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Die langersehnte Fortsetzung der beliebten Urban-Fantasy-Reihe! Ab Band 16 im Second Chances Verlag (Bände 1-15: Piper). Blut ist angeblich dicker als Wasser, aber das Böse schlägt immer durch … Ein netter Abend mit Freunden wird für Gin Blanco, die berüchtigte Profikillerin »Die Spinne« und derzeitige Königin von Ashlands Unterwelt, plötzlich alles andere als entspannend: Ihr Freund Stuart Mosley gerät ins Visier von Entführern. Kein Wunder, gegen den Präsidenten der First Trust Bank hegen viele Menschen einen Groll. Nur wer hat sich ausgerechnet jetzt aus der Deckung gewagt, wo Mosley eine Charity-Auktion mit der Crème de la Crème von Ashland plant? Um ihren Freund zu schützen, stellt Gin Nachforschungen an, doch ihr läuft die Zeit davon. Denn unvermittelt taucht ein weiterer Gegner auf. Dieser neue Feind kennt eins ihrer dunkelsten Geheimnisse und will nur eines: gnadenlose Rache und – Gins Tod!
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2025
JENNIFER ESTEP
SPINNENFLUCH
ELEMENTAL ASSASSIN 17
Aus dem Amerikanischen von Corinna Wieja
Über das Buch
Blut ist angeblich dicker als Wasser, aber das Böse schlägt immer durch …
Ein netter Abend mit Freunden wird für Gin Blanco, die berüchtigte Profikillerin »Die Spinne« und derzeitige Königin von Ashlands Unterwelt, plötzlich alles andere als entspannend: Ihr Freund Stuart Mosley gerät ins Visier von Entführern. Kein Wunder, gegen den Präsidenten der First Trust Bank hegen viele Menschen einen Groll. Nur wer hat sich ausgerechnet jetzt aus der Deckung gewagt, wo Mosley eine Charity-Auktion mit der Crème de la Crème von Ashland plant?
Um ihren Freund zu schützen, stellt Gin Nachforschungen an, doch ihr läuft die Zeit davon. Denn unvermittelt taucht ein weiterer Gegner auf. Dieser neue Feind kennt eins ihrer dunkelsten Geheimnisse und will nur eines: gnadenlose Rache und – Gins Tod!
Über die Autorin
Jennifer Estep ist eine internationale Bestsellerautorin von mehr als vierzig Büchern, die für ihre Romane gern in die Welten ihrer Fantasie eintaucht. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit Familie und Freunden, mit Yoga oder dem Lesen von Fantasy- und Liebesromanen. Sie schaut gerne und viel zu viel fernsehen und hat eine Vorliebe für Superhelden.
Die englische Ausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Venom in the Veins«.
Deutsche Erstausgabe Oktober 2025
© der Originalausgabe Jennifer Estep
© für die deutschsprachige Ausgabe 2025:
Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,
Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg
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Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC
vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30161 Hannover.
Umschlaggestaltung: Zero Media
Lektorat: Julia FunckeSatz & Layout: Second Chances Verlag
ISBN Taschenbuch: 978-3-98906-116-3
ISBN E-Book: 978-3-98906-115-6
www.second-chances-verlag.de
Für die Fans der Elemental-Assassin-Serie,
die sich weitere Geschichten wünschten – dies ist für euch.
Für meine Mom und meine Oma – für alles.
Titel
Über die Autorin
Impressum
Widmung
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»Der heutige Abend wird episch werden!«
Ich schaute meinen Ziehbruder Finnegan Lane an. »Wirklich? Und warum?«
Er grinste. »Weil wir im teuersten Restaurant von Ashland speisen und ich nicht derjenige bin, der bezahlt.«
Ich verdrehte die Augen. »Das ist so typisch für dich, dass du die Qualität einer Mahlzeit nach den Auswirkungen auf dein Portemonnaie beurteilst.«
Finns Grinsen wurde breiter. »Was soll ich sagen? In dieser Hinsicht bin ich der totale Gourmet.«
Um seinen sogenannten Gourmet-Status unter Beweis zu stellen, nahm er sich eine Baguettescheibe aus dem Brotkorb in der Mitte des Tisches, beschmierte sie mit Honigbutter und schob sich das ganze Teil in den Mund. Beim Kauen und Schlucken stieß er einen wohligen Seufzer aus. Dann schnappte er sich eine weitere Scheibe und bestrich sie mit noch mehr Butter als die davor. Vermutlich wünschte er sich, dass man die Butter geschmolzen hätte, sodass er das komplette Baguette hätte hineintauchen können.
Als typischer Südstaatengentleman betrachtete Finnegan Lane Butter als Dip-Soße, nicht als Aufstrich. Das Gleiche galt für Ranch-Dressing, Honigsenf, Sour Cream und gelegentlich sogar Mayonnaise. Als typische Südstaatenlady konnte ich ihm in dieser Hinsicht nur zu hundert Prozent zustimmen.
Wir speisten im Underwood’s, dem teuersten Fresstempel der Stadt, der Art Restaurant, die so schick und überkandidelt war, dass man hier missbilligend die Augenbrauen hochzog, wenn Butter und andere Aufstriche als Dips oder Würzsoßen behandelt wurden. Ihr Pech.
Unser Tisch war mit einem blendend weißen Tischtuch und poliertem Silberbesteck gedeckt, daneben standen glänzende Kristall-Weingläser und in der Mitte der silberne Brotkorb, den Finn rasch leerte. Alles, vom Tischtuch über die Gläser bis hin zu den Buttermessern, war entweder bedruckt, gestempelt oder geprägt mit einer kleinen Gabel – die Rune des Restaurants und ein Symbol für das gute Essen, das man hier servierte.
Unser Tisch befand sich im hinteren Teil des Raumes, neben den bodentiefen Fenstern, die einen atemberaubenden Blick auf die Skyline von Ashland boten. Unten in den Läden und Restaurants der Straße brannten helle Lichter, die die Menschen aus der Kälte des verschneiten Abends ins Innere einluden. Ihr Schein verschmolz und erstreckte sich entlang des Aneirin, sodass das Wasser des Flusses glitzerte wie ein silbernes Band, das sich durch die Innenstadt schlängelte. In der Entfernung konnte ich gerade noch so den weißen Schimmer der Delta Queen ausmachen, des Flussboot-Casinos, das an seinem üblichen Platz ankerte.
Einen Moment lang genoss ich den Ausblick, bevor ich mich erneut im Restaurant umsah. Es war erst kurz nach sechs Uhr, und das Underwood’s füllte sich langsam. Einige Gäste verzehrten bereits ihre Steaks und Grillhähnchen, aber die meisten hielten sich an der Bar auf, um bei einem Drink noch ein letztes Businessgespräch zu führen, bevor sie nach Hause fuhren oder die After-Work-Party starteten.
Auch Finn und ich waren geschäftlich hier. Wir warteten auf Stuart Mosley, Finns Chef und Präsident der First Trust Bank.
Ich schaute auf meine Uhr. »Was hast du gesagt, von wo Mosley kommt? Es sieht ihm gar nicht ähnlich, sich auch nur ein paar Minuten zu verspäten.«
Finn kaute und schluckte die zweite Baguettescheibe hinunter. »Er wollte noch einige letzte Einzelheiten wegen der Wohltätigkeitsauktion morgen Abend klären. Du weißt schon, die mit Mabs ganzem Zeug.« Er machte eine kurze Pause. »Zumindest mit den Sachen, die nicht durch den Briartop-Raub im Sommer zerstört wurden.«
Ich zog eine Grimasse. »Oh. Das.«
Mab Monroe war ein Feuerelementar gewesen, der in Ashlands Unterwelt jahrelang den Ton angegeben hatte, bevor ich sie tötete, weil sie meine Familie ermordet hatte. Nach Mabs Tod war ihre umfangreiche Kunstsammlung an das Briartop-Museum gegangen, wo sie ausgestellt werden sollte. Allerdings hatte eine Räuberbande aus Riesen die Eröffnungsgala der Ausstellung gecrasht und viele Kunstwerke zerstört. Natürlich hatte ich mir die Räuber geschnappt, aber es war ihnen dennoch gelungen, bei dem misslungenen Raubzug mehrere unschuldige Menschen zu verletzen oder gar zu töten.
Die unbeschädigten Kunstwerke hatte man eingelagert, und in den vergangenen Monaten hatte es einige Rechtsstreitigkeiten gegeben, bis die Leitung des Museums beschloss, alles zu wohltätigen Zwecken zu versteigern. Das Geld, das dabei zusammenkam, sollte den Opfern des Überfalls und ihren Familien gespendet werden, außerdem waren Reparaturen und neue Sicherheitsmaßnahmen in Briartop geplant. Das war auch dringend nötig, da das Museum ständig überfallen wurde, als sei es ein Kiosk und keine angesehene Kunst-Institution.
»Mosley sitzt im Leitungsgremium des Museums, oder?«, fragte ich.
Finn griff sich noch ein Stück Baguette. »Ja. Die Wohltätigkeitsauktion war seine Idee. Er kümmert sich auch um alles, einschließlich des Katalogisierens und Lagerns der Kunstwerke und der Bewachung von Mabs Sachen bis zur Auktion.«
Das Gerede über den Feuerelementar sorgte dafür, dass meine Hände juckten und brannten. Ich betrachtete die Narben in meinen Handflächen, kleine Kreise, von je acht dünnen Strahlen umgeben. Spinnenrunen, das Symbol für Geduld.
Selbst jetzt, Jahre später, erwartete ich bei jedem Blick auf die Brandzeichen, dass sie so rot, blasig und schmerzhaft wären wie in der Nacht, als Mab sie mir mit ihrer grausamen Magie in die Haut gesengt hatte. Die Male waren inzwischen verblasst, aber meine Erinnerung war immer noch so frisch wie das Baguette, das Finn mampfte.
Unwillkürlich schloss ich die Finger zu Fäusten, verbarg die Narben, zwang mich jedoch, wieder locker zu lassen. Ein Steinsilber-Ring mit meiner Spinnenrune glänzte an meinem rechten Zeigefinger, und ich drehte ihn mehrere Male. Dann hob ich die Hand, umschloss damit den Spinnenrunen-Anhänger an meinem Hals und schob ihn an der Steinsilber-Kette hin und her. Mich auf das kalte, feste Metall der Runen zu konzentrieren – meiner eigenen Spinnenrunen –, half mir, den lauernden Phantomschmerz in meinen Händen und die damit verknüpften schrecklichen Erinnerungen in Schach zu halten.
»Ich hoffe, der Chef kommt bald«, sagte Finn. »Ich verhungere sonst noch.« Er griff nach der vierten und letzten Baguettescheibe im Korb, aber ich gab ihm einen Klaps auf die Hand.
»Lass das für Mosley übrig. Das Dinner war immerhin seine Idee. Und wie du so eloquent festgestellt hast, bist nicht du derjenige, der zahlt. Sondern er. Und deshalb sollte der Mann für sein Geld wenigstens etwas zu essen bekommen.«
Finn verengte die grünen Augen und rieb mit einem Daumen über den Griff seines Buttermessers, als überlegte er, ob er mich damit bewerfen sollte.
Ich grinste. »Willst du wirklich einen Messerkampf mit mir anzetteln? Nur zu, Süßer. Trau dich.«
Sein Blick fiel auf die langen Ärmel meines schwarzen Hosenanzugs, in denen sich die beiden Messer verbargen, die ich immer bei mir trug – Steinsilber-Klingen, die sehr viel stärker und schärfer waren als die armselige Schneide, die er in der Hand hielt.
Er seufzte und legte das Messer weg. »Spaßbremse.«
Ich grinste breiter. »Das sagst du mir immer wieder.«
Ein Kellner trat an unseren Tisch. »Ms Blanco?«, fragte er. »Ms Gin Blanco?«
Unwillkürlich spannte ich mich an. »Ja, das bin ich.«
Der Kellner verneigte sich leicht und hielt uns eine Champagnerflasche hin. »Mit besten Grüßen von dem Gentleman rechts.«
Ich schaute zum betreffenden Tisch und entdeckte einen Mann mit dunkelbraunem Haar, blauen Augen und gebräunter Haut. Liam Carter, einer von Ashlands vielen Unterweltbossen, hob respektvoll sein Champagnerglas und prostete mir zu. Die beiden Riesen an seinem Tisch taten es ihm nach. Ich neigte den Kopf, um höflich zu grüßen und ihm für sein Geschenk zu danken, auch wenn ich innerlich seufzte.
Selbst hier, in einem netten, ruhigen Restaurant, an einem Abend, an dem ich mich einfach nur entspannen wollte, konnte ich meinem Ruf nicht entkommen – Gin Blanco, die Spinne, Ashlands gefürchtetste Profikillerin und angebliche Königin der Unterwelt.
Der Kellner öffnete geschickt die Champagnerflasche, schenkte Finn und mir ein und verließ den Tisch. Ich hatte keine Lust auf Champagner, aber es wäre ziemlich grob gewesen, das Geschenk zu ignorieren. Daher hob ich mein Glas, prostete Carter zum Zeichen des Respekts zu und trank einen großen Schluck von dem kalten, perlenden Alkohol. Carter erwiderte die Geste, dann unterhielt er sich wieder mit den beiden an seinem Tisch.
Aus Höflichkeit nahm ich noch einen kleineren Schluck, aber die sprudelnden Blasen verursachten ein intensives Kitzeln in meinem Kopf. Ich stellte das Glas zur Seite und hob die Hand, damit niemand mitbekam, wie ich mit der Nase wackelte, um den Druck loszuwerden. Owen Grayson, mein Lebensgefährte, nannte es scherzend mein Saure-Karotten-Gesicht, so als sei ich ein Hase, der etwas gegessen hatte, das ihm nicht schmeckte.
Champagner hatte beinahe immer diese Wirkung auf mich, und ein paar Schlucke reichten, um einen heftigen Niesanfall auszulösen, was ich mir vor Carter und den anderen Unterweltbossen, die hier speisten, nicht erlauben konnte. Sie würden mich sonst für eine Mimose halten, die nichts vertrug, was meinen Ruf als knallharte Killerin total ruinieren würde.
Finn nippte an seinem Glas und seufzte genüsslich.
»Was läuft da zwischen dir und Liam Carter, dass er dir Champagner spendiert?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich helfe ihm, einen Friedensvertrag mit einem seiner Rivalen auszuhandeln. In letzter Zeit kommt er auch oft ins Pork Pit. Angeblich liebt er meine Kochkünste, aber ich glaube, in Wirklichkeit ist er da, um mit Silvio zu flirten. Bisher hat Silvio darauf jedoch nicht reagiert. Sein Kaffee-Date an den Feiertagen ist wohl nicht so gut gelaufen, und jetzt ist er ein wenig scheu.«
Silvio Sanchez war mein persönlicher Assistent und noch zurückhaltender und vorsichtiger mit seinen Gefühlen als ich.
Finn musterte Liam Carters marineblauen Anzug und nickte anerkennend. »Zumindest steht fest, dass er einen guten Geschmack in Sachen Champagner und Kleidung hat. Das spricht auf jeden Fall für ihn. Silvio könnte es schlechter treffen.«
Ich schnaubte. »Lass mich raten. Du würdest das Dating-Potenzial eines Mannes danach beurteilen, wie teuer seine Krawatte ist.«
»Wenn ich Interesse an Männern hätte, definitiv. Kleidung macht zwar keinen Gentleman, aber sie ist sicherlich ein hilfreicher Hinweis.« Finn richtete seine silberne Krawatte, die sowieso schon untadelig saß, bevor er sich die graue Anzugjacke glatt strich. »Und dann gibt es unter uns selbstverständlich noch die von Natur aus schönen Menschen.« Er zwinkerte mir zu und tätschelte seine walnussbraune Mähne. Als er sich vergewissert hatte, dass die Frisur noch perfekt war, griff er wieder zum Buttermesser und drehte es hin und her, als sei es ein Spiegel, den er sich vors Gesicht halten wollte.
»Falls du deine Schönheit darin bewundern willst, werde ich dir das Messer wegnehmen und dir zeigen, wofür es gedacht ist«, warnte ich. »Messer braucht man zum Essen. Oder um Leute zu erstechen. Für sonst nichts.«
Finn setzte grinsend zu einer Antwort an, aber dann entdeckte er hinter mir jemanden und winkte. »Schluss mit lustig. Mosley ist hier.«
Ich schaute in die angegebene Richtung. Stuart Mosley erklärte der Empfangsdame, dass er zu uns wolle, und bahnte sich einen Weg an den Tischen vorbei, wobei er immer wieder Bekannte grüßte.
Mosley war ein Zwerg, etwa eins fünfzig groß, mit welligem silbergrauen Haar, haselnussbraunen Augen und einer Hakennase, die aussah, als sei sie mehr als einmal gebrochen worden. Wie Finn und die meisten anderen Männer im Restaurant war er in einen teuren Anzug gekleidet. Mit dem Unterschied, dass er kein modisches, auffallendes Zinngrau gewählt hatte wie mein Bruder, sondern ein dunkles, anonymes Marineblau.
Schließlich erreichte er unseren Tisch. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. »Ich musste mich noch um ein paar dringende Kleinigkeiten für die Wohltätigkeitsauktion morgen kümmern.«
Ich nickte. »Das hat Finn schon erklärt. Setz dich doch, bitte. Wir haben uns gerade die Speisekarte angeschaut.«
Mosley nahm Platz, und der Kellner kam, um unsere Getränkebestellung aufzunehmen. Scotch für Finn und Mosley und ein Gin on the rocks mit einer Limettenscheibe für mich. Gin für Gin, so war es meine Tradition. Einige Minuten später brachte der Kellner die Getränke und notierte unsere Speisenwünsche.
Mosley leerte sein Glas in einem langen Schluck und bestellte einen weiteren Scotch, den der Kellner in Windeseile servierte. Seufzend schüttelte der Zwerg den Kopf. »Ich schwöre, diese Gala wird mich noch ins Grab bringen. Ich habe die letzte Stunde mit einer Diskussion darüber verbracht, ob wir den Veranstaltungsraum morgen mit weißen Rosen oder Orchideen schmücken sollten. Eine Stunde! Als ob mir die Blumen wichtig wären.«
Ich verkniff mir ein Lächeln. Stuart Mosley war einer der einflussreichsten Männer in Ashland, aber er war mir nie wie ein geschwätziger Salonlöwe vorgekommen. Nach dem, was Finn mir im Verlauf der letzten Wochen erzählt hatte, brachten die anderen Mitglieder des Museumsgremiums den Zwerg mit ihren immer ausschweifenderen und teurer werdenden Ideen für die Auktion ziemlich auf die Palme.
»Das sollte ein kleines Event werden, doch sie machen einen verdammten Zirkus draus«, brummelte Mosley. »Wenn es nach mir ginge, würde ich die Auktion irgendwo mitten auf einem Feld veranstalten. Aber nein, wir müssen ja ein Buffet haben, und Blumen und Musik und einen Saal.« Er spie das letzte Wort aus, als sei es ein Fluch. »Und immer, wenn ich denke, jetzt ist alles geregelt, will jemand die Blumen auf den letzten Drücker ändern. Ich fand, dass sich weiße Orchideen perfekt eignen, aber nein, offenbar hab ich mich getäuscht, und weiße Rosen sind weitaus eleganter.« Auch dieses Wort spuckte er förmlich aus, als hätte er es so oft gehört, dass er es am liebsten aus dem weltweiten Wortschatz löschen würde.
»Betrachte es mal von der positiven Seite – morgen wird es überstanden sein«, sagte Finn in dem Versuch, ihn aufzumuntern.
Mosley massierte sich die Schläfen. »Glaub mir, dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, und ich zähl schon die Stunden.« Er seufzte und legte die Finger so aneinander, dass sie ein Dach bildeten. »Aber ihr zwei seid nicht hergekommen, um mein Gejammer zu ertragen. Ihr seid hier, um über Fletcher zu reden.«
Finn und ich richteten uns unwillkürlich etwas auf. Fletcher Lane war Finns verstorbener Vater und mein Mentor, deswegen bedeutete er für uns beide sehr viel. Er war mit Mosley befreundet gewesen, und Stuart schien alles über Fletchers Neigung zu wissen, Menschen zu helfen, die sich nicht selbst helfen konnten. In gewissen Kreisen hatte man Fletcher als den Profikiller »Zinnsoldat« gekannt.
»Alles, was du uns erzählen kannst, könnte nützlich sein«, sagte ich. »Ganz egal, wie unbedeutend es dir erscheinen mag. Besonders, wenn es Fletcher oder den Kreis betrifft.«
Der Kreis, so nannte sich eine Geheimgesellschaft, die in Ashland für die meisten Verbrechen und einen Großteil der Korruption verantwortlich war. Mab Monroe hatte in der Gruppe kräftig mitgemischt, ebenso wie meine Mutter Eira Snow. Das war für mich ein Schock gewesen, da ich immer geglaubt hatte, Mab hätte meine Mutter und meine ältere Schwester Annabella wegen einer alten Familienfehde zwischen den Monroes und den Snows ermordet. In Wahrheit aber hatten die anderen Mitglieder des Kreises Mab damit beauftragt, meine Familie zu töten – und dafür würden sie teuer bezahlen.
Seit ich vor einiger Zeit herausgefunden hatte, dass meine Mutter in die geheimen Machenschaften dieser Gesellschaft verwickelt gewesen war, hatte ich jedes bisschen Information über den Kreis und seine Mitglieder gesammelt, das ich aufspüren konnte. Meine Suche hatte mich schließlich zu mehreren Schließfächern in der First Trust Bank geführt; Fletcher hatte Mosley gebeten, sie zu überwachen.
»Wie ich weiß, habt ihr die Fotos gesehen, die Fletcher in den Schließfächern hinterlassen hat«, sagte Mosley. »Und ich nehme an, ihr habt inzwischen alle darauf identifiziert. Zumindest die, die noch leben.«
Finn und ich nickten.
»Darüber hinaus kann ich aber vermutlich nicht weiterhelfen«, fuhr er fort. »Fletcher hat mir nie viel über den Kreis erzählt. Nur dass die Menschen auf diesen Fotos dazugehörten und extrem gefährlich seien, weshalb ich aufpassen müsse, sollte ich es je mit ihnen zu tun bekommen. Ich wusste eigentlich nur, dass Fletcher diese Leute im Auge behielt. Ich habe ihn natürlich nach dem Kreis gefragt, mehr als einmal. Aber aus irgendwelchen Gründen wollte er nicht darüber reden. Er schien immer etwas … traurig und … reumütig zu sein, wenn ich das Thema zur Sprache brachte.«
Enttäuschung wallte in mir auf, aber ich war nicht überrascht. Fletcher war ein Geheimniskrämer gewesen, er hatte es geliebt, Sachen für sich zu behalten, und mit einem solch bedeutenden Geheimnis wäre er extrem vorsichtig gewesen. Ich bezweifelte, dass er Mosley überhaupt etwas über den Kreis anvertraut hätte, wenn er nicht diese Schließfächer von dem Zwerg hätte mieten müssen, um die Informationen sicher aufzubewahren.
Dennoch wunderte ich mich über Mosleys Einschätzung von Fletchers Emotionen. Warum hätte der alte Mann wegen des Kreises traurig sein sollen? Oder gar reumütig? In diesem Puzzle fehlten immer noch jede Menge Teile, daher beschloss ich, mich auf eine der wenigen Spuren zu konzentrieren, die ich hatte.
»Was ist mit Mason?«, wollte ich wissen. »Hat Fletcher mal jemanden mit diesem Namen erwähnt?«
Ich hielt den Atem an und hoffte inständig, dass ich endlich eine Antwort auf die Frage bekam, wer dieser Mason war, abgesehen davon, dass er der geheimnisvolle Anführer des Kreises war und der Mann, der den Mord an meiner Mutter in Auftrag gegeben hatte.
Mosley trommelte mit den Fingern auf den Tisch und dachte nach. Einen Moment später hielt er inne und schüttelte den Kopf. »Nein, ich erinnere mich nicht. Es gibt viele Leute mit dem Namen Mason in dieser Stadt. Mit mehreren habe ich Geschäftsbeziehungen, aber es sticht niemand heraus, und nichts weist darauf hin, dass einer von ihnen die Person sein könnte, nach der du suchst. Es tut mir leid, Gin.«
Tief enttäuscht atmete ich geräuschvoll aus, doch ich zwang mich zu einem Lächeln. »Das ist ja nicht deine Schuld. Manchmal denke ich, dass Fletcher viel zu raffiniert und verstohlen war.«
»Das ist wohl wahr.« Mosley schenkte mir ein Lächeln, doch Trauer lag in seiner Miene. »Das ist wohl wahr.«
Der Kellner brachte unser Essen, und wir konzentrierten uns darauf. Mein Pfeffersteak war perfekt gegart und gewürzt, das Gratin köstlich, mit goldbraunen, knusprigen Kartoffeln und jeder Menge Gruyère-Käse, Sour Cream, Schnittlauch und Speck. Ein solches Gourmet-Steak mit Kartoffelbeilage war schwer zu schlagen, vor allem gegen das Underwood’s hatte man kaum eine Chance, denn hier wurde es immer perfekt zubereitet.
Beim Essen erzählte uns Mosley alle möglichen Geschichten über Fletcher, sowohl alberne als auch ernste. Die beiden waren viel bessere Freunde gewesen, als ich gedacht hatte, und sie hatten ziemlich viel miteinander unternommen, vom gemeinsamen Angeln bis hin zum Kampf gegen verschiedene böse Jungs.
Fletchers Tod würde immer eine kalte, stechende Narbe in meinem Herzen sein, und ich würde mich immer schuldig fühlen, weil ich seine Ermordung nicht hatte verhindern können, aber es war schön, sich an den alten Mann zu erinnern und daran, wie sehr wir ihn alle geliebt hatten. Es linderte die Trauer über seinen Verlust etwas, zumindest heute Abend.
Wir aßen gerade unser Dessert – Karamell-Apfel-Cheesecake, obendrauf Schlagsahne mit echter Vanille, warme Karamellsoße und getrocknete Apfelchips –, als Mosley plötzlich mit den Fingern schnippte.
»Wisst ihr, was? Ich erinnere mich an noch etwas, ein altes Buch, das Fletcher mir gegeben hat. Ich glaube, das wollte er auch in einem Schließfach deponieren.« Seine fröhliche Miene wurde ernst. »Aber er hatte vor seinem Tod keine Gelegenheit mehr, mir zu sagen, was ich damit tun sollte.«
Hoffnung keimte in mir auf.
Finn beugte sich vor, seine Augen funkelten, offenbar war er ebenso gespannt wie ich. »Und wo ist dieses Buch jetzt?«, fragte er. »Weißt du, was drinsteht?«
Mosley schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe Fletchers Privatsphäre respektiert, daher habe ich es mir nie angesehen. Es ist in meinem neuen Haus, in irgendeiner Kiste. Ich habe fast alle Umzugskisten ausgeräumt, es fehlen nur noch ein paar. Vermutlich werde ich es in ein, zwei Tagen gefunden haben …«
Sein Handy klingelte und unterbrach ihn. Mosley verzog das Gesicht, als er die Nummer auf dem Display erkannte. »Falls diese verdammte Auktion mich nicht vorher noch umbringt«, murmelte er.
»Probleme?«, fragte ich sarkastisch.
»Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es eine neue Krise mit den Blumen.« Er verzog verächtlich den Mund und schüttelte den Kopf. »Ich würde es ja ignorieren, aber sie probiert es sicher immer wieder, bis ich abnehme. Entschuldigt mich.«
»Natürlich«, sagte ich leise. »Lass dir Zeit.«
Er schenkte mir ein dankbares Lächeln, stand auf und wischte mit einem Finger über den Bildschirm. »Ja, Mosley.«
Während er redete, entfernte er sich langsam von unserem Tisch.
Und da fiel mir auf, dass wir beobachtet wurden.
Eine Frau saß allein am Ende der Bar und drehte sich auf ihrem Hocker um. Ihr dunkler Blick schwenkte immer wieder zu unserem Tisch, zu Finn und mir.
Finn hatte sie nicht bemerkt, daher aß ich meinen letzten Bissen Käsekuchen und legte die Gabel zur Seite, als sei alles normal. Dennoch verfolgte ich, was sie tat – aus dem Augenwinkel, damit sie nicht merkte, dass sie mir aufgefallen war.
Sie sah ziemlich hübsch aus: langes, welliges braunes Haar, dunkle Augen, bronzefarbene Haut. Ihr kurzes rotes Cocktailkleid betonte ihren Körper an all den richtigen Stellen. Das helle Rot war bei all den dunklen Anzügen wie ein Scheinwerfer, der sie hervorstechen ließ, und mehrere Blicke streiften sie interessiert.
Ein Mann beschloss, sein Glück zu versuchen. Er schlenderte hinüber und sprach sie an. Die Frau ignorierte seine Charme-Attacke jedoch und lehnte sich zur Seite. Sie nahm mich und Finn noch für einen Moment ins Visier, dann glitt ihr Blick weiter.
Zu Stuart Mosley.
Obwohl der Kerl vor ihr nach wie vor auf sie einredete, konzentrierte sich die Frau ganz auf den Zwerg, der nun an der Wand auf und ab lief und genervt telefonierte.
Ich verengte die Augen. Warum interessierte sie sich für Mosley?
Meine Spinnenrunen-Narben juckten und brannten, als ob sie mich vor einer potenziellen neuen Bedrohung warnen wollten. Vielleicht lag es aber auch an meiner stets lauernden Paranoia, die meine Alarmsirenen schrillen ließ.
Der Mann fragte die Frau etwas, vermutlich wollte er ihr einen Drink ausgeben. Aber sie schüttelte den Kopf, griff sich ihre rote Clutch von der Theke, stand auf und ging. Sie lief zum Essbereich, bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch, den Blick immer noch auf Mosley gerichtet.
Ich schubste Finn in die Seite, wodurch ihm sein letzter Cheesecake-Bissen auf die graue Seidenkrawatte plumpste. Er stieß einen Schreckenslaut aus, legte die Gabel weg und tupfte mit der Serviette an seiner Krawatte herum. Den Käsekuchen hatte er schnell beseitigt, aber ein großer Fleck von der Karamellsoße blieb.
»Das ist eine echte Fiona-Fine-Krawatte! Bria hat sie mir zu Weihnachten geschenkt.« Finster schaute er mich an. »Das ist meine Lieblingskrawatte, und jetzt hat sie einen Fleck, der vermutlich nie wieder herausgehen wird!«
»Keine Sorge, ich kauf dir eine neue.« Ich neigte leicht den Kopf in die Richtung, wo die Frau war. »Konzentrier dich, Finn. Hast du sie schon mal gesehen?«
Er hörte auf, mich böse anzustarren, und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau. Sofort hob sich seine Stimmung deutlich. »Nein, und das ist eine Schande. Denn wowiwow! Weißt du noch, was ich vorhin über Kleidung als Hinweis auf einen Gentleman sagte? Tja, und für sie spricht dieses Kleid.«
»Sie ist keine Kundin der Bank?«
Er betrachtete sie genauer, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. In der Bank bin ich ihr nie begegnet.«
Die Frau hatte das Labyrinth der Tische hinter sich gelassen und steuerte geradewegs auf Mosley zu. Dabei öffnete sie ihre rote Tasche und griff hinein.
Ich ließ eine Hand unter den Tisch sinken und holte ein Messer hervor. Dann wollte ich aufspringen, um ihr den Weg zu Mosley abzuschneiden, aber Finn berührte mich leicht am Arm und hielt mich auf.
»Warte, Gin«, sagte er leise. »Warte. Entspann dich. Sie wird ihm kaum mitten in einem Restaurant etwas antun. Außerdem kann Mosley auf sich selbst aufpassen. Lass uns sehen, was passiert.«
Ich blieb sitzen, doch die Finger hatte ich immer noch fest um mein Messer geschlungen. Das Gefühl der Spinnenrune auf dem Griff, die sich gegen die größere, dazu passende Narbe in meiner Handfläche drückte, beruhigte mich und half mir, meine Sorge zu bändigen.
Finn hatte recht. Wer auch immer sie war, sie würde Mosley kaum vor so vielen Zeugen verletzen. Nicht einmal die tollkühnste Attentäterin wäre so unvorsichtig.
Mosley beendete sein Gespräch, und die Frau trat zu ihm. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und offenbarte dabei die Reißzähne in ihrem Mund, die sie als Vampir auswiesen. Dann beugte sie sich vor und gönnte ihm einen intimen Blick aus nächster Nähe auf ihr beeindruckendes Dekolleté. Ich spannte mich an, als ich sah, wie sie die Hand aus der Tasche nahm, halb in der Erwartung, dass sie gleich eine Waffe ziehen würde. Sie holte jedoch nur eine goldene Lippenstifthülse hervor.
Die Frau drehte die Hülse auf und zog sich den roten Lippenstift über den Schmollmund, wobei sie Mosley einen flirtenden Blick schenkte, um ihn wissen zu lassen, dass sie für alles verfügbar war, was er im Sinn haben mochte.
»Siehst du?« Finn lehnte sich zurück. »Sie will ihn bloß aufreißen. Vermutlich sucht sie jemanden, der ihr ein Getränk und ein Essen ausgibt. Hör auf, so paranoid zu sein, Gin.«
Womöglich hatte er recht, aber wenn das stimmte, warum hatte sie den Mann an der Bar abgewiesen? Er hatte direkt vor ihr gestanden und wäre mehr als bereit gewesen, auf ein solches Angebot von ihr einzugehen. Doch stattdessen hatte sie ihn ignoriert und war quer durchs Restaurant gelaufen, um ihr Glück bei Mosley zu versuchen.
Ich runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht.«
»Nun, da hast du Glück, denn Mosley steht auch nicht drauf«, gab Finn zurück.
Tatsächlich schüttelte der Zwerg mit höflicher Miene den Kopf und lehnte ab, was auch immer die Frau ihm vorgeschlagen hatte. Er wollte um sie herumgehen, doch sie trat ihm in den Weg. Wieder sagte sie etwas, aber Mosley schüttelte erneut den Kopf. Dieses Mal ließ sie ihn gehen, und er kam auf Finn und mich zu.
Da er ihr den Rücken zukehrte, bemerkte er nicht, wie sich ihre dunklen Augen verengten und sie die roten Lippen fest aufeinanderpresste, während sie die manikürten Finger um den Lippenstift krallte, als wollte sie Mosley damit am liebsten ein Loch in den Kopf stechen.
Aber ich bemerkte es.
Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, doch in diesem Moment fiel mir etwas Wichtiges auf: Sie war nicht die Sorte Frau, die ein Nein akzeptierte. Was auch immer sie von Mosley wollte, sie war entschlossen, es zu bekommen.
Finn hatte sich auch früher schon getäuscht. Ich war nicht paranoid.
Dieser Abend würde ganz und gar nicht episch werden, sondern vielmehr gefährlich.
Mosley kehrte an den Tisch zurück, setzte sich und legte das Handy zur Seite. Er stieß einen langen, lauten Seufzer aus und massierte sich erneut die Schläfen.
»Das bringt mich noch ins Grab«, murmelte er. »Diese Leute bringen mich buchstäblich ins Grab.«
Er kippte den Rest seines Scotchs, griff zur Gabel und aß seinen Käsekuchen auf. Diskret ließ ich mein Messer wieder im Ärmel verschwinden, damit er es nicht bemerkte.
»Wer war die Frau, mit der du geredet hast?«, wollte Finn beiläufig wissen. »Hat sie was mit der Auktion zu tun?«
Mosley schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab sie noch nie gesehen. Sie hat sich als Vera vorgestellt und wollte mir einen Drink ausgeben, aber ich hab ihr gesagt, dass ich mit meiner momentanen Gesellschaft ganz glücklich bin.«
Finn öffnete den Mund, vermutlich um weitere Fragen zu der verführerischen Vera zu stellen, doch ich stieß ihm den Ellbogen in die Seite. Er schaute mich finster an, hielt allerdings die Klappe. Es bestand keinen Grund, Mosley wegen meines Verdachts zu beunruhigen, vor allem, da bisher nichts passiert war.
Noch nicht.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und tat so, als würde ich meine Nachrichten checken, während ich Vera verstohlen beobachtete.
Sie betrachtete Mosley noch einen Moment mit wütender Miene, dann drehte sie sich auf den roten Stilettos um und stolzierte zurück zur Bar. Sie winkte den Barkeeper zu sich und reichte ihm ihre Kreditkarte. Fünf Minuten später verließ sie ohne einen weiteren Blick das Restaurant.
Ich runzelte die Stirn. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell aufgeben würde. Vielmehr hatte ich damit gerechnet, dass sie Mosley ein Getränk an den Tisch schickte oder sogar herüberkam, um noch einen Flirtversuch zu wagen. Aber nicht damit, dass sie einfach so ging. Ein unbehaglicher Schauder überlief mich, doch ich behielt meine Vorahnungen für mich.
Mosley hatte inzwischen sein Dessert aufgegessen und schob den Teller von sich. Im selben Moment verkündete sein Handy mit einem Piepen, dass eine weitere Kurznachricht eingegangen war. Er schaute aufs Display und seufzte zum dritten Mal. »Es tut mir leid, dass ich diesen Abend beenden muss, aber die Pflicht ruft. In Form von Blumenarrangements.«
»Natürlich«, sagte ich. »Viel Glück mit der Auktion.«
Er brummte. »Im Moment will ich nur, dass dieses verdammte Event vorüber ist. Ich werde mich glücklich schätzen, wenn ich nie wieder über Kosten, Vorzüge, Pollenbelastung und Eleganz von Orchideen, Rosen oder anderen Blumen diskutieren muss.«
Mosley bedeutete dem Kellner, dass er zahlen wollte, und bekam eine schwarze Ledermappe in die Hand gedrückt. Der Zwerg griff nach seiner Brieftasche, doch das Handy piepte erneut, und er reichte die Mappe an Finn weiter.
»Übernimmst du das bitte, Finn? Ich muss diesen Nervensägen antworten.«
»Aber …«
Er wollte protestieren, doch Mosley hatte sein Handy bereits gezückt, den Stuhl zurückgeschoben und entfernte sich vom Tisch. Finn starrte die Mappe in seiner Hand an, dann schaute er zu seinem Chef, der jedoch ganz auf den Anruf konzentriert war und ihn komplett ignorierte.
Der verlorene Ausdruck im Gesicht meines Bruders brachte mich zum Kichern. »Was hast du noch gesagt? Dass es absolut episch sein würde, weil du das Dinner nicht bezahlen musst?«
Finn wies mit der Mappe auf mich. »Überstrapazier dein Glück besser nicht, Schwesterherz. Dad hat mir beigebracht, wie man Leute umbringt, schon vergessen? Ich könnte dich immer noch mit meiner Dessertgabel töten.«
Ich lachte.
Zehn Minuten später und mit mehreren Hundert Dollar weniger auf Finns Kreditkarte verließen wir das Underwood’s. Der Aufzug brachte uns ins Erdgeschoss, wenig später betraten wir den Bürgersteig. Es war inzwischen kurz nach acht und so eiskalt, dass die Schneeflocken zu Hagelkörnern gefroren waren, die auf meinen Wangen wie Nadeln stachen.
Mosley hatte sein Telefonat beendet und war uns nach draußen gefolgt. Er drehte das Gesicht nach oben und atmete tief und genüsslich ein. »Aaah! Es geht doch nichts über einen schönen flotten Verdauungsspaziergang, nicht wahr, Finn?«
»Ja. Schön flott. Richtig.« Finns Antwort klang nicht besonders begeistert, obwohl seine miese Laune wohl eher damit zu tun hatte, dass er das Abendessen hatte bezahlen müssen, als mit der Kälte.
»Hast du dir das Barnes-Konto angeschaut, bevor du gegangen bist?«, fragte Mosley. »Ich wollte das schon früher ansprechen, aber diese Blumenkrise hat mich abgelenkt.«
Finn nickte. »Natürlich. Ich hab ihn sogar angerufen, um ihn darüber zu informieren, dass wir einen Buchhaltungsfehler bemerkt haben …«
Während die beiden sich über Bankgeschäfte unterhielten, klemmte ich meine Tasche unter den Arm und zog den Reißverschluss meiner schwarzen Fleecejacke zu. Nicht weil mir kalt war wie Finn, sondern weil ich bei dieser Geste unauffällig die Umgebung beobachten konnte.
Teure Limousinen und SUVs standen auf beiden Seiten der Straße, ein deutliches Zeichen dafür, dass das Underwood’s gut besucht war. Die anderen Läden waren längst geschlossen. Der Bürgersteig lag verlassen da, wenn man von dem einsamen Portier im roten Parka absah, der fröstelnd auf einem hohen Stuhl neben dem Holzpodest am Restauranteingang saß. Kein Auto fuhr vorbei, nur das leise Pfeifen des Winterwindes und das sanfte Prasseln der Eiskörner auf dem Asphalt waren zu hören.
Die Stille hätte mich eigentlich beruhigen sollen, aber das Gegenteil war der Fall. Obwohl ich niemanden in der Dunkelheit lauern sah, hatte ich das Gefühl, dass wir beobachtet wurden.
Finn und Mosley beendeten ihr Gespräch, ohne zu bemerken, dass ich die Umgebung mit wachsender Sorge in Augenschein nahm. Der Portier stand auf, doch Mosley winkte ab.
»Machen Sie sich nicht die Mühe«, sagte er. »Mein Auto steht bloß zwei Blocks entfernt. Es wird mich nicht umbringen, das Stück zu laufen.«
Dennoch gab er dem Mann ein Trinkgeld, ehe er zu mir und Finn zurückkam. »Ich halte die Augen offen und suche nach Fletchers altem Buch. Sobald ich es gefunden habe, rufe ich an. Es könnte aber ein paar Tage dauern. Zumindest, bis die Auktion vorüber ist und die Exponate an die Käufer verschickt wurden.«
Ich wäre am liebsten mit zu Mosleys Haus gefahren und hätte alles nach dem Buch durchwühlt, aber ich zwang mich zu einem höflichen Nicken. Das Buch lag nun seit Jahren in irgendeiner Kiste. Da machten ein paar Tage mehr auch nichts aus. »Danke dafür und für das nette Abendessen …«
Finn schnaubte und erinnerte mich so daran, dass er dafür bezahlt hatte, aber ich ignorierte ihn.
»Und danke vor allem für all die Geschichten über Fletcher«, fuhr ich fort. »Es war schön, über ihn zu reden und Erinnerungen auszutauschen.«
Mosley lächelte. »Ja, ja, das war schön.«
Spontan trat ich vor und umarmte ihn. Mosley schien davon überrascht zu sein, aber nach kurzem Zögern drückte er mich ebenfalls. Obwohl er über dreihundert Jahre alt war, wirkte er immer noch ziemlich kräftig, selbst für einen Zwerg, und er presste mir leicht die Luft aus den Lungen.
Gerade als ich dachte, er würde mir noch die Rippen brechen, ließ er mich los. Ich atmete verstohlen ein und sah zu, wie er Finn auf die Schulter klopfte, wobei mein Bruder leicht ins Stolpern kam.
»Nun, also«, sagte der Zwerg, immer noch lächelnd. »Dann überlasse ich euch beide mal euren üblichen Zeitvertreiben. Gute Nacht.«
Finn hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden und murmelte einen Abschiedsgruß. Ich hatte inzwischen wieder genügend Luft, um es ihm nachzutun. Mosley winkte uns noch mal zu, dann ging er. Mein Bruder holte seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche, und wir liefen über die Straße zu seinem silbernen Aston Martin.
Finn schloss den Wagen auf, öffnete die Fahrertür und setzte sich. Ich wollte gerade ebenfalls einsteigen, als mir eine Bewegung ein Stück entfernt auffiel.
Sofort war ich wachsam und schaute mich um. Ich sah jedoch nur Mosley, auf dem Weg zu seinem Auto, und eine Schneewolke, die aus einer dunklen Einfahrt waberte, die der Zwerg gerade passiert hatte.
Ich verengte die Augen. Nein, kein Schnee – Rauch.
Ein kleines rotes Glühen brannte in den tintenschwarzen Schatten, und ein Riese in schwarzer Lederjacke und schwarzer Wollmütze trat aus der Einfahrt auf den Gehweg. Der Riese zog noch einmal an seiner Zigarette, dann warf er sie weg. Der Stummel traf ein nahe stehendes Auto und fiel zu Boden. Ein paar rote Funken sprühten, ehe der kalte Winterwind sie zum Erlöschen brachte.
Der Portier saß immer noch auf seinem Stuhl, den Kopf gebeugt, und tippte auf seinem Handy, weshalb er die Zigarette nicht bemerkte. Selbst wenn, hätte er den über zwei Meter großen Riesen wohl kaum darauf angesprochen und zur Rede gestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich so ein paar gebrochene Knochen einhandelte, war hoch.
Der Riese blies den restlichen Zigarettenrauch aus seiner Nase wie ein Drache in einem alten Märchen, dann steckte er die Hände in die Jackentaschen und lief hinter Mosley her.
Vielleicht lag es an der harten, ausdruckslosen Miene oder seiner unauffälligen schwarzen Kleidung oder der Art, wie er immer wieder die Straße entlangsah, um sich zu versichern, dass sie noch verlassen dalag – jedenfalls war ich überzeugt, dass Umweltverschmutzung nicht das einzige Verbrechen sein würde, dass er an diesem Abend beging.
Mosley sprach schon wieder in sein Handy, daher fiel ihm der Mann nicht auf. Der Zwerg blieb an der nächsten Ecke stehen, schaute nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass die Straße frei war, ehe er sie überquerte. Der Riese tat dasselbe und folgte ihm. Auf diesem Straßenabschnitt waren mehrere Laternen aus und die Gegend in Schatten gehüllt.
Die perfekte Stelle für einen Raub – oder Schlimmeres.
»Äh, Gin? Steigst du irgendwann mal ein?« Finn lehnte sich über die Konsole und musterte mich. »Oder willst du bei geöffneter Tür stehen bleiben, während der Schnee reinweht und mir die Ledersitze versaut?«
Ich stellte meine Tasche auf den Beifahrersitz, öffnete meine Jacke, zog sie aus und legte sie ebenfalls ins Auto. »Fahr um den Block, und sammel mich am anderen Ende der Straße auf.«
Er runzelte die Stirn. »Was? Warum?«
»Ich werde ein Stück laufen. Sicherstellen, dass Mosley gesund bei seinem Auto ankommt.«
»Geht es wieder um diese Vera?« Finn seufzte. »Ich hab dir doch schon gesagt, dass du ein bisschen paranoid reagierst …«
Ich schloss die Tür und brachte ihn so zum Schweigen. Vielleicht hatte er recht, womöglich war ich überängstlich. Immerhin lungerte Vera offenbar nirgendwo auf der Straße herum. Aber ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man besser übervorsichtig war, besonders in dieser Stadt.
Das laute Rums der zufallenden Autotür hallte durch die Straße, woraufhin der Riese stehen blieb und über seine Schulter schaute. Ich duckte mich und schlich an dem Auto vor Finns Aston Martin vorbei, damit er mich nicht entdeckte.
Finn beobachtete mich mit fassungsloser Miene durch die Windschutzscheibe. Ganz offensichtlich dachte er, dass ich nicht mehr alle Latten am Zaun hätte. Ich machte eine scheuchende Bewegung. Er verdrehte die Augen, ließ aber den Motor an und fuhr los.
Am Ende des Blocks bog er rechts ab, und das Dröhnen des Motors verhallte bald. Der Riese blieb dennoch stehen und schaute ihm nach. Finn war anscheinend noch mal abgebogen und aus seinem Blickfeld verschwunden, denn plötzlich entspannte sich der Riese sichtlich und setzte Mosley nach.
Ich folgte ihm.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, parallel zu ihm, schlich ich über den Gehweg. Ich blieb geduckt, damit mein Kopf nicht über die Autodächer ragte und er mich womöglich bemerkte. Durch die Windschutzscheiben und die Lücken zwischen den Fahrzeugen behielt ich ihn im Auge. In der Hand hielt ich inzwischen eins meiner Steinsilber-Messer. Ich war mir zwar nicht sicher, dass der Riese nichts Gutes im Schilde führte, aber im Fall des Falles wollte ich vorbereitet sein.
Wieder sah sich der Mann um, als ob er sich vergewissern wollte, dass er allein war. Er beschleunigte seine Schritte und steuerte schnurstracks auf Mosley zu, der immer noch telefonierte. Mosley hielt an einer Ecke an, schaute nach links und rechts, dann überquerte er die Straße.
Auch der Riese blieb stehen, um zu prüfen, ob die Straße frei war. Während er nach rechts blickte, überquerte ich die Fahrbahn, sodass ich nun auf derselben Seite war wie er. Statt auf den Gehweg zu laufen, wartete ich jedoch hinter den geparkten Autos, bevor ich von einem zu anderen schlich, damit der Riese mich nicht entdeckte.
Mosley war den Block halb hinuntergegangen und hatte inzwischen sein Auto erreicht, einen sehr schicken schwarzen Audi. Das Handy immer noch in der Hand, lief er davor auf und ab, ganz eindeutig wollte er das Gespräch erst beenden, bevor er einstieg.
»Die Auktion ist morgen Abend … zu spät, um jetzt noch etwas zu ändern … Die Blumen spielen doch ohnehin keine Rolle …« Fetzen der Unterhaltung drangen über die Straße zu mir, aber der Wind und der prasselnde Schneeregen erstickten seine Worte schnell und trugen sie fort.
Seit Mosley sein Ziel erreicht hatte, hatte auch der Riese seine Schritte verlangsamt. Nun blieb er stehen, um sich eine weitere Zigarette anzuzünden, als sei er nur für einen späten Rauch-Spaziergang unterwegs. Dennoch kam er Mosley unmerklich näher.
Der Zwerg bemerkte ihn und nickte höflich zum Gruß. Der Riese nickte ebenfalls und setzte ein freundliches Gesicht auf, während er weiterschlenderte. Er ging jedoch nicht an Mosley vorbei und drehte auch nicht um, um wieder in die entgegengesetzte Richtung zu spazieren. Das allein verriet mir, dass er nichts Gutes im Sinn hatte. Wenn er vorhatte, Mosley auszurauben, dann sollte er es jetzt tun, solange der Zwerg durch den Anruf abgelenkt war.
Worauf wartete der Mann? Was wollte er von Mosley? Ich wusste es nicht, aber ich würde es herausfinden. Auf die eine oder andere Weise. Ich verstärkte den Griff um mein Messer.
Während Mosley sprach und der Riese rauchte, schlich ich mich von Auto zu Auto heran. Keiner der beiden hatte mich bislang entdeckt, daher verließ ich die Straße, umrundete das Heck eines SUV und duckte mich neben den Gehweg. Ich lugte um das Auto herum und atmete tief ein, bereit, loszuhechten und den Riesen von hinten zu überraschen.
»Wir haben das bis zum Erbrechen diskutiert«, knurrte Mosley. »Es gibt nichts mehr hinzuzufügen. Ich sehe Sie morgen. Gute Nacht.« Er tippte auf das Handy, um das Gespräch zu beenden. »Und auf Nimmerwiederhören.«
Mosley schob das Telefon in seine Hosentasche und holte seinen Autoschlüssel heraus, wobei er vor sich hin schimpfte. Was er sagte, konnte ich jedoch nicht verstehen. Er schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch seinen Frust loswerden, dann drückte er auf den Schlüssel, um das Auto zu entriegeln …
Die Tür auf der Beifahrerseite schwang auf.
Mosley hielt entsetzt inne, eindeutig überrascht von der unerwarteten Bewegung, was dem Riesen genug Zeit verschaffte, um seine Zigarette wegzuwerfen und hinter ihn zu schleichen.
Eine Frau stieg aus Mosleys Wagen, schloss die Tür und trat vor ihn auf den Gehweg. Lange, gewellte braune Haare, dunkle Augen, rote Stilettos und ein eng anliegendes rotes Kleid, das nun von einem schwarzen Mantel verdeckt wurde.
Vera hatte nach Mosleys Korb zwar das Restaurant verlassen, aber aufgegeben hatte sie nicht.
Stattdessen hatte sie sein Auto geknackt, um dort auf ihn zu lauern. Und dieses Mal hatte sie einen Riesen als Unterstützung mitgebracht, um sicherzustellen, dass sie bekam, was sie von dem Zwerg wollte.
Mosley erholte sich rasch von seinem Schock. Er verengte die Augen, machte einen Schritt zurück und drehte sich halb, damit er Vera und den Riesen gleichzeitig im Blick behalten konnte.
»Wer sind Sie?«, fragte er. »Und was machen Sie in meinem Auto?«
Vera trat vor. »Sie hätten sich auf mein Angebot im Restaurant einlassen sollen. Der Abend wäre so viel angenehmer für Sie verlaufen. Zumindest eine Weile.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber Sie mussten ja unbedingt Sperenzchen machen, deshalb werden wir die Sache nun auf die harte Tour erledigen müssen, nicht wahr, Eddie?«
Der Riese ließ die Fingerknöchel knacken. »Jep.«
Mosley betrachtete Eddie einen Moment, bevor er den Blick wieder auf Vera richtete. »Was wollen Sie? Mein Handy? Die Brieftasche? Das Auto?«
Sie lachte leise und spöttisch. »Oh, bitte! Wenn ich auf Ihr Handy oder Ihre Brieftasche aus wäre, dann hätte ich mir beides schon im Restaurant geholt. Und wie Sie sehen, brauche ich Ihre Schlüssel nicht, um in Ihr Auto zu gelangen. Aber es ist ein sehr schönes Auto und wird für uns ein hübscher Bonus für einen gut erledigten Job sein, stimmt’s, Schätzchen?«
Eddie ließ erneut die Knöchel knacken. »Aber sicher.«
Mosley presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und steckte den Autoschlüssel wieder ein. Er beugte und streckte ein paarmal die Finger, während sein Blick zwischen Vera und Eddie hin und her wanderte, als würde er sich aufwärmen und überlegen, wen von den beiden er zuerst angreifen sollte. Ich bewunderte seine Kampfinstinkte, auch wenn er sich um seine Gegner keine Sorgen machen musste.
Die Spinne war hier, und für meine Freunde kümmerte ich mich mit Freuden um solche Dinge.
Vera schien klar zu werden, dass Mosley sich nicht so leicht geschlagen geben würde, denn sie holte etwas aus ihrer roten Clutch und warf die Tasche auf den Gehsteig. Mit einem Rucken des Handgelenks ließ sie einen schwarzen Metall-Schlagstock ausfahren, die Art, wie Cops sie bei sich trugen, um einen Verdächtigen in Schach zu halten.
»Seien Sie ein Schatz, und steigen Sie ins Auto, bitte«, sagte sie. »Wir drei machen einen Ausflug.«
Mosley starrte auf den Schlagstock in ihrer Hand. Er machte keinen Schritt auf sie zu, aber er spannte sich an und ballte die Hände zu Fäusten, als ob er Widerstand leisten wollte.
»Glauben Sie wirklich, ich werde zum ersten Mal auf der Straße bedroht?«
Vera ließ den Schlagstock geschickt herumwirbeln. »Nein. Aber es wird das letzte Mal sein, wenn Sie nicht genau das machen, was ich Ihnen sage. Seien Sie also ein guter Junge, und geben Sie Eddie Ihre Schlüssel. Sofort. Bevor ich Ihnen den Schädel einschlage und Sie auf dem Gehweg verbluten lasse.«
Mosley musterte sie regungslos und offenbar unschlüssig.
Eddie war das Warten wohl leid, denn er packte Mosley am Arm und machte Anstalten, ihn zum Gehen zu zwingen. Aber der Zwerg presste die Absätze auf den Boden und rührte sich nicht von der Stelle. Eddies Augen verdunkelten sich, und er versuchte, Mosley grob vorwärtszustoßen. Mosley war jedoch ebenso stark wie der Riese und hielt die Stellung, entschlossen, sich nicht zu bewegen.
Vera ließ weiter ihren Stock herumschnellen und beobachtete die Männer, die gegeneinander schoben und drückten. Alle drei blieben auf ihrer Position, alle fragten sich vermutlich, wer diese Pattsituation zuerst aufbrechen würde.
Auch ich wartete auf etwas, oder besser gesagt, auf jemanden – Finn, der längst hier sein sollte.
Ungeduld wallte in mir auf. Wie lange konnte es dauern, um den Block zu fahren …
Endlich tauchten am Ende der Straße Scheinwerfer auf. Mosley, Eddie und Vera zuckten zusammen und schützten ihre Augen gegen das unerwartete helle Licht.
Finn hielt direkt auf sie zu, dann trat er abrupt auf die Bremse, sodass das Auto mitten auf der Straße zum Stehen kam. Mosley, Eddie und Vera wichen instinktiv zurück, obwohl sie sicher auf dem Gehsteig standen.
Und das war mein Zeichen.
Ich sprang auf, eilte um den SUV herum, hinter dem ich mich versteckt hatte, und sprintete vorwärts, direkt auf den Riesen zu, der mir am nächsten stand.
Offenbar hatte Eddie meine Schritte gehört, und er entdeckte mich, als ich auf ihn zulief. Fluchend schubste er Mosley aus dem Weg. Der Stoß traf den Zwerg unerwartet, und er verlor das Gleichgewicht, stolperte nach vorn und knallte mit dem Gesicht gegen die Steinfassade des nächsten Ladens. Aufstöhnend stützte er sich an der Wand ab, eindeutig benommen.
Eddie wandte sich mir zu und zog eine Waffe aus dem Bund seiner Jeans. Ich rannte zu ihm und verpasste ihm einen Hieb mit dem Messer. In letzter Sekunde riss Eddie den Arm zurück, sodass meine Klinge seine Waffe traf statt seines Handgelenks. Der Hieb war dennoch stark genug, dass sie ihm aus der Hand flutschte und zu Boden fiel.
Rasch kickte ich sie weg. Sie schlitterte hinter mir über den Bürgersteig, außerhalb von Eddies Reichweite. Der Riese erholte sich jedoch schneller als erwartet. Bevor ich ihn wieder mit dem Messer attackieren konnte, hechtete er vor und schloss eine Hand um meine Kehle, in dem Versuch, mich zu erwürgen.
»Du glaubst ernsthaft, du kannst mich aufschlitzen? Keine verdammte Chance!«, brüllte er.
Ich wollte ihm mit dem Messer in die Brust stechen, doch wieder war er schneller. Er bückte sich, griff mir um die Beine und hob mich hoch. Mein ganzer Körper schwebte über seinem Kopf, als sei ich eine Hantel und er beim Bankdrücken im Fitnessstudio. Mit einem Knurren steuerte der Riese auf die Straße zu.
Oh-oh! Das würde schmerzhaft werden.
Ich hatte kaum Zeit, meine Steinmagie zu mobilisieren und meine Haut zum Schutz gegen den Aufprall zu verhärten, bevor er mich mit wütendem Brüllen auf Mosleys Auto schleuderte.
KRACH!
Mit Hüften und Beinen krachte ich auf die Motorhaube und hinterließ dort eine tiefe Beule. Mein Kopf und meine Ellbogen prallten auf die Windschutzscheibe und zerbrachen das Glas an drei Stellen.
Trotz des schützenden Panzers meiner Steinmagie war der Schlag brutal und knochenbrechend hart. Der Schmerz explodierte mit tausend feinen Nadeln in meinem Körper, stach in meinem Kopf, im Rücken und überall in den Armen und Beinen. Mein Gehirn kam mir vor wie Wackelpudding, und das Messer glitt mir aus den zuckenden Fingern und fiel klappernd auf die Straße. Ich fühlte mich wie eine Zeichentrickfigur, die ohne Fallschirm aus einem Flugzeug geworfen worden, mit Überschallgeschwindigkeit auf den Boden geknallt und obendrein noch mit einem Amboss beworfen worden war.
KAWUMMS!
»Wie gefällt dir das?«, grollte Eddie. »Jetzt bist du nicht mehr so tough, was?«
Er wollte mich erneut packen, doch ich schüttelte die Benommenheit ab und kickte ihm ins Gesicht. Seine Nase brach mit einem befriedigenden Knacken; er schrie auf und taumelte zurück.
»Vermutlich gefiel es mir genauso sehr wie dir das jetzt.« Meine Worte verschwammen ineinander, was mir verriet, dass ich wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung hatte.
Finn öffnete die Autotür, sprang raus und winkte mir zu. »Gin! Beweg dich! Sofort!«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Vera auf mich zustürmte, den Metall-Schlagstock über ihrem Kopf erhoben. Ich drehte mich nach links und rollte vom Auto. Der Aufprall auf dem Gehweg war noch heftiger als der auf der Motorhaube, und der Schmerz zerriss meinen Körper. Die zweite harte Landung sorgte dafür, dass mir wieder schwummrig wurde. Ich verlor die Kontrolle über die Steinmagie, und meine Haut nahm ihre normale, verletzliche Struktur an. Leise stöhnte ich auf, doch das Geräusch wurde rasch von einem lauteren übertönt.
KRACH!
Vera knallte den Schlagstock in die Windschutzscheibe, wo eben noch mein Kopf gewesen war. Glas zersplitterte und flog herum. Die Scherben regneten auf mich herunter, ritzten mir Kopf und Hände auf, sodass ich ein schmerzerfülltes Zischen ausstieß. Das war jedoch immer noch besser als die Alternative. Hätte Finn mich nicht gewarnt, hätte Vera mir den Schädel aufgeschlagen wie eine reife Melone.
Fluchend tauchte Finn wieder in seinem Auto ab, vermutlich, um die Waffe zu holen, die er im Handschuhfach aufbewahrte. Eddie schien zu merken, was er vorhatte, denn er rannte direkt auf Finn zu, die Hände vor sich ausgestreckt, als wollte er die Fahrertür schließen und meinen Bruder mit dem Metall zerquetschen.
Vera riss den Schlagstock erneut nach oben und kam mir ums Auto herum nach. Ich griff mir eine Handvoll Glas von der Straße, sprang hoch und warf es ihr ins Gesicht. Überrascht schrie sie auf und drehte sich zur Seite, den Arm erhoben, um sich vor den fliegenden Scherben zu schützen.
Ich hob mein Messer auf und stürmte auf Eddie zu, entschlossen, ihn zur Strecke zu bringen, bevor er Finn erreichte. Ich hätte das Messer nach ihm werfen können, aber er war so groß und stark, dass ihm eine Klinge im Rücken vermutlich nicht viel ausmachen, geschweige denn ihn töten würde. Deshalb zielte ich tiefer. Dieses Mal beschwor ich meine Eismagie und schickte einen Regen aus Dolchen gegen die Beine des Riesen. Die eisigen Klingen stachen ihm in die linke Wade, und er brüllte auf. Sein Bein knickte ein, er geriet ins Taumeln.
Finn hob ruckartig den Kopf, als er den Schrei vernahm, und bemerkte endlich die Gefahr. Er hörte auf, nach der Waffe zu suchen, und sprang zur Seite, kurz bevor Eddie gegen die Autotür stieß und sie dabei schloss. Der Kopf des Riesen knallte so hart an den Außenspiegel, dass das Glas brach. Seine Beine gaben nach, und er fiel zu Boden.
RUMS!
Doch damit nicht genug – Eddies Schädel prallte mit lautem Knacken auf den Boden, und sofort bildete sich eine Lache unter seinem Kopf. Der Riese zuckte danach nicht mal mehr mit der Wimper. Mir war klar, dass die massive Kopfverletzung seinen Tod verursacht hatte.
Finn wirbelte zu mir herum, den Daumen erhoben, um mich wissen zu lassen, dass er okay war. Ich nickte und …
»Genug!«, zischte Vera. »Das reicht!«
Eddie mochte tot sein, sie jedoch nicht.
Ich drehte mich um, in der Erwartung, Vera mit erhobenem Schlagstock auf mich zulaufen zu sehen, aber sie hatte einen besseren Plan. Sie rannte auf den Gehweg, wo Mosley immer noch benommen an der Mauer des Ladens lehnte. Vera schnappte sich den Zwerg, drehte ihn um und hielt ihm den Schlagstock vor die Kehle, um ihn als menschlichen Schild zu benutzen.
Finn und ich liefen gleichzeitig von der Straße auf den Gehweg.
»Stopp! Stehen bleiben!«, rief Vera. »Oder ich brech ihm die Luftröhre!«
Sie drückte den Schlagstock gegen Mosleys Hals. Er stöhnte auf, als sich das Metall in seine Haut grub, doch er blieb ruhig und reglos, während er blinzelnd gegen die Benommenheit ankämpfte.
»Wer sind Sie?«, fragte ich. »Wer hat Sie geschickt? Was wollen Sie mit Mosley?«