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Zurück in Cold Spring. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Packend, berührend und emotional - der zweite Band der Cold Spring Reihe Elea Stone flüchtet zu ihren Eltern nach Cold Spring. Ihr Leben steht kopf und das in allen Bereichen. Sie begegnet dem geheimnisvollen, zugleich düster wirkenden Brayden Bishop. Er bietet ihr nicht nur einen Job an, sondern entflieht mit ihr in eine Welt, die fernab von ihren und seinen Problemen ist. Doch wie lange kann man all seine Sorgen und Schwierigkeiten ausblenden? Plötzlich überschattet die beiden ein tosender Sturm aus Geheimnissen, der alles zerstören könnte. Dieses Buch kann unabhängig von den anderen Büchern der Autorin gelesen werden, jedoch für ein besseres Leseerlebnis, empfiehlt die Autorin mit Band 1 der Cold Spring Reihe zu beginnen.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Impressum:
Copyright © 2021 Eva Perkics
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Kopie oder anderweitige Verwendung ist nur mit schriftlicher Genehmigung von Seiten der Autorin gestattet.
Lektorat und Korrektorat: Sabrina Cremer Textwerkstatt
Umschlaggestaltung: ©Ria Raven Coverdesign, verwendete Fotos von ©Shutterstock
E.M. Prutsch
Schubertgasse 12
A- 8200 Gleisdorf
Alle in diesem Buch geschilderten Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Geschäftseinrichtungen, Ereignissen oder Schauplätzen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Hoffnung ist das, was bis zum Schluss bleibt.
1. Elea
2. Brayden
3. Elea
4. Brayden
5. Elea
6. Brayden
7. Elea
8. Brayden
9. Elea
10. Brayden
11. Elea
12. Elea
13. Brayden
14. Elea
15. Brayden
16. Elea
17. Brayden
18. Elea
19. Brayden
20. Elea
21. Brayden
22. Elea
23. Brayden
24. Elea
25. Brayden
26. Elea
27. Brayden
28. Elea
29. Brayden
30. Elea
31. Brayden
32. Elea
33. Brayden
34. Elea
Danksagung
Bücher von Eva Perkics
Über den Autor
Das Geräusch von brechenden Ästen knarzt unter meinen Füßen, während ich tiefer in den Wald hineinlaufe. Ein warmer Wind peitscht mir zugleich ins Gesicht. Die Äste vollführen einen Tanz, schwingen mit der Welle des Sturms mit. Ich sollte Angst verspüren, wenn ich im Wald ganz allein mit dem Gewitter, das mir im Rücken sitzt, um die Wette laufe.
Ein lautes Grollen ertönt und kurz zucke ich zusammen. Ducke mich, als könnte ich mich dadurch schützen, nicht von einem Blitz getroffen zu werden. Ich allein, mit der Naturgewalt um mich und in mir. Denn nicht nur im Außen tobt ein Gewitter, sondern auch in meinem Inneren. Mein Puls rast im Eiltempo, lässt aber meinen Kopf langsam leer werden. Alles um mich herum versinkt in diesem Chaos aus Angst, Wut und Verzweiflung.
Vor wenigen Stunden habe ich es in Dads Augen gesehen. Er hat so wie ich die Hoffnung begraben, glaubt auch nicht mehr an eine Heilung von Mom. Alle meine Geschwister haben sich mit meinen Eltern auf eine intensive Umarmung eingelassen. Nur ich nicht. Ich kann nicht so tun, als würde ich glauben, alles würde wieder gut. Ihr Tumor ist bösartig, was das bedeutet, ist glasklar. Sie wird sterben und egal, was die anderen behaupten, sie wird den Kampf gegen den Krebs verlieren. Es mag negativ klingen, aber in den letzten Wochen bin ich wohl zu einer Pessimistin mutiert. Damals wurde mir alles genommen, das mich als Frau fühlen lässt. Nie mehr werde ich die Elea sein, die ich vor genau vierunddreißig Tagen und sechs Stunden war. Jeden Tag, jede Stunde zähle ich, seit mir die Weiblichkeit entrissen wurde. Der Tag, der meine Zukunft in ein anderes Licht rückte. Ich habe mich in meinem Inneren verändert, dadurch wandelte sich auch mein Äußeres. Von der im Kostüm gekleideten Elea wurde ich zu der Schlabberlookträgerin, die ihre weiblichen Züge unter weiten T-Shirts und Jogginghose verstecken möchte. Ich bin keine wirkliche Frau mehr. Zumindest für mich nicht.
Keine meiner Schwestern weiß, was passiert ist. Nur meine Eltern, da ich ihnen eine Erklärung liefern musste, warum ich kurzfristig mein Studium auf Eis legte und zurück nach Cold Spring kehren wollte. Sie fielen nicht darauf rein, als ich ihnen erklärte, dass ich mich ausschließlich um Mom kümmern möchte. Meine Mutter ist zu gut im Mimiklesen und sie ahnte sofort, dass etwas passiert war.
Eigentlich sollte ich noch nicht wie eine Wilde durch den Wald laufen, sondern mich schonen. Aber es ist mir egal. Mittlerweile spüre ich nur Gleichgültigkeit gegenüber meinem Körper. Er ist für mich nichts mehr wert.
Ich erreiche einen Maschendrahtzaun, der ein großes Loch hat. Vorsichtig drücke ich ihn ein Stück auseinander und krabble hindurch. Vor Jahren habe ich dieses verlassene Grundstück entdeckt. Eine Blockhütte versteckt tief im Wald, die mich aber nicht interessiert. Mit schnellen Schritten folge ich dem schmalen Pfad und lande schlussendlich bei einer kleinen Lichtung. An diese Stelle komme ich in den letzten zwei Wochen einmal am Tag, setze mich auf die hohe Wiese und starre ins Leere. Hin und wieder beobachte ich Rehe, die langsam durch das Gras gehen. Heute bin ich zu erschöpft, lasse mich auf den Rücken fallen und blicke hinauf gen Himmel. Die dunkelgrauen Wolken brauen sich zu einer großen schwarzen Wolkendecke zusammen. Durch den starken Sturm kann man die Bewegung am Himmel deutlich erkennen. Wieder erklingt ein lauter Donnerschlag. Viele Menschen haben vor Gewitter Angst, ich hingegen hoffe, dass mich ein Blitz trifft und ich nie mehr aufwache. Ein dicker Regentropfen prallt auf meine Stirn, ein weiterer landet auf meiner Wange. Es könnten die unzähligen Tränen sein, die ich heimlich in meinem Zimmer vergossen habe. Mittlerweile sind sie vertrocknet. Nicht weil ich mich wieder glücklich fühle, sondern weil ich mich überhaupt nicht mehr spüre. Als wäre mein Körper meiner Seele beraubt worden und vielleicht ist das auch passiert.
Ich schließe meine Lider, lausche der Musik des Unwetters, welches sich stetig näher auf mich zubewegt. Im Außen ist alles laut und in meinem Inneren wird es langsam still. Keine unliebsamen Menschen, die mir unzählige Fragen stellen könnten. Keine Leute, die mir einen blöden Spruch entgegenschleudern. Niemand außer mir und das Gewitter. Kurz wird der Himmel hell erleuchtet.
Ich zähle in Gedanken »Einundzwanzig, zweiundzwanzig«, ein lauter Donnerschlag dröhnt durch die Luft. Nicht mehr lange und das Gewitter ist genau über mir.
Ich setze mich auf in den Schneidersitz, lege meine Hände auf den Knien ab und beginne zu meditieren. Die Lider weiterhin geschlossen, lasse ich mich von der Welle des Sturms treiben. Schwinge meinen Körper langsam nach rechts und links. Summe vor mich hin, als würde ich jemandem ein Lied vorsingen. Noch nie war ich musikalisch und auch jetzt treffe ich definitiv keinen Ton, aber hier draußen ist es egal. Hier interessiert sich niemand, ob ein gerader Ton aus mir herauskommt oder nicht. Mittlerweile sinke ich tiefer in einen Trancezustand. Sogar die Donnerschläge rücken in den Hintergrund. Augenblicklich ist es überall still. Ich atme ein und aus, als ich plötzlich eine Berührung auf meiner Schulter spüre.
»Sind Sie denn völlig wahnsinnig?«, schreit ein Mann, der genauso gut der Sensenmann sein könnte. Er hat eine schwarze Regenjacke an und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass ich nur seine Lippen sehen kann. Er brüllt auf mich ein, doch irgendwie hänge ich noch immer meiner Stille nach. Ich verstehe nicht, was er hier macht. Er zerrt mich an meinem Arm hoch und zieht mich hinter sich her.
»Wollen Sie sich bei diesem Wetter umbringen?«, schleudert er mir den nächsten Vorwurf hin, der an meiner visuellen Schutzwand, die ich mir vorhin aufgebaut habe, abprallt. Die meisten verstehen nicht, wenn ich über das Meditieren spreche und wie gut es mir tut. Nur durch die Meditation habe ich einen Weg gefunden, überhaupt zu überleben.
Wir kommen zu einem Weg, auf dem sich ein großer Range Rover befindet. Schwarz und mit verdunkelten Seitenscheiben sieht er aus, als wäre er für die CIA gebaut. Noch immer verstehe ich nicht, warum dieser Typ hier draußen unterwegs ist. Er öffnet die Beifahrertür. »Steigen Sie schon ein, ich fahre Sie zur Stadt.«
Ich schüttle energisch den Kopf. »Ich gehe zu Fuß«, kontere ich und starre auf seine Lippen, die gleichmäßig geformt sind, die jedoch kein Lächeln preisgeben. Zeitgleich umhüllt uns ein tosender Sturm, sodass meine Haare wild um mein Gesicht herumfliegen.
»Jetzt stellen Sie sich nicht so an, ich werde Sie schon nicht entführen. Haben Sie nicht bemerkt, dass ich Sie gerade vor diesem Unwetter rette?« Ein lauter Donnerschlag erklingt. Die Natur wütet um uns herum, die Regentropfen verdichten sich, weshalb ich Mühe habe, ihn überhaupt zu erkennen. Meine Klamotten tränken sich in dem Platzregen.
Vielleicht möchte ich gar nicht gerettet werden? »Aber …«
»Jetzt kommen Sie schon«, unterbricht er meine weiteren Einwände etwas ruhiger.
Ich weiß nicht einmal, wie er heißt oder wie sein Gesicht aussieht. Trotzdem steige ich in den Range Rover und kurz darauf schließt er die Beifahrertür, umrundet den Wagen und setzt sich neben mich.
Noch immer versperrt mir die Kapuze die Sicht in sein Gesicht, als sein Motor aufheult. Wir fahren auf einem Weg entlang, der nur für geländegängige Autos geschaffen ist. Er ist uneben und plötzlich geht es steil bergauf. Kurz darauf kommt eine starke Rechtskurve und ich blicke einen tiefen Abgrund hinab. Obwohl ich nicht weiß, ob der Typ Ahnung hat, was er da tut, verspüre ich keine Angst. Wenn mich schon kein Blitz trifft, vielleicht falle ich samt Geländewagen den Hang hinunter? Die Chancen würden gut stehen, dass sich der Wagen überschlägt und ich nicht lebend rauskomme.
Vor wenigen Wochen hatte ich noch nicht solch schlimme Gedanken, hatte allen Lebensmut in mir. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Die Lust am Leben habe ich verloren. Wie wird meine Zukunft aussehen? Welchen Sinn erfülle ich überhaupt noch?
Der Wagen schaukelt auf dem unebenen Untergrund. Ich schiele zu dem Mann, der beide Hände auf dem Lenkrad hat und konzentriert nach vorne blickt. Durch das Unwetter werden wir von einer Dunkelheit eingehüllt und nur seine Scheinwerfer zeigen ihm den Weg. Als wir eine asphaltierte Straße erreichen, gebe ich ein Seufzen von mir.
»Wohin soll ich Sie fahren?«, fragt er und dreht den Kopf in meine Richtung. Wieder erkenne ich nur seine Lippen.
»Nach Cold Spring«, antworte ich karg.
»Das heißt jetzt nach rechts oder links?«
»Links.« Aus dieser Gegend kann er unmöglich sein, sonst wüsste er genau, wie man nach Cold Spring gelangt. Es sind nur wenige Kilometer. Er schiebt seine Kapuze herunter und nun sehe ich sein Gesicht von der Seite. Ein leichter Bartschatten liegt auf seiner Wange, seine Haare sind etwas länger und mit Gel zurückgelegt. Ob er ein Mafiaboss ist, der seine Drogen im Wald versteckt hat? Vielleicht ist das ein Umschlagplatz, von dem ich bisher nichts wusste?
Während er den Wagen lenkt, zieht er sich die Regenjacke aus. Ein weißes T-Shirt haftet eng an seinen harten Muskeln, mein Blick wandert zu seinen breiten Unterarmen, die in bunten Farben tätowiert sind. Ein Schmetterling und ein Datum erkenne ich darauf.
Seine Ausstrahlung wirkt düster und für jemanden, der gerne am Leben bleiben möchte, könnte es gut sein, dass er angsteinflößend wirkt. Doch ich fürchte mich nicht. Wir erreichen das Ortsschild Cold Spring.
»Wo wohnen Sie?«, fragt er, als ein Wagen vor uns anhält und auch wir dadurch zum Stehen kommen. Wahrscheinlich weil die Scheibenwischer die Unmengen an Wasser, die von oben runterfallen, nicht mehr bewältigen können.
»Am besten halten Sie vorne beim Supermarkt.«
Er wendet sich mir zu und sieht mich aus dunkelbraunen Augen an, die ihn noch unergründlicher aussehen lassen. »Sie wollen unbedingt in diesem Starkregen zu Fuß weiter?«
»Vielleicht wohne ich ja beim Supermarkt?« Ich lege den Kopf schief.
»Na, dann.« Der rote Chevrolet vor uns fährt los und auch der Typ setzt sein Auto in Gang.
Kurz darauf parkt er seinen Range Rover vor dem Geschäft. »Vielen Dank fürs Mitnehmen«, erwidere ich und steige aus dem Wagen. Ich warte nicht auf Antwort, sondern renne los. Der Regen prasselt auf mich nieder. Ich bin auf der Flucht, vor meinem Leben, vor meinen Mitmenschen und vor allem vor Leuten, die ich nicht kenne. Ich habe nicht vor, mit Personen zu reden, die ich noch nie in dieser Stadt gesehen habe. Der Typ ist mir egal, ich bin ihm nicht einmal dankbar, dass er mich aufgegriffen und vor dem Unwetter gerettet hat. Vielleicht täte ich das, wenn ich mich in einer anderen Lebenssituation befinden würde. Der Himmel ist dunkel wie meine Seele auch. Wenige Schritte trennen mich von meinem Elternhaus. Früher war es für mich das Haus, das mein Leben zum Strahlen gebracht hat. Heute habe ich Angst davor, was mich darin erwarten wird.
Ich reiße die Eingangstür auf, schlüpfe aus meinen nassen Turnschuhen und höre Dad meinen Namen rufen. Als hätte er geahnt, dass ich gerade kommen würde. Doch ich reagiere nicht, sondern laufe mit den in Wasser getränkten Klamotten nach oben in mein Zimmer. Ich schließe die Tür und lasse meinen Rücken gegen das harte Holz fallen. Ich seufze laut auf. Die Stille, die ich vor wenigen Minuten in mir gespürt habe, ist irgendwo zwischen Wald und zu Hause verschwunden. Da mein ganzer Körper zittert, schleppe ich mich zum Kleiderschrank und greife nach einem schwarzen T-Shirt, einer Jogginghose und frischer Unterwäsche. Dann husche ins Badezimmer, versperre hinter mir die Tür und gehe duschen.
Vor wenigen Wochen war mir mein Äußeres unsagbar wichtig. Ebenso was andere Menschen von mir denken. Damals ging ich nicht einmal ungeschminkt außer Haus. Heute fühlt sich das alles unwirklich an. So als hätte ich nie existiert. Als hätte ich vor wenigen Wochen meine Vergangenheit, mein ganzes Sein die Toilette runtergespült. Indirekt ist es auch so passiert. Ich habe mit Dylan, meinem Freund, Schluss gemacht. Er hat meine Veränderung nicht verkraftet und mich überhaupt nicht verstanden. Für mich ist jetzt klar, ich kann mein Leben nur allein bestreiten. Ich und mein Körper sind nicht geschaffen für eine Partnerschaft. Seit damals verhülle ich mich unter diesen weiten Klamotten. Es ist für mich und auch für jeden Mann das Beste.
Ich habe Dylan auf eine schräge Weise geliebt, zumindest glaube ich das. Zwar habe ich meinen Eltern oder meinen Geschwistern nie von ihm erzählt, aber er war ein Teil von meinem Leben, seit ich auf das College gehe. Ich habe ihn in der ersten Woche dort kennengelernt und er hat mich mit seiner charmanten Art um den Finger gewickelt. Doch man kann das Leben nicht durchplanen und es kommen Hindernisse, die man niemals in Erwägung gezogen hätte. Die einen Entscheidungen treffen lassen, die alles verändern.
Und nun stehe ich in meinem Elternhaus unter der Dusche und unzählige Bilder schwirren in meinem Kopf herum. Was soll ich weiter tun? Meine Mutter, die einen wichtigen Anker für mich darstellt, hat einen Tumor im Kopf. Sie hat mir immer Halt gegeben, wenn ich ihn brauchte. Doch wer hält mich jetzt? Ich versinke in meiner Angst vor dem Ungewissen.
Tränen bahnen sich aus meinen Augen, obwohl ich glaubte, sie seien schon lange versiegt. Ich kann mich nicht ewig in meinem Zimmer verkriechen. Um wieder ein normales Leben zu führen, muss ich mich aufraffen. Doch was ist normal? Mein Leben wird nie mehr so verlaufen, wie ich es mir als kleines Kind erträumt habe. Vor wenigen Wochen ist der wichtigste Traum, den ich mir sehnlichst gewünscht habe, zerplatzt.
»Elea!«, schreit Runa, während sie gegen die Badezimmertür hämmert. »Brauchst du noch lange?« Erneut klopft sie mit der Faust an die Tür, weil ich nicht antworte.
Ich schweige. Wie immer. Die letzten Wochen habe ich mich zurückgezogen, mache kaum den Mund auf. Es liegt nicht nur an der Krankheit meiner Mom, das weiß ich und es wäre ungerecht, alle Schuld auf sie abzuwälzen. Ich ganz allein bin dafür verantwortlich. Mein Leben ist aus dem Ruder gelaufen, ich habe den Halt, den ich immer in mir gespürt habe, verloren. Seit ich mich erinnern kann, habe ich den Lebensweg bestritten, den ich mir vorgestellt hatte. Aber irgendwo muss ich eine falsche Abzweigung gegangen sein, dass plötzlich alles schiefläuft. Ich finde keine Erklärung, warum ich das erlebe. Habe ich mein perfektes Leben für zu selbstverständlich genommen? Muss ich jetzt dafür Reue zeigen? Unzählige Dinge schwirren in meinem Kopf herum, während das heiße Wasser über meinen bebenden Körper rinnt.
»Elea, ich muss mich wirklich fertig machen, bitte öffne die Tür!« Mittlerweile klingt Runa verzweifelt.
»Eine Minute«, antworte ich schließlich und drehe den Wasserhahn zu, nehme das weiche Handtuch, trockne mich ab und schlüpfe in frische Klamotten. Dann bleibt mein Blick an meinem Spiegelbild hängen. Ich kenne mein Gesicht, doch in diesem Moment scheint es mir fremd. Meine Gesichtszüge sind hart geworden, mein Blick ist starr und leer. Sogar ich selbst erkenne, dass ich müde und abgekämpft aussehe. Ich muss nach vorne blicken, eine neue Richtung einschlagen, von den düsteren Gedanken, die in mir verankert sind, Abstand nehmen. Ich ringe mir ein Lächeln ab, welches so gekünstelt aussieht, dass ich mich kopfschüttelnd abwende und zur Tür rausgehe.
»Endlich«, entgegnet Runa, als ich mich an ihr vorbeischlängle.
»Gehst du aus?«, frage ich, weil ich sonst keine Erklärung finden kann, warum sie so stresst.
»Ja, möchtest du mich begleiten?« Runa schiebt sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn.
»Nein danke, nach dem heutigen Tag habe ich keine Lust auf Party.« Ich schüttle den Kopf und gehe auf mein Zimmer zu.
»Machst du mir gerade Vorwürfe, wegen der Art und Weise, wie ich mein Leben weiterführe?«
Ich halte in der Bewegung inne und drehe mich zu Runa. »Ich mache mir Sorgen, du eben nicht.«
»Das tue ich auch!«, faucht sie mich an und ihre Augen verengen sich. »Aber bei lauter Technomusik kann ich wenigstens für ein paar Stunden von dem ganzen Mist abschalten!« Tränen kullern aus ihren Augen und sofort bereue ich mein Gesagtes.
Ich gehe auf sie zu und umarme sie. »Es tut mir leid«, murmle ich und presse meine Lider fest nieder, um die Tränen zu unterdrücken.
»Lea, was ist los mit dir? Irgendwie bist du die letzten Wochen so anders. Ist es nur wegen Mom?« Meine kleine Schwester schiebt mich ein Stück von sich weg und mustert mein Gesicht.
»Natürlich, das reicht doch, oder?« Es ist gelogen, trotzdem habe ich den Eindruck, dass sie mir glaubt.
»Wenn du mal so richtig den Kopf frei bekommen möchtest, gib mir Bescheid, ich kenne einen Ort, wo das funktioniert.«
»Danke, ich denke, ich habe dazu meine eigene Technik.«
»Die aber wohl nicht zu hundert Prozent klappt, wenn ich mir dein abgekämpftes Gesicht ansehe.« Sie streichelt meinen Oberarm.
»Lassen wir das. Ich wünsche dir viel Spaß auf deiner Party.«
Es ist eine gefühlte Ewigkeit her, seit ich hier war. Nicht alles war perfekt und trotzdem okay. Mein Leben hat sich seit damals verändert. Manche besuchen ihre Großmutter regelmäßig, bei mir war das anders. Meine Mutter hat den Kontakt zu ihr auf das Notwendigste beschränkt. Warum das so ist, weiß ich bis heute nicht. Nun stehe ich vor der Eingangstür von Großmutters Wohnung. Vor wenigen Sekunden habe ich geklingelt.
Die Tür geht auf und ich erkenne sie sofort wieder. Ihre hellblauen Augen, die so viel Wärme ausstrahlen.
»Hallo, Granny«, sage ich und bleibe an Ort und Stelle stehen.
»Bist du es, Brayden?«, fragt sie und ihre Augen werden groß. Es ist kein Wunder, dass sie mich nicht sofort erkennt, immerhin sind seit unserem letzten Treffen über fünfzehn Jahre vergangen. Ich war sieben und habe sie hier vor dieser Tür das letzte Mal in meine Arme geschlossen. Damals wusste ich nicht, dass ich nicht wieder zurückkehren würde. Ich dachte, es wäre wie immer ein Abschied auf Zeit und im nächsten Sommer würde ich wiederkommen, doch dem war nicht so. Irgendetwas ist passiert, weshalb meine Mutter nicht mehr wollte, dass ich hierhin kam. Ich weiß nicht, ob sie einen Streit hatten oder etwas anderes vorgefallen ist.
»Natürlich bist du es. Ich erkenne die Narbe an deiner linken Augenbraue. Nur zu gut kann ich mich daran erinnern, wie sie entstanden ist.« Ihre Augen werden glasig und sie schlurft auf mich zu.
Ich fasse wie automatisch an die Stelle und lächle. Sofort huschen Erinnerungen von damals an meinem inneren Auge vorbei, als ich fünf und bei Granny zu Besuch war.
»Was meinst du, lernen wir heute Rad fahren?« Granny hat ihre langen grauen Haare zu einem Dutt nach oben gesteckt.
»Ich denke, das hat noch Zeit. Außerdem hat er kein Fahrrad«, wirft meine Mom besorgt ein.
»Ja, ja!«, rufe ich euphorisch und renne in der kleinen Essküche auf und ab. »Rad fahren!«
»Na, dann gehen wir doch mal nach unten. Ich denke, im Schuppen haben wir noch ein altes Fahrrad, das wird dir bestimmt gefallen.«
Keine Minute später sitze ich auf dem klapprigen Fahrrad. Es ist an einigen Stellen rostig, doch das ist mir egal. Denn nun werde ich Radfahren lernen.
Granny hat ihre Hand auf dem Fahrradsitz und sie fordert mich auf, in die Pedale zu treten. Mehrmals fahren wir den langen Schotterweg entlang. Immer mit ihrer Hand auf meinem Gepäckträger, bis sie lauthals schreit.
»Ray, du fährst ganz allein!«
Ich drehe meinen Kopf zu ihr und grinse breit. »Ich kann Rad fahren!«, juble ich voller Stolz, weiterhin den Blick nach hinten gerichtet.
»Ray, sieh nach vorne!« Sie deutet mit der Hand und rennt auf mich zu.
Bis ich einen stechenden Schmerz verspüre und falle. Ich schreie lauthals, weine und ich glaube, alles um mich herum beginnt sich zu drehen. Doch dieses Glücksgefühl, welches mich durchströmt, übertönt den Schmerz, weil ich endlich allein mit einem Fahrrad fahren kann.
Ich bin gegen einen Stacheldrahtzaun gefahren und musste mehrmals an verschiedenen Stellen genäht werden. Unter anderem neben meiner Augenbraue. Es ist die einzige Narbe, die davon sichtbar ist. Alle anderen wurden von Jimmy, meinem Tätowierer, überdeckt.
»Es ist so schön, dass du mich besuchst.« Sie schließt ihre runzligen Arme um mich und ich ziehe sie fest an meine Brust. Sie ist um einiges kleiner als ich. »Komm doch rein«, fordert sie mich auf und geht ein Stück zur Seite.
Ich marschiere den schmalen Flur zur Essküche. Alles erinnert an damals. Nichts hat sich daran verändert. Die Bilder der Geschichte dieses Hauses hängen noch immer an der Wand so wie die Bilder von meiner Mutter und mir im Flur. Nur mein Dad scheint nirgends mit drauf zu sein. Manchmal frage ich mich, ob meine Granny ihn gehasst hat. Ich war drei, als er gestorben ist. Darum kann ich mich auch an keine gemeinsamen Familienfeste erinnern. Ich war noch zu klein, um zu begreifen, was wirklich geschah. Natürlich habe ich viel geweint, aber irgendwie ging ich mit der Zeit damit ganz gut um.
»Es ist schön, wieder hier zu sein.«
»Magst du auch einen Tee?« Granny steht neben ihrer Küchenzeile, während ich mich hinsetze.
»Sehr gerne.«
Sie kommt mit zwei Tassen zum Tisch. »Milch? Zucker?«
»Nichts von beidem, danke.«
»Also, was verschlägt dich zu mir? Brauchst du Geld?« Granny sieht mich ohne Vorwurf an. In ihrer Stimme schwingt keine Abwertung mit.
»Ehrlich gesagt benötige ich für ein paar Wochen eine Wohnung.« Ich erzähle ihr nicht, dass ich noch für eine weitere Person eine Bleibe suche. Ich erwähne auch nicht, welche Pläne ich schmiede. Ich weiß, dass ihr selbst schon lange nichts mehr gehört, bis auf das Apartment einen Stock höher.
»Die Wohnung oberhalb steht leer, du kannst jederzeit einziehen. Möchtest du etwa nach Cold Spring zurückkommen?«
»Nein, es ist geschäftlich. Also nur vorübergehend.« Eigentlich suche ich Abstand von meiner Mom, die mir unzählige Vorwürfe an den Kopf geknallt hat. Dabei hänge ich gerade privat an meinem Tiefpunkt. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. In New York hält mich derzeit nichts, außer eine Person, die mir aber sehr bald hierhin folgen wird, wenn ich eine Wohnung finde und die Geschäfte auf die richtige Bahn gelenkt habe.
Grannys Blick bleibt auf den unzähligen Tätowierungen an meinen Unterarmen hängen. Sie legt ihre runzelige Hand darauf und fährt mit dem Zeigefinger die Konturen des Schmetterlings nach. »Schon als kleiner Junge hast du unzählige Bilder auf deine Hände gemalt. Wie oft habe ich dich mit deiner Mutter zanken gehört, wenn sie darauf bestand, dass du sie abwäschst. Du wolltest sie auf ewig oben haben.« Sie lächelt.
Nie hat mir Granny Vorwürfe gemacht, auch Opa war immer für Spaß zu haben. Meine Mutter ist so konträr zu ihnen. Sie war nie so ausgelassen und locker. Noch heute möchte sie mich mit meinen fünfundzwanzig Jahren formen, trotzdem brauche ich sie momentan in New York mehr als alles andere auf der Welt als Unterstützung.
Granny erhebt sich und schlurft langsam zur Küchenzeile, nimmt eine rote Keksdose und öffnet sie. Sie holt einen Schlüsselbund heraus und kommt zu mir zurück.
Vor Jahren haben Mom und ich hier mal gewohnt. Ich war damals noch sehr klein. Es war die Zeit, als mein Dad verstarb. Seltsam, dass ich keine Erinnerungen an meinen Dad habe, nicht einmal an das Begräbnis erinnere ich mich, sehr wohl aber daran, als wir vor Jahren mit Granny die Stufen hinaufgingen und sie uns die Wohnung übergab.
»Brayden, mein Junge, nimm diesen Schlüssel und versprich mir, wenn du jemanden zum Reden brauchst, kommst du zu mir, okay?« Nun liegt Besorgnis in ihrer Stimme und in ihrem Blick. Hat sie mich durchschaut? Ahnt sie, dass ich vor etwas flüchte, das ich selbst nicht einmal in Worte fassen möchte?
»Natürlich. Vielen Dank.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und drücke sie. Kurz schließe ich meine Lider, doch nicht lange, denn sofort sind Bilder da, die ich mir nicht in Erinnerung rufen möchte. »Ich geh dann mal, wir sehen uns.« Ich muss aus dieser Situation entfliehen, denn die Vergangenheit holt mich gerade brutal wieder ein.
»Wenn du was brauchst, gib mir Bescheid«, ruft sie mir noch hinterher, bevor ich die Tür hinter mir zuziehe.
Im oberen Stockwerk angekommen schließe ich die Eingangstür auf und trete ein. Abgestandener Geruch und Dunkelheit umfangen mich. Diese Wohnung war vor Jahren mein Zuhause und nun wird das auf unbestimmte Zeit wieder so sein. Ich gehe auf das Fenster zu, öffne es und die dazugehörigen Fensterläden. Ein heller Lichtstrahl leuchtet den Raum aus und frische Luft weht mir entgegen. Ich atme tief durch und blicke nach draußen. Unter mir ist der Zugang zum Supermarkt und ich beobachte, wie eine Mutter mit ihrem Sohn in das Geschäft marschiert. Ich kann ihr Gezanke bis hier oben hören. Sie streiten sich über harmlose Dinge, wie zum Beispiel, dass der Junge unbedingt ein neues Spielzeug möchte. Ich schüttle den Kopf und drehe mich um. Die Möbel sind mit weißen Laken abgedeckt und nacheinander ziehe ich sie herab. Im Sonnenlicht, das durchs Fenster fällt, sieht man die feinen Staubfusseln in der Luft schweben.
Vorhin hat es draußen noch wild gestürmt und geregnet und nun hat sich in kurzer Zeit der Himmel erhellt. Ich hoffe, an diesem Ort zur Ruhe zu kommen. Für mich und Jessie langsam in ein normales Leben zurückzufinden. In New York würde das niemals funktionieren, denn dort erinnert alles an Linda.
Vor ein paar Tagen kam mir die Idee, nach Cold Spring zurückzukehren. Mom war alles andere als begeistert davon. Es kamen unzählige Vorwürfe, ich stünde in der Verantwortung und hätte nicht fortzugehen. Schon gar nicht nach Cold Spring. Keine Ahnung, warum sie so dagegen ist. Mom und ich hatten vor Jahren eine sehr gute Zeit hier, zumindest empfand ich das so. Bei meiner Mutter bin ich mir nicht so sicher. Als wir nach New York gezogen sind, war ich sechs Jahre. Manchmal glaube ich, Mom hat hier etwas erlebt, das sie ängstlich macht. Aber was es ist, werde ich wohl nie erfahren, denn sie redet nicht über ihre Gefühle und anscheinend habe ich das von ihr auch so übernommen. Denn die Sorgen, die Trauer und die Wut, die ich derzeit in mir trage, kann ich mit niemandem teilen. Kein Mensch steht mir so nahe, dass ich ihm vertraue. Außer Granny. Aber wie soll ich einer alten Frau erklären, was mir passiert ist? Ich will sie nicht mit meinen Problemen belasten.
Ich sollte mich nicht mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen, sondern mich für die Zukunft wappnen. Denn es wird nicht leicht werden, das war mir von vornherein klar.
Ich setze mich auf das kleine Sofa und starre auf die leere Wand, an der damals ein Fernseher hing und wo mich nun eine weiße Mauer anleuchtet. Es wird einiges an Arbeit bedeuten, diese Wohnung gemütlich zu gestalten. Außerdem habe ich heute ein Grundstück begutachtet, das der perfekte Ort für mein Vorhaben sein könnte. Es ist abgelegen und weit und breit ist kein Wohnhaus. Morgen früh werde ich mich mit einem Immobilienmakler treffen und in Erfahrung bringen, was dieses Grundstück kostet, denn es eignet sich hervorragend für meine Events. Vor einiger Zeit habe ich ihn engagiert, um ein passendes Stück Land hier zu finden und den Kontakt zum Besitzer herzustellen. Er hat voll ins Schwarze getroffen. Leider hatte er beim gestrigen Gespräch noch keine genauen Angaben zum Preis. Ein paar Dinge muss man verbessern, aber es hat alles, was man braucht. Strom- und Wasseranschlüsse sind vorhanden und ich würde mobile Toilettenkabinen aufstellen. Es ist der ideale Ort, um Veranstaltungen der besonderen Art zu organisieren. Ich habe gerade mit meinem Partner telefoniert, als mir diese Frau aufgefallen ist. Sie musste verwirrt sein, wenn sie bei einem wilden Gewitter auf der Wiese sitzt. Eigentlich könnten mir andere Menschen egal sein, doch das sind sie nicht. Ein innerer Drang veranlasst mich, ständig Menschen aus Notsituationen zu retten. Dabei habe ich selbst genug Probleme und sollte mich von anderen Schwierigkeiten fernhalten.
Erneut wähle ich Johnnys Nummer und nach einmal klingeln hebt er ab. »Alter, was geht bei dir ab, dass du mich einfach so weggedrückt hast?«, knurrt er ins Telefon.
»Auf unserem zukünftigen Grundstück war eine Frau, die sich wohl vom Blitz treffen lassen wollte. Sollte ich das zulassen? Immerhin wollen wir in vier Wochen unsere erste Party veranstalten. Wir können es nicht gebrauchen, eine Tote dort zu haben«, rechtfertige ich mich, obwohl ich das nicht nötig hätte. Schließlich gehören mir achtzig Prozent unserer Eventagentur. Als ich knapp bei Kasse war, ist er damals als kleiner Teilhaber eingestiegen. Er ist nicht gerade die beste Wahl als Geschäftspartner, dennoch erledigt er seine Arbeit gewissenhaft.
»Also, wie sieht die Lage dort aus? Wann soll ich kommen?«
»Morgen werde ich herausfinden, wem das Grundstück gehört, dann melde ich mich bei dir. Aber ich denke, wenn wir genug bezahlen, wird es kein Problem sein, es zu bekommen.«
»Vielleicht sollte ich verhandeln?« Nur zu gut kann ich mir vorstellen, wie Johnny es regeln würde. Und das ist das genaue Gegenteil von dem, wie man das in einer Kleinstadt wie dieser macht. Er wird gerne aggressiv und ausfällig in seiner Sprache.
»Nicht nötig, ich krieg das schon hin. Außerdem musst du die Veranstaltung von Ms. Carlson fertig organisieren. Ich hoffe, du hast alles im Griff?« Ich reibe nervös meine Stirn. Es ist das erste Event, welches er in New York allein abschließt.
»Es ist alles so weit erledigt, nur die Klimaanlage funktioniert in der Location noch nicht richtig, aber ich habe bereits einen Monteur organisiert.«
»Perfekt, der DJ wird sich morgen bei dir melden, um die genauen Details zu besprechen. Übrigens, das Catering ist auch nochmals zu kontaktieren. Ms. Carlson hat uns per Mail weitere Sonderwünsche zum Essen geschickt. Es soll unbedingt ein paar vegane Gerichte geben, die separat platziert sein müssen.«
»Das schaue ich mir gleich an. Sonst noch was?«
»Vorerst ist das alles. Bis dann.«
Ich lege das Handy auf dem Glastisch vor mir ab und lasse mich zurück in das Kissen sinken. Ich schließe meine Lider und versuche, meinen Kopf freizubekommen. Doch anstatt mich zu entspannen, drängen sich die letzten Bilder in meinen Kopf, die mich an Linda erinnern. Mit allem wäre ich klargekommen, mit einem wilden Streit oder einer Diskussion, wie es mit uns weiter gehen soll. Doch nichts kam. Ich hatte keine Möglichkeit, eine Lösung für uns zu finden. Ich hatte auch keine Chance, sie umzustimmen. Nicht nur auf der Gefühlsebene hat dies eine Leere hinterlassen, sondern in meinen ganzen Alltag hat es ein riesengroßes Loch gerissen.
Wieso kann ich nicht einfach abschließen? Es war mein größter Wunsch, den ich nicht erfüllt bekam. So ist das eben mit Wünschen, in den meisten Fällen scheitern sie am Leben.
Die letzten Nächte habe ich wach im Bett gelegen. Immer wieder kam mir der Mann in den Sinn, der einem Sensenmann ähnlich war. Trotzdem hat er mich gerettet. Warum? Was hatte er auf dem verlassenen Grundstück zu suchen?
Ich ziehe mir ein weites T-Shirt und eine Jogginghose an und gehe nach unten. Ein Stimmengewirr schallt aus der Küche. Ich könnte mich zu meinen Geschwistern gesellen, mich den morgendlichen Gesprächen hingeben, doch ich habe keine Lust darauf. Wie ferngesteuert schlüpfe ich in meine abgetretenen Sneakers und öffne die Eingangstür. Die Luft, die mir entgegenweht, ist klar und rein vom Regen. Der Himmel ist strahlend blau, was mich dazu bewegt, loszulaufen. Ich renne wie gestern ohne Plan drauflos.
Laufen bereinigt meine Gedanken, so wie die Meditation auch. In diesem Augenblick lasse ich alles um mich in den Hintergrund rücken. Wie automatisch schlage ich erneut den Weg ein, um zu dem abgelegenen Grundstück zu gelangen. Heute werde ich es allein genießen, denn normalerweise ist sonst niemand dort. In der Natur fühle ich mich nicht den neugierigen Blicken der Bürger von Cold Spring ausgesetzt. Ich merke, dass sie über unsere Familie reden. Sie wissen bestimmt sehr bald, dass meine Mutter schwer krank ist. Es wird nicht lange dauern, bis sie auf der Matte stehen und fragen werden, ob sie meinem Dad und uns helfen können. Es ist lieb von ihnen gemeint, doch man kann in ihren Augen das Mitleid sehen. Sie haben diesen Ausdruck im Gesicht, der einen noch tiefer hinabzieht. Sie wollen einem nur beistehen und trotzdem macht es das Ganze schwerer. Ich weiß das nur zu gut. Darum möchte ich, dass niemand erfährt, was mir vor wenigen Wochen zugestoßen ist. Denn dann kämen nicht nur von den Fremden, sondern auch von meinen Schwestern die Bemerkungen, die mich nur noch tiefer sinken lassen würden. Ich habe überlegt, ob ich mir psychologischen Beistand hole, habe das aber letztlich verworfen, als ich nach Cold Spring gekommen bin. Ich sollte endlich wieder die Sonne sehen, das wunderbare Leben, welches sich vor mir erstreckt. Die bezaubernde Natur, die sich gerade in voller Blüte zeigt. Die Bäume um mich herum sind saftgrün, die Wiesen blühen in den unterschiedlichsten Farbnuancen.
Vor wenigen Wochen habe ich Freunden schlaue Ratschläge gegeben, um aus ihren Untiefen der Angst zu treten und jetzt? Wie schaffe ich es, die Ratschläge, die ich anderen vorgesetzt habe und für richtig halte, umzusetzen?
Wie oft habe ich Freundinnen auf dem College geraten, einfach rauszugehen, Partys zu besuchen, Männer abzuschleppen, bis sie sich wieder spüren, nachdem sie in irgendein Loch gefallen waren. Und was tue ich? Ich verkrieche mich im Wald, zwischen Gestrüpp und Insekten. Ich kann kaum meine Familie um mich herum ertragen, denn alles erinnert mich an meine Träume, die ich einmal hatte und die sich nie mehr erfüllen werden.
Wie gestern schon erreiche ich die wunderbare Lichtung. Es ist nicht mehr zu erkennen, dass ich hier im tosenden Sturm saß und trotzdem habe ich das Gefühl, mich an derselben Stelle fallen zu lassen. Ich lande in der weichen Wiese, die noch etwas feucht vom Morgentau ist. Versuche, mich zu sammeln und endlich eine Lösung zu finden, um wieder ein normales Leben zu führen.
Ich habe vor meinem Schicksalsschlag unzählige Gurus besucht und jeder davon unterrichtete, man müsse das annehmen, was einem passiert und alles hätte seinen Grund. Aber welchen Grund hat mein Leben? Es wird uns erzählt, dass das, was man sich wünscht, in Erfüllung geht. Ich hingegen habe vor wenigen Wochen alles verloren, was mir wichtig war. Nichts davon kann sich verwirklichen.
Wie jedes Mal, wenn ich meditiere, schließe ich meine Lider und versuche, meine Gedanken zu beruhigen. Ich habe das Gefühl, ich drehe mich im Kreis.
Ich weiß, dass andere Menschen viel schlimmere Probleme plagen. Dafür brauche ich nicht einmal weit zu blicken. Sofort kommt mir Mom in den Sinn. Trotzdem fühle ich mich deshalb nicht besser, sondern mache mir auch noch Vorwürfe, dass ich letztlich ihre Krankheit mit meinem Problem gleichstelle.
Ich vernehme Schritte hinter mir und ich reiße die Augen auf. Hastig drehe ich den Kopf von rechts nach links, doch niemand ist zu sehen. Ich erhebe mich und gehe zurück in den Wald. Ein Stück weiter entfernt steht eine Blockhütte.
Nach wenigen Schritten erreiche ich den Weg, auf dem letztens ein schwarzer Range Rover stand und auch heute ist er wieder da. Was macht der Kerl hier?
»Hallo, ist da jemand?«, rufe ich, während ich weiter auf die Hütte zugehe.
»Was machen Sie schon wieder hier?«, knurrt eine tiefe, männliche Stimme und ich wirble ruckartig herum.
»Das könnte ich Sie auch fragen, oder? Das ist ein Privatgrundstück.« Mein Tonfall klingt selbstsicher, obwohl ich innerlich zittere.
»Richtig und es gehört Ihnen nicht.« Seine dunklen Augen mustern mich, aber nicht auf die Art, dass er mich gleich vernaschen möchte. Was mich nicht wundert, so wie ich die vergangenen Wochen rumlaufe. Ich bin nicht darauf aus, dass mich überhaupt ein Mann wahrnimmt.
»Ach, und Sie sind der Besitzer dieses Grundstücks?« Die letzten Monate hat niemand hier einen Kauf getätigt, das hätte ich erfahren. Wir sind eine Kleinstadt und solche Neuigkeiten verbreiten sich wie ein Lauffeuer.
»Noch nicht, aber in wenigen Tagen.« Er verschränkt die Arme vor seiner Brust und sofort fällt mir wieder der bunte Schmetterling auf seinem Unterarm auf.
»Warum?«, frage ich nach, weil ich nicht verstehen kann, wie ein Typ, der aussieht, als käme er direkt aus dem Knast, ein Waldgrundstück kauft. Vielleicht möchte er hier seine illegalen Geschäfte ausüben und ich sollte besser meinen Mund halten?
Seine Augen verengen sich. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Was tun Sie schon wieder hier?
»Ich meditiere.« Hier finde ich zur Ruhe.
»Bei einem Gewitter?«, fragt er ungläubig und zieht dabei eine Braue nach oben.
»Heute ist es schön. Letztens hat mich das Unwetter überrascht und ich war so vertieft, dass ich ringsherum nichts mitbekam.«
»Okay«, erwidert er lang gezogen und irgendwie schwingt insgeheim die Frage mit, ob ich noch bei Sinnen bin. Ich kann es verstehen, wahrscheinlich würde ich an seiner Stelle genauso denken. »In Zukunft unterlassen Sie das bitte, ich brauche hier keine Tote, haben Sie verstanden?«
»Ich hatte nicht vor, mich umzubringen, Sie Schlaumeier«, kontere ich energisch. »Wissen Sie nicht, wie meditieren funktioniert? Man richtet seine ganze Aufmerksamkeit nach innen«, erkläre ich mein Verhalten, obwohl es ihn anscheinend nicht interessiert.
»Suchen Sie sich für Ihren Esoterikkram einen anderen Platz, wo Sie sich mit irgendwelchen Geistern vernetzen.« Er presst seine gleichmäßig geformten Lippen aufeinander und seine dunklen Augen funkeln mich böse an. Gestern wirkte er hilfsbereit, heute ist er eher kampflustig.
»Ihnen würde auch ein wenig Meditation guttun«, feuere ich ihm entgegen und eile davon. Ich lasse ihn einfach stehen. Was soll ich mit so einem engstirnigen Idioten diskutieren? Er hat nur seine Dollarscheine im Kopf, so wie er aussieht und redet.
Gedanklich verabschiede ich mich von diesem Ort, der mir die letzten Wochen eine gewisse Kraft geschenkt hat. Ich renne los, während ich den Typen weit entfernt noch etwas sagen höre. Wahrscheinlich nur wieder irgendeine Beschimpfung, auf die ich liebend gerne verzichten kann.
Als ich vor meinem Elternhaus ankomme, entdecke ich Dad auf der Veranda. Mit beiden Händen umklammert er eine Kaffeetasse und starrt auf den Boden. Er wirkt gedankenverloren, so wie ich auch. Mit eiligen Schritten gehe ich an ihm vorbei und bringe nur ein knappes »Hallo« heraus. Ich habe nicht die Kraft, mich jetzt mit unseren Familienproblemen auseinanderzusetzen. Wie automatisch fasse ich nach der Türklinke, als mein Dad ein lautes Räuspern von sich gibt.
»Guten Morgen, Elea«, sagt er mit tiefer Stimme und unsere Blicke begegnen sich. »Du warst heute nicht beim Frühstück«, stellt er fest und seine Augen wirken müde. »Komm, setz dich kurz zu mir.« Er rutscht ein Stück zur Seite und macht Platz für mich.
»Ich muss duschen gehen, können wir später reden?«
»Ein paar Minuten hat das doch noch Zeit, oder?« Mehrmals klopft er mit der Hand auf die freie Stelle neben sich.
»Ja, vielleicht«, murmle ich mehr zu mir selbst, setze mich aber schlussendlich hin.
»Wie geht es dir?«, erkundigt sich Dad.