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Eine geheimnisvolle Kleinstadt namens Cold Spring. Ein mysteriöser Brief, der unzählige Fragen aufwirft, und Schicksalsschläge, die alles verändern werden … CEO Cailan Jenkins reist mit der Absicht nach Cold Spring, die dortige Filiale zu schließen. Doch er hat den Plan ohne seinen verstorbenen Vater gemacht. Denn der hinterlässt ihm einen geheimnisvollen Brief mit mehreren Bedingungen, weshalb es fast unmöglich erscheint, dieses Geschäft abzustoßen. Außerdem ist da noch die hübsche Angestellte Alina Stone, die ihm mit ihrem frechen Mundwerk vom ersten Tag an auf die Nerven geht. Doch um sein Ziel zu erreichen, braucht er ihre Unterstützung. Und plötzlich finden sich Alina und Cailan zwischen Gefühlschaos und Familiengeheimnissen wieder, die ihr ganzes Leben durcheinanderbringen. Keiner der beiden ahnt, dass sie bald mehr verbindet als nur der Job ...
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2022
Impressum:
Copyright © 2021 Eva Perkics
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Kopie oder anderweitige Verwendung ist nur mit schriftlicher Genehmigung von Seiten der Autorin gestattet.
Lektorat und Korrektorat: Sabrina Cremer Textwerkstatt
Umschlaggestaltung: ©Ria Raven Coverdesign, verwendete Fotos von ©Shutterstock ©
E.M. Prutsch
Schubertgasse 12
A- 8200 Gleisdorf
Alle in diesem Buch geschilderten Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Geschäftseinrichtungen, Ereignissen oder Schauplätzen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
1. Alina
2. Alina
3. Cailan
4. Alina
5. Cailan
6. Alina
7. Cailan
8. Alina
9. Cailan
10. Alina
11. Cailan
12. Alina
13. Cailan
14. Alina
15. Cailan
16. Alina
17. Cailan
18. Alina
19. Cailan
20. Alina
21. Cailan
22. Alina
23. Cailan
24. Alina
25. Cailan
26. Alina
27. Cailan
28. Alina
29. Cailan
30. Alina
31. Cailan
32. Loreen
33. Cailan
34. Alina
35. Alina
36. Cailan
37. Alina
Danksagung
Bücher von Eva Perkics
Über den Autor
Für dich, Luise.
Perfektion, Anstand und Schönheit gehören zum guten Ton der fehlerlosen Hausfrau. Wir lernen in frühen Tagen nähen, kochen und wie wir ordentlich putzen. Zugleich wird uns schon als Kind beigebracht, dass wir über unsere wahren Sorgen und Nöte nicht sprechen. Wir sollen sie geheim halten, um uns ja nicht in ein schlechtes Licht zu rücken. Denn wer will schon einen mitfühlenden Blick von Familie, Freunden oder Bekannten aus der Gemeinde? Wir wahren den Schein, alles sei in bester Ordnung. Außerdem brauchen wir in einer Kleinstadt kein Getratsche und wir wissen spätestens nach einer Weile, dass die Bürger von Cold Spring mit Verurteilungen beginnen. Jedes Detail wird zerstückelt.
Seit Wochen muss ich bei Francies beobachten, wie sie immer wieder genau dieses Leben führt. Sie spielt ihre Rolle als perfekte Frau grandios. Doch wenn ich in ihre Augen blicke, sehe ich Angst und Sorge hervorblitzen, jemand könnte von ihren Schwächeanfällen etwas mitbekommen. Viele Jahre habe ich mich auch in diese Schublade der vorbildhaften Frau drängen lassen und noch heute hüte ich Geheimnisse, die niemand in Cold Spring erfahren darf, denn es würde die scheinbar perfekte Gemeinde erschüttern. Es würde sie wie durch ein Erdbeben in unzählige Bruchteile auseinanderreißen.
Francies ist in demselben Strudel gefangen. Damals habe ich mich bewusst für das Schweigen entschieden, denn die Menschen in Cold Spring vertrauen mir. Nur zu gut weiß ich, was es bedeutet, auf der Anklagebank unserer Gemeinde zu sitzen. Solange man in die Norm passt, keine Ausschweifungen oder sonstige Abnormitäten aufweist, lebt man hier gut und glücklich. Aber sobald ihnen nur irgendeine Neuigkeit zugeflogen kommt, wird diese bis ins kleinste Detail diskutiert und jede Person gibt ihren Senf dazu, ob gefragt oder ungefragt.
Langsam erhebt sich Francies von meinem Rollator, der eine kleine Sitzfläche zum Ausruhen bietet. Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu, der kaum Raum für Spekulationen lässt. Dieser fordert mich auf, es für mich zu behalten, niemandem von den Sorgen zu erzählen, die sie seit mehreren Wochen plagen.
»Weiß deine Familie davon?«, flüstere ich, während ich ihr meinen kleinen Sportflitzer, so nenne ich ihn gerne, hinschiebe, damit sie sich unbemerkt abstützen kann.
»Gott, nein«, erwidert sie entsetzt und reißt die Augen auf.
»Du musst wenigstens mit Steve darüber sprechen, und vor allem solltest du …« Ich breche mitten im Satz ab, als zwei Damen an uns vorbeispazieren.
»Guten Tag«, begrüßen wir uns gegenseitig und lächeln, wie es sich für eine Frau aus Cold Spring gehört. Sie verschwinden aus unserem Blickfeld und Francies erhebt ihre Stimme.
»Ich weiß. Ich werde es in Angriff nehmen, versprochen. Sobald die Zeit dafür reif ist.« Sie zupft ihr Kleid zurecht und strafft die Schultern. »Vielen Dank! Man sieht sich!«, sagt sie mit einem gespielten Lächeln.
»Warte nicht zu lange, denn es könnte …«
»Mach dir keine Sorgen, das alles ist halb so schlimm. Es war nur ein kleiner Schwächeanfall, weil ich heute noch nichts gefrühstückt habe«, unterbricht sie mich und überquert dann die Straße, so als wäre das vor wenigen Minuten nicht geschehen. Mein Rollator hat ihr Halt gegeben, sonst wäre sie vor allen hier zusammengeklappt. Ja, ich bin neunzig Jahre alt, trotzdem habe ich die Situation schnell erkannt und meinen Sportflitzer hinter sie geschoben, sodass sie kurz darauf auf die kleine Sitzfläche sank und dadurch niemand etwas bemerkte.
Mich überkommt ein mulmiges Gefühl und es täuscht mich nie, trotzdem habe ich gelernt, mich nicht ungefragt in fremde Angelegenheiten einzumischen.
Die Menschen müssen selbst entscheiden, welchen Weg sie einschlagen. Denn schlussendlich ist es ihr Leben und ich bin die Letzte, die anderen schlaue Ratschläge erteilen darf oder sollte. Geheimnisse waren schon immer ein ständiger Begleiter meines Lebens und das wird sich bis zu meinem Tod nicht ändern. Ich bin wie der Pfarrer in der Kirche. Ich schweige und nehme jedes Geheimnis mit ins Grab, das von den jeweiligen Personen nicht selbst gelüftet wird.
Ein leeres Blatt Papier bleibt so lange weiß, bis man den Stift in die Hand nimmt und die Worte darauf verewigt. Genauso verläuft es wohl mit dem Leben.
Wann spüren wir das wahre Leben? Wenn wir uns der Liebe zu etwas hingeben, das uns völlig erfüllt? Ich würde gerne behaupten, dass ich gerade an diesem Punkt stehe, nur leider ist dem nicht so. Ich lebe eine Routine, die ich mir selbst auferlegt habe. Manchmal wäre ich gerne wie ein wilder Sturm, der über die Welt hinwegfegt. Wie ein reißender Fluss, der die Menschen mit seinen Worten mitreißt und in eine andere Welt abtauchen lässt. Ich träume von der großen weiten Welt in den Büchern, von den erreichten Zielen, die die Protagonisten durch ihre turbulente Berg- und Talfahrt meistern. Wie gerne würde ich genau das erleben, doch dafür benötige ich Mut und Selbstbewusstsein.
Ich bin kein schüchternes Mauerblümchen, das nur irgendwo am Rand steht und alles aus der Ferne beobachtet, aber es gibt Dinge, die ich als mein großes Geheimnis wahre. Wie ein wertvolles Schriftstück, das nur mir allein gehört. Niemand wird jemals von meinen sehnlichsten Träumen erfahren. Nicht einmal meine Familie hat eine Ahnung, was mich in meinem tiefsten Inneren bewegt. Und das wird wohl für immer so bleiben. Denn Mut kann man nicht in dem kleinen Supermarkt kaufen, in dem ich bereits mehrere Jahre arbeite. Er wird mir nicht zufällig über den Weg laufen wie der Vogel, der sich gerade neben mich auf dem weißen Bretterboden niedergelassen hat. Der kleine Spatz mit seinem braunen Gefieder sieht mir mutig ins Gesicht. Er legt den Kopf schief, als könnte er mein Gedankenkarussell hören. Wie wirr es sich in meinem Kopf dreht und schlussendlich doch zu keiner Lösung führt.
Der feine Regen prasselt auf die Dächer und gibt ein leises Trommeln von sich, während ich auf der Veranda sitze. Für einen langen Moment schließe ich die Lider und sauge den frischen Duft tief in mich ein. Jeden Morgen verbringe ich draußen mit meiner Tasse Kaffee in der Hand und beobachte den Sonnenaufgang am Horizont. Die Wiese blüht in den unterschiedlichsten Farben, aber nun wirkt alles düster und trostlos. Doch sobald sich der Regen beruhigt hat, wird die Sonne die Blumen am Feld wieder zum Leuchten bringen. Ihre hängenden Köpfe werden sich aufrichten und ihre volle Schönheit zeigen.
Seit meiner Geburt lebe ich in dieser bezaubernden Kleinstadt Cold Spring. Viele Menschen lieben den Großstadtlärm, den muffigen Geruch, doch für mich ist es eine Qual, mich überhaupt zwischen dem Lärm und dem vielen Verkehr zurechtzufinden. Ich bin wie meine Eltern, gut bürgerlich. Brauche keinen besonderen Schnickschnack, keinen protzigen Schmuck, auch keine Limousine, die mich von A nach B bringt. Hier kann ich zu Fuß oder mit dem Fahrrad alles erreichen. Wir sind eine typische Kleinstadt mit etwa zehntausend Einwohnern. Man bekommt hier alles, was das Herz begehrt.
Leiser Vogelgesang dringt in mein Ohr und ich lächle, als sich der Regen beruhigt und sich die Wolken öffnen. Feine, helle Sonnenstrahlen kämpfen sich hindurch und bringen den Morgen zum Strahlen. In weniger als einer Stunde muss ich zur Arbeit. Wenn ich nur daran denke, wird mir flau im Magen. Heute kommen die großen Bosse aus New York. Sie überprüfen jedes kleinste Eck im Laden, ob wir alles gemäß ihren Wünschen platziert haben. Wie jedes Mal können wir es ihnen nie zu hundert Prozent recht machen.
John, unser Filialleiter, ist die letzten Tage angespannt und genervt. Natürlich bekommen wir es ab, aber ich kann damit umgehen. Ich weiß, wenn dieser Trubel vorüber ist, beruhigt er sich wieder und die normale Routine tritt ein.
Ich leere meine Kaffeetasse und tapse ins Haus. Ich lebe noch bei meinen Eltern. Vier meiner Geschwister, Elea, Lyra, Isalie und Naima, haben sich entschieden, aufs College zu gehen. Für mich war das nie eine Option, zu große Angst hatte ich vor der Fremde und dem Neuen. Mit meinen fünfundzwanzig Jahren bin ich die Älteste von uns acht Mädchen. Ja, wir sind nur Frauen. Bei jedem Kind, das zur Welt kam, wünschte sich Dad endlich einen Jungen. Leider wurde daraus nichts. Doch heute sagt er, es ist das Schönste überhaupt, in einem Haus voller Frauen zu leben. Dabei muss er aber immer lachen, denn wie man Frauen kennt, können sie auch lauthals streiten.
»Mom, wo ist meine Lieblingsjeans?«, ruft Valentina und rennt die Treppe hinunter. Ihr blondes, welliges Haar hat sie heute streng zusammengebunden, sodass man nur mehr an den Haarspitzen erkennen kann, dass sie sich wild kräuseln. Sie wird ihrem Namen mehr als gerecht und hat die kräftigste Stimme in unserem Haus. Unsere Eltern haben jedem von uns einen Vornamen gegeben, der eine Bedeutung hat, als hätten sie bei unserer Geburt schon geahnt, welcher Charakter dahintersteckt. Sie ist noch dazu die Jüngste von uns und musste früh lernen, sich gegen uns zu behaupten.
»Ich denke, sie dürfte in der Waschküche liegen. Gebügelt«, antwortet Mom ruhig, während sie für uns allesamt das Frühstück vorbereitet. Bei uns ist es morgens nie still. Zumindest nicht, wenn jeder von uns wach ist.
Valentina düst an mir vorbei. Sie ist ständig spät dran. Ich glaube, sogar sonntags, wenn wir uns zum Mittagessen treffen, hat sie Stress, alles auf die Reihe zu bekommen.
»Guten Morgen, Schwesterherz«, sage ich mit einem Lächeln und steuere zur Küche.
Valentina winkt mir zu, während sie mir nur ihren Rücken zeigt. Ich bin ihr nicht einmal böse, denn sie kann eben nicht aus ihrer Haut. So wie ich auch nicht.
»Kann ich dir bei etwas helfen?«, frage ich Mom und beobachte, wie sie die Rühreier mit dem Pfannenwender wendet.
»Du könntest den Tisch decken.« Sie bittet mich mit weicher Stimme und schenkt mir ein warmherziges Lächeln. Für mich ist sie die schönste Frau überhaupt. Obwohl sie acht Kinder geboren hat, ist sie schlank und sehr bedacht auf ihr Aussehen. Nur sonntags gönnt sie sich einen Schlabberlook mit Jogginghose und T-Shirt. Sonst hat sie, wie heute, frühmorgens ein hübsches Kleid und Pumps an. Ihr goldblondes Haar trägt sie seit einem Monat schulterlang. Sie meinte, mit ihren fünfundvierzig Jahren sei es an der Zeit, die Haare kürzer zu tragen.
»Guten Morgen, Liebes«, begrüßt Dad Mom und küsst sie innig, sodass ihr ein leises Schnurren entweicht. Er sieht in seinem dunkelblauen Anzug schick aus, und sein grau meliertes Haar, welches er akkurat mit Gel zurechtgelegt hat, macht ihn zu einem sehr attraktiven Mann.
Obwohl meine Eltern seit ihrem siebzehnten Lebensjahr ein Paar sind, sprühen bei ihnen die Liebesfunken so stark, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt.
»Ist das Essen fertig?« Sinja, die Siebte von uns Schwestern, stürmt in die Küche, sodass ihre braunen Haare wild herumwirbeln. Sie schiebt ihre Brille von der Nasenspitze nach oben. Ständig trägt sie Blusen und einen Faltenrock, als würde sie in eine Eliteschule gehen.
»Du kannst dich schon hinsetzen.« Mom nimmt die große Pfanne mit Rührei und stellt sie in die Mitte unseres Tisches, der für mindestens zehn Leute Platz bietet. Wenn uns Verwandte besuchen, ist er auf das Doppelte erweiterbar. Natürlich bekommt man solche Tische nicht im normalen Möbelladen. Den hat mein Dad mit uns Mädchen gemeinsam gebaut. Er meinte damals, dass uns ein wenig handwerkliches Geschick nicht schaden würde. Jede von uns hat mit angepackt. Und wenn diejenige nur für das Streichen der Bretter zuständig war. Es hat unsagbaren Spaß gemacht.
»Ist Runa schon wach?«, fragt Mom Valentina. Ihre Aufgabe ist diese Woche, alle aus dem Bett zu holen, damit keine von uns zu spät bei der Arbeit oder in der Schule aufkreuzt. Leider ist sie durch und durch eine Chaotin und bringt das nicht auf die Reihe. Ich frage mich, warum Mom immer wieder ihr diese Aufgabe aufbrummt, denn Valentina kommt selbst kaum mit der Zeit klar.
»Verdammt!«, flucht meine jüngste Schwester, springt von ihrem Stuhl hoch und hetzt aus der Küche.
»In unserem Haus wird nicht geflucht.« Dads Stimme ist ruhig, aber bestimmt.
»Ich habe gehört, du triffst dich mit einem Jungen?« Mom sitzt mir gegenüber und mustert mein Gesicht, welches sich gerade in ein kräftiges Rot verfärbt.
»Er ist nur ein guter Freund«, antworte ich und stecke mir eine Gabel voll Rührei in den Mund. Marc ist nett und ein sehr attraktiver Mann. Doch das erzähle ich meinen Eltern nicht. Wir gehen erst seit ein paar Wochen miteinander aus. Seine kräftige Statur und seine blauen Augen haben mich bei unserem Kennenlernen fast umgehauen. Er ist ein Frauenschwarm, das weiß ich. Trotzdem habe ich bei ihm ein gutes Gefühl. Er ist sehr bemüht, schickt mir jeden Morgen und Abend eine Nachricht.
»Also euer Kuss letztens vor unserem Haus hat nicht danach ausgesehen, als würdet ihr nur Freunde sein.« Dad schmunzelt und fasst nach Mutters Hand.
Sofort spüre ich die Hitze in meinen Wangen. Ich weiß, ich bin alt genug, um einen Freund zu haben, und meine Eltern würden es sehr begrüßen, wenn ich endlich ausziehe. Nicht weil sie ihre Ruhe haben wollen. Nein, weil sie der Überzeugung sind, dass man ab einem gewissen Alter auf eigenen Beinen stehen sollte. Sie haben damit recht, doch ich finde in unserem kleinen Städtchen keine bezahlbare Wohnung. Meistens sind sie zu groß und für mich als Single unbezahlbar.
»Steve, lass sie. Merkst du nicht, dass ihr das unangenehm ist?« Mom streichelt über Dads Hand, dann trinkt sie einen Schluck von ihrem Kaffee.
»Francies, du weißt, wir haben keine Geheimnisse.« Dad zwinkert Mom mit einem Grinsen zu, jedoch wird ihr Gesicht kreidebleich.
»Morgen«, murrt Runa. »Wäre es möglich, dass mich jemand anderes aufweckt als Valentina?« Runa zwirbelt ihre feuerroten langen Haare zu einem Dutt und befestigt sie mit einem Haargummi. Als sie vor wenigen Wochen mit der neuen Farbe zu Hause auftauchte, waren meine Eltern anfangs im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Sie hat ihre naturblonden Haare knallrot gefärbt. Mittlerweile haben sie sich aber daran gewöhnt. Runa und Sinja sind zweieiige Zwillingsschwestern und auch ihr Kleidungsstil ist total unterschiedlich. Runa ist eindeutig die Bunte von den beiden.
»Du könntest dir einfach einen Wecker stellen und selbst aus dem Bett kommen«, wirft Sinja zynisch ein. Dann erhebt sie sich vom Stuhl und räumt ihren leeren Teller zur Spüle. Bei Sinja muss alles geordnet ablaufen. Schon sehr früh in ihrer Kindheit hat sie jedes Detail perfekt geplant. Ihr ganzes Leben ist penibel strukturiert und organisiert. Das College ist in ihrem Kopf bereits fixiert, sowie ihr künftiger Job. Sogar welchen Status ihr zukünftiger Mann haben muss. Einfach nur schräg, aber da ich sie seit ihrer Geburt so kenne, für mich fast wieder normal.
»Was kann ich dafür, dass ich tief und fest schlafe und nichts davon mitbekomme?« Runa nimmt sich eine große Portion Rührei und schüttelt den Kopf.
»Hört auf, euch frühmorgens zu zanken.« Dad spricht ein Machtwort, wodurch alle am Tisch nun ruhig sind und ihr Frühstück essen.
»Ich muss los, bis dann«, sage ich in die angespannte Stille.
»Wann kommst du heim?«, erkundigt sich Mom und erhebt sich vom Tisch.
»Ich hoffe, dass ich um vier meine Schicht beenden kann. Heute ist der CEO im Anmarsch und ich habe keine Ahnung, was uns erwartet.« Das erste Mal, dass sich der Firmenchef mit angekündigt hat. Sonst kamen mehr oder weniger nur seine Untertanen. Ich weiß nicht einmal, wie er aussieht. Seit der Seniorchef gestorben ist, haben wir diesbezüglich keine Informationen erhalten. Leider hat sich durch die junge Führungsebene alles eher zum Negativen gewandelt. Noch dümmere Dienstzeiten und Anforderungen, welches Umsatzziel wir erreichen müssen, sind nur ein Teil davon, was uns auferlegt wurde. Doch welche Wahl habe ich? Dafür kann ich mit meinem Fahrrad zur Arbeit.
»Denk positiv. Es muss nicht gleich das Schlimmste passieren. Sie wollen sich bestimmt nur einen Überblick verschaffen. Ihr macht alle einen sehr guten Job und sie werden das erkennen.« Dad ist durch und durch ein Optimist. Als sie damals bei seiner Marketingagentur Stellen abgebaut haben, meinte er, dass es trotzdem irgendwie weitergeht. Er verlor nicht einmal den Mut, als auch er zu den Joblosen gehörte. Und tatsächlich behielt er recht. Mittlerweile verdient er sogar mehr als in der alten Firma.
Für ihn sind Veränderungen etwas Gutes, was ich nicht behaupten kann. Ich liebe die Routine, die ich jeden Tag habe. Ich kenne meine Kollegen und auch meinen Chef in- und auswendig. Ihre Macken sind mir vertraut und ich weiß, wann es an der Zeit ist, den Mund zu halten.
Im Flur blicke ich mich noch mal im Spiegel an. Die gelbe Bluse passt zu meinen braunen Haaren. Obwohl ich die Farbe nicht leiden kann, muss ich jeden Tag damit zur Arbeit. Warum müssen sich Lebensmittelketten so dumme Farben ausdenken? Darauf ein blaues Logo mit meinem Vornamen darunter, damit der Kunde genau weiß, wie ich heiße. Vor allem, wenn er sich beschweren möchte.
Als ich zur Tür rausgehe, blicke ich kurz zum Himmel. Nur noch vereinzelt sind graue Wolken zu sehen. Die frische Luft trägt einen Hauch von Regenduft in sich. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad und trete fest in die Pedale.
In weniger als fünf Minuten komme ich bei meiner Arbeit an. Ich stelle das Fahrrad an seinen Platz, schließe es ab und gehe dann zum Hintereingang. Ein Laster hat sich schon an der Rampe eingefunden und bringt frisches Obst und Gemüse.
»Guten Morgen«, rufe ich dem Mann mit blauer Baseballkappe zu.
»Morgen.« Er antwortet mürrisch. Ich kann nur den Kopf schütteln. Mein Dad hat wirklich recht, wenn man in seinem Job unglücklich ist, muss man etwas daran verändern.
Ich laufe den schmalen Flur entlang zur Umkleide. Nachdem ich meine Tasche und meine Jacke abgelegt habe, steuere ich zum Büro.
»Alina, wo warst du?«, fragt John aufgeregt. Er hat sich heute einen schicken, grauen Anzug angezogen und seine blonden, schulterlangen Haare zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden.
»Wieso? Meine Schicht beginnt erst in zwanzig Minuten, also kein Grund, diesen Stress zu verbreiten, oder?« Ich blicke kurz auf meine Uhr, um sicherzugehen, dass ich mich nicht in der Zeit geirrt habe, aber ich bin sogar überpünktlich.
»Putz schnell noch deinen Kassenbereich und kontrolliere, ob die Süßwaren aufgefüllt im Regal liegen.« John huscht zurück in sein Büro, ohne auf eine Antwort von mir zu warten.
Dabei benötige ich noch mein Wechselgeld für die Kasse. Ich laufe hinter ihm her und wäre fast gegen die Tür gelaufen, weil er sie einfach zugeworfen hat.
Ich schiebe die Tür auf und John tippt wie wild auf seine Tastatur. »John, atme mal durch, du bist ja völlig aus dem Häuschen.«
»Alina, du hast ja gar keine Ahnung, was der heutige Termin bedeutet. Was, wenn sie unsere Filiale dichtmachen? Es hat bestimmt einen Grund, weshalb der neue Chef bei uns vorbeikommt.« John reibt sich seine Stirn. So aufgeregt habe ich ihn noch nie erlebt.
»Das glaube ich nicht. Du malst jetzt schon den Teufel an die Wand, obwohl es dafür keinen Anlass gibt.« Er hat natürlich nicht ganz unrecht. Es ist seltsam, dass sich insgesamt fünf Damen und Herren angekündigt haben. Und darunter sind nicht nur der Verantwortliche für den Einkauf und der Marketingleiter. Dennoch muss er Ruhe bewahren.
»Wir haben erst vor wenigen Monaten unser Haus gebaut, ich habe einen Kredit am Laufen, ich brauche diesen Job.« Johns Ehrlichkeit ehrt mich und ich weiß es sehr zu schätzen, dass er mir dies anvertraut. Niemand gibt gerne zu, dass er finanziell am Limit ist. »Luna ist schwanger, und wird in wenigen Monaten ein Baby von mir bekommen, wir brauchen da jeden Dollar, verstehst du?«
»Oh wow, herzlichen Glückwunsch! Ich wusste gar nichts davon.« Ich strecke John meine Hand hin.
»Danke.« Kurz zucken seine Mundwinkel nach oben und er schüttelt meine Hand. »Eigentlich wollten wir es auch noch keinem erzählen.«
»Von mir erfährt niemand etwas, das weißt du.« Ich schweige wie ein Grab, bisher hat kein Geheimnis meine Lippen verlassen. Auch wenn es noch so brisant war.
»Warum bist du hier?«
»Ich benötige mein Wechselgeld«, sage ich und muss grinsen. Er ist ziemlich durch den Wind, wenn er nicht einmal daran denkt.
John erhebt sich und marschiert zum Tresor. »Umdrehen, bitte«, fordert er mich höflich auf.
Ich wende mich um und beäuge die unzähligen Urkunden, die unsere Filiale eingeheimst hat. Sauberstes Unternehmen, freundlichste Mitarbeiter und viele weitere Zertifikate prangen in Gold eingerahmt auf der weißen Wand. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie unseren Laden zumachen wollen. Er läuft vielleicht nicht so gut wie die in den Großstädten, dennoch halten wir ziemlich konstant unsere Umsätze. Vor allem lieben unsere Kunden, dass wir regionale Produkte in unserem Sortiment führen.
»Kontrolliere bitte das Wechselgeld und beeil dich, denn die Zeit rennt.« Ich drehe mich zu John um und er klopft mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr.
»Jetzt entspann dich, du erledigst deinen Job perfekt, also mach dir keine Sorgen.«
»Das sagst du so leicht. Bei dir ist immer alles in bester Ordnung. Auch heute strahlst du mit der Sonne draußen um die Wette. Doch du hast keine Verpflichtungen, du kannst in dein behütetes Zuhause zurückkehren, ohne Angst zu haben, die Rechnungen nicht bezahlen zu können.« Eine tiefe Furche bildet sich auf Johns Stirn.
Ja, mein Leben ist unkompliziert. Und ich weiß, dass er das alles gerade nicht böse meint, es ist einfach dieses Ungewisse, was ihn belastet.
»Ich werde heute mein Bestes geben.« Ich zähle das Wechselgeld, während John, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, das Büro verlässt. Bestimmt gibt er meinen Kolleginnen draußen unzählige Anweisungen.
Nach wenigen Minuten trete ich hinaus und ein lautes Klirren ertönt in der Geschirrabteilung. »Verdammt!«, höre ich Sue schreien.
Da ich meine Kasse vorbereiten muss, habe ich keine Zeit, ihr zu helfen. Jedoch plärrt John wenige Sekunden später, sodass der ganze Laden vibriert. »Kannst du nicht aufpassen?«
Normalerweise reagiert John nicht so empfindlich und unfreundlich, doch heute herrscht Ausnahmezustand.
Ich schließe die Eingangstür auf und die ersten Leute betreten den Laden. Bis die Kunden zur Kasse finden, fülle ich die Schokoriegel und die Kaugummis in der Nähe des Kassenbereichs auf. Ich bin völlig vertieft in meinem Tun, als ein Räuspern neben mir ertönt.
Mein Blick bleibt an einem Augenpaar hängen, das in mir ein seltsames Gefühl auslöst. Hellblaue leuchtende Augen, dazu ein kantiges Gesicht. Seine Augenbrauen sind perfekt geformt und seine breiten Schultern stecken in einen grauen Anzug. Dieser Typ ist eindeutig nicht aus unserer Stadt. Ob er auf der Durchreise ist?
»Ist die Kasse noch nicht geöffnet?«, fragt er mit einer tiefen Stimme, die mir eine Gänsehaut beschert.
»Doch, doch«, stottere ich. »Sie können ihr Zeug schon auflegen.« Ich deute mit der Hand auf das leere Kassenband. Schnell husche ich an meinen Platz und sinke auf meinen Stuhl.
Der Typ hat nur ein Rasierwasser und irgendetwas von der Wursttheke, wodurch ich nicht lange brauche. Er reicht mir das Geld und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich genau mustert.
Ich reiche ihm das Wechselgeld. »Vielen Dank für Ihren Einkauf und schönen Tag.« So geschwollen spreche ich normalerweise nicht. Doch ich bekomme selten so einen aufregenden und sexy Kunden zu Gesicht.
»Schönen Tag«, antwortet er und geht. Ich verdrehe meinen Kopf und beobachte, wie er den Laden verlässt. Sogar von hinten sieht er umwerfend aus. Die Anzughose lässt nur erahnen, dass er darunter einen Knackarsch hat. Ich lecke mir unbewusst über die Lippe.
»So einen Schönling hatten wir auch noch nie in der Stadt«, ertönt eine Frauenstimme und ich drehe mich ruckartig zu ihr.
Ohne auf ihren Kommentar zu reagieren, scanne ich ihre Lebensmittel. Nachdem ich ihr den Betrag genannt habe, beginnt sie in ihrer Geldtasche Kleingeld zu zählen. An manchen Tagen ärgert es mich, vor allem dann, wenn sich hinter den Kunden eine Schlange gebildet hat und ich unter Zeitdruck stehe. Doch heute ist es noch ruhig. Darum stört es mich nicht im Geringsten.
Sue kommt auf mich zugelaufen. Ihre Haare hat sie mit einer Haarspange hinaufgezwirbelt. Sie hat einige Pfunde mehr auf den Hüften, doch das macht sie für mich gerade so weiblich. Ich hingegen bin dürr. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte größere Brüste, aber für eine OP bin ich zu feige.
»Sie kommen«, flüstert sie in mein Ohr, dann verschwindet sie wieder zurück zu den Kühlregalen. Sie ist heute für das Einräumen der Lebensmittel zuständig. Ich bin wie jeden Tag an der Kasse eingeteilt.
Da sich die nächsten Kunden auf mich zu bewegen, habe ich kaum Zeit zu schauen, was die Bosse machen. Ich erkenne einige Anzugtypen aus der Ferne und ich glaube sogar, dass zwei Frauen mit dabei sind. Immer wieder ertönt das klackende Geräusch eines Fotoapparates. Als sie sich mir nähern, entdecke ich den Mann von vorhin. Verdammt, hat er kontrolliert, ob ich meine Arbeit richtig erledige? Ich hätte es wissen müssen, dass er einer aus dem Gefolge ist. Bestimmt war das ein ausgeklügelter Plan von ihnen, um zu sehen, wie es sonst läuft.
Irgendwie ärgere ich mich über ihr Misstrauen. Wir geben tagtäglich unser Bestes. Versuchen, die Kunden zufriedenzustellen. Und dann das.
Ich scanne die Lebensmittel und nehme meine Kunden derzeit nur am Rande wahr. Zu sehr bin ich abgelenkt, um etwas von ihren Gesprächen mitzubekommen. John wirkt nervös, was ihm auch nicht zu verdenken ist. Wer wäre das nicht, wenn eine Horde von fünf Leuten vor einem steht und jedes einzelne Wort auf die Waagschale legt?
Langsam nähern sie sich meinem Bereich und nun werden meine Hände feucht. Mein Herz beginnt lauter zu pochen, sodass ich es im Ohr höre. Immer wieder blicke ich zu dem Hottie und jedes Mal, wenn er zu mir schaut, reiße ich meinen Kopf herum. Die zwei Damen, die dabei sind, haben schicke Kostüm an, das eindeutig keine Massenware ist. Es schmeichelt ihren weiblichen Kurven perfekt und ab und zu kommt den beiden Frauen sogar ein Lächeln über die Lippen.
Vorhin habe ich John ermutigt, sich zu entspannen, und nun sitze ich selbst wie auf glühenden Kohlen auf meinem Platz. Was mache ich bloß, wenn kein Kunde zu mir kommt? Ich habe keine Lust, mit den Damen und Herren auch nur ein Wort zu wechseln.
Sie marschieren auf mich zu und meine Wangen beginnen zu brennen. Augenblicklich habe ich das Gefühl, ich müsse dringend auf Toilette. Leider kann ich jetzt nicht verschwinden. Der heiße Typ fixiert mich mit seinen blauen Augen, weshalb ich noch nervöser werde. Habe ich alles richtig gemacht? Oder wird er mir irgendeinen Fehler vorwerfen? Vorhin wirkte er nett und umgänglich, doch das kann auch nur Show gewesen sein.
»Das ist Ms. Alina Stone, sie ist für den Kassenbereich zuständig und vertritt mich an meinen freien Tagen.« John lächelt gezwungen. Sein Gesicht ist mittlerweile knallrot und wenn ich die Hitze auf meinen Wangen richtig deute, sehe ich gerade nicht anders aus.
»Guten Tag, Ms. Stone«, sagen die Herren und Damen fast zeitgleich. Nacheinander schütteln sie mir die Hand, bis sich der nächste Kunde zur Kasse bewegt. Sie stellen sich ein Stück abseits von mir hin und besprechen den Kassenablauf. Ich hasse es, wenn mich mehrere Leute bei meiner Arbeit beobachten. Zwar habe ich Routine darin, dennoch werde ich automatisch unkonzentrierter.
»Welche Fortbildungen haben Ihre Mitarbeiter?« Diese Stimme ist unglaublich. Rau und tief, zudem hört man Selbstsicherheit heraus.
»Mr. Jenkins, wir hatten keine Möglichkeiten, die Mitarbeiter dafür zu entbehren. Wir versuchen, jeden Mittwoch alles Neue zu besprechen und Tipps zu geben, worauf sie achten müssen.« Auf Johns Stirn bilden sich Schweißperlen, während der Schönling ganz locker dasteht.
Als sein Name fällt, wird mir klar, wer dieser Mann ist. Unser neuer Big Boss.
»Das ist doch die wichtigste Grundlage überhaupt.« Mr. Jenkins steckt sich die Hände in die Hosentaschen.
Als ich den letzten Kunden kassiert habe, erhebe ich mich von meinem Platz und befülle weiter das Regal.
»Das ist richtig, doch unser Budget reicht dafür nicht.« John wird immer kleiner. Langsam gehen ihm die Argumente aus, um uns in ein gutes Licht zu rücken.
Der Hottie von vorhin stellt sich plötzlich neben mich und mustert mein Gesicht akribisch. »Ms. …«
Meinen Namen hätte er sich schon merken können, dieses … Ich möchte dieses schreckliche Wort nicht fertig denken, sondern sage mit einem höflichen Lächeln: »Ms. Stone.«
»Kennen Sie die fünf Regeln für den Verkauf?« Er steht so dicht vor mir, dass ich sein teures Parfüm riechen kann.
Will er jetzt den Beweis, dass wir alle hier nur Nieten sind? Dieser Wichtigtuer geht mir langsam, aber sicher auf den Nerv. »Begrüßung und …«
»Den ersten Punkt haben sie vorhin bei mir schon nicht erfüllt«, fällt er mir ins Wort. Seine Augen fixieren mich und jagen einen wilden Schauer durch mich hindurch.
»Wie bitte?« Mein Mundwerk geht wieder einmal schneller, als ich denken kann. Natürlich begrüße ich immer die Kunden.
»Sie waren so sehr mit dem Einräumen beschäftigt, dass Sie mich nicht einmal bemerkt haben.« Er wendet sich John zu. »Erste Priorität hat der Kunde und das habe ich auch vorhin bei der Wursttheke erlebt. Ich wurde erst nach fünf Minuten gefragt, was ich gerne hätte, weil die Mitarbeiterin damit beschäftigt war, Wurst aufzuschneiden. Ihre Mitarbeiter haben dringenden Schulungsbedarf.«
Ich möchte gerne etwas sagen, doch dann bewegt sich eine Kundin auf die Kasse zu. »Guten Morgen!«, sage ich so laut, dass man es wahrscheinlich sogar noch hinten beim Kühlregal hören kann. Dieser Schlaumeier hat keine Ahnung. Er sitzt den ganzen Tag an seinem Schreibtisch, studiert die Statistiken und kennt den Alltag im Geschäft nicht. Nur weil man einmal jemanden offensichtlich nicht grüßt, bedeutet das nicht, dass man unfreundlich ist. In meinem Fall war ich von seiner Schönheit geblendet. Was ein großer Fehler war, denn sein Charakter ist nicht mit seinem hübschen Gesicht kompatibel.
Die Meute wandert weiter und ich kann endlich wieder durchatmen. Sie sollen uns einfach unseren Job erledigen lassen. Laut John stimmen unsere Zahlen und das ist doch ein sehr guter Beweis dafür, dass wir etwas richtig machen.
»Guten Morgen, Alina.« Sarah, meine Kollegin setzt sich an die gegenüberliegende Kasse.
»Morgen«, erwidere ich mürrisch. »Warum bist du schon da? Ich komme gut allein zurecht.« Derzeit ist nicht einmal ein Kunde in Sicht, sie könnte inzwischen in der Süßwarenabteilung weitermachen.
»John hat mich gebeten, dich abzulösen, damit du zu ihm ins Büro kommen kannst.« Sarah verdreht die Augen. Ihre grauen langen Haare hat sie heute zu einem Zopf geflochten.
»Sind sie noch da?«
»Klar, und du kannst dir nicht vorstellen, wie genau sie alles unter die Lupe nehmen. Glaub mir, die wollen hier alles umkrempeln. Ich habe sogar gehört, dass unser Laden sonst dichtgemacht wird.«
»Das kann nicht sein, was passt denn nicht?« Ich schließe meine Kasse und stelle mich zu Sarah.
»Also, ich würde behaupten, ihnen gefällt gar nichts.« Sie presst die Lippen fest zusammen. »Was soll ich dann bloß tun? Immerhin bin ich viel zu alt, um einen neuen Job zu bekommen.«
Sarah ist mittlerweile schon siebenundfünfzig und für den Arbeitsmarkt kaum vermittelbar. Eine Kündigung wäre für sie eine Katastrophe und für mich auch. Denn sie ist die schnellste Kassiererin bei uns und schafft eine Kundenanzahl, von der ich nur träumen kann.
»Das wird nicht passieren, dafür werde ich sorgen.« Ich streichle ihren Oberarm. Dann wende ich mich von ihr ab und bewege mich auf das Büro zu.
John hatte recht mit seiner Vermutung. Irgendetwas muss mir dazu einfallen, besser gestern als heute. Aber wenn man es genau betrachtet, was kann ich als Kassiererin schon verändern? Diese Kerle nehmen mich nicht einmal ernst.
Diese Filiale ist ein verdammter Sauhaufen. Der Filialleiter hat keine Eier und die Angestellten haben keine anständigen Schulungen gehabt, um ihren Job richtig zu erledigen. Während die anderen sich mit dem Filialleiter auseinandersetzen, starre ich durch die Fensterscheibe und beobachte, wie die Kassiererin von vorhin auf mich zukommt. Bestimmt macht sie für ihre Verhältnisse ihren Job gut, doch unser Ziel ist es, ausgezeichnet abzuliefern. Diese Filiale ist eigentlich dem Tod geweiht, wenn hier nicht etwas passiert. Ich verstehe nicht, warum Dad bei diesem Geschäft nie gehandelt hat. In jeder anderen Filiale hat er Veränderungen vorgenommen, nur nicht in diesem Kaff. Dad hat das Unternehmen vor mehr als zwanzig Jahren gegründet, aber dieses Gebäude ist eindeutig älter. Den Berichten nach zu urteilen war dies die zweite Filiale, die er überhaupt eröffnet hat. Weshalb ist hier nie etwas geschehen? Obwohl die Zahlen gegenüber anderen nicht die berauschendsten sind? Mein Dad war als knallharter Geschäftsmann bekannt, warum hat er nie das Desaster hier beendet und diesen Laden geschlossen?
Ich habe die Zahlen bis ins kleinste Detail studiert und es grenzt fast an ein Wunder, dass sie den Umsatz halten können. Viele Einwohner wandern in die Städte ab. Eigentlich macht es kaum Sinn, in diese Filiale noch weiter Geld zu investieren. Am besten ist es, den Laden dichtzumachen. Doch das behalte ich vorerst für mich.
Ms. Stone betritt den Raum und wirft mir einen abfälligen Blick zu. Natürlich mag sie mich nach dem vorigen Aufeinandertreffen nicht. Auch wenn ich sie wunderhübsch finde, ändert es nichts daran, dass sie ihren Job erledigen muss. Da komme ich bestimmt nach meinem Dad, denn er hat immer das Beste von seinen Mitarbeitern verlangt. Sogar von mir. Als ich auf das College ging, hatte es oberste Priorität, Einsen nach Hause zu bringen. Dafür habe ich endlose Stunden im Nachhilfeunterricht verbracht.
Ms. Stone stellt sich zu ihrem Filialleiter und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihre Abwehrhaltung, dazu ihr ernster Blick, verraten mir, dass sie innerlich vor Wut kocht. »Also, was gibt es, dass wir nicht weiter unsere Arbeit erledigen können?« Kurz blickt sie zu mir, dann wieder zu ihrem Vorgesetzten.
»Alina, du wirst die nächsten Tage für Mr. Jenkins zuständig sein, damit er genaue Einblicke in unsere Abläufe bekommt.« Mr. Garner, der Filialleiter, redet zwar ruhig, aber das Zittern in seiner Stimme ist kaum zu überhören.
Ich merke, dass sie etwas darauf kontern möchte, doch der Typ scheint auf sie eine beruhigende Wirkung zu haben, weshalb sie es sich verkneift.
»Natürlich, John«, stimmt sie ihm zu und blickt mit zusammengekniffenen Augen zu mir.
»Außerdem haben die Herrschaften bestimmt Hunger und ich denke, ein gemeinsames Essen bei Sally und Jeff wäre für uns alle jetzt sicher eine gute Idee, um neue Energie zu tanken.«
»Leider muss meine Delegation zurück nach New York, doch ich nehme das Angebot sehr gerne an.« Meine Mitarbeiter verabschieden sich bei mir und verlassen kurz darauf das Büro. Meiner Assistentin stecke ich noch einen Zettel zu, dass sie für mich einen Kontakt zu unserem Anwalt herstellen soll. Inzwischen werde ich mir ein genaues Bild darüber machen, welchen Marktwert dieses Grundstück hat, denn für eine Weiterführung dieses Hauses sehe ich keinen Anlass.
Wir verlassen gemeinsam den Supermarkt und marschieren den Gehweg entlang. John und Alina sind die meiste Zeit damit beschäftigt, vorbeikommende Leute zu grüßen. Man könnte fast meinen, sie kennen jeden Einzelnen beim Namen. Nur hin und wieder wird ein Passant mit einem »Guten Tag« bedacht. In diesem Ort scheint die Zeit still zu stehen. Wir halten vor einem Haus, das ziemlich in die Jahre gekommen ist. Die Fensterläden könnten einen Anstrich vertragen und die Wände ebenso. Davor sind unzählige Blumentröge, die uns in den Farben Gelb, Rot und Lila entgegen leuchten.
Was soll daran schön sein? Ein moderner Komplex würde vielleicht nicht ganz in das Landschaftsbild passen, aber mehr Kunden aus den Nachbarstädten anlocken. Wir betreten das Restaurant und zu meiner Überraschung ist jeder Platz besetzt.
»Hallo, Sally, hast du einen Tisch für uns drei?« Ms. Stone blickt kurz über ihre Schulter zu mir. Natürlich kann ich ihre Abneigung mir gegenüber in ihren Augen lesen. Sie verabscheut mich und das sollte sie auch. Es wird für sie weitere Veränderungen geben, die sie jetzt noch nicht absehen kann. Denn mein Plan steht fest, ich werde den Laden schließen. Eigentlich war für mich von Anfang klar, dass ich ihnen mein Interesse für diese Filiale nur vorgaukele, und wie es aussieht, hat John den Köder gefressen. Er macht seinen Job nicht schlecht, darum wird er mit der Fortbildung ein Gewinn für eine andere Filiale sein.
»Alina, Schätzchen, für dich habe ich immer einen Tisch frei.« Als die Kellnerin um den Tresen hervor schlendert, kommt eine altmodische geblümte Schürze zum Vorschein. Mann, sind die hier alle im neunzehnten Jahrhundert stecken geblieben? Sie geht zu einem Tisch, an dem zwei Herren ihr Mittagsbier genießen. »Jess, Tom, macht Platz. Alina braucht einen Tisch«, sagt sie forsch. Die beiden Männer, die mit ihren karierten Hemden aussehen als wären sie Holzarbeiter, erheben sich langsam, ohne ein Wort zu verlieren.
»Hallo, Alina, wann können wir mal gemeinsam Essen gehen?«, sagt der Typ, der einen Bart hat wie der Weihnachtsmann.
»Tom, wie du weißt, bin ich vergeben«, antwortet Alina mit einem warmherzigen Lächeln, das den ganzen Raum zum Strahlen bringt.
»Ich weiß und das gefällt mir überhaupt nicht.« Er schmunzelt und zwinkert ihr zu.
John und Alina setzen sich gegenüber von mir hin. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass einer von ihnen neben mir sitzt. Sie wissen, wer ich bin und was ich alles in der Hand halte. Darum bin ich so überrascht, dass Ms. Stone sich nicht mehr anstrengt, um mir zu gefallen.
Nachdem die Bedienung die Bestellung entgegengenommen hat, ist es kurz still am Tisch.
»Also, Mr. Jenkins, was haben Sie mit unserer Filiale vor?«
Plötzlich bemerke ich ein Rumpeln unterm Tisch und ein Wimmern entweicht Alina. Mr. Garner wirft ihr einen warnenden Blick zu und ich verkneife mir nur schwer ein Grinsen. Die beiden sind wie bei einer Sitcom, so lustig.
»Derzeit kann ich dazu nichts sagen. Ich muss erst mehr Einblick in diese Filiale bekommen. Die Zahlen sind nicht gerade berauschend, wenn man sie mit anderen Häusern vergleicht. Außerdem wird Mr. Garner zur Weiterbildung nach New York geschickt.«
»Seltsam, die letzten Jahre hat es für Ihren Vater gereicht.« Ihre Augen funkeln mich an und sie verabscheut mich nicht nur, sondern sie hasst mich.
»Alina, jetzt ist es aber genug!« Johns rotes Gesicht erholt sich heute überhaupt nicht. Der Typ tut mir langsam sogar ein bisschen leid.
»Ach, das wissen Sie so genau?« Meine Augen fixieren sie, doch das bringt sie anscheinend nicht aus der Ruhe. Das wunderschöne Lächeln, mit dem sie vorhin die alten Männer bedacht hat, wird sie mir wohl niemals schenken.
»Ihr Vater war ein guter Mann. Er vertraute uns.« Alina verschränkt ihre Arme.
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, entgegne ich. Sie ahnt bestimmt, was ihr und ihren Kollegen blüht, aber das ist mir egal. All diese Menschen hier bedeuten mir nichts. Es gibt nur eine Person auf dieser Welt, die für mich alles ist, und das ist meine Mutter. Diese Frau hat mich geboren und mich zu dem Mann gemacht, der ich heute bin. Sie gab mir von klein auf den Mut, stark zu sein. Die Position als CEO dieses Unternehmens weiterzuführen, wurde mir in die Wiege gelegt. Kurz muss ich schwer schlucken bei dem Gedanken an meine Mutter. Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Doch seit mein Vater gestorben ist, fällt sie in sich zusammen. Die letzten Wochen waren hart für sie. Auch für mich. Doch ich musste meinem Dad versprechen, mich um das Unternehmen zu kümmern und stark zu sein. Das bin ich, obwohl es mir nicht immer leichtfällt.
Unser Essen samt Getränken wird serviert und wieder herrscht dieses drückende Schweigen. Es ist gut, wenn meine Angestellten einen gewissen Respekt vor mir haben. Nur diese Frau scheint zu vergessen, wie sie mit mir umgehen soll.
»Wie lange werden Sie in der Stadt bleiben?« Ms. Stone ist weiterhin reserviert in ihrer Tonlage.
»Bis ich das Gefühl habe, über alles genau Bescheid zu wissen.« Ich nehme einen Schluck Wasser. Der Burger war ausgesprochen lecker. Kein Wunder, dass die Leute scharenweise in dieses Restaurant kommen. Nur die Optik lässt eindeutig zu wünschen übrig, aber die Gäste scheint es nicht zu stören.
»Sie haben doch sicher einiges in der Zentrale zu tun«, gibt mir Ms. Stone zu bedenken und nun muss ich tatsächlich laut auflachen.
»Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, aber ich kann meine Geschäfte auch aus der Ferne erledigen.«
»Haben Sie Frau und Kinder?« Mr. Garner versucht, das Thema auf etwas anderes zu lenken, das ist mir bewusst. Er merkt, wenn er seiner Angestellten nicht den Hahn abdreht, wird es für sie Konsequenzen geben. Denn ich werde mich nicht von ihr vorführen lassen. Irgendwann haben auch hübsche Frauen bei mir keinen Bonus mehr, wenn sie mir allzu sehr auf den Sack gehen.
»Nein, ich bin Single. Und Sie?«
»Ich bin seit zwei Jahren verheiratet und werde in wenigen Wochen Vater.« Seine Augen beginnen dabei zu leuchten. Es macht ihn stolz. Ich kenne solche Gefühle nicht, denke auch nicht, dass so etwas in mein Leben passen würde. Ich reise gerne durch die Welt und lasse es mir gut gehen.
»Und Sie haben bestimmt das perfekte Haus mit weißem Zaun davor?« Mr. Garner sieht aus, als würde er das Leben wie aus einer Werbesendung führen.
»Sie müssen nicht so abwertend mit anderen Personen umgehen«, murrt Ms.