Der Club der Nobelpreisträger - Michael Kröher - E-Book

Der Club der Nobelpreisträger E-Book

Michael Kröher

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Beschreibung

Ananas und Atombomben: Wissenschaft trifft Macht trifft Geld

Otto Hahn und Lise Meitner entdecken die Kernspaltung, Max Planck legt den Grundstein der modernen Quantenphysik, Otto Warburg erforscht den Krebs. Im Berliner Villenvorort Dahlem entsteht in der Weimarer Republik ein bedeutender Forschungscampus, eine Art "deutsches Stanford". Im Zentrum: Das Harnack-Haus, wo im Lauf der Jahre 35 Nobelpreisträger zu Gast sind. Werden die wunderbaren Erfindungen und Technologien dem Fortschritt der Menschheit dienen oder ihrer Vernichtung? Michael Kröher porträtiert diesen einzigartigen Ort, an dem bahnbrechende Wissenschaft auf Macht und Geld trifft und der zum historischen Momentum wird.

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Das Buch

Wissenschaft und Weltpolitik

Otto Hahn und Werner Heisenberg erforschen die Kernspaltung, Max Planck legt den Grundstein der Quantenphysik, Otto Warburg sucht nach den Ursachen für Krebs. Im Berliner Villenvorort Dahlem entsteht in der Weimarer Republik ein bedeutender Forschungscampus, eine Art »deutsches Stanford«. Im Zentrum: Das Harnack-Haus.

Michael Kröher porträtiert diesen einzigartigen Ort, an dem bahnbrechende Wissenschaft auf Macht und Geld trifft und der zum historischen Momentum wird.

Der Autor

Michael O. R. Kröher, geboren 1956, studierte Medizin und ist Redakteur beim Manager Magazin mit den Schwerpunkten Forschung und Technologie-Entwicklung. Er ist Autor mehrerer Sachbücher (darunter: In die Sonne, in die Ferne. Auf einer Straße der Sehnsucht ans Mittelmeer) und lebt in Berlin.

Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildungen: Person: © Stephen Mulcahey; Haus: © Georg Pahl, Bundesarchiv/Bild 102-07736, Berlin, Harnack-Haus

Michael Kröher

Der Club der Nobelpreis-träger

Wie im Harnack-Haus das 20. Jahrhundert neu erfunden wurde

Knaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage

Copyright © 2017 Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Fichtl

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildungen: Person: © Stephen Mulcahey; Harnack Haus, Berlin: © Bundesarchiv, Georg Pahl, Bild 102-07736

Karte Vor- und Nachsatz: Peter Palm

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-18964-8V001www.knaus-verlag.de

Das Harnack-Haus 1929, im Jahr seiner Eröffnung. Vorn der Eingang zum Helmholtz-Hörsaal, links die Hauptgebäude. Die Straßen in der Dahlemer Forscherkolonie waren erst kurz zuvor angelegt und bepflanzt worden.

Inhalt

EinleitungWissenschaftstheater in Shakespeare’schen Dimensionen

Teil 1 Aufstieg und Blüte (1911–1933)

Simple Schale, edler Kern

Aufbruch in die Moderne – ein Kirchenhistoriker beflügelt die deutsche Naturforschung

»Brot aus Luft« – was die Dahlemer Platzhirsche bewegt

Jasminduftende Ländlichkeit, nobelpreiswürdige Forschung und rauschende Feste

Teil 2 Durchmogeln, Wegducken, Mitmachen, Aushalten (1933–1942)

Der Tümmler vom Schwielowsee verschwindet

Hitler überm Kamin

Augen aus Auschwitz – Dahlemer Forscher betreiben tödliche Wissenschaft

»Das Baby ist glücklich angekommen«

Der Dandy von Dahlem

Wettlauf um die Technik – wie lässt sich die Atomspaltung nutzen?

Die kriegsentscheidende Ananas

Teil 3 Krieg und Krise, Widerstand, Untergang (1942–1945)

Bunker, Luftschutzgräben, Schweinemast

Nachtwanderung in eine ungewisse Zukunft – wie sich die neuen Forscherfürsten von Dahlem arrangieren

Rote Kapelle, Weiße Rose, Mittwochsgesellschaft

Der Zusammenbruch

Teil 4 Ausblick (1945–2017)

Zurück zum Hort des Humanismus – wie das Harnack-Haus wieder wurde, was es ursprünglich war

Anhang

Zeitstrahl

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildnachweis

Dank

Nobelisten unter sich. Am Abend nach einem Vortrag des Amerikaners Robert Millikan (2. v. r., Physik-Nobelpreis 1923) im November 1931 versammeln sich die gerade anwesenden Berliner Forscherfürsten zu einem Dinner bei Max von Laue (r., Physik-Nobelpreis 1914): Walther Nernst (Chemie-Nobelpreis 1920), Albert Einstein (Physik-Nobelpreis 1921) und Max Planck (Physik-Nobelpreis 1918).

EinleitungWissenschaftstheater in Shakespeare’schen Dimensionen

Im Frühjahr 1929 wird das Harnack-Haus als Begegnungsstätte für Wissenschaftler und Politiker, Künstler und Wirtschaftslenker in Berlin-Dahlem eröffnet. Aus den Begegnungen an diesem besonderen Ort entsteht etwas, das weit über den Rahmen persönlicher Freundschaften und wissenschaftlicher Horizonterweiterung hinausgeht: ein neues universelles Denken, eine neue Haltung, prägend für das Handeln einer ganzen Forschergeneration, einer nicht erklärten, aber direkt erlebbaren Wertegemeinschaft. Teils bewusst, teils intuitiv stellt sich diese Haltung dem gesellschaftlichen Mainstream entgegen – auch während der NS-Gewaltherrschaft und in schwierigen Zeiten.

In den Terminkalendern von Berlins Forschergemeinde ist der 10. November 1931 bereits seit Wochen blockiert: An diesem Abend hält Robert A. Millikan, Physik-Nobelpreisträger des Jahres 1923 und Chairman im Verwaltungsrat des schon damals weltberühmten California Institute of Technology (CalTech), einen Vortrag im Club- und Gästehaus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) zur Förderung der Wissenschaften.

Millikan ist nicht nur ein hochdekorierter Laborleiter und Hochschulmanager vom anderen Ende der Welt: Mit spektakulären Experimenten an Öltröpfchen hat er die kleinste Menge elektrischer Ladung berechnet, die es nach den Erkenntnissen der Quantenphysik geben kann – die sogenannte Elementarladung, eine Naturkonstante. Darüber hinaus hat er einen Zusammenhang zwischen Photonik und Max Plancks Wirkungsquantum bewiesen, den Albert Einstein zuvor nur theoretisch postulieren konnte – eine Art Zirkelschluss für die Königin der Naturwissenschaften, die Physik.

Millikan spricht fließend deutsch: Nach seiner Promotion in den 1890er Jahren hat er ein Jahr lang in Berlin und in Göttingen bei den Forscherstars Walther Nernst und Max Planck gearbeitet. So ist der große Hörsaal im Gästehaus der KWG an jenem Novemberabend bis auf den letzten Platz besetzt, nicht wenige Zuhörer müssen stehen. Um auch jene Teile seines Publikums zu erreichen, die seitlich von ihm dicht gedrängt direkt auf der Bühne sitzen, bewegt sich der 63-jährige Millikan, die langen weißen Haare sorgsam nach hinten gekämmt, ständig vom einen zum anderen Ende der langen Laborbank; seine Ausführungen unterstreicht er mit erhobenem Zeigefinger.

In der ersten Reihe hört Albert Einstein konzentriert zu, die Arme verschränkt vor der Brust. Etwas weiter seitlich sitzt Max Planck: klein, hager, kahlköpfig, mit seiner runden Brille und dem hellwachen, fast bohrenden Adlerblick des Forschergenies. Wieder etwas weiter hat sich Otto Hahn in die engen Sitze geklemmt, Direktor des weltberühmten Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Chemie. Wie meistens in dieser Jahreszeit trägt Hahn einen Dreiteiler aus dickem Wollstoff. Am Rand der ersten Reihe hat Lise Meitner noch einen Platz auf einem der Notsitze gefunden. Die brillante Physikerin, seit Jahrzehnten Hahns Laborpartnerin, leitet eine Abteilung an dessen Institut. Ein blendend weißer Kragen schließt den Halsausschnitt ihres dunklen, langen Kleides ab.

In seinem temperamentvollen Vortrag verteidigt Millikan seine Experimente zur Elementarladung. Die sind in der Fachwelt umstritten, weil ihre Ergebnisse in den zwanzig Jahren seit ihrer Veröffentlichung nicht reproduziert werden konnten. Bei seinen Ausführungen über Einsteins Postulat zu Plancks Wirkungsquantum erntet er dagegen Wohlwollen von den angesprochenen Forschungsfürsten.

Nach dem Ende des vorbereiteten Textes folgen zahlreiche Nachfragen aus dem ebenso illustren wie heterogenen Publikum, davon etliche zum Verständnis der komplizierten Sachverhalte. Schließlich haben sich nicht nur Naturforscher auf den Weg nach Dahlem gemacht: Die Berliner Gesellschaft, ganz gleich ob bürgerlich, fortschrittlich oder konservativ, will wenigstens versuchen, eine Meinung zu haben zum neuen wissenschaftlichen Weltbild der Moderne, das sie vor noch größere Rätsel stellt als die abstrakte Malerei von Juan Miró, Wassily Kandinsky oder Robert Delaunay.

Die Debatten werden fortgesetzt in den Fluren und im Foyer, im Salon und in den gemütlich eingerichteten Kellergewölben des Harnack-Hauses. Dazu serviert livriertes Personal Häppchen und Getränke. Es wird ein langer, munterer Abend, denn viele der Diskutanten leben in den umliegenden Straßen, haben also keinen weiten Heimweg. Wegen ihrer akademisch hochqualifizierten Bewohner wird die Dahlemer Gelehrtenkolonie schon damals »das deutsche Oxford« genannt. Prominente wie Lise Meitner residieren gar in einer der »Direktorenvillen«, die neben jedem der großen Kaiser-Wilhelm-Institute für die jeweiligen Leiter errichtet wurden. Und der Redner des heutigen Abends logiert dieser Tage in einem der Apartments gleich unterm Dach des Harnack-Hauses.

Am nächsten Abend hat Max von Laue, Physik-Nobelpreisträger von 1914, die Forscherstars zu sich nach Hause geladen. Lise Meitner gehört nicht zu den Gästen. Waren schon bei Millikans Vortrag kaum Frauen im Publikum vertreten, so ist es jetzt eine reine Herrengesellschaft: Zu den bereits genannten Honoratioren ist Walther Nernst, Chemie-Nobelpreisträger von 1920, dazugekommen. Zu Beginn der förmlichen Dinner-Veranstaltung geht es noch etwas steif zu, doch schon bald lockert sich die Stimmung: Millikan und seine akademischen Lehrer Planck und Nernst tauschen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit aus, lachen über Anekdoten und Geschichten von Missgeschicken.

Ihren Cognac nehmen die Herren in der Bibliothek. Einige zünden sich eine Zigarre an, dann kommt eine große Frage nach der anderen auf den Tisch: In welches Land, auf welchen Kontinent wird die nächste jener Vortragsreisen führen, die Einstein jedes Jahr länger ausdehnt? Wird er mit dem Zug die USA durchqueren oder mit dem Schiff bis zur Westküste fahren? Wie geht es weiter mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, bei der Planck vor einem Jahr den Vorsitz von dem verstorbenen Gründungspräsidenten Adolf von Harnack übernommen hat? Was ist von der »Deutschen Physik« zu halten, die seit einigen Jahren von den einflussreichen Nobelpreisträgern Johannes Stark und Philipp Lenard propagiert wird, weil diese Relativität und Quantenlehre als »jüdisch« ablehnen? Sollte es tatsächlich so etwas wie eine »Deutsche Physik« geben – gibt es dann auch eine französische, eine englische und eine russische? Ist die letztere vielleicht schon eine sowjetische?

Von Millikan wollen die Deutschen wissen: Welche Pläne stecken wohl hinter der Millionenspende der amerikanischen Rockefeller-Stiftung, aus der Physiker von Laue gerade den Neubau eines Laborgebäudes für sein KWI finanziert? Was ist von dem Institute for Advanced Studies zu erwarten, das unlängst im amerikanischen Princeton nach dem Vorbild der rein forschungsorientierten Kaiser-Wilhelm-Institute eröffnet wurde?

Umgekehrt fragt der Amerikaner: Wie denken die deutschen Kollegen über die krawalligen Nationalsozialisten, die im Reichstag bald die Mehrheit stellen könnten? Wird ihr radikaler Anführer Hitler dann Reichskanzler? Und: Wird Einstein, der als überzeugter Pazifist und Anti-Nationalist seine deutsche Staatsbürgerschaft in jungen Jahren schon einmal abgelegt hatte, von seinen interkontinentalen Vortragsreisen noch mal zurückkehren nach Berlin? Oder werden die antisemitischen Anwürfe, unter denen er und seine Frau seit Jahren schwer zu leiden haben, unter einer NS-Regierung endgültig unerträglich werden?

Der Verlauf dieser Begegnungen im Harnack-Haus und tags darauf ist typisch für die Art, wie die Besucher des Club- und Gästehauses miteinander umgehen: Meist steht ein wissenschaftliches Anliegen im Zentrum, aber auch das politische und kulturelle Umfeld und historische Fragen gehören stets dazu. In keinem Fall wird nur die Elite der Fachleute angesprochen, von denen es im Publikum genug gibt, sondern auch Fachfremde, interessierte Laien. Auch ihre Fragen und Einwürfe werden ernst genommen.

So weitet sich der Horizont: Es geht nicht mehr bloß um Insiderwissen und Spezialprobleme, sondern bald schon um größere Zusammenhänge. Etwa um wirtschaftliche Anwendungen der neuen Entdeckungen, um Kosten, Nutzen und Risiken. Oder um gesellschaftliche Auswirkungen, um erfreuliche Veränderungen und um weniger wünschenswerte Nebenwirkungen. Um ethische Fragen. Am Ende stehen nicht selten die persönlichen Sichtweisen, vielleicht sogar ein Engagement in die eine oder andere Richtung.

Schon bald nach seiner Eröffnung im Frühling 1929 wird das Harnack-Haus so zu einem Ort für ein neues universelles Denken, das auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen und höchster fachlicher Qualifikation basiert. Und zugleich auf größtmöglicher individueller Freiheit und auf gegenseitigem Vertrauen, das auf gesellschaftliche Verantwortung und Humanität zielt.

Das »neue Denken« fördert unideologische Haltungen und ist Vorbild auch für andere, weniger forschungsorientierte gesellschaftliche Gruppen: für Gewerkschaften und Kulturvereine, für Teile der Frauenbewegung und politische Zirkel. Daraus entspringt ein pragmatisches, zukunftsorientiertes Handeln, das oft unter dem Radarschirm der bald einsetzenden nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bleibt. Bei jenen Mitgliedern der Dahlemer Forscherkolonie, bei jenen Gästen und Betreibern des Harnack-Hauses, die dieses pragmatische, zukunftsorientierte Handeln oft genug und manchmal gemeinsam praktizieren, entsteht daraus das Gefühl einer direkt erlebbaren Wertegemeinschaft.

Nach dem Zusammenbruch von Staat und Gesellschaft jedoch, nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs ist es dieses geistige Umfeld, das Erlebnis dieser nicht erklärten und nirgends verfassten Wertegemeinschaft, das den Neuanfang eines friedlichen, demokratischen, auf sozialen Ausgleich bedachten Deutschlands möglich macht.

Dieses Buch erzählt die Geschichte des Harnack-Hauses und damit auch der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die der Hausherr dieses Schauplatzes ist: ein eingetragener Verein zur Förderung der Wissenschaften, gegründet 1911 unter der Schirmherrschaft des letzten deutschen Imperators. Die KWG ist nicht nur ein elitärer Gelehrtenzirkel und ein großzügiger Arbeitgeber für Albert Einstein, Max Planck, Otto Hahn und später Werner Heisenberg. Sie bietet zugleich eine Manege für diese Titanen, die unser Weltbild und -verständnis geprägt haben wie vor ihnen allenfalls Isaac Newton, Begründer der klassischen Mechanik, der Astrophysiker Johannes Kepler oder der Evolutionstheoretiker Charles Darwin. Obendrein zieht die KWG ein erlesenes Publikum an. Nach den Katastrophen des Ersten Weltkriegs und der Hyperinflation, nachdem Deutschland als die Brutstätte säbelrasselnder Kriegstreiber und Nationalisten galt und international isoliert wurde, suchen die KWG und ihre Forscher wieder den Dialog mit ähnlich qualifizierten und engagierten Entscheidern und Verantwortungsträgern in aller Welt.

Für ihre Begegnungsstätte haben die Gründerväter aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ein kühnes Konzept entwickelt. Nicht nur akademische Exzellenzen sollen dort zusammenkommen mit Novizen, nicht nur die talentiertesten und routiniertesten Experimenteure aus den umliegenden Labors mit den streitbarsten Jung-Theoretikern der Naturwissenschaften. Vielmehr sollen auch die nationalen und internationalen Führungskräfte aus allen gesellschaftlich relevanten Bereichen eingeladen werden: Minister und Prälaten, Museumsdirektoren und Bankiers, Abgeordnete und Gewerkschaftsbosse, Staatsschauspieler und Archäologen, Philosophen, Maestri, Filmstars und Diplomaten. Aus aller Herren Länder, aus Wirtschaft und Wissenschaft, Kunst und Kultur.

Man trifft sich im Harnack-Haus in großen Sälen, aber auch zu Essen im kleinen Kreis, zu Konzerten und Dichterlesungen, zum einfachen Mittagstisch und zu privaten Einladungen, zu intimen Gesprächsrunden und großen Kostümbällen. So entsteht der Rahmen für einen vertrauensvollen, gruppenübergreifenden Diskurs über die großen Ideen, die das Zeitalter der Moderne und alles, was danach kommen sollte, global gestaltet haben: radikale Gesellschaftsmodelle wie Kommunismus und Totalitarismus, aber auch Forschungsdisziplinen wie Genetik und Molekularbiologie, die Relativität, Atom- und Quantenphysik, Massenkommunikation und Psychologie, ethische Fragen nach der Verantwortung in der Bürgergesellschaft und die Zuständigkeit jedes Einzelnen für sich selbst, für seine Mitmenschen, die Zivilisation.

Das neue universelle Denken und die daraus resultierende Haltung der Besucher des Harnack-Hauses entstehen weder auf Anweisung noch unter Anleitung. Außerhalb der explizit wissenschaftlichen Veranstaltungsformate gibt es kein Programm; weder die Ziele der Austausch- oder Erkenntnisprozesse noch deren Methoden sind schriftlich fixiert. Oft ist nicht einmal klar, dass es sich überhaupt um einen der genannten Vorgänge handelt.

Nicht einmal die Auswahl der Teilnehmer folgt einer festgelegten Strategie: Zu manchen Anlässen kommen eher Fachkollegen, zu anderen Freunde und Familien. Manchmal geht es um eine möglichst hohe gesellschaftliche Stellung der Gäste, manchmal direkt um deren Macht und Einfluss, nicht selten bis hoch hinauf in die NS-Hierarchien.

Viele Begegnungen, Einsichten, Impulse im Harnack-Haus ergeben sich absichtslos, andere aus einer kruden Mischung von Sachzwängen und gesellschaftlichen Regeln, aus unerwarteten Gelegenheiten. Doch kommen nach und nach auch Erfahrungen über Zusammenhänge hinzu, die sich gegen den Mainstream der Ereignisse und gegen manche Absicht im nationalsozialistischen Deutschland richten. Diesen Abweichungen, die in Einzelfällen nicht haltmachen vor Straffälligkeit und bis in den Widerstand hineinreichen, will das vorliegende Buch nachspüren.

Die meisten Wissenschaftler, die sich im Harnack-Haus treffen, handeln freilich aus denselben Motiven heraus wie heutige Wissenschaftler auch: Sie möchten Karriere machen in ihrer jeweiligen Disziplin. Sie wollen berufen werden auf immer prominentere Lehrstühle, wünschen sich Labors, die technisch wie personell immer noch besser ausgestattet sind. Sie möchten Preise und Stipendien erringen, die Ergebnisse ihrer Experimente und Studien in den angesehensten Journalen publizieren und Vorträge auf immer wichtigeren Kongressen halten. Im Dahlem der 1930er und 40er Jahre nutzen die Forscher das Harnack-Haus als Präsentationsplattform. Sie zeigen sich und ihre Leistungen dort im bestmöglichen Licht.

Andere Leistungsträger wie Ministeriale und Militärs wollen befördert werden, Schauspieler streben nach Rollen in bedeutenden Filmen unter berühmten Regisseuren, Schriftsteller wollen höhere Auflagen erzielen, Musiker vor größerem Publikum auftreten: mehr Geld, mehr Applaus und Anerkennung, mehr Wertschätzung. Auch sie präsentieren sich, ihre Erfolge und Errungenschaften im Harnack-Haus.

Doch schon bald nach den Parlamentswahlen Anfang des Jahres 1933, die Adolf Hitler zum Reichskanzler machten und die Nationalsozialisten zur alleinherrschenden Macht werden ließen, gerät das Zusammenspiel der intellektuellen und politischen Eliten in Deutschland aus dem Gleichgewicht. Manche, wie Albert Einstein, bemerken das früh – und gehen, wenn irgend möglich, in die Emigration. Andere bemerken es später – und gehen in den Widerstand mit allen Risiken und Widrigkeiten, die das mit sich bringt. Wieder andere bemerken es zu spät – mit oft tödlichen Folgen. Der weitaus größte Teil der Menschen in Deutschland bemerkt es gar nicht oder macht tatkräftig mit und wacht, wenn überhaupt, erst 1945 nach dem desaströsen Kriegsende auf.

Auch die in diesem Buch porträtierten Wissenschaftler fanden sich irgendwann, meist als Folge des eigenen karrieristischen oder aus sonstigen Gründen regelkonformen Verhaltens, in einer Sackgasse ihrer persönlichen Entwicklung wieder, in der ein »Weiter so« nicht mehr möglich war. Eine Situation, die zumindest die Wissenschaftler, die sich ideologisch nicht völlig in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt haben, nun zwang, ein neues universelleres Denken, eine »neue Haltung« einzunehmen. Sie mussten sich Auswege suchen durch praktisches Handeln: unideologisch, aber klar positioniert, vertrauensvoll und risikobewusst, doch nicht so tollkühn wie die organisierten Widerständler des Kreisauer Kreises, der Weißen Rose, der Roten Kapelle oder des 20. Juli.

Einfacher ausgedrückt: Viele der Wissenschaftler in Berlins Südwesten versuchten in den immer schwieriger werdenden Zeiten der NS-Herrschaft, des totalen Krieges und der damit zusammenhängenden Zerstörung aller materiellen und ideellen Werte, die für sie erreichbaren, verbliebenen Reste von bürgerlichem Anstand und gutem Willen zusammenzutragen, in eine Form zu bringen und nutzbringend einzusetzen. Die dafür verwendete Methode war oft kaum mehr als ein Luftanhalten im Getöse des Orkans, das nicht als solches bemerkt wurde. Aber auch nicht weniger: Eine Maßnahme, die zwar zum Schweigen zwingt, die jedoch ein Untertauchen ermöglicht und den Luftvorrat zumindest für ein Weilchen bewahrt, um nach dem Wiederauftauchen die Stimme erheben zu können. Und sei es erst nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands.

Das Harnack-Haus in Berlin-Dahlem war das geografische wie gesellschaftliche Zentrum für diese Methode. Vieles, was dort geschah, war nur ein scheinbar zufälliges Ergebnis des interdisziplinären Dialogs, des internationalen Austauschs, der Begegnung von verantwortungsbewussten Menschen beim »geselligen Zusammensein« nach einem wissenschaftlichen Vortrag oder beim »Essen im kleinen Kreis« mit Abgeordneten, Publizisten und Industriemagnaten. Eines Austauschs von Menschen, die nicht selten selbst zur Nazi-Partei gehörten, die Uniformen einer ihrer vielen Organisationen trugen. Die eine friedliche Welt, eine demokratische und auf sozialen Ausgleich bedachte Zukunft vielleicht nicht in allen Einzelheiten ausmalen und konzipieren konnten. Die eine solche Welt, eine solche Gesellschaft aber anstrebten – und erste Schritte dorthin unternahmen.

Zum Beispiel die Atomforscher: In den Labors des KWI für Chemie gelingt Otto Hahn und Fritz Strassmann im Dezember 1938 zum ersten Mal eine von außen herbeigeführte Spaltung von Atomen. Dabei, so rechnet Lise Meitner nach ihrer Flucht in Schweden aus, werden gigantische Energiemengen freigesetzt. Dennoch können Werner Heisenberg, Otto Hahn und eine Handvoll weiterer, von denen dieses Buch handelt, die Nationalsozialisten und ihre Militärs im Harnack-Haus vom Bau einer Atombombe ablenken.

Dieses Ergebnis einer geheimen Sitzung im Sommer 1942 war keine Folge von heroischem Widerstand, ja nicht einmal ein taktischer Schachzug der Forscher. Eher der für Wissenschaftler typische Appell an die praktische Vernunft. Eine Abwägung im Kraftfeld von Machbarkeiten, Aufwand und Nutzen – hinter der freilich ein unausgesprochenes Unbehagen stand, ein tiefer Zweifel und das Erkennen der Unverantwortlichkeit, solch eine kaum beherrschbare Massenvernichtungswaffe in die Hände von notorisch Maßlosen zu geben. Die standen, auch das ließ sich bei den vielfältigen Begegnungsformaten des Harnack-Hauses erleben oder wenigstens ableiten, in der Raserei ihres totalen Krieges schon mit dem Rücken zur Wand. Heisenbergs geschicktes Lavieren zwischen Rausreden und Hinhalten, so viel scheint jedenfalls klar, hat verhindert, dass Europa im Zweiten Weltkrieg zum atomaren Schlachtfeld wurde, dass die Nationalsozialisten und ihre Militärs noch größeren Schaden anrichten konnten als ohnedies.

Die zumindest in den ersten Jahren schwachen Reaktionen auf die Judenverfolgung dagegen sind ein trauriges Kapitel. Jahrelang hat die Forschergemeinde der KWG mehr oder weniger achselzuckend zugesehen, wie ihre als jüdisch klassifizierten Kollegen – 126 an der Zahl! – von den Nationalsozialisten systematisch ausgegrenzt, entrechtet und enteignet wurden. Dutzende von Wissenschaftlern verloren ihre Professuren und Posten an der Universität, ihre Positionen als Direktoren, wissenschaftliche Mitglieder oder Mitarbeiter der KWG, wurden arbeitslos ohne Chance auf einen neuen Job. Etliche mussten emigrieren, andere versanken mehr oder weniger Not leidend in der Anonymität, da sie nicht mehr experimentieren, nicht mehr publizieren konnten. Vier der einstigen KWGler wurden später in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet oder kamen dort elend zu Tode.

Anfangs regte sich in der Forschergemeinde allenfalls bei prominenten Einzelfällen Widerspruch dagegen; nach entschiedener Zurechtweisung durch die NS-Machthaber schlief aber auch dieser Protest meist schnell ein.

Aber es gibt zugleich so manches Gegenbeispiel. Eine einzigartige Aktion etwa, bei der Berliner Forscher verschiedener Fachrichtungen eine illegale Ausreise vorbereiteten und dabei mit dänischen, schwedischen, britischen, schweizerischen und niederländischen Kollegen konspirierten, brachte die fast 60-jährige Lise Meitner im Juli 1938 in Sicherheit. Über Holland und Dänemark kam sie völlig mittellos nach Schweden und fand schließlich eine Anstellung am Nobel-Institut in Stockholm, wo sie bis zum Ende des Krieges unbehelligt leben und arbeiten konnte. Otto Hahn schildert ihr unerschütterlich und ausführlich den Fortgang der Forschungen am Institut. Auch damit geht er ein enormes Risiko für sich und seine Familie ein. Per Brief berichtet er Lise Meitner mit verblüffender Selbstverständlichkeit im selben Jahr als Erster von der Kernspaltung und bittet die langjährige Kollegin darum zu berechnen, welche Wirkungen sich daraus ergäben – völlig ungeachtet der politischen Umstände.

Auch Otto Heinrich Warburg, einem brillanten Biochemiker, half das Dahlemer Umfeld als schützendes Biotop. Der Medizin-Nobelpreisträger von 1931 war doppelt gefährdet: durch seine jüdische Abstammung wie durch seine Homosexualität; er lebte vor Ort mit seinem Partner zusammen. Trotzdem hat er nie einen Judenstern auf seiner Kleidung getragen, blieb bis nach dem Krieg Direktor seines Instituts und konnte seinen Forschungen nachgehen. Das personelle Umfeld des Harnack-Hauses bot ihm so viele Privilegien, dass Warburg jederzeit ins Ausland reisen – und unbehelligt wieder zurückkehren konnte. Eine wohl einmalige Begünstigung gegenüber allen anderen »jüdischen Mischlingen 1. Grades« im Nazi-Deutschland.

Auf den ersten Blick mögen diese Ereignisse im Umfeld der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wie Zufälle erscheinen, vielleicht sogar wie das unreflektierte Handeln zerstreuter Professoren. Vieles davon war wahrscheinlich eine mehr oder weniger glückliche Fügung. Doch kann man Muster erkennen, die ganz der speziellen Kultur des Harnack-Hauses entsprechen: dem dort gepflegten Dialog, den Formen des interdisziplinären Austauschs, dem gegenseitigen Respekt, dem Vertrauen in die Kompetenz, aber auch in die Loyalität des Gegenübers. Die ungezwungene Geselligkeit, die sich auch alltags zwischen den Gästewohnungen unterm Dach und dem Lesesaal im Halbgeschoss einstellte, zwischen den Tennisplätzen und den Biertischen im Duisberg-Saal, zwischen den schweren Lederfauteuils in der Bismarck-Halle und dem Turn-Raum im Souterrain mag ebenfalls ihren Beitrag geleistet haben zu der einzigartigen Atmosphäre der Begegnungsstätte. Auch diesen Mustern und dieser Kultur, dem offenen Austausch und der besonderen Atmosphäre möchte dieses Buch nachspüren.

Denn die genannten Elemente haben sich fortgesetzt auch über das Ende des nationalsozialistischen Debakels hinaus. Die erste offizielle Veranstaltung, die kurz nach der Kapitulation im kaum beschädigten Harnack-Haus stattfand, war eine Tagung der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Dort wurde debattiert, wie ein Neuanfang des Geisteslebens im Nachkriegsdeutschland möglich und welcher Art er sein könnte. Es gab Konzerte und Lesungen für die Ausgebombten, vom Häuserkampf geschundenen Überlebenden des Infernos.

Ein Missverständnis soll freilich von vornherein ausgeschlossen werden: Das Harnack-Haus war kein primär konspirativer Ort, keine Zentrale von Antifaschisten, keine Keimzelle, an der heroische Akte des Widerstands ausgedacht oder konzipiert wurden. Zumindest zu Beginn des »Dritten Reichs« suchten viele der dort Aktiven die Nähe zum Nationalsozialismus und seinen Vertretern. Von 1939 an hing ein großes Hitler-Porträt über dem Kamin in der herrschaftlichen Bismarck-Halle.

Die »Rassenforscher« und »-hygieniker« vom benachbarten KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Lieferanten eines geistigen Unter- und Überbaus für den Holocaust, für die Ermordung und Zwangssterilisierung von Tausenden geistig Behinderten und Mischlingen, hielten regelmäßig Vorträge im Harnack-Haus, schickten die Lehrer, Juristen, Ministerialen und Ärzte, die zum Teil in SS-Uniformen an ihren »rassenkundlichen« Kursen teilnahmen, zum Mittagessen ins Liebig-Gewölbe, feierten ihre Promotionen, Publikations- und Kongress-Erfolge im Garten und auf der Terrasse des Club- und Gästehauses.

Hitler selbst war mehrmals Gast bei privaten Feiern in den Nebenzimmern des Harnack-Hauses, 1935 lud er zusammen mit seinem Propagandaminister Joseph Goebbels in die angemietete Begegnungsstätte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, um dort die Eröffnung des Reichsfilmarchivs zu feiern. Ein paar Monate später las der Schriftsteller Ernst von Salomon, als Rechtsterrorist in den 1920er Jahren an der Ermordung des Außenministers Walter Rathenau beteiligt und Drehbuchautor nationalsozialistischer Hetz- und Propagandafilme, im voll besetzten Goethe-Saal aus seinen Bestsellern.

Selbstverständlich gab es auch am Harnack-Haus einen nationalsozialistischen Betriebsstätten-Obmann, der darauf achtete, dass auf den Fluren und in den Büros der »deutsche Gruß« praktiziert und die Briefe mit »Heil Hitler!« unterzeichnet wurden. Selbstverständlich wurden »suspekte Elemente« baldmöglichst aus der Belegschaft des Club- und Gästehauses entfernt.

Dennoch liefen im Harnack-Haus auch Fäden des Widerstands zusammen. Mit der Gedenkfeier für den von den Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängten Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber organisierte Max Planck 1935, zu jenem Zeitpunkt bereits 76 Jahre alt, eine Großveranstaltung der Insubordination im Goethe-Saal.

Ernst von Harnack, Sohn des Namensgebers und in der Weimarer Republik preußischer Regierungspräsident, war Teil der Widerstandsgruppe um Carl Friedrich Goerdeler und Graf von Stauffenberg. Arvid Harnack, ein Neffe des Namensgebers, gehörte zusammen mit seiner amerikanischen Ehefrau Mildred zu den führenden Köpfen jener Widerstandsgruppe, die von der Gestapo als »Rote Kapelle« diffamiert wurde. Erwin Planck, Sohn des Physik-Nobelpreisträgers und bis zu Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Staatssekretär in der Reichskanzlei, wurde ebenfalls im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet.

Generaloberst Ludwig Beck, der nach Hitlers beabsichtigtem Tod an jenem Tag das Amt des Reichspräsidenten übernehmen sollte, tagte noch zwei Wochen vor dem Bombenanschlag zusammen mit der »Mittwochsgesellschaft« im Harnack-Haus. Dieser bürgerlich-elitäre Zirkel, korrekter Titel »Freie Gesellschaft zur Wissenschaftlichen Unterhaltung«, war schon 1863 gegründet worden – unter ähnlichen Vorzeichen wie später das Harnack-Haus. Da sich in der Mittwochsgesellschaft neben Ludwig Beck auch noch andere Verschwörer des 20. Juli fanden, etwa der ehemalige preußische Finanzminister und ebenfalls hingerichtete Johannes Popitz, wurde der Kreis Ende Juli 1944 von der Gestapo aufgelöst.

Zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff, damals Herausgeberin der Wochenzeitung »Die Zeit« und einstige Kurierin für die Widerstandsgruppe um Goerdeler und Stauffenberg, gründete Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Jahr 1996 eine »Neue Mittwochsgesellschaft«. Zu deren Mitgliedern zählten unter anderem führende Sozialdemokraten wie Egon Bahr, Wolfgang Thierse und Helmut Schmidt, aber auch Industrielle wie Edzard Reuter (ehem. Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG) oder Giuseppe Vita (ehem. Vorstandsvorsitzender der Schering AG, heute Teil des Bayer-Konzerns) und die Grünen-Politikerin Antje Vollmer. Weil er im hohen Alter nicht mehr an den Berliner Sitzungen teilnehmen konnte, betrieb Schmidt an seinem Hamburger Wohnort später eine gleichgesinnte »Freitagsgesellschaft«.

So ist das Harnack-Haus eine Bühne für Aufführungen in geradezu Shakespeare’schen Dimensionen: mit Prologen vor dem noch geschlossenen Vorhang, mit Musik und Tanz, mit den Kommentaren von Narren, mit Schurken und schönen Frauen, mit Lachen und Weinen, Komik und Kummer, mit Vertrauen und Niedertracht, Intrigen und Zweikämpfen, Gift und Gewalt, Leidenschaften und Lyrik. Es wird nicht zum Schauplatz von Heldenepen, sondern zu einer Bühne für besondere Schicksale und Talente, für ungewöhnliche Pointen und Plots.

Teil 1 Aufstieg und Blüte(1911–1933)

Unsere Sache ist eine, die jeden erhöht und steigert, der für sie wirkt und wirbt.

Fritz Haber, von 1911 bis 1933 Direktor des später nach ihm benannten Kaiser-Wilhelm-Instituts und Chemie-Nobelpreisträger des Jahres 1918

Der Hauptzweck des Harnack-Hauses ist nicht ein wissenschaftlicher, sondern ein sozialer und im besten Sinn menschlicher Zweck. (…) Die Gelehrten, die künftig hier leben, werden zu den glücklichsten aller Menschen zählen.

Jacob Gould Schurman, Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika im Deutschen Reich und ehemaliger Präsident der Cornell-Universität in Ithaca, New York, in seiner Rede zur Eröffnung des Harnack-Hauses, 1929

Architekt Carl Sattler (l.), Haus-Chefin Margarethe Carrière-Bellardi und Friedrich Glum, Generaldirektor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, vor der Gartenfront des Harnack-Hauses kurz nach dessen Errichtung. Links die mehrstöckigen Fenster des Goethe-Saals, mittig die Rundbogen vor der Bismarck-Halle.

Simple Schale, edler Kern

Die Reden bei der Eröffnungsfeier des Harnack-Hauses in Berlin-Dahlem klingen enthusiastisch bis schwärmerisch. Denn die Begegnungsstätte internationaler Eliten gibt ihren geistigen Vätern und Förderern Anlass für höchste Hoffnungen: Es soll eine Bühne werden für den internationalen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, die es in dieser Form zuvor nicht gegeben hat. Das Harnack-Haus wird architektonisch einfach und schmucklos erbaut – in einer Zeit, die geprägt ist von blutigen Straßenkämpfen, von gesellschaftlichen und politischen Turbulenzen.

Der 7. Mai 1929 verspricht für Berlin ein idyllischer Frühlingstag zu werden. Zwar ist der Morgenhimmel bewölkt, doch die Wettervorhersage verheißt sechs bis sieben Stunden Sonnenschein. Nach einer warmen Nacht mit zweistelligen Temperaturen soll das Thermometer am Nachmittag auf über zwanzig Grad steigen.

Bei Sonnenaufgang sind die Kopfsteinpflasterstraßen der stillen Villenvororte im Südwesten der Hauptstadt erfüllt vom Gesang der Amseln und Rotkehlchen; satt leuchten die blühenden Rhododendren unter den Bäumen der Park- und Gartengrundstücke. Auch die Fliederbüsche stehen in voller Blüte und tauchen das ganze Viertel in einen süßen Duft.

Nahe der Dahlemer U-Bahnstation Thielplatz – noch endet hier die Linie, die im nächsten Jahr die Badestrände der Krummen Lanke mit sonnenhungrigen Großstädtern füllen wird – herrscht ab 10 Uhr Großbetrieb: Festlich gekleidete Menschen reisen an, die Damen haken sich unter bei ihrer Begleitung und stöckeln auf hohen Absätzen ein paar Dutzend Meter die Ihnestraße hinunter zu einem zweieinhalbstöckigen Backsteinbau. In dessen überdachter Zufahrt warten bereits zwei grün Livrierte auf die großen Limousinen und Landaulets, mit denen die Prominenz aus Wirtschaft und Politik, aus Kultur, Gesellschaft, Forschung und Lehre vorfahren wird. In den eigens angeschafften »Grüße-Mützen« des Empfangskomitees schimmert die eingestickte Silhouette der Minerva: Die römische Göttin der Weisheit, Hüterin des Wissens, ist das Emblem des Hausherrn, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Noch ist der Neubau nicht komplett eingerichtet. Die Teppiche, die an diesem Tag ausliegen, mussten geliehen werden; der große Weinkeller ist noch leer. Doch in ihrer förmlichen Einladung hat die KWG angekündigt: Um elf Uhr wird die Einweihungsfeier des Harnack-Hauses beginnen – jenes Gebäudes, das künftig als Club- und Gästehaus der ebenso honorigen wie ambitionierten Forschungsorganisation dienen soll. Deren Dahlemer Campus mit damals sieben Instituten, die sich auf dem weitläufigen Gelände einer ehemaligen preußischen Staatsdomäne verteilen, wird durch das Harnack-Haus nach Norden abgeschlossen.

Namenspatron ist der Wirkliche Geheime Rat Adolf von Harnack, der für seine Verdienste um die deutsche Wissenschaft geadelte und immer noch amtierende Gründungspräsident der KWG, der heute zugleich seinen 78. Geburtstag feiert: Ein weltweit renommierter Religionswissenschaftler und Kirchengeschichtler, Kanzler des Ordens Pour le Mérite und Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und Vorkämpfer eines bürgerlich-liberalen Kulturprotestantismus, der unter anderem auch für Frauenrechte eintritt, etwa das Recht auf Bildung.

Gut 400 Gäste haben sich an jenem Mai-Morgen eingefunden im Goethe-Saal, dem größten Raum des Harnack-Hauses. Zu den Eingeladenen zählen alle Berliner Institutsdirektoren, alle Wissenschaftlichen Mitglieder und Angestellten der KWG, aber auch das diplomatische Corps der Hauptstadt, Reichstagsabgeordnete, Minister und oberste Vertreter der Reichs-, Landes- und Stadtverwaltungen. Die Begründer eines völlig neuen Naturverständnisses wie Max Planck und Max von Laue werden neben Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und Mäzenen wie Kaufhausmagnat Georg Wertheim und Paul Schottländer sitzen, Letzterer auch ein einflussreicher KWG-Senator. Konzernkapitäne wie Carl Duisberg vom weltgrößten Chemie-Unternehmen IG Farben und Carl-Friedrich von Siemens sollen sich zu ranghohen Militärs gesellen.

Frühzeitig abgesagt hatte nur der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg; er lässt stattdessen ein Glückwunschtelegramm schicken. Seine Abwesenheit ist nicht weiter schlimm, denn auf dem Programm stehen genug Vorträge und Grußworte einflussreicher und angesehener Persönlichkeiten: Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der Industriemagnat und Vizepräsident der KWG, wird für den Kreis der privaten und wirtschaftsnahen Förderer sprechen. Danach soll Außenminister Gustav Stresemann über die internationalen Aspekte des Club- und Gästehauses reden. Als Friedensnobelpreisträger des Jahres 1926 steht der liberale Politiker für die Wiederaufnahme Deutschlands in die Völkergemeinschaft, von der das Land wegen seines martialischen Nationalismus im Ersten Weltkrieg gemieden wurde. Aufgrund von Stresemanns Diplomatie bei der Konferenz von Locarno konnte die junge deutsche Republik zu einem vollwertigen Mitglied des 1920 gegründeten Völkerbundes werden, der Vorläufer-Organisation der Vereinten Nationen. Eine so international angelegte Institution wie das Harnack-Haus war also ganz in Stresemanns Sinn.

Für die akademische Gemeinde Berlins sprechen Medizinalrat Wilhelm His, Rektor der Universität, gefolgt von Fritz Haber, dem Chemie-Nobelpreisträger von 1918 und Direktor des später nach ihm benannten Instituts für Physikalische Chemie in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Stresemann adressiert zunächst den Hausherrn und Namensgeber, seinen Bruder im Geiste des Internationalismus und der Völkerverständigung: Einen »Förderer der kulturellen Weltgeltung Deutschlands und der deutschen Kulturpolitik im Auslande« nennt er Adolf von Harnack. »Ein Haus der Freundschaft haben Sie dies Haus genannt«, rühmt der Außenminister das Konzept der neuen Begegnungsstätte: »Und es hieße, an der Zukunft der Menschheit verzweifeln, wenn nicht durch geistige Freundschaft unter denen, die doch aufgrund ihrer Kenntnisse vom menschlichen Leben führend sein sollen, Fortschritt erzielt werden könnte in den so jäh unterbrochenen Beziehungen der Völker.«

Die emphatischste der vielen Reden hält jedoch US-Botschafter Jacob Gould Schurman – in tadellos gedrechseltem Deutsch. Als junger Mann hat er unter anderem in Heidelberg und in Berlin studiert, als ehemaligem Präsidenten der privaten Cornell University in Ithaca, New York, liegen ihm Themen aus der akademischen Forschung nahe. So begeistert er sich für das aus seiner Sicht bahnbrechende Konzept des Harnack-Hauses: Schurman sieht es als Begegnungsstätte für Gelehrte aller Fachrichtungen, als Ort des internationalen Austauschs für Führer aus »Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Kunst«.

Wörtlich sagt Schurman: »Der Hauptzweck des Harnack-Hauses (…) ist nicht ein wissenschaftlicher, sondern ein sozialer und im besten Sinne des Ausdrucks menschlicher Zweck (…) Fern dem lauernden Geräusche und der Bewegung einer großen, modernen Hauptstadt,« schwärmt der Amerikaner, werde sich das neue Club- und Gästehaus zu einem »gesellschaftlichen Mittelpunkt« entwickeln für die Mitglieder »intellektueller Kreise«. Er sollte recht behalten: Im Harnack-Haus werden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 35 Nobelpreisträger Quartier gefunden, Vorträge gehalten oder sich mit den sozialen, kulturellen und geistigen Größen ihrer Zeit getroffen haben. Das Club- und Gästehaus der KWG wird zum Magneten für Dichter und Denker aus aller Welt, zu einer Stätte für ausgelassene Feste und Feiern. Und schließlich zu einem Hort der Humanität.

In seinem Ausblick zählt der Diplomat »die ausländischen Gelehrten und Wissenschaftler, die im Harnack-Haus leben werden, zu den glücklichsten aller Menschen«. Für den Fall, dass er selbst »glücklich genug sein sollte, die Vorbedingung für eine Einladung zu erfüllen«, verspricht er, »jenen Nächten und Mahlen der Götter beizuwohnen«.

Der Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber spricht kürzer und nicht gar so blumig, doch nicht weniger pathetisch. Zunächst vergleicht er die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit einer »gefürsteten Abtei« des Mittelalters – um sich dann über deren »neues Refektorium« in Gestalt des Harnack-Hauses zu freuen, das »zur Pflege des Zusammenhangs mit anderen Bruderschaften und untereinander« dienen soll. Auch Haber blickt in eine bessere Zukunft. »Wir werben hier um Ihre Seele«, ruft er am Ende seiner Ansprache dem Publikum zu. »Wir werben darum, in der Hoffnung, dass Sie (…) in der Welt draußen, in der Sie (…) groß und mächtig sind, reden werden (…), damit unsere Sache wächst und bestehen bleibt, die heute im Werden ist. Und wir denken, Sie werden Freude haben, wenn Sie es tun; denn unsere Sache ist eine, die jeden erhöht und steigert, der für sie wirkt und wirbt.«

Während des sich anschließenden Empfangs gibt es Führungen durchs Harnack-Haus. Der Münchener Architekt Carl »Carlo« Sattler, entfernt verschwägert mit KWG-Generaldirektor Friedrich Glum und neuerdings Hausbaumeister der Forschungsorganisation, zeigt stolz sein jüngstes Werk: Großzügige 21.350 Kubikmeter Raum hat er im »Heimatschutzstil« umbaut, also mit vornehmlich rechteckigen Grundrissen, Gaubenkonstruktionen in hohen, ziegelgedeckten Walmdächern und mit einer flächigen, durch rechteckige Fenster kleinteilig gegliederten Backsteinfassade.

Falls dies nicht die Ansprüche der Journalisten und Kritiker erfülle, die möglicherweise eine Modernität im Stil der »Neuen Sachlichkeit«, am Ende gar eine plakativ-nüchterne, ultrafunktionale Ästhetik der Bauhaus-Architektur erwarten, so bitte er um Entschuldigung, gibt Sattler der angereisten Tagespresse zu Protokoll: Er habe sich zu vielen Sachzwängen beugen müssen – etliche Beiträge, die für den Bau des Harnack-Hauses von Privatleuten oder Unternehmen geleistet wurden, hatten den Projektleiter als Sachspenden erreicht, vom Stahlbetonträger über Röhren und Leitungen bis zum Elektrokabel.

Die gemeinsame Botschaft von Sattlers Bescheidenheit und den Höhenflügen der Redner lautet in etwa: Das geistige Niveau des Harnack-Hauses soll luxuriöse Höhen erreichen – aber bitteschön in bescheidener Kulisse und mit Straßenanzug als Dresscode. Anders gesagt: Die Forscher der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mögen die Aristokraten der Wissenschaften sein – ihre Organisation hat sich jedoch nicht etwa einen Palast geleistet, sondern ein ziemlich bürgerliches Club- und Gästehaus.

Dabei kann sich Sattlers Leistung durchaus sehen lassen: Neben dem dreiflügeligen Hauptbau schließt sich, durch einen überdachten Flur verbunden, ein keilförmiges Hörsaalgebäude mit bogenförmiger Rückfassade an. In dessen aufsteigenden Klappstuhlreihen finden rund 300 Zuhörer Platz. Unten auf der Bühne stehen eine Experimentierbank und ein elektrischer Schaltschrank, eine mehrgliedrige, in den Boden versenkbare Tafel, eine Projektionsleinwand und alles Weitere, was ein wissenschaftliches Auditorium braucht. Hier werden die bald berühmten »Dahlemer Medizinischen Abende« und die »Dahlemer Biologischen Abende« stattfinden, zu denen der Physiologieprofessor Wilhelm Trendelenburg und der Biochemiker Otto Heinrich Warburg, Medizin-Nobelpreisträger von 1931, künftig regelmäßigen laden. Der Helmholtz-Hörsaal, wie er bald genannt wird, hat eine eigene überdachte Auto-Vorfahrt. Bald wird auch noch eine komplette Anlage für Tonfilmvorführungen installiert – inklusive einer kleinen Kabine für den Vorführer: in den frühen 1930er Jahren eine Ausstattung auf dem neuesten Stand der Technik.

Im Hauptgebäude haben neben dem großen Goethe-Saal etliche kleinere Veranstaltungsräume Platz: etwa das Mozart-Zimmer für Musik-Aufführungen oder das 30 Personen fassende Humboldt-Zimmer mit der angrenzenden Bibliothek. Im Liebig-Gewölbe – Hausherr Adolf von Harnack ist verheiratet mit einer Enkelin des Chemie-Pioniers Justus von Liebig, Begründer des Südchemie-Konzerns – befindet sich das Restaurant, in dem bis zu 180 Gäste an kleinen Tischen Platz haben. Für die Beschäftigten der benachbarten Institute wird hier wochentäglich ein »einfaches, gut zubereitetes Mittagessen zu mäßigen Preisen« angeboten, wie der Hausprospekt wirbt.

In den oberen Stockwerken sind die Zimmer, Suiten und Wohnungen für bis zu 25 Logiergäste untergebracht. Viele der Unterkünfte haben eine eigene Nasszelle, was in den 1920er Jahren noch nicht selbstverständlich ist. Im Seitenflügel gibt es eine Turnhalle mit Duschen und Umkleideräumen. Am Rand der viele Tausend Quadratmeter großen Anlage, hinter dem Garten, wurden drei Tennisplätze angelegt.

Die festliche Eröffnung des Harnack-Hauses findet in der Atmosphäre eines Bürgerkriegs statt: In der Woche vor der Feier waren in Berlin mindestens 38 Menschen bei Unruhen zu Tode gekommen; die Polizei hatte aus gepanzerten Fahrzeugen mit Maschinengewehren auf streikende und demonstrierende Arbeiter geschossen, über 250 Menschen wurden dabei verletzt. Anlass für den Einsatz war eine Demonstration am 1. Mai, dem »Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse«, zu der die Kommunistische Partei aufgerufen hatte. Sie wollte damit bewusst ein Verbot politischer Versammlungen unter freiem Himmel durchbrechen, das der Berliner Polizeipräsident schon im Jahr zuvor erlassen und das der Innenminister noch im März auf das gesamte Land Preußen ausgedehnt hatte.

Obwohl sich nur 8000 Aktivisten an den Straßenumzügen der KPD beteiligen, löst die massive Polizeigewalt einen Aufstand aus, dessen Häuserkampf, Generalstreik und Massenverhaftungen erst durch ein »Verkehrs- und Lichtverbot« beendet werden kann: Nächtelang herrschen Verdunklung und eine strenge Ausgangssperre in großen Teilen von Berlin. Straßenseitige Fenster müssen geschlossen bleiben. Erst am 6. Mai, am Tag vor der Eröffnungsfeier in Dahlem, wird der Ausnahmezustand wieder aufgehoben. Bis dahin waren 1228 Menschen festgenommen worden, die Ordnungskräfte hatten 11.000 Schuss Munition verschossen.

In einer von Klassenkampf und nationalistischen Parolen, rassistischer Hetze und sozialrevolutionären Ideen aufgeladenen Atmosphäre öffnet das Harnack-Haus seine Türen – als ein Idyll für einen offenen und vertraulichen Austausch, als Labor für neue Ideen und Projekte und als internationale Begegnungsstätte.

Von der ersten Idee für ein Club- und Gästehaus bis zu dessen Eröffnung im Mai 1929 war es ein mühsamer Weg gewesen. Rund drei Jahre lang hatten KWG-Präsident Harnack und Generaldirektor Friedrich Glum in Ministerien antichambriert, hatten Millionenbeträge bei Mäzenen und Sponsoren eingesammelt, Gremien der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Entscheider in der Politik überzeugt, Partnerorganisationen im In- und Ausland gewonnen für das große Projekt, das allenfalls international entfernte Vorbilder hatte, somit für Deutschland Maßstäbe setzte.

Friedrich Glum, habilitierter Jurist mit einem zweiten Doktortitel in Nationalökonomie, war 1920 im Alter von 29 Jahren zum Generalsekretär der KWG ernannt worden. Er verstand sich gut mit Harnack, nahm dem betagten Präsidenten jede lästige Alltagspflicht, jede organisatorische Nebenaufgabe ab und machte sich dessen zentrale Ideen zur Wissenschaftspolitik, zur Aufgabe der Forschung in einer Industriegesellschaft, zur Weiterentwicklung der KWG und zum Aufbau einer akademischen Exzellenz im ärmlichen Nachkriegsdeutschland zu eigen. Glums Geschick in Finanzfragen hat die KWG zu verdanken, dass sie in den 1920er Jahren die Wirren und Stürme der Hyperinflation einigermaßen unbeschadet überstehen konnte.

Als Dank für seine Verdienste wird Friedrich Glum im Jahr 1927 zum Generaldirektor befördert. Das Gehalt, das ihm die KWG in den Folgejahren zahlt, übersteigt das des Preußischen Ministers für Erziehung und Kultur, dem offiziellen Aufsichtsführer über die KWG.

Zudem konnten Glum und seine rasch wachsende Familie schon im Jahr 1925 den Neubau einer geräumigen Villa auf dem Forschungscampus im Nobelvorort Dahlem beziehen. Zwar schreibt der Wissenschaftsmanager in seinen Lebenserinnerungen, er sei »nicht ganz einverstanden« gewesen, im Berliner Südwesten »dem Klatsch und dem Neid von Direktoren- und Assistentenfrauen« ausgesetzt zu sein. Doch zugleich freute er sich, dass Architekt Carl Sattler das Haus seinem, Glums, »Wunsch entsprechend in einem süddeutschen Stil mit einem ausgebauten hohen Dach und mit Fenstergittern, wie man es oft in barocken Häusern auf dem Lande findet«, errichtet hatte.

Nach dem Umzug in seine »Generaldirektorenvilla« widmet sich Glum dem Projekt eines Club- und Gästehauses, das nach Harnacks Ideen als geistig-kulturelles Zentrum der KWG-Gemeinde in Dahlem errichtet werden sollte. Der Gründungspräsident hatte die Wissenschaftsorganisation nach den Prinzipien einer modernen Leistungselite konzipiert: Ausgestattet mit einem respektablen Budget aus staatlicher Grundfinanzierung, verstand sich der eingetragene Verein nie als Geldverteilungsapparat. Anders als etwa in den honorigen Akademien der Wissenschaften ging es in der KWG weniger um das gegenseitige Schulterklopfen der Mitglieder oder um den Erhalt von Privilegien aus der Vergangenheit. Stattdessen sollten die KWG-Forscher mehr oder weniger täglich neues Wissen schaffen, Erkenntnisse formulieren und verbreiten. Leistung erbringen zugunsten der Gesellschaft, die diese Leistung durch ihre öffentlichen Gelder, durch Mäzene und Stifter ermöglichte und honorierte, aber auch für die gesamte Menschheit. Die Forscher sollten Verantwortung übernehmen für das geschaffene Wissen und seine Anwendungen.

Diese Leistung, das hatte Harnack trotz seines theologischen Hintergrunds besser verstanden als viele seiner Zeitgenossen, konnten die Naturwissenschaften im Zeitalter der Moderne nicht mehr allein durch Experimente erbringen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert hatten zunächst Max Planck durch seine Quantenlehre, wenig später dann Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie die Theoretische Physik zur Krönung dieser Disziplin gemacht – und Theorie braucht Austausch. Weshalb die KWG den Dialog unter ihren Mitgliedern, aber auch mit ausländischen Gästen und Kollegen und mit Fachfremden mindestens ebenso hochhielt wie das präzise Experimentieren. Für diesen umfassenden Austausch benötigte die KWG ein Forum mit ähnlichem Potenzial und mit Kapazitäten wie die Labore der Physiker, Chemiker, Materialwissenschaftler und Biologen.

Dieses Forum sollte nun mit dem Club- und Gästehaus geschaffen werden. Die Begegnungsstätte sollte jenen Forschungscampus ergänzen, den die KWG nach dem Vorbild anglo-amerikanischer Elite-Universitäten schon vor dem Ersten Weltkrieg in Dahlem geschaffen hatte und der bis heute als ideale Form des Wissenschaffens gilt: als Quell für technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt, für Innovationen und wirtschaftliches Wachstum. Vergleichbar in etwa mit der Rolle als akademischer Motor und geistiges Zentrum, die heute der privaten Stanford-Universität für das Silicon Valley zukommt.

Im Frühjahr des Jahres 1926 beschließen Verwaltungsausschuss und Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft das Projekt. Von nun an ist es an Glum und Harnack, die Mittel aufzutreiben, das Bauvorhaben voranzubringen. Glum verfasst eine »Denkschrift«, in der er auf die volkswirtschaftliche Bedeutung eines internationalen Wissenschafts-Austauschs hinweist und dann das Konzept für ein Gästehaus umreißt, das »auch ein Gartengelände haben und die Möglichkeit zu sportlicher Betätigung« bieten soll.

Die nun folgenden Gespräche führen die beiden hauptamtlichen KWG-Chefs zum Außenminister Gustav Stresemann, sogar zum Reichskanzler Wilhelm Marx. Der erkennt sofort, dass die KWG mit ihrem Club- und Gästehaus die fatale Isolation durchbrechen kann, in die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geraten war – politisch, kulturell, wirtschaftlich –, und unterstützt das Vorhaben: Die Wissenschaft, sagt Kanzler Marx in einer Tischrede, sei der Politik »vorangegangen«: Sie habe »viel früher als die Diplomatie die Wege zu den Ländern, die uns Gegner geworden waren, wieder gefunden – glanzvoll und bahnbrechend«.

Mithilfe des Prälaten Georg Schreiber, eines einflussreichen Abgeordneten der Zentrumspartei und Senators der KWG, wird das Projekt Harnack-Haus, wie es nun genannt wird, im Reichstag genehmigt. Insgesamt zahlt die öffentliche Hand 1,9 Millionen Reichsmark für den Bau, der schwer bezifferbare Preis für das gespendete Grundstück (Schätzungen kalkulieren eine Million Reichsmark) ist hier nicht eingerechnet.

Die Inneneinrichtung soll ausschließlich aus privaten Spenden angeschafft werden. Mit mehreren Aufrufen, die Friedrich Glum an die Wissenschaftlichen Mitglieder der KWG