Der blinde Fleck - Stephan Lebert - E-Book

Der blinde Fleck E-Book

Stephan Lebert

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Beschreibung

Der blinde Fleck in der eigenen Familiengeschichte

Die Schoah und das Ende des Zweiten Weltkriegs liegen weit zurück, es leben nur noch wenige Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Ihre Vergangenheit jedoch hinterlässt bis heute Spuren in den Familien. Geprägt durch eine Katastrophe, die sie nicht selbst erlebt haben, haben viele Nachkommen der Täter, Komplizen, Handlanger, Mitläufer und Opportunisten seelische Wunden, deren Ursachen sie oft nur vage kennen: zwischenmenschliche Kälte, Schuldgefühle, Ängste, Einsamkeit, ein Gefühl der Entwurzelung. In vielen Familien sind bleiernes Schweigen, verdrängte Erinnerungen, wohlgehütete Geheimnisse, hartnäckige Lügen allgegenwärtig – ein erdrückendes Erbe, dessen Gift bis heute wirkt. Doch nun bricht dieser Panzer des Schweigens auf: Da sie keine Konfrontation mit den Großeltern oder Eltern mehr fürchten müssen, recherchieren immer mehr Menschen ihre Familiengeschichte und spüren nach, wie sich diese auf die eigenen Lebensmuster ausgewirkt hat. Der Trauma- und Stressexperte Louis Lewitan und der preisgekrönte Journalist Stephan Lebert schreiben anhand von ergreifenden Gesprächen mit Betroffenen über die ebenso schwierige wie befreiende Auseinandersetzung mit der Last der eigenen Familiengeschichte. Ein Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, der aktueller denn je ist.

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Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Schoah und das Ende des Zweiten Weltkriegs liegen viele Jahre zurück, es leben nur noch wenige Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Ihre Vergangenheit jedoch hinterlässt bis heute Spuren in den Familien. Geprägt durch eine Katastrophe, die sie nicht selbst erlebt haben, haben viele Nachkommen der Täter, Komplizen, Handlanger, Mitläufer und Opportunisten seelische Wunden, deren Ursache sie oft nur vage kennen: zwischenmenschliche Kälte, Schuldgefühle, Ängste, Einsamkeit, ein Gefühl der Entwurzelung. In vielen Familien sind bleiernes Schweigen, verdrängte Erinnerungen, wohlgehütete Geheimnisse, hartnäckige Lügen allgegenwärtig – ein erdrückendes Erbe, dessen Gift bis heute wirkt. Doch nun bricht dieser Panzer des Schweigens auf: Da sie keine Konfrontation mit den Großeltern oder Eltern mehr fürchten müssen, recherchieren immer mehr Menschen ihre Familiengeschichte und spüren nach, wie sich diese auf die eigenen Lebensmuster ausgewirkt hat. Der Trauma- und Stressexperte Louis Lewitan und der preisgekrönte Journalist Stephan Lebert schreiben anhand von ergreifenden Gesprächen mit Betroffenen ein einzigartiges Buch über die ebenso schwierige wie befreiende Auseinandersetzung mit der Last der eigenen Familiengeschichte. Ein Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, der aktueller ist denn je.

Stephan Lebert, Jahrgang 1961, arbeitet nach Stationen bei der »Süddeutschen Zeitung« und dem »Tagesspiegel« heute als Reporter bei der Wochenzeitung »Die Zeit«. 1998 wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet, 2022 mit dem Theodor-Wolff-Preis (zusammen mit Catarina Lobenstein). Im Jahr 2000 veröffentlichte er das Sachbuch »Denn du trägst meinen Namen« über das Erbe prominenter Nazi-Kinder. Zusammen mit seinem Bruder Andreas schreibt er Kriminalromane.

Louis Lewitan, geboren 1955 in Lyon, ist klinischer Psychologe, Coach und Publizist. Er zählt zu den renommiertesten Stress-Experten der Republik. Internationale Erfahrungen auf dem Gebiet erlangte er als Forscher und Executive Director der »Jerome Riker International Study of Organized Persecution of Children« in New York. Schwerpunkt der Stiftung war die Erforschung der Spätfolgen der Schoah bei Kinder-Überlebenden und deren Nachkommen. Die internationalen Forschungsergebnisse trugen zum Verständnis von Resilienz bei Überlebenden und deren Nachkommen bei. Heute sind Louis Lewitans psychologische Kompetenz und Erfahrung als Coach und Berater in der Politik, Wirtschaft und Kultur gefragt.

Stephan Lebert

Louis Lewitan

Der blinde Fleck

Die vererbten Traumata des Krieges – und warum das Schweigen in den Familien jetzt aufbricht

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Im folgenden Text haben wir uns meist für die Verwendung des grammatischen, generischen Maskulinums entschieden. Nichtsdestotrotz sind, soweit nicht eindeutig anders angegeben, in allen Personengruppen und Bezeichnungen weibliche, männliche, non-binäre und fluide Personen mit eingeschlossen.

Penguin Random House Verlagsgruppe FSC® N001967

Originalausgabe 04/2025

Copyright © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

www.heyne.de

Redaktion: Caroline Kaum, www.morgeneinbuch.com

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch unter Verwendung eines Motivs von © picture alliance / arkivi

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-33052-1V001

»Wenn du die Geschichte nicht kennst, dann weißt du nichts. Du bist ein Blatt, das nicht weiß, dass es Teil eines Baumes ist.«

Michael Crichton1

Inhalt

IWir nähern uns dem Thema

Warnung

Warum wir dieses Buch schreiben

Karl-Theodor zu Guttenberg: Reden und Schweigen über Widerstand und Täterschaft

Sprechen die Deutschen jetzt? Weil sie wollen? Weil sie müssen?

Der Mann im Zug, die Erste: Wer fragt, bekommt (meist) eine Antwort

Ortstermin im Münchner Stadtteil Milbertshofen: Wissen Sie, was hier passiert ist?

Der Mann aus dem Zug, die Zweite: Großmutters Verehrung für den Rabbi und das Hitlerbild an der Wand

Erster Zwischenruf des Therapeuten: Trauma und Verdrängung und der Patient »Deutschland«

IILügen aus der Vergangenheit

Die Entdeckung: Eine Allensbach-Studie aus dem Jahr 1949

Beate Niemann: Wie der Versuch, den eigenen Vater zu rehabilitieren, grandios scheiterte

Ida Ehre und Klaus-Michael Kühne: Vergangenheit ist keine Verschlusssache

Die Sprache des Leids: Vom Versuch, die richtigen Worte zu finden

Judka und Erwin Strittmatter:»Ich bedaure nichts«

Derrick: Warum die erfolgreichste Krimireihe aller Zeiten im Giftschrank gelandet ist

Ein Zwischenstopp in Kitzbühel: »Mehr weiß ich auch nicht«

IIIRettung aus der Vergangenheit

Ute Scheub und der Marsch durch die Scheiße

Wie Niklas seinen Depressionen entkam – und einige Anmerkungen zum Thema Therapie

Auf einen Kaffee bei Dirk Kaesler: Die Wahrheit ist keine Frage des Alters

Charlotte Link und die Kraft des Erzählens

Ein paar grundsätzliche Gedanken über die verschiedenen Möglichkeiten des Schweigens aus Sicht des Therapeuten

Peter Probst: Die plötzliche Nachricht vom Helden aus Italien

Christiane Hoffmann und der lange Fußweg in die Zukunft

Zweiter Zwischenruf des Therapeuten: Der Fluch der Delegation

IVDie Lehren aus der Vergangenheit

Andreas Rebers: Aufrecht durch die Gruselkammer der deutschen Provinz

Der unvollständige Lebenslauf: Auf der Schwelle der Tür zur Hölle

Thomas Darchinger: Der Ausweg aus einer schlimmen Kindheit

Dritter Zwischenruf des Therapeuten: Eine persönliche Erinnerung

Ludwig Spaenle und der Antisemitismus: »Man wusste, was mit den Juden passiert.«

Kurt Kister: Aufgewachsen mit dem Konzentrationslager

Der letzte Zwischenruf des Therapeuten: Warum die Deutschen die Toten nicht ehren

VEin besonderer Epilog

Joëlle Lewitan, Jahrgang 1999, macht sich Gedanken, warum die Vergangenheit auch ihre Generation nicht loslässt

VISie wollen mehr über Ihre Familiengeschichte wissen?

Auf der Suche nach der Wahrheit: Eine Herausforderung

Die Suche nach Antworten: Ein Risiko

Eine Reise zur Selbsterkenntnis

Archive und Informationsquellen

VIIQuellen und Literaturempfehlungen

Verwendete Literatur

Zum Weiterlesen

Zitierte Quellen

IWir nähern uns dem Thema

Warnung

Ehe Sie zu lesen beginnen, möchten, müssen wir Ihnen etwas gestehen. Als wir uns auf den Weg machten, dieses Buch zu schreiben, hatten wir keine wirkliche Vorstellung, was auf uns zukommt. Wir wussten nicht, dass diese Recherche unseren Blick auf unsere Freunde verändern wird, auf Bekannte, auf Prominente, auf den Bäcker um die Ecke, auf nahezu jedermann. Wir haben 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verstanden, dass Deutschland ein untertunneltes Land ist, voller Keller, Gräben, Verliese. Der Boden, auf dem wir stehen, ist ein doppelter. Unter ihm befindet sich eine andere Welt, die auf die erste, sichtbare ausstrahlt.

Vor diesem Buch waren wir der Ansicht, dass unser Bild von unseren Freunden und Bekannten ein ziemlich vollständiges Bild war. Nach diesem Buch wissen wir, dass dies in vielen Fällen nicht stimmte. Was fehlte, war das Wissen über die Familiengeschichten in den abgrundtiefsten Jahren der deutschen Geschichte – und deren Auswirkungen in die heutige Zeit hinein. Wer runtersteigt in die Keller und Gräben, findet erstaunlich häufig einen Giftschrank. Wer ihn öffnet, sollte wissen, was er da tut.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir sind froh, ja froh, dass wir uns auf die Suche gemacht, dass wir die Türen geöffnet haben. Dankbar auch, dass uns so viele Menschen ihr Vertrauen geschenkt haben. Die Wahrheit ist am Ende der einzig richtige Begleiter. Und trotzdem: Wir wollten darauf hinweisen, dass, wer sich auf dieses Buch einlässt, bereit sein sollte, nach der Lektüre möglicherweise ein anderer Deutscher zu sein, als er es vorher war.

Warum wir dieses Buch schreiben

Auch wir Autoren stehen nicht über diesem Thema, sondern mittendrin. Wir sind beide in diese deutsche Geschichte hineingeboren worden und bewegen uns in ihr.

Louis Lewitan ist Jahrgang 1955. Viele Menschen in seiner Familie hat er nie kennengelernt. Seine Großeltern gehören dazu, Onkel, Tanten auch. Sie wurden umgebracht. Auf welche Weise und wo sie ermordet wurden, was mit ihren Leichen geschehen ist – all das ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Mit Ausnahme der Großmutter mütterlicherseits. In Archiven in Warschau wurde Louis schließlich fündig: Sie starb an Typhus im dortigen Ghetto, August 1941. Damals wurden die Toten noch registriert. Louis sagt: »Es ist unheimlich, unwirklich, nichts zu wissen von ihrem grausamen Ende. Wurden sie verbrannt? In Massengräbern verbuddelt? Wurde Seife aus ihnen gemacht? Sind sie als Lampenschirme geendet? Es könnte sehr gut sein, aber ich weiß es nicht.«

Stephan Lebert ist Jahrgang 1961. Sein Vater, geboren 1929, war ein begeisterter Hitlerjunge. Sein ganzes Leben hat er darunter gelitten, ein glühender Verehrer Adolf Hitlers gewesen zu sein. Nur das Glück seiner späten Geburt hat verhindert, dass aus ihm ein Verbrecher und Mörder wurde. »Ich war ein junger Nazi und wäre ein furchtbarer Nazi geworden, das steht fest.« So hat er das selbst immer ausgedrückt. Er hat sich geschämt dafür und ein tiefes Misstrauen sich selbst gegenüber entwickelt: Wenn ich damals ein blinder Anhänger war, dann kann das auch immer wieder passieren. Stephan meint, dieses Urmisstrauen hat sich auf ihn übertragen, das findet er gar nicht so schlecht. Von seiner eigenen Familie wusste der Vater übrigens nicht viel. 1928 in der Silvesternacht hatte ein Kellner auf der Pferderennbahn ein 14-jähriges Mädchen geschwängert. Das Baby, es sollte Stephans Vater werden, kam kurz nach der Geburt in eine Pflegefamilie.

Die Familiengeschichte von Louis hatte sicher einen großen Anteil daran, dass er Psychologe wurde. Er wählte diesen Beruf, weil er Menschen helfen wollte. Anfangs hielt er sich für Jesus, sagt er scherzhaft und fügt hinzu: »Anderen zu helfen, hilft, die eigene Hilflosigkeit hinter sich zu lassen.« Zudem wollte er schon als Jugendlicher verstehen, wie aus gewöhnlichen Menschen abgrundtief böse Menschen werden können, wie vielfach geschehen in Zeiten des Nationalsozialismus – eine Frage, die ihn bis heute beschäftigt.

Louis sucht den Austausch, in Cafés, auf der Parkbank, in der Bahn. Und er hört gern zu. Er ist nun mal Psychologe. Das wollte er schon mit 13 Jahren werden. Sein Weg, um Menschen zu verstehen, ist, ins offene Gespräch zu gehen. Gespräch als Begegnungsraum zu gestalten. Ohne zu verurteilen, ohne Schuld zuzuweisen, ohne zu entzweien.

Der professionelle Blick von Louis auf die Deutschen wird in diesem Buch eine große Rolle spielen. Er durchlief in seinem Psychologenleben verschiedene Stationen. Hat Jahre in New York verbracht, Schoah-Überlebende, die damals Kinder waren, interviewt. Aus dieser Zeit weiß er, wie belastend und bedrückend es sein kann, sich auf diese Vergangenheit einzulassen. Man kann regelrecht aufgefressen werden von ihr. Muss immer darauf achten, ein Gegengewicht zu schaffen. Wenn man so will: Immer wieder darauf achten, dass das Leben im Vordergrund steht und nicht der Tod. Aus dieser Erfahrung heraus hat Louis damals in New York eine Entscheidung getroffen: Er wollte sich nicht sein ganzes Leben lang mit der Schoah und deren Folgen beschäftigen. Zu finster, zu traurig, zu elend die Geschichten, die ihm erzählt wurden, die anfingen, ihn selbst zu bedrücken, gerade auch im Hinblick auf seine eigene Familiengeschichte. Louis hatte mehr Lust auf das Leben. In New York lernte er seine spätere Frau aus München kennen. Die Künstlerin Ilana Schmusch, Tochter von Überlebenden. Gemeinsam ging es nach Deutschland zurück. Er wurde Psychotherapeut, Coach, Stress-Experte und Publizist.

Auch wenn das nicht zu vergleichen ist, hat Stephan eine ähnliche Erfahrung gemacht: Auch er wollte irgendwann Abstand finden von der Beschäftigung mit der NS-Zeit. Von Beruf Journalist, hatte er ein Buch geschrieben mit dem beziehungsreichen Titel Denn du trägst meinen Namen. Es geht darin um die Nachkommen prominenter Nazis wie Bormann, Göring, Himmler, Frank, von Schirach und Heß. Das Buch beruht auf einer besonderen Konstruktion: Stephans Vater, der frühere Hitlerjunge, von Beruf Journalist, hat in den 1950ern ebendiese Nachfahren erstmalig getroffen, zu jener Zeit waren sie alle um die 20 Jahre alt. Die Texte, die in einer Zeitschriftenserie publiziert wurden, kreisten um die Frage, wie belastet die Schicksale dieser jungen Leute waren. 40 Jahre später besuchte Stephan, Ende der 1990er-Jahre, die gleichen Leute noch einmal. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben. In seinem Buch wurden die alten und die neuen Geschichten zusammen abgedruckt.

Die Nachkommen berühmter Nazis sind übrigens auf sehr unterschiedliche Weise mit ihrer Herkunft umgegangen. Es gab die Eingefleischten, Unbelehrbaren wie die Tochter von Heinrich Himmler1 oder den Sohn von Rudolf Heß2 – und ausgesprochene Nazi-Hasser wie den Sohn von Hans Frank3, Niklas Frank. Eines hatten sie alle gemeinsam: Die Last ihrer Väter hatte ihnen schwer zu schaffen gemacht.

Das Buch Denn du trägst meinen Namen wurde ein großer Erfolg und in viele Sprachen übersetzt. Die Schwere dieses Themas bekam Stephan auch selbst zu spüren. Ein Traum plagte ihn über Monate hinweg. Er hatte mit einer Geschichte zu tun, die ihm Martin Bormann Junior erzählt hatte. Sie handelte von seinem Vater Martin Bormann Senior4, der eines Tages zu Besuch im Haus Heinrich Himmlers war. Zum Abschied überreichte Himmler ihm eine besondere Ausgabe von Mein Kampf. Der Einband war aus Menschenhaut, was sogar den alten Bormann kurz erschaudern ließ. Es dauerte einige Zeit, bis Stephan diese nächtlichen Bilder wieder verlassen hatten. Er war jedenfalls froh, sich nach diesem Buch viele Jahre lang anderen journalistischen Themen widmen zu können.

Der Wunsch, sich nicht ständig mit dieser schrecklichen deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, ist uns selbst also durchaus vertraut. Wir gehören auch zu jenen, denen nicht immer bewusst ist, wie schnell man von ihr wieder eingeholt werden kann.

Wir beide kennen uns schon seit vielen Jahren, sind uns immer wieder begegnet, in unterschiedlichen Zusammenhängen, in München, Berlin und Hamburg. Wir sind uns freundschaftlich verbunden, haben aber auch immer wieder einmal länger nichts voneinander gehört. So auch als wir uns im Januar 2022 bei einer Geburtstagsparty wiedertrafen und uns Tage danach zu einem Mittagessen verabredeten. Es war ein italienisches Lokal in Berlin und wir waren bereits beim Espresso, als Louis die Geschichte erzählte. Seine Frau Ilana hatte plötzlich eine Mail bekommen, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Der Mann, der diese Mail schrieb, war der Enkel eines SS-Mannes, der im Warschauer Ghetto stationiert war und neben vielen anderen auch einen besonderen jüdischen Zwangsarbeiter unter sich hatte, nämlich den Vater von Ilana. Das Problem war nur: Ilana wusste gar nicht, dass er im Warschauer Ghetto gewesen war und Schrecklichstes erlitten hatte. Er hatte überlebt und seinen Kindern nie von seiner Zeit dort erzählt.

Das Ende des jahrzehntelangen Schweigens. Aus dieser Geschichte ist ein Podcast geworden, Deutsche Geister heißt er. Stephan hat daran mitgewirkt, federführend auch die ZEIT-Redakteurin Britta Stuff. Ilana natürlich, auch Louis war dabei, ihre beiden Töchter Joëlle und Lea ebenfalls. Und der Enkel des SS-Mannes, der alles in Bewegung gebracht hatte. Es wurde ein Podcast über den Fluch der Vergangenheit.

Doch für uns beide hatte diese Geschichte noch eine andere Dimension. Zweifellos, da war es wieder, das Gift der Nazi-Zeit. Trotzdem war für uns plötzlich klar, klarer als früher, dass es ein Gegengift gibt. Dieses Gegengift heißt Wissen – wissen, was passiert ist, wissen, was in den eigenen Familien geschehen ist, wissen, warum so lange geschwiegen wurde, wissen, was das mit uns allen gemacht hat, bis heute – und warum es eine Befreiung ist, sich mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Das Gegengift hat ein Rezept, das im Grunde aus einer einzigen Zutat besteht: erzählen. Wir haben beschlossen, ein Buch zu schreiben, das diesem Gegengift gewidmet ist. Wir sind davon überzeugt, dass dieses Mittel auch gegen tief beunruhigende gesellschaftliche Entwicklungen wirkt, wie den Aufstieg der AfD und die dramatische Zunahme des Antisemitismus. Wer die Dämonen vertreiben will, muss sich ihnen stellen. Und, wer die Geister kennt, hört auf, sie zu rufen.

Wir sprechen als Autoren in diesem Buch mit einer Stimme. Wir haben dieses gemeinsame Anliegen: Wir wollen klarmachen, was es bedeutet, wenn das Schweigen über die NS-Vergangenheit aufbricht, wenn die Fesseln endlich reißen. Was dann zum Vorschein kommt. Wir wollen beschreiben, was es für eine Chance sein kann, für jede einzelne Familie und für das ganze Land, wenn die persönlichen Geschichten nach so langer Zeit aufgearbeitet werden. Wenn man begreift, wie die Zusammenhänge sind, zwischen damals und heute.

Es gibt diesen beruflichen Unterschied zwischen uns. Der eine ist Journalist. Er ist es gewohnt, zu recherchieren und dabei in Distanz zu bleiben, um nicht den Überblick zu verlieren. Zu Stephan Leberts Job gehört es manchmal auch, sich rauszuhalten, mal mehr, mal weniger. Der andere ist Therapeut, Psychologe. Louis Lewitan hat viele Menschen in schweren Krisen begleitet und oft ist es gelungen, sie da rauszuholen. Der Therapeut muss sich manchmal einmischen, er versucht, Leute von Wegen abzubringen, die ins Unglück führen. Und er wird empfindlich, wenn allzu leichtfertig billige Küchenpsychologie betrieben wird, Begriffe und Einschätzungen durcheinanderwirbeln, die keine Klarheit bringen, sondern belanglose, oberflächliche Aufgeregtheit.

Wie schnell fällt so ein Urteil: Die oder der hat eine Depression. Wie leichtfertig sagt man es selbst: Ich fühle mich so depressiv – und meint damit, ich fühle mich nicht gut, habe gerade eine schwierige Zeit.

Louis Lewitan hat jahrelang in einer bayerischen Klinik Patienten und Patientinnen therapiert, die wirklich an Depressionen, Angstzuständen, Burn-out litten, die tief in der Dunkelheit versunken waren und aus eigener Kraft keinen Ausgang fanden. Er erinnert sich an eine schwergewichtige Frau, die als junge Studentin Opfer einer Vergewaltigung geworden war. Sie hatte nie darüber gesprochen, der Zugang zu ihrem Trauma blieb ihr jahrelang verschlossen. Sie wurde von Ärzten wegen Adipositas behandelt, doch die Ursachen für ihre massive Essstörung blieben im Verborgenen. Es bedurfte langer, vertrauensvoller Gespräche, bis sie nach drei Monaten bewusst in ein Rollenspiel in einem geschützten Rahmen einwilligte, das am Ende all die längst verschütteten Erinnerungen in ihr wieder wachrief: an den Täter, einen Kommilitonen, die Tatwaffe, ein Messer, den Ort des Geschehens, ein Studentenheim. Erst die behutsame Konfrontation mit ihrer Vergangenheit, insbesondere mit den Themen Vertrauen und Nähe, legte die Auslöser und Beweggründe für ihre bis dahin exzessiven, immer wiederkehrenden Essattacken offen.

Auch ein anderer Patient ist ihm in Erinnerung geblieben. Der Handwerksmeister und Kleinunternehmer hatte, bis er in die Klinik kam, ein normales, scheinbar funktionierendes Leben geführt. Er hatte Frau und Kinder, eine Firma, alles war sehr stressig, aber das ist doch in vielen Leben so. Und dann kam dieser Morgen, er stand auf und fuhr um fünf Uhr morgens, statt wie üblich mit dem Auto, mit dem Fahrrad zur Arbeit. Nur kam er dieses Mal nicht an. Er war verschwunden. Keiner wusste, wo er steckte, niemand hatte eine Erklärung. Ein Unfall? Ein Verbrechen? Nein, nach einer Woche tauchte er wieder auf, er wurde von der Polizei aufgegriffen, ziemlich verwahrlost – und hatte keine Ahnung, was er in den Tagen gemacht hatte und schon gar nicht, warum er abgetaucht war. Der Mann hatte einen kompletten Filmriss. Monatelang blieb er in der Klinik und musste in langen Sitzungen mit Louis herausfinden, was ihn so abstürzen ließ, was in seinem Leben so schiefgelaufen war und was er alles ändern müsste. Erst durch die Therapie erkannte der Burn-out-Patient, dass er infolge völliger Überarbeitung die Kontrolle über sein eigenes Leben verloren hatte.

Louis hat gelernt, eine Art Bergführer für die Menschen zu sein, die ihre Reise in die Vergangenheit antreten. Vorsicht, ruft der Bergführer. Nein, da nicht. Achtung. Diese Abkürzung nehmen wir nicht. Wir machen Pause. Und manchmal sogar: Wir kehren um. Diese Bergführerfunktion hat Louis Lewitan auch in diesem Buch. Für die Interviewten und auch für die Leserinnen und Leser. Er wird sich immer wieder zu Wort melden, bei den Porträts und Interviews, mit Ratschlägen und Warnungen. Aber das ist nicht alles. In sogenannten Zwischenrufen führt er an zentrale Fachbegriffe heran, die wichtig sind für das Verständnis psychologischer Dynamiken, oder nähert sich der Frage, warum Eltern, die ihre eigenen Traumata nicht versuchen zu lösen, unbewusst ihren Kindern diese Aufgabe überlassen. Und manchmal geht es auch nur darum, dass Louis einen Witz erzählen möchte.

1 Reichsführer der SS, Chef der deutschen Polizei, ab 1943 Reichsinnenminister und einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der Juden in Europa

2 Seit 1933 Stellvertreter Hitlers in der Parteileitung, Chef des Rassenpolitischen Amts der NSDAP, maßgeblich an den Ausformulierungen der Nürnberger Rassegesetze beteiligt

3 Generalgouverneur des »nicht annektierten Restes des ehemaligen polnisches Staats«; von seinen Opfern »Schlächter von Polen« genannt

4 Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP, Reichsminister und enger Vertrauter Hitlers

Karl-Theodor zu Guttenberg: Reden und Schweigen über Widerstand und Täterschaft

Es ist schon sehr erstaunlich, dass Karl-Theodor zu Guttenberg so gut wie nie zu seinen familiengeschichtlichen Zusammenhängen befragt wurde. Man darf sich erinnern: Guttenberg galt bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2011 als politischer Superstar. Der CSU-Politiker war Wirtschaftsminister und Verteidigungsminister im Kabinett Merkel, die Konservativen quer durch Deutschland erklärten ihn zu ihrer Galionsfigur. Der nächste Bundeskanzler, deutscher Kennedy – so lauteten manche der Schlagzeilen, die vor keinem noch so gewagten Superlativ zurückschreckten.

Warum stürzten sich die Medien nicht auf die geschichtlichen Hintergründe seiner Patchwork-Family, die Stoff für gleich ein paar Hollywoodfilme liefern könnten? Wir treffen Karl-Theodor zu Guttenberg in München. Er ist mit dem Fahrrad gekommen, einige wenige Minuten zu spät, er musste erst noch einen Reifen aufpumpen. Er sagt: »Ich habe mich auch gewundert, warum niemand danach fragt.« Es seien halt immer irgendwelche aktuellen Aufgeregtheiten wichtiger gewesen.

Die Familie Guttenberg und die NS-Zeit: Zwei Namen spielen hier eine zentrale Rolle. Da ist einmal Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg. 1902 geboren, gestorben am 23. oder 24. April 1945, das exakte Todesdatum im Berliner Zellengefängnis Lehrter Straße wurde nicht registriert. Sicher weiß man nur, dass er auf Befehl des Gestapo-Chefs Heinrich Müller ermordet wurde. Er war wenige Tage nach dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 verhaftet worden. Zwar gehörte er nicht zum Planungsstab der Widerstandsgruppe, wurde aber dem Umfeld zugerechnet.

Karl Ludwig Guttenberg war ein sehr konservativer Mann, ein glühender Verfechter der Idee, die Monarchie wieder einzuführen. Er gab die Zeitschrift Weiße Blätter. Zeitschrift für Geschichte, Tradition und Staat heraus. Die in manchen Texten herauslesbare Kritik an den Nationalsozialisten war zwar sehr vorsichtig formuliert, ermöglichte ihm aber frühzeitig den Kontakt zu Widerstandsleuten wie Carl Friedrich Goerdeler oder Ulrich von Hassell. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP hatte er mit dem Hinweis abgelehnt, wie diese Partei mit religiösen Fragen und der Kirche überhaupt umgeht.

Das war der eine Held der Familie. Der andere sein älterer Bruder: Georg Enoch Buhl Freiherr von und zu Guttenberg. Geboren 1893, gestorben 1940. Er war im Ersten Weltkrieg kaiserlicher Marineoffizier und war auch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Kapitän eines großen Schiffs der Marine. »Alles, was wir heute wissen«, sagt Karl-Theodor zu Guttenberg, »macht klar, dass er auch dem Widerstand gegen die Nazis angehörte.« Jedenfalls musste er im Jahr 1940 wegen einer gesundheitlichen Lappalie ein Krankenhaus aufsuchen – und verstarb dort völlig überraschend. »Meine Urgroßmutter hat immer gesagt, die Nazis haben ihn, ihren Mann, totgespritzt«, sagt Guttenberg. Und weil die Urgroßmutter eine dominierende und beeindruckende Frau war, stand dies nun für die ganze Familie fest, es wurde Teil der guttenbergschen Familienerzählung.

Zwei Helden, die von den Nazis ermordet wurden. Zwei mutige Menschen, die für ihre Überzeugung gestorben sind. So erinnerte man sich in der Familie an die beiden – daraus wurde eine Art Familienauftrag, formuliert für die nachfolgenden Generationen: Die Haltung unserer Vorfahren verpflichtet, notfalls auch in dem Maße, dass man für den eigenen Glauben in den Tod geht. Ein Auftrag, den man auch in der Öffentlichkeit vertrat, durchaus lautstark tat das zum Beispiel Georg Enoch Robert Prosper Philipp Franz Karl Theodor Maria Heinrich Johannes Luitpold Hartmann Gundeloh Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg. Dieser Mann war von Beruf Dirigent, ein sehr erfolgreicher, und er war der Vater von Karl-Theodor zu Guttenberg, dem wir jetzt gegenübersitzen. Auch bei Karl-Theodor könnte man, müsste man eigentlich noch eine lange Liste von Vornamen hinzufügen. So ist das bei den Guttenbergs.

Nichts steht Karl-Theodor von Guttenberg ferner, als den unbedingten Respekt vor diesen Nachfahren zu mindern, die während der NS-Diktatur größten Mut bewiesen hatten. Und doch ist ihm heute wichtig, bei der Verklärung nicht völlig auszublenden, welchen politischen Hintergrund seine Ahnen hatten. Diese Erkenntnis ist für ihn nicht neu, schon im Jahr 2009 hielt er, damals als Bundeswirtschaftsminister, eine Rede zur Erinnerung an das Attentat vom 20. Juli 1944 und sagte unter anderem: »Tatsächliche Vorbilder für verantwortungsvolles Handeln entspringen jedoch nicht der Erkenntnis von Übermenschlichkeit, sondern im Ergebnis ist es gerade das Menschliche, was die Taten groß, auch heldenhaft erscheinen lässt. Es wäre ein Ausweis der Armseligkeit, wenn der moralisierende Maßstab des Übermenschlichen – angelegt von allzu menschlichen Vertretern – das Land seiner Vorbilder berauben würde.«

Es galt in der Familie ausschließlich das Prinzip der Verklärung. Was dadurch verwischt wurde, sagt Guttenberg, waren die bestehenden Konfliktfelder innerhalb der Familie und die Antriebsfedern zum Widerstand. Die beiden Brüder, von denen hier die Rede ist, waren überzeugte Monarchisten, sie hegten die eher romantische Hoffnung auf die Wiederkehr eines Königs. Vielleicht spielte dabei auch eine Rolle, fügt er hinzu, dass diese Hoffnung größer wurde – im Angesicht des menschenverachtenden Systems des Nationalsozialismus. »Dazu kam mein Urgroßvater, der war Vorsitzender des bayerischen Königsbundes und saß dem Chef des Hauses Wittelsbach sozusagen wie ein Rabe auf der Schulter.« Ihr Glaube an eine bessere Zeit, aber auch der Bezug zum christlichen Glauben waren eine große Kraftquelle.

So war das. Dieses Wissen, sagt Junior Guttenberg, ändere doch nichts an der Bewunderung für ihre Taten und ihren Mut, »ich würde sogar sagen, im Gegenteil: Es war an ihnen nicht alles göttlich, sie waren Menschen mit Fehlern. Und sie haben sich trotzdem für das Richtige entschieden.« Das hat Guttenberg gemeint in seiner Rede zur Erinnerung an das Hitler-Attentat: Es wäre schrecklich, wenn man durch einen völlig überzogenen perfektionistischen Anspruch entscheidende Leitfiguren und Impulsgeber demontieren würde. Vorbilder, die Fehler machen, können immer noch oder sogar gerade deswegen große Vorbilder sein. Er sagt, in seiner Familie sei dieser Blick auf die Vergangenheit lange Zeit eher mit Zurückhaltung aufgenommen worden, »um es vorsichtig zu formulieren«.

Als vor einigen Jahren eine Illustrierte auf der Titelseite vom »dunklen Geheimnis der Guttenbergs« raunte, war die Aufregung in der Familie groß. Der Vorwurf lautete: Ihr Reichtum sei auch dadurch begründet worden, dass sie sich über ein Aufsichtsratsmandat in einer Hypothekenbank an der Enteignung und Vertreibung von Juden bereichert hätte. »Mein Vater«, sagt Karl-Theodor zu Guttenberg, »war wirklich erschüttert. Er war außer sich. Ist da was dran? Ist da nichts dran? Er wusste nicht, was er tun sollte.« Karl-Theodor und sein Bruder beauftragten eine Historikerkommission, die ohne Scheuklappen die Wahrheit herausfinden sollte. Die Antwort, dass die Vorwürfe der Illustrierten falsch waren, kam relativ schnell. Aber damit gaben sich die Guttenbergs nicht zufrieden, sie erweiterten den Forschungsauftrag. Es geht dabei jetzt auch um die Frage, ob es in der Familie verdeckten Antisemitismus gab, in den 1920er- und 1930er-Jahren. »Wir wollen wissen, was gewesen ist. Bislang gibt es keine Indizien. Aber was herauskommt, kommt raus. So einfach ist das.« Die Arbeit der Historiker wird wohl noch einige Zeit andauern.

Es gibt einiges, das nicht geklärt ist. Zum Beispiel das Ende der beiden Widerstandskämpfer. Was ist wirklich passiert in diesem Krankenhaus, als der 40-jährige Georg Enoch völlig überraschend starb? »Wir wissen es nicht. Es lässt sich wohl auch nicht mehr herausfinden. Es spricht viel dafür, dass meine Urgroßmutter recht hatte mit ihrer Ermordungsthese, aber sicher wissen wir es nicht. Vielleicht ist er doch an irgendeinem plötzlichen Infekt gestorben?« Und die Ermordung des Karl Ludwig? Sicher ist, dass Gestapo-Chef Heinrich Müller den Befehl gegeben hat, ihn zu töten. Sicher ist auch, dass ein SS-Offizier namens Kurt Stawizki in diesen Mord verwickelt war. Stawizki war Gestapo-Chef in Lemberg gewesen. In jenen letzten Apriltagen 1945 war er in Berlin stationiert und erhielt von Müller die Weisung, Karl Ludwig zu Guttenberg zusammen mit Ernst Schneppenhorst und Albrecht Graf von Bernstorff zu liquidieren. Ob Stawizki selbst geschossen hat? Vermutlich nicht. Die Leichen der drei Getöteten wurden nie gefunden. Sie wurden vermutlich in irgendeinem Berliner Hinterhof verscharrt.

Kurt Stawizki ist nie für seine Taten belangt worden. Am 1. Mai 1945 versorgte ihn die Gestapo in Hamburg noch mit einem falschen Pass, ausgestellt auf den Namen Kurt Stein. Außerdem mit ausreichend Geld, um unterzutauchen. Man weiß, dass er von 1953 bis zu seinem Tod im Jahr 1959 bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gearbeitet hat, unter anderem in der Registratur. Erst im Jahr 1970 deckte die Justiz auf, dass der DFG-Registrator und der SS-Massenmörder ein und dieselbe Person waren. Was er wohl erzählt hat all die Jahre, was er im Krieg gemacht hat?

Guttenberg sagt, er wisse gar nicht, inwieweit seine Familie nachgeforscht habe, wer Karl Ludwig am Ende umgebracht hat. Ob die Historiker das jetzt noch klären können, wisse er nicht. »Es wäre wichtig gewesen, den oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Auch wenn es Jahrzehnte später gewesen wäre.« 

Die langen Linien der Vergangenheit. Der Familienauftrag: etwas Besonderes zu sein, etwas Besonderes werden zu müssen. Man darf in dieser Tradition nicht versagen. Wie sehr hat ihn das geprägt? Was dieses Gespräch so angenehm macht: Guttenberg antwortet auf alle Fragen sehr direkt und offen. Es wirkt so, als sitzt da ein gelöster Mann vor uns. »Natürlich hat mich das geprägt. Und wie. Der Druck war immer da. Aber ich stelle mir vor, wenn ein junger Mann in der fünften Generation einen großen Bauernhof übernimmt, verspürt er auch einen gewissen Druck.«

Karl-Theodor zu Guttenberg war auf dem Weg, etwas sehr Besonderes zu werden. Bundesminister und Politstar war er schon. Was sollte noch kommen? Doch stattdessen kam 2011 der Sturz, ganz plötzlich. Eine Doktorarbeit, bei der er abgeschrieben hat (oder abschreiben hat lassen). Die sogenannte Plagiatsaffäre. Der Rücktritt von all seinen Ämtern. Das Ende seiner politischen Laufbahn. Wie war das für ihn? »Es war schrecklich. Furchtbar. Es gab Tage, da dachte ich, ich bekomme mein Leben nicht mehr in den Griff. Heute im Rückblick denke ich, es war das Beste, was mir passieren konnte. Ich wurde aus einem Leben gerissen, das nicht das meine war.« War sein Vater, besonders gut im Druckaufbauen, eine Hilfe damals? Guttenberg überlegt. Einerseits ja, ganz sicher, sagt er. »Er hat mich sehr, sehr spüren lassen, dass ich sein geliebter Sohn bin und bleibe. Das war ein äußerst starkes, wichtiges Gefühl für mich.« Na ja, und andererseits hätte er – dem Egozentrik nicht fremd war – schon auch gesagt, dass diese Zeit, die Zeit meines Sturzes, für ihn die schlimmste Zeit seines Lebens war, »das war vielleicht nicht so hilfreich für mich«, sagt er und lacht.

Man könnte jetzt Stunden über seinen Rücktritt und die Folgen sprechen und über die Politik als solches. Aber wir haben hier noch etwas anderes zu erzählen. Denn die Familiengeschichte von Karl-Theodor zu Guttenberg hat noch eine andere Dimension. »Ja«, sagt er, »das ist eine Kombination, die nicht viele haben.«

Das stimmt. Als Karl-Theodor klein war, trennten sich seine Eltern. Er wuchs beim Vater auf. Seine Mutter heiratete ein paar Jahre später erneut, und zwar einen Mann mit einem besonderen Namen: Adolf Henkell-von Ribbentrop. Er ist Jahrgang 1935, man kann davon ausgehen, dass bei der Taufe Adolf Hitler anwesend war. Und man ahnt, warum der Junge Adolf genannt wurde, vermutlich nicht, weil es so ein schöner Name ist. Als Adolf elf Jahre alt war, wurde sein Vater, Joachim von Ribbentrop, gehenkt. Der Außenminister des Deutschen und seit 1943 Großdeutschen Reichs war im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zum Tod verurteilt worden.

Die Guttenbergs und die Ribbentrops. Auf Familienfesten kamen sie regelmäßig zusammen. Karl-Theodor zu Guttenberg sagt, es gab keine persönlichen Probleme, wirklich nicht, »das hat entscheidend damit zu tun, dass Adolf von Ribbentrop, der zweite Mann meiner Mutter, ein wundervoller, herzensguter Mensch ist«. Er erzählt, dass sein Vater, der so stolz auf seine Widerstandsfamilie war, Patenonkel desjenigen Kindes wurde, das seiner ersten Ehefrau und Herrn Ribbentrop geboren wurde.

In unserem Gespräch ändert sich nun was. So offen und klar Guttenberg über die eigene Familiengeschichte spricht, so vorsichtig wird er jetzt, wenn es um seine Stieffamilie geht. Das hat einen einfachen Grund: Seine Mutter lebt noch, und vor allem: Adolf von Ribbentrop lebt noch, er wird 2025 90 Jahre alt. Guttenberg sagt: »Ich möchte niemanden verletzen. Das ist das eine. Aber ich weiß auch vieles nicht. Ich will nicht herumspekulieren.«

Reden und Schweigen. Ein deutsches Geschwisterpaar.

Ob es in der Familie Diskussionen gab über Scham und Schuld? Über die Herkunft des Reichtums, über die jüdischen Enteignungen, die Joachim von Ribbentrop zum Teil persönlich veranlasst hatte? Guttenberg winkt ab. Da könne er nichts dazu sagen. Man habe sich nur selten gesehen. Die Gespräche blieben diesbezüglich an der Oberfläche. Nur vielleicht so viel: Dieser Name sei für die Ribbentrops eine unglaubliche Last gewesen. Denn du trägst meinen Namen. Es wäre ein Wunder, wenn die Seele davon unbeschadet bliebe. Guttenberg sagt, man könne sich das ja vorstellen, was es für einen Elfjährigen bedeutet, wenn der Vater gehenkt wird. Als seine Kinder, nachdem die Familie nach dem Rücktritt für einige Jahre in die USA gezogen war, dort in die Schule gingen, kam auch irgendwann das Dritte Reich im Geschichtsunterricht dran. Und da tauchte unter den schrecklichsten Tätern auch der Name Joachim von Ribbentrop auf. Ribbentrop? Da fragte die Tochter: Heißt nicht so unsere Großmutter?

Lassen wir es.

Karl-Theodor zu Guttenberg ist Jahrgang 1971. Warum soll man sich heute noch mit diesen alten Geschichten befassen? Sie begegnen einem 25-Jährigen: Was sagen Sie zu ihm? Befasse dich mit deiner Herkunft, deiner Vergangenheit, mit deinen Großeltern, Urgroßeltern?

»Nein«, sagt er, »Sie werden wenige 25-Jährige dazu kriegen, sich per obiter dictum mit der eigenen Familienvergangenheit zu befassen – ›nur‹ um der Befassung willen. Nach dem Motto: Du musst dich mit dieser Höllenzeit jetzt beschäftigen. So funktioniert es nicht. Du musst die Jungen in der Gegenwart abholen. Man kann mit ihnen über das Phänomen Trump sprechen, über das Phänomen Höcke. Über die heutige Aushöhlung und Gefährdung der Demokratie. Und dann irgendwann zurückschauen. Zwangloser und mit gesteigertem Wissensdrang.«

Nach seiner Erfahrung klappt das ganz gut. Sich klar zu werden darüber, dass sich Muster aus der Vergangenheit wiederholen können. Dann will man mehr darüber wissen.

Sprechen die Deutschen jetzt? Weil sie wollen? Weil sie müssen?

Es ist eine Nachricht aus der Vergangenheit, aber ihre Botschaft bleibt nicht in früheren Zeiten hängen. Sie hat das Zeug, die Gegenwart zu sprengen.

Eine Frau um die 40 ist unterwegs zu einem Familientreffen in einem Münchner Gasthof. Es ist ein Ritual geworden, kurz vor Weihnachten trifft man sich hier zum Essen. Doch dieses Mal ist alles anders, als sie schließlich an den Tisch kommt. Ihre Angehörigen sind schon da – und völlig aufgelöst: Tränen, Fassungslosigkeit, Bestürzung. Der Grund ist ein dünner Stapel Papier, der neben den Tellern liegt, die Kopie einer Zeugenaussage des Großvaters aus dem Jahr 1953. Sie belegt, dass er ein Massenmörder war, im Jahr 1944 war er am Massaker im französischen Ort Oradour-sur-Glane beteiligt gewesen. Mehr als 600 Frauen und Kinder und Männer wurden dort von der SS erschossen – oder in eine Kirche getrieben, die dann in Brand gesteckt wurde. Es gibt keinen Zweifel, dass der Großvater dabei war, die Zeugenaussage belegt es: Er hat die Tat gestanden. Eine Theaterregisseurin, die aus dem Stoff ein Stück machte, übergab der Familie das Dokument, zusammen mit anderen Akten.

Als die Nachricht aus der Vergangenheit quasi aus dem Nichts eintrifft, ist der Großvater schon seit mehr als 30 Jahren tot. Die Frau ist seine Enkelin, sie ist bei ihren Großeltern aufgewachsen, hat ihren Opa sehr geliebt. Nie hatte er davon erzählt, dass er bei der SS war, ganz zu schweigen von dieser monströsen Tat. Er hatte nur erzählt, er war im Krieg, das musste genügen. Ist das also die Geschichte: Eine Enkelin muss damit fertigwerden, dass der geliebte Großvater noch eine ganz andere Seite hatte, die Seite eines Mörders? Eine Familie muss klarkommen damit, dass dieser Mann lebenslang ein schreckliches Geheimnis hatte?

Ja, das ist die Geschichte. Aber sie ist noch mehr. Die ZEIT-Reporterin Tanja Stelzer schrieb über diesen Fall im Frühsommer 2024, und sie musste bei ihren Gesprächen feststellen, dass sich diese Familie heftig zerstritt, als die Enkelin weiterforschte, weil sie noch mehr über den Großvater und seine Tat wissen wollte. Tanja Stelzer fand bei ihren Recherchen heraus, dass die ungeheuerliche Nachricht über den Großvater viel mehr zerstörte als das Bild eines Menschen. Sie legte den Blick frei auf brutale Konflikte innerhalb der Familie, auf Unterdrückungsmuster, auf Gewaltstrukturen, die immer da waren und weggeschwiegen wurden – so, wie der Großvater seine Morde in sich verschlossen hatte.

Die Nachricht aus der Vergangenheit lieferte das Puzzlestück, mit dessen Hilfe sich die Muster der Familie endlich erklären oder wenigstens erahnen ließen. Verhielten sich alle auch deshalb so, weil er, der Großvater, so war? Schwiegen alle auch deshalb, weil er gegenüber seinen Nachfahren immer geschwiegen hat, weil sein Muster des Schweigens auch zum Prinzip ihres Lebens wurde?

Formulieren wir diese grundsätzlichen Fragen einmal über diese Familie hinaus: Halten uns die langen Linien der deutschen Geschichte in ihrem Griff, besonders die schrecklichen? Auch die, die wir nicht wahrnehmen wollen? Bis heute?

Auf der Suche nach der verlorenen deutschen Seele