es ist nicht überraschend, dass diese Autoren, weil sie zum Teil dieselben Quellen benutzten, zu ähnlichen empirischen Ergebnissen kommen wie ich in diesem Buch. Ich habe mich bemüht, dies überall dort kenntlich zu machen, wo es im Text von Bedeutung ist, ohne allerdings bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass ich dieselben Dokumente oder Quellen benutzt habe wie die genannten Autoren.

18 Vgl. Irmtrud Wojak, »Im Labyrinth der Schuld: Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach 1945«, in: dies. und Meinl: Im Labyrinth der Schuld, S. 17–40; dies., »›Die Mauer des Schweigens durchbrochen‹. Der Erste Frankfurter Auschwitz-Prozeß 1963–1965«, in: dies, »Gerichtstag halten über uns selbst …«, S. 21–42.

19 Vgl. Werner Renz, »Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozeß. Völkermord als Strafsache«, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 15 (2000), S. 11–48; ders., »Auschwitz als Augenscheinsobjekt. Anmerkungen zur Erforschung der Wahrheit im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess«, in: Mittelweg 36/1 (2001), S. 63–72; ders., »Tatort Auschwitz: Ortstermin im Auschwitz-Prozess«, in: Tribüne 40 (2001), S. 132–144; ders., »Opfer und Täter. Zeugen der Shoah. Ein Tonbandmitschnitt vom ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess als Geschichtsquelle«, in: Tribüne 41 (2002), S. 126–136.

20 Vgl. Rebecca Elisabeth Wittmann, »Indicting Auschwitz? The Paradox of the Frankfurt Auschwitz Trial«, in: German History 21 (2003), S. 505–532; dies., Holocaust on Trial? The Frankfurt Auschwitz Trial in Historical Perspective, Dissertation, University of Toronto 2001.

21Vgl. Rebecca Elisabeth Wittmann, »Telling the Story. Survivor Testimony and the Narration of the Frankfurt Auschwitz-Trial«, in: Bulletin of the German Historical Institute 32 (2003), S. 93–101.

22 Zwar konnte ich Rebecca Wittmanns Buch für meine eigene Studie nicht mehr verwenden; ich weiß jedoch, dass auch sie für die grundlegende Untersuchung des juristischen Kontexts eintritt: vgl. dies., Beyond Justice. The Auschwitz Trial, Cambridge: Harvard University Press 2005.

23 Einen Überblick über diese verschiedenen Ansätze gibt Ulrich Herbert, »Liberalisierung als Lernprozeß? Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze«, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland: Belastung, Integration, Liberalisierung, 1945–1980, Göttingen: Wallstein 2002, S. 7–49. Zu Demokratisierung vgl. Moritz Scheibe, »Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft«, in: Herbert, Wandlungsprozesse,S. 245–277; Oscar W. Gabriel, »Demokratiezufriedenheit und demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik«, in: Aus Politik und Wissenschaft 22 (1987), S. 32–45; und David S. Conradt, »Changing German Political Culture«, in: Gabriel A. Almond und Sidney Verba (Hg.), The Civic Culture Revisited, Boston: Little Brown 1980, S. 212–272. Zur Modernisierungsthese vgl. Axel Schildt und Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft in den 50er Jahren, Bonn: Dietz 1998. Zur Westintegration vgl. Anselm Doering-Manteuffel, »Dimensionen von Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft«, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 1–35; und ders., Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert,Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. Zur Problematisierung des »glücklichen Endes« der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland vgl. Michael Geyer, »Germany, or, The Twentieth Century as History«, in: South Atlantic Quarterly 96 (1997), S. 663–702.

24 Die prominenteste Äußerung in diese Richtung stammt von Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen,München: Piper 1966.

25 Vgl. Herbert, »Liberalisierung als Lernprozeß?«, S. 17.

26Ebd., S. 13.

27Vgl. Arieh J. Kochavi, Prelude to Nuremberg. Allied War Crimes Policy and the Question of Punishment, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1998.

28Zur UNWCC vgl. Michel Fabreguet, »La Commission des Nations Unies pour les Crimes de Guerre et la Notion de Crimes contre l’Humanité (1943–1948)«, in: Revue d’Allemagne 23 (1991), S. 519–553; und Kochavi, Prelude, S. 54–62.

29 Moskauer Deklaration, zit. nach ebd., S. 57.

30 Während der Konferenz von Teheran machte Stalin den – vielleicht nicht ganz ernst gemeinten – Vorschlag, 50000 führende Nationalsozialisten einfach zu erschießen. Churchill zeigte sich empört, dabei hatte er selbst an Sammelhinrichtungen, allerdings weniger umfangreich, gedacht. Die Amerikaner dagegen sprachen sich konsequent für offizielle Strafverfahren aus, waren untereinander jedoch auch nicht völlig einig. So befürwortete Finanzminister Henry Morgenthau in seinem berühmten Plan für Nachkriegsdeutschland Sammelhinrichtungen, Kriegsminister Henry Stimson dagegen trat entschlossen für Strafgerichtsverfahren ein. Neben Kochavi, Prelude vgl. die Diskussion in Warren F. Kimball, Swords or Ploughshares? The Morgenthau Plan for Defeated Germany 1943–1945, Philadelphia: Lippincott 1976; und Henri Meyrowitz, La Repression par les Tribunaux Allemands des Crimes contre L’Humanité et de L’Appartenance à une Organisation Criminelle en Application de la Loi No. 10 du Conseil de Contrôle Allie, Paris: Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence 1960, S. 28ff.

31 Vgl. Kochavi, Prelude, S. 222ff.

32 Die Literatur über die Nürnberger Prozesse ist inzwischen kaum noch zu überblicken. Hauptquelle sind die Prozessunterlagen selbst: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946. Amtlicher Text, Urkunden und anderes Beweismaterial, Fotomechanischer Nachdruck, 18 Bde., München und Zürich: Delphin 1984; Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946. Amtlicher Text, Verhandlungsniederschriften,Fotomechanischer Nachdruck, 23 Bde., Frechen: Komet 2001. Die Prozessunterlagen sind unter »Der Nürnberger Prozess« auch bei <www.zeno.org/Geschichte> verfügbar. Einige Prozessbeteiligte haben Erinnerungen geschrieben, die wichtigsten sind: Gustave Mark Gilbert, Nürnberger Tagebuch,übs. von Margaret Carroux, Frankfurt am Main: Fischer 1992; Robert H. Jackson, The Nuremberg Case,New York: Cooper Square 1971; Telford Taylor, The Anatomy of the Nuremberg Trials. A Personal Memoir,New York: Knopf 1992. Der Bericht von Whitney Harris gehört der Sache nach nicht zur Memoirenliteratur, profitiert aber davon, dass der Autor im Stab des amerikanischen Chefanklägers tätig war: Whitney R. Harris, Tyranny on Trial. The Trial of the Major German War Criminals at the End of World War II at Nuremberg, Germany 1945–1946,Dallas: Southern Methodist University Press 1999 [1954]. Aus der Fülle erzählender Berichte vgl. v. a. Richard E. Conot, Justice at Nuremberg,New York: Carroll & Graf 1984; Eugene Davidson, The Trial of the German. An Account of the Twenty-two Defendants before the International Military Tribunal at Nuremberg,New York: Collier 1966; Ann und John Tusa, The Nuremberg Trial,New York: Atheneum 1986; und Joseph Persico, Nuremberg. Infamy on Trial, New York: Viking 1994. Eine äußerst kritische, gleichwohl die beste wissenschaftliche Darstellung des Prozesses liefert noch immer: Bradley F. Smith, Der Jahrhundertprozeß: Die Motive der Richter von Nürnberg – Anatomie einer Urteilsfindung, Frankfurt am Main: Fischer 1977. In den vergangenen Jahren ist eine Reihe weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen erschienen, so z. B. Donald Bloxham, Genocide on Trial. War Crimes Trials and the Formation of Holocaust History and Memory,Oxford: Oxford University Press 2003; Lawrence Douglas, The Memory of Judgment. Making Law and History in the Trials of the Holocaust,New Haven: Yale University Press 2001; Peter Maguire, Law and War. An American Story,New York: Columbia University Press 2001. Die beste Einführung in den umfangreichen Gesetzeskommentar zum Prozess bieten George Ginsburgs und V. N. Kudriavtsev (Hg.), The Nuremberg Trials and International Law,Dodrecht: M. Nijhoff 1990. Nicht zu vergessen ist schließlich die allerdings äußerst knappe Darstellung von Michael R. Marrus, The Nuremberg War Crimes Trial, 1945–46. A Documentary History,Boston: Bedford 1997. Vgl. auf Deutsch auch Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse,München:C. H. Beck 2006; und Klaus Kastner, Die Völker klagen an. Der Nürnberger Prozess 1945–1946,Darmstadt:Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005.

33 Vgl. Bundesministerium der Justiz, Die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, Bonn: Bundestagsdrucksache IV/3124 1964, S. 37. Von diesen Angeklagten wurden 806 zum Tode verurteilt, das Urteil wurde in 486 Fällen vollstreckt.

34Frank M. Buscher, The U.S. War Crimes Trial Program in Germany, 1945–1955, New York: Greenwood Press 1989, S. 4.

35 Das Londoner Statut ist abgedruckt in der Dokumentenabteilung von Mahmoud Cherif Bassiouni, Crimes against Humanity in International Criminal Law,Dordrecht: Martinus Nijhoff 1992. Die beiden anderen im Londoner Statut definierten Verbrechen waren »Verbrechen gegen den Frieden« – die Planung und Durchführung des deutschen Angriffskriegs – sowie Kriegsverbrechen, womit im Wesentlichen das bestehende internationale Kriegsrecht kodifiziert und bestätigt wurde.

36 Ebd. – Anm. des Übersetzers: Allerdings hatte die rasch eingebürgerte (falsche) deutsche Übersetzung von humanity nicht als »Menschheit«, sondern als »Menschlichkeit« v. a. juristisch gesehen fatale Folgen. Darauf hat wohl zuerst Hannah Arendt in »Eichmann in Jerusalem« aufmerksam gemacht; jene Folgen der deutschen Übersetzung von humanity als »Menschlichkeit« sind, auch wenn er darauf als native speaker nicht eingehen musste, auch für Pendas’ These entscheidend. Sie spiegeln sich z. B. im Urteil gegen Wilhelm Boger (vgl. dort) wider, der für seine Brutalität härter bestraft wurde als für seine Mitwirkung am Völkermord an den Juden.

37Vgl. ebd., S. 7.

38Vgl. Geoffrey Robertson, Crimes against Humanity. The Struggle for Global Justice, New York: New Press 1999.

39Vgl. Douglas, The Memory of Judgment, S. 38–64, und Bloxham, Genocide on Trial, S. 63–69. Zur Unterscheidung zwischen Völkermord als Rechtsbegriff und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vgl. William A. Schabas, Genocide in International Law,Cambridge: Cambridge University Press 2000.

40 Vgl. Bloxham, Genocide on Trial, S. 137–145, und Buscher, U.S. War Crimes Trials Program, S. 2–3.

41 Lucius D. Clay, Entscheidung in Deutschland, übs. von A. Langens, Frankfurt am Main: Verlag Frankfurter Hefte 1950, S. 281. Zu einer positiveren Beurteilung der deutschen Reaktionen auf Nürnberg vgl. Stephen Breyer, »Crimes against Humanity: Nuremberg, 1946«, in: New York University Law Review 71 (1996), S. 1161ff.

42Bloxham, Genocide on Trial, S. 223.

43 Vgl. Heribert Ostendorf, »Die – widersprüchlichen – Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die westdeutsche Justiz«, in: Gerd Hankel und Gerhard Stuby (Hg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen: Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg: Hamburger Edition 1995, S. 73–95.

44 Wilhelm Grewe, Nürnberg als Rechtsfrage, Stuttgart: Ernst Klett 1947, S. 10.

45 Otto Stahmer, »Motion Adopted by All Defense Counsel, 19. November 1945«, in: Wilbourn E. Benton und Georg Grimm (Hg.), Nuremberg. German Views of the War Trials, Dallas: Southern Methodist University Press 1955, S. 29.

46 Ebd., S. 29f.

47 Vgl. Bernd Hey, »Die NS-Prozesse – Probleme einer juristischen Vergangenheitsbewältigung«, in: Weber und Steinbach, Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren, S. 56f.

48 Werner Maser, Nürnberg. Tribunal der Sieger,Düsseldorf: Econ 1977.

49 Ebd., S. 577.

50 Zit. nach Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: C. H. Beck 1996, S. 163.

51 Natürlich berichtete die deutsche Presse ausführlich über den Nürnberger Prozess, doch der Bericht unterlag der strengen Pressekontrolle seitens der Besatzungsbehörden. Welche Wirkung diese Berichte hatten, ist allerdings schwer einzuschätzen. Vgl. Jürgen Wilke u. a., Holocaust und NS-Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr,Köln: Böhlau 1995; und Steffen Radlmaier (Hg.), Der Nürnberger Lernprozeß. Von Kriegsverbrechen und Starreportern,Frankfurt am Main: Eichborn 2001. Wenn man bedenkt, wie bereitwillig sich die Deutschen nach dem Krieg selbst als Opfer sahen, dann hätte wohl auch eine noch intensivere Berichterstattung aus Nürnberg an dieser Einstellung kaum etwas geändert. Vgl. Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany,Berkeley: University of California Press 2001.

52 Vgl. Rückerl, NS-Verbrechen, S. 107ff.

53 Wenn die Anklage nicht unter das Kontrollratsgesetz Nr. 10 fiel (es sich also nicht um Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte), was meist bei gewöhnlichen Strafsachen der Fall war, durften die deutschen Gerichte deutsches Recht anwenden. Vgl. Rückerl, NS-Verbrechen, S. 108. Bayern, Bremen, Hessen und das damalige Land Württemberg-Baden erließen für solche Fälle im Wesentlichen identische Gesetze. Vgl. Bundesministerium der Justiz, Die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten, S. 40.

54 Vgl. Rückerl, NS-Verbrechen, S. 329.

55 Vgl. Alfred Streim, »Die Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Nationalsozialismus und Justiz: Die Aufarbeitung von Gewaltverbrechen damals und heute, S. 18.

56 Vgl. Martin Broszat, »Siegerjustiz oder strafrechtliche ›Selbstreinigung‹ – Vergangenheitsbewältigung der Justiz, 1945–1949«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 477–544.

57 Vgl. Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz,München: Knaur 1987; und von Miquel, Ahnden oder amnestieren?, S. 23–142.

58 Diesen Ausdruck gebrauchte Robert M. W. Kempner bei einem Kolloquium über NS-Prozesse an der Gutenberg-Universität in Mainz am 10. November 1966: »Kolloquium über die Bedeutung der Nürnberger Prozesse für die NS-Verbrecherprozesse«, in: Schneider und Meyer, Aspekte der NS-Verbrecherprozesse, S. 14.

59 Vgl. Buscher, U.S. War Crimes Trial Program, S. 91–114; Frei, Vergangenheitspolitik, S. 163–308.

60 Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, 2. Aufl., Bonn: Dietz 1996, S. 437ff., 451ff.

61 Vgl. z. B. die Zahlen für die Angeklagten im Nürnberger Einsatzgruppenprozess in Kruse, »NS-Prozesse und Restauration«, S. 174.

62 Vgl. Karl-Heinz Seifert und Dieter Hömig (Hg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar, Baden-Baden: Nomos Verlag 1991, S. 200ff., 464ff. Obwohl Artikel 25 GG dem Völkerrecht einen Vorrang vor dem deutschen Recht einräumt, ordnet er das Völkerrecht dem Grundgesetz unter. Das Verbot von rückwirkend angewendeten Gesetzen ist also in der Verfassung niedergelegt und kann vom Völkerrecht nicht außer Kraft gesetzt werden.

63 Auslöser für diesen Rückgang war sicherlich nicht allein die Struktur des deutschen Rechts. Zumindest teilweise ausschlaggebend mag auch die Abneigung mancher (oder vielleicht sogar vieler) deutscher Beamter gewesen sein, NS-Verbrechen hart zu bestrafen. Vgl. Wolfgang Schulze-Allen, »Die Praxis der Verhinderung von Verurteilungen und Strafverbüßungen«, in: Ratz u. a., Die Justiz und die Nazis, S. 95.

64 Zahlenangabe nach Rückerl, NS-Verbrechen, S. 329. Die Zahl der wegen Verbrechen in Konzentrationslagern verurteilten Personen nach Kruse, »NS-Prozesse und Restauration«, S. 180.

65 Gotthard Jasper, »Wiedergutmachung und Westintegration: Die halbherzige justizielle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik«, in: Ludolf Herbst (Hg.), Westdeutschland, 1945–1955: Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München: R. Oldenbourg 1986, S. 183.

66 Zur Gesamtzahl vgl. Rückerl, NS-Verbrechen, S. 329, die Zahl der wegen Mordes Verurteilten stammt aus Kruse, »NS-Prozesse und Restauration«, S. 180.

67 Vgl. den statistischen Anhang in Rückerl, NS-Verbrechen, S. 329. In den sieben Jahren zwischen 1950 und 1957 wurden von deutschen Gerichten 1513 Personen wegen NS-Verbrechen verurteilt.

68 Vgl. Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen, 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag 1979, S. 125.

69 Vgl. ebd., S. 12ff.

70 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 266–302; Herbert, Best, S. 457ff.

71 Fritz Bauer »Im Namen des Volkes: Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit«, in: ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hg. von Irmtrud Wojak und Joachim Perels, Frankfurt am Main: Campus 1998, S. 85.

72 Vgl. Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer,Hamburg: Junius 1994.

73 Vgl. Busche, U.S. War Crimes Trials Program, S. 136f.; Frei, Vergangenheitspolitik, S. 234–264; Herbert, Best, S. 455ff.

74 Vgl. Brochhagen, Nach Nürnberg, S. 46ff.

75 Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, übs. von Klaus-Dieter Schmidt, Berlin: Propyläen 1998, S. 343.

76