Der dunkle Grenzbezirk - Eric Ambler - E-Book

Der dunkle Grenzbezirk E-Book

Eric Ambler

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Beschreibung

England, 1935: Professor Henry Barstow, Atomphysiker auf Erholungsurlaub in Cornwall, richtet sich in seinem Hotel ein, isst zu Mittag und unterhält sich nach dem Lunch mit einem weißhaarigen Herrn in der Hotelbar. Nur wenige Stunden später betritt ein Mann das Hotel, der äußerlich dem zerstreuten Professor Barstow aufs Haar gleicht, und trägt sich unter dem Namen Conway Carruthers ein. Barstows Auto wird kurz darauf als ausgebranntes Wrack im Moor gefunden, er selber als vermisst gemeldet. Wer ist nun aber dieser Carruthers, der bis nach Bukarest reist, um die Menschheit vor der Bedrohung durch Atomwaffen zu retten?

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Eric Ambler

Der dunkle Grenzbezirk

Roman

Aus dem Englischen von Walter Hertenstein und Ute Haffmans

Atlantik

Für Betty Dyson

Bemerkung des Verfassers

Der alternde Schriftsteller, der in einem Vorwort die Unzulänglichkeiten seines Frühwerks entschuldigt, macht sich lächerlich und gilt als Langweiler. Dass er, einst jung und unerfahren, im Lauf der Jahre sein Handwerk gelernt hat, lässt seine neuen Leser kalt – sie wollen Unterhaltung, nicht Rechtfertigungen.

Trotzdem haben sie Recht auf ein paar Erklärungen. Der dunkle Grenzbezirk war der erste Roman von mir, der gedruckt wurde. Geschrieben habe ich ihn 1935. Was tat ich denn damals eigentlich, könnte man fragen, als ich etwas zu beschreiben suchte, was man heute ›thermonukleare‹ Erfindungen nennen würde?

Ich erhebe keinen Anspruch auf besondere Voraussicht. Dank etwas wissenschaftlicher Bildung und durch Fachzeitschriften hatte ich von den früheren Arbeiten von Rutherford, Cockcroft und Chadwick erfahren und einige von deren Implikationen verstanden. Wie verschwommen dieses Verständnis war, springt heute jedem Mittelschüler in die Augen. Die Atombombe, die ich ableitete, war die Erfindung eines einzigen Mannes. Die Schwierigkeiten der Herstellung von Substanzen wie angereichertem Uranium und der gigantische wirtschaftliche und industrielle Aufwand, der notwendig war, um sie zu überwinden, waren Faktoren, die ich aus dem Spiel lassen konnte, weil ich gar nicht ahnte, dass es sie gab.

Wenn das Etikett ›Science-Fiction‹ damals schon Mode gewesen wäre, hätte man es dem Roman wohl angehängt. So nannte man das Buch halt einen ›Thriller‹, und das und nichts anderes war es denn auch. Doch wenn ich auch keinen Anspruch auf Voraussicht erhebe, so steht mir doch, glaube ich, eine Auszeichnung zu. Als der Verfasser des Dunklen Grenzbezirks muss ich einer der ersten Atombombengegner gewesen sein. Vielleicht war ich sogar der erste.

Eric Ambler, 1972

Erklärung von Henry Barstow, Esq.

Mitglied der Royal Society, Dr. phil. II, Physiker, Park Lane, Wimbledon, Surrey

Es wird behauptet, dass die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse mein Leben vom 17. April bis zum 26. Mai des letzten Jahres wiedergeben.

Das kann ich weder bestätigen noch leugnen. Man hat mir eine Aufnahme eines Pressefotografen gezeigt, die vom britischen Konsul in Ixanien1 weitergeleitet worden ist. Darauf ist eine Person zu sehen, die mir ähnlich sieht und vor der Abgeordnetenkammer in Zovgorod aus einem großen Wagen steigt. Leider ist ein Teil des Gesichts vom Körper eines Soldaten verdeckt, der im Augenblick der Aufnahme vor die Kamera getreten war. Auf jeden Fall aber sind meine Gesichtszüge zu verschwommen, als dass ich das Bild als Beweis meiner Gegenwart in dieser malerischen Stadt gelten lassen könnte, zumal im Hintergrund des Bildes Stacheldraht und Maschinengewehre zu sehen sind. Ich habe Angst vor Schusswaffen und dem Lärm, den sie machen.

Der Bericht von William L. Casey von der New York Tribune, der sich zur besagten Zeit in Zovgorod aufhielt, spricht schon eher dafür. Mr Caseys Darstellung der Geschehnisse hat nach meinem Gefühl einen Kern von Wahrheit. Aber ich bitte den Leser, wie ich nicht allzu gutgläubig zu sein, denn amerikanische Journalisten haben nun mal eine überschäumende Phantasie, auf die sie sogar selbst oft hereinfallen. Ich bin überzeugt, dass Mr Casey mir diese leise Kritik vergeben wird. Wenn das, was er erzählt, wahr ist, hat er von mir viel mehr einstecken müssen. Außerdem kann er sich ja revanchieren und mich fragen: »Was haben Sie denn in diesen fünf Wochen tatsächlich getan?«, worauf ich ihm keine Antwort geben kann. Er wird auf den Kellner Georges Rispoli, das Hotel Royal in Paris und all die übrigen Tatsachen hinweisen, die mein anderer Biograph so sorgfältig zu einem überzeugenden Muster verwoben hat, sodass ich nicht umhinkann zuzugeben, woran ich im Grund meines Herzens nie gezweifelt habe, nämlich, dass diese Geschichte wahr ist.

Hier nun die wenigen unbestreitbaren Tatsachen.

Ich bin vierzig, unverheiratet, von Beruf Physiker, und in den vier Monaten vor dem 17. April habe ich meine Talente in den Dienst einer Gerätebaufirma gestellt, für die ich ein neuartiges und hochkompliziertes Astronomiegerät konstruierte. Die Entwicklung dieses Apparates war anspruchsvoll, um nicht zu sagen aufreibend, und verlangte viele komplizierte mathematische Berechnungen. Wochenlang habe ich praktisch Tag und Nacht gearbeitet, und die Überanstrengung untergrub meine Gesundheit. Am 10. April konsultierte ich meinen Arzt, Dr. Rowe.

Sein Bericht war nicht sehr ermutigend und lief praktisch auf ein Ultimatum hinaus. Entweder ich nahm sofort einen langen Urlaub, oder ich bekam garantiert einen Nervenzusammenbruch.

Ich machte einen Kompromiss, beendete meine Arbeit und fuhr wenige Tage später allein in meinem Wagen nach Truro in Cornwall, wo ich ein bis zwei Wochen zu bleiben gedachte. Anschließend wollte ich vielleicht über den Kanal in die Bretagne. Ich verließ Wimbledon am 17. April frühmorgens um 6.30 Uhr. Ich brauchte mich von niemandem zu verabschieden. Ein Brief an meine Mutter, die in Kensington lebt, eine Postkarte an meine Schwester in Norwich und ein Zettel für meine Haushälterin, um das Nachsenden meiner Post anzuordnen – damit waren meine häuslichen Angelegenheiten geregelt. Ich hatte 50 Pfund in bar und einen kleinen Handkoffer dabei. Mein Reisekoffer war hinten auf dem Wagen festgeschnallt. Um 13.30 Uhr war ich in Launceston und hielt vor dem Hotel Royal Crown, um zu Mittag zu essen.

Hier nun beginnt mich mein Gedächtnis im Stich zu lassen. Ich weiß, dass ich das Hotel betreten habe, aber ich erinnere mich nicht, es verlassen zu haben. Ich weiß, dass ich ein Glas Sherry an die Lippen setzte, weiß aber überhaupt nicht mehr, was es nachher zum Essen gab. Von dem zwielichtigen Mr Groom weiß ich überhaupt nichts. Ich erinnere mich vage, dass mir übel war und ich mich in den Aufenthaltsraum des Hotels begab, um mich etwas auszuruhen. Dort fiel mein Blick auf ein Buch, auf dessen Umschlag ein Mann mit einer Pistole in der Hand abgebildet war. Ich glaube, ich wollte warten, bis der Regen nachließ. Ich muss wohl ungeduldig geworden sein, denn das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich den Scheibenwischer abstellte, als ich die Straße durchs Moor hinauffuhr. Ich weiß ganz genau, dass ich ungefähr fünf Meilen auf dieser Straße gefahren bin. Dann muss ich wohl am Steuer eingenickt sein. Und erst am 26. Mai, also mehr als fünf Wochen später, bin ich wieder zu mir gekommen, und zwar im Express Basel–Paris, zwischen Mülheim und Belfort. Ich erinnere mich, dass mir der Zugführer Cognac einflößte. Von dem, was in der Zwischenzeit geschehen ist, weiß ich nichts aus eigener Erinnerung. Meine Besitztümer am 26. Mai waren die Kleider, die ich am Leib trug, meine Brieftasche und mein Pass. Ich habe das Gefühl – könnte es aber nicht beeiden –, als wäre das Bild einer Frau, die ich nicht kenne, damals in meiner Brieftasche gewesen, als ich sie durchsuchte. Ich habe später weder die Fotografie noch meinen Pass wiedergefunden.2

Viel ist seit jenem 26. Mai geschehen. Lange Monate war ich sehr krank. Gegen Ende der Rekonvaleszenz in Brighton las ich zum ersten Mal diese Geschichte. Sie hat mich tief beeindruckt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man seine eigene Biographie liest. Bei mir führte diese Lektüre nicht dazu, dass ich Genaueres über meinen Lebenslauf herausfinden wollte, sondern dieser seltsam heitere Henry Barstow mit seiner Begeisterungsfähigkeit, Eitelkeit, Sentimentalität und seinem melodramatischen Wagemut wuchs mir richtig ans Herz. Die Bäume vor meinem Schlafzimmer hatten ihre Blätter verloren, die Nächte waren lang, und mein Verstand weilte im Zwielichtland der Genesung. In jener Zeit beschäftigte dieser Mensch mit seiner unglaublichen Geschichte ununterbrochen meine Gedanken. Ich verträumte meine Nächte mit ihm und seiner Gräfin. Doch als ich wieder gesund geworden war, verschwand er. Wer weiß, vielleicht geistert er noch immer durch die geheimen Windungen meines Gehirns? Für mich ist er ein Schatten geworden, gesichtslos – wie ein Mann hinter einem Lampenschirm.

Henry Barstow

Januar 193-

Erster Teil Ein Mann ändert seine Ansicht

1. Kapitel

17. April

Gegen halb eins wurde Professor Barstow müde. Er war an diesem Tag schon 180 Meilen gefahren, und er seufzte erleichtert auf, als er ungefähr eine Dreiviertelstunde später in den Hof des Hotels Royal Crown in Launceston einbog.

Er stieg aus, streckte sich, drehte mit methodischer Sorgfalt die Zündung ab und schloss auf die gleiche Weise die Türen.

Professor Barstow tat alles, was er tat, mit methodischer Sorgfalt, ob er nun elektrodynamische Gesetze auf einen Fall elektronischer Abweichung anwendete oder seine Blaue Perserkatze bürstete. Er war die Ordnung in Person. Sein mageres, blasses Gesicht, seine leicht geschürzten Lippen und sein sauberer, dunkelgrauer Anzug waren die stummen Zeugen seiner Pedanterie. Seine Vorträge vor der Royal Society waren berühmt und geschätzt für ihre zuverlässige und trockene Sachlichkeit, ihre zurückhaltende Beurteilung von Theorien und die Skepsis gegenüber neuen Erkenntnissen. »Barstow«, so sagte ein berühmter Biologe einmal, »wäre ein wissenschaftliches Genie, wenn er nicht so verflucht wissenschaftlich wäre.« Diese Bemerkung, die kurz nach der Publikation von Professor Barstows kritischer Studie der Lorentz-Transformationen gemacht wurde, war, um es milde auszudrücken, erstaunlich. Die Wahrheit ist wohl die, dass er seiner Phantasie mit tiefem Misstrauen begegnete, was, ganz wie man’s nimmt, eine gute oder eine schlechte Eigenschaft ist.

In diesem Moment aber misstraute er seiner Phantasie noch mehr als gewöhnlich, und zwar, weil sie ihm etwas sagte, was er sich nur ungern eingestand, nämlich, dass er ein kranker Mann war und besser daran täte, ruhig und friedlich in einem Badekurort auf einer Hotelveranda zu sitzen, anstatt am Steuer seines Wagens, und dass Berg- und Talfahrten in rasendem Tempo auf jeden Fall unsinnig seien.

Kurz entschlossen verjagte er diesen Gedanken, betrat das Hotel und bestellte sich ein gut durchgebratenes Steak. Während er darauf wartete, trank er langsam ein Glas Sherry.

Es war wirklich schon lange her, seit er das letzte Mal Ferien gemacht hatte. Und dann kamen ihm völlig grundlos längst vergangene Tage in Cambridge in den Sinn und ein anderer Frühling, als er drauf und dran gewesen war, seine vielversprechende Karriere als Physiker aufzugeben und Diplomat zu werden.

Komisch, dass er gerade jetzt daran dachte! Damals hatte er sich ganz ähnlich gefühlt wie jetzt. In jenem Jahr hatte er wie besessen für die letzte Mathematik-Prüfung gebüffelt. Fünfzehn Stunden am Tag, viel zu viel für einen jungen Menschen. Kein Wunder, dass er fast zusammengebrochen war, kein Wunder, dass ihm der diplomatische Dienst plötzlich so begehrenswert erschienen war. Aber er hatte ja schon seit Kindesbeinen ein Faible dafür gehabt, und in seinen Tagträumen hatte er sich als graue Eminenz hinter der Szene gesehen, er hatte von Geheimverträgen, der Herstellung freundschaftlicher Beziehungen und bühnenreifen Intrigen zur Musik von Mozart, Gluck und Strauss geträumt, alle unter seiner Führung mit Metternich und Talleyrand im Hintergrund. Merkwürdig auch, wie solche Träume einen hartnäckig verfolgten. Ein Teil des Gehirns wurde zu einer perfekten Verstandesmaschine, der andere aber wanderte durch dunkle Grenzbezirke in geheimnisvolle Länder, wo Abenteuer, romantische Liebe und plötzlicher Tod den Reisenden erwarteten.

Die diplomatische Karriere, das hatte er unterdessen erfahren, brachte wenig Abenteuer und selten einen plötzlichen Tod mit sich, und die romantische Liebe in Gestalt einer reifen Frau, der Frau des Juniorpartners seines Vaters, hatte ihn zurück an die Arbeit geschickt. Seine unerklärte Leidenschaft war hoffnungslos und dauerte, wie er sich erinnerte, nicht ganz eine Woche. Er seufzte.

Er dachte immer noch darüber nach, wie unrealistisch seine jugendlichen Torheiten gewesen waren, als er sich im Speisesaal zu Tisch setzte. Langsam verzehrte er sein Steak. Er war allein bis auf einen rundlichen, weißhaarigen Mann, dem er keine Beachtung schenkte. Als er jedoch von seinem Teller aufsah, bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass er angestarrt wurde.

»Schöner Tag heute«, bemerkte der Weißhaarige, als sich ihre Blicke trafen.

»Ja«, sagte Professor Barstow, und um nicht unhöflich zu erscheinen, fügte er hinzu, »ein sehr schöner Tag.«

Er fühlte sich immer ein wenig unbehaglich, wenn Fremde ihn ansprachen, und machte keinen Versuch, das Gespräch fortzusetzen. Aber der Weißhaarige ließ nicht locker.

»Bleiben Sie in Launceston, Sir?«

Professor Barstow schüttelte den Kopf.

»Ich fahre weiter nach Truro«, gab er zur Antwort und fragte höflich: »Und Sie? Bleiben Sie in diesem Hotel?«

Der Weißhaarige nickte geistesabwesend. Dann schien er einen Entschluss zu fassen, rückte seinen Stuhl näher an Professor Barstows Tisch und beugte sich mit ernster Miene vor.

»Vor sechs Monaten war ich in China. Davor war ich in Südamerika. Und davor war ich in der Türkei. Sechs Jahre bin ich nun im Ausland gewesen und habe mich sechs Jahre darauf gefreut, heimzukommen und mich hier niederzulassen. Jetzt bin ich zu Hause, und was finde ich?«

Professor Barstow, den das nur mäßig interessierte, nickte ernst. Wahrscheinlich hatte er hier irgendeinen Verwaltungsbeamten aus den Kolonien vor sich. All diese Leute waren notorische Schwätzer.

Der Weißhaarige hob seufzend die Kaffeetasse.

»Nichts«, sagte er dann, »ganz einfach nichts. Ich bin jetzt einen Monat zu Hause. Die ersten drei Tage entzückte mich der Anblick grüner Felder und gestutzter Hecken. Jetzt langweilt er mich. Alles, was ich finde, ist eine besonders gefährliche Spezies des ägyptischen Moskitos und eine Landschaft voller Tanksäulen.«

»Übertreiben Sie da nicht ein wenig?«

»Vielleicht«, antwortete der andere düster, »aber wenn man seine Seele mit Erwartungen genährt hat, ist die Wirklichkeit oft enttäuschend.«

Der Professor, der befürchtete, dass das Gespräch eine Wendung ins Sentimentale nehmen könnte, lenkte ab.

»Sie leben im Ruhestand?«

Der Weißhaarige schaute ihn einen Moment an, bevor er antwortete. Der Professor war nicht leicht zu beeindrucken, aber es schien ihm nun, dass der erste Eindruck, den er von seinem Gegenüber gehabt hatte, falsch gewesen sein musste. Die plumpe Jovialität war verschwunden, unter buschigen Augenbrauen sahen kühle, berechnende, furchtlose Augen hervor. Der Mann ignorierte die Frage.

Nachdenklich sagte er: »Entschuldigen Sie, Sir, aber mir scheint, als hätte ich Ihr Gesicht schon irgendwo gesehen.«

Der Professor spürte mehr, als er sah, wie ihn die kalten Augen musterten, während er antwortete:

»Vor ungefähr einem Jahr«, sagte er, »war ich zwei Tage lang das, was die Journalisten als ›Sensation‹ bezeichnen. Ich machte Schlagzeilen. Mein Bild ging durch die Presse. Die Zurschaustellung war mir sehr peinlich.«

Wie durch Zauberei gewann der Weißhaarige seine Jovialität zurück. »Hab ich’s doch gewusst!«, rief er aus und schlug sich triumphierend auf den Schenkel. »Namen entfallen mir manchmal, aber ein Gesicht vergesse ich nie. Moment, nicht verraten«, sagte er, als der Professor etwas sagen wollte: »Der Name … warten Sie … der Name ist … Barstow … Professor Barstow.«

»Sie haben ein erstaunliches Gedächtnis, Sir.«

»Training, Herr Professor, alles nur Training.« Der Weißhaarige kicherte. Er betrachtete den Professor mit erneutem Interesse. »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, fuhr er fort, »so haben Sie durch Ihre Ankündigung, dass in naher Zukunft Kernenergie zum Nutzen und zum Schaden der Menschheit eingespannt werden könne, Aufsehen erregt; das war doch ungefähr der Sinn Ihrer Worte, nicht wahr?«

Gereizt protestierte der Professor. »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Meine Erklärung vor der British Association ist in grober Weise missdeutet worden. Ich habe bloß gesagt, dass die bedeutsamen Entwicklungen auf dem bislang unerforschten Gebiet angewandter Kernenergie nicht unbedingt ein reiner Segen sein könnten. Eine harmlose Spekulation meinerseits, die zu den wildesten Interpretationen geführt hat.«

Sein Nachbar, der seinen Stuhl an den Tisch des Professors gezogen hatte, hörte ihm interessiert zu.

»Ein erstaunlicher Zufall, wirklich ganz erstaunlich«, murmelte er offenbar zusammenhanglos. »Es wäre mir eine Ehre, Herr Professor, wenn ich Sie zu einem Gläschen einladen dürfte.«

Ohne zu zögern, akzeptierte der Professor. Er hatte sein Erlebnis mit den Zeitungen immer noch nicht verwunden, und es freute ihn, sich einem so verständnisvollen Zuhörer erklären zu können.

Eine Zeit lang plauderten sie einfach dahin. Der Professor erfuhr, dass der Weißhaarige Simon Groom hieß. Er sprach gewandt und wie ein Wasserfall. Seine Kenntnisse der Außenpolitik waren verblüffend. Der Professor, ein begeisterter Leser des Auslandteils der Times, erfuhr von einer Krise, die stattgefunden hatte und die Groom mit so viel Selbstverständlichkeit beschrieb, dass kein Zweifel daran aufkommen konnte. Er begann sich zu fragen, was dieser Simon Groom wohl für einen mysteriösen Beruf ausübte. Er bekam die Antwort sofort. Groom brachte das Gespräch erneut auf die Arbeit des Professors.

»Wissen Sie, Professor«, begann er, während er sorgfältig das Ende seiner Zigarre abschnitt, »wissen Sie, ich habe ganz einfach das Gefühl, dass Ihnen der sensationelle Aspekt des Standpunkts sehr wohl bewusst gewesen ist, als Sie erklärten, die praktische Anwendung der Kernenergie sei nicht unbedingt ein reiner Segen.« Er lehnte sich zurück und schaute den Professor spöttisch an.

Der Professor schwieg. Sein erster Gedanke war, dass es sich auch bei Groom um einen dieser verflixten Journalisten handelte, die ihn in eine Falle locken wollten. Zum hundertsten Mal verfluchte er den Fauxpas vom vorigen Jahr, durch den er sich vom festen Boden der Tatsachen aufs Glatteis der Voraussagen begeben hatte.

»Mr Groom«, sagte er steif, »ich habe meiner Erklärung nichts hinzuzufügen. Die ganze Sache ist bedauerlich, und sie ist mir im höchsten Maß zuwider.«

Sein Tischgenosse blieb unbeeindruckt. Er lächelte und nahm seine Zigarre aus dem Mund.

»Herr Professor, ich entschuldige mich. Ich hätte Ihnen erklären sollen, warum ich frage. Der Zufall hat mich mit dem einzigen Menschen zusammengebracht, dessen Hilfe ich brauche. Lassen Sie mich das bitte erklären.«

Ohne eine Antwort des Professors abzuwarten, fuhr er fort.

»Ist Ihnen der Name Cator & Bliss ein Begriff? Wie ich sehe, ja. Dann wissen Sie sicher, dass Cator & Bliss zu den größten Waffenkonzernen der Welt gehören. Wir und unsere Tochtergesellschaften produzieren den Großteil des Waffenbedarfs der Welt. Schneider-Creusot in Frankreich, unsere Vickers-Armstrong, Škoda, die Bethlehem Steel Corporation, Dupont und einige kleinere Konzerne liefern den Rest.«

Er machte eine Pause.

»Herr Professor«, fuhr er fort, »ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie alles, was ich Ihnen jetzt anvertraue, streng vertraulich behandeln würden.«

Es ist zweifelhaft, ob in diesem Moment irgendetwas den Professor davon hätte abhalten können, sein Wort zu geben. Er nickte ernst.

»Sie können sich auf mich verlassen.«

Simon Groom zog langsam an seiner Zigarre, bevor er weitersprach.

»Es wirft ein seltsames Licht auf den Menschen, auf seine Ideale und sein Streben, dass seine Kenntnisse nie schneller zunehmen, als wenn er für die Zerstörung arbeitet. Wir Engländer merken das unterbewusst und lehnen deshalb alles Neumodische instinktiv ab. Die Franzosen hingegen sind da ganz eindeutig. Sie sagen: ›Das Bessere ist der Feind des Guten.‹ Dafür gibt es unzählige Beispiele. Nehmen Sie etwa das Flugzeug. Es wurde im Kriegsjahr 1915 weiter entwickelt als vorher in zehn Jahren. Die Neuerfindungen der Chemiker im Dienste der Entwicklung von immer noch zerstörerischeren Sprengstoffen und noch giftigeren Gasen haben den Umfang der Chemiebücher verdoppelt. Ja, selbst die Heilkunst hat einen großen Schritt nach vorn getan. Das heißt, von dem Moment an, in dem es nicht mehr nur wünschenswert, sondern notwendig war, die Menschenleben im Hinblick auf ihre Weiterverwendung zu erhalten«, fügte er mit zynischem Lächeln hinzu.

Der Professor runzelte die Stirn.

»Worauf ich hinauswill«, fuhr Groom fort, »ist Folgendes: Der Krieg, der von den Menschen Offensiv- und Defensivwaffen verlangt, ist wie eh und je der Vater vieler Erfindungen. Die Schlachtschiffe von gestern erzeugten die Linienschiffe von heute, und die Eisenbetonbunker der großen Schlachtfelder brachten das wundervolle, neue Gebäude hervor, das nun im Norden Londons gebaut wird. Also, Herr Professor, wo wird die neue immense Kraft der Kernenergie zuerst erforscht und entwickelt?«

»Die Wissenschaft will konstruktiv sein und nicht destruktiv«, antwortete der Professor steif. »Die Wissenschaft wurde in der Vergangenheit auf das schamloseste ausgebeutet. Aber sie weiß sich jetzt zu wehren.«

Simon Groom schüttelte den Kopf.

»Nein, Professor, Sie irren sich. Solange Wissenschaftler Menschen sind, kann sich die Wissenschaft nicht schützen. Der Wunsch nach Vorherrschaft, der tief im Herzen eines jeden Menschen sitzt, verhindert das. Und gerade eben jetzt, während wir hier miteinander reden, geben die Ereignisse Ihnen unrecht. Die erste Atombombe ist fertig.«

Dieser Satz löste beim Professor einen Sturm äußerst widersprüchlicher Gefühle aus, vor allem aber angstvolles Misstrauen. Sass er hier einem Irrsinnigen gegenüber? Das schien die einzig mögliche Erklärung. Aber als er dann dem alten ruhigen Blick seines Gegenübers begegnete, begann er nachzudenken. Das Misstrauen verschwand, aber der Schrecken verstärkte sich. Angenommen, es war wahr? Endlich lachte er.

»Sie scheinen mir einen etwas makabren Humor zu haben, Sir.«

»Ich habe erwartet, dass Sie lachen würden«, bemerkte der andere ruhig. »Aber halten Sie Ihr Urteil noch etwas zurück, Professor, und lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Welches Laboratorium käme Ihrer Meinung nach wohl für die Herstellung einer solchen Bombe in Frage? Ich meine natürlich von den technischen Anlagen her und nicht vom moralischen Gesichtspunkt aus.«

Der Professor dachte einen Augenblick nach.

»Nun«, antwortete er dann, »für die Entwicklung, an die ich bei meiner Erklärung letztes Jahr dachte, kommen letztlich nur ein oder zwei Orte in Frage. Es ist schwierig, einer bestimmten Institution den Vorrang zu geben. Meines Wissens gibt es nur fünf Laboratorien, die für solche Versuche ausgerüstet sind, nämlich London, Chicago, Schenectady, Paris und Berlin. Suchen Sie sich’s aus.«

Simon Groom sah verwirrt aus.

»Schade, Professor, und ich hoffte, Sie könnten mir helfen. Dieses Ding wurde an keinem dieser Orte entwickelt. Wissen Sie, wo Zovgorod liegt? Nein? Zovgorod ist die Hauptstadt von Ixanien, und ebendort wurde die Arbeit, von der ich sprach, durchgeführt.«

Der Professor kicherte.

»Mr Groom«, sagte er, »Sie sind ein ausgezeichneter Schauspieler, aber Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch. Allein die Herstellungskosten für die notwendigen Apparate wären größer als der gesamte Haushalt von Ixanien.«

Simon Groom schaute einen Moment verärgert drein.

Dann sagte er in ernstem Ton: »Ich mache keine Witze, Professor. Zudem ist dies wohl kaum eine Angelegenheit, über die ich Witze reißen würde. Ihnen mag meine Geschichte melodramatisch und ziemlich absurd erscheinen. Sie ist melodramatisch – die Wirklichkeit ist es oft im Übermaß –, aber absurd ist sie nicht. Das sind die Tatsachen.«

Er schwieg bedeutungsvoll und betrachtete seine Zigarre.

»Ixanien«, fuhr er dann fort, »ist ein Staat mit Ehrgeiz. Vielleicht werden Sie sagen, dass das bei einem so unbedeutenden Flecken unproduktiven Landes Größenwahn ist. Das ist Ansichtssache. Ein Anhänger Rousseaus würde voller Inbrunst ja sagen. Was mich betrifft, so neige ich eher zu Nietzsches Standpunkt. Wie auch immer: Ixanien hat seit Jahren nach oben geschielt, zerfressen vom Neid des Schwachen auf den Starken. Und nun, als wären seine Gebete erhört worden, hat das Land ein Genie hervorgebracht. Seine Bauern nagen am Hungertuch, seine Bourgeoisie ist korrupt, und seine Regierung taugt nichts. Aber durch eine Laune der Biologie oder des Schicksals oder beider ist das Unwahrscheinliche eingetreten.«

Für einen Moment sah Simon Groom nachdenklich aus. Seine Zigarre schien ihn zu faszinieren. Das ungläubige Staunen war aus dem Gesicht des Professors gewichen. Er beugte sich vor.

»Wer ist es?«

Eine Rauchwolke kam aus Grooms Mund.

»Man weiß sehr wenig über ihn«, antwortete er dann. »Seine Vorfahren sind unbekannt, wahrscheinlich zu Recht. Er studierte in Zürich und an der Bonner Universität, niemand weiß, woher er die Mittel hatte. In Bonn war er brillant. Seine Dissertation behandelte ein Problem, an dem sich sogar seine Physikprofessoren die Zähne ausbissen. Er kam mit einer Theorie, für die er dann auch Beweise lieferte, und hatte die Stirn, dafür einen Lehrstuhl für Physik zu verlangen. Von Bonn ging er nach Chicago, wo er zirka sechs Jahre unter Professor Thomson arbeitete. Vor ungefähr drei Jahren verließ er Chicago – es soll irgendeinen Skandal gegeben haben – und kehrte nach Zovgorod zurück. Sein Name ist Kassen.«

Der Professor ließ einen Ausruf des Erstaunens hören.

»Kassen«, wiederholte er aufgeregt, »von dem Mann habe ich auch schon gehört.«

»Das dachte ich mir«, sagte Groom. »Er hat im McTurk-Institut einiges Aufsehen erregt.«

»Aber was hat Kassen denn mit Atombomben zu tun? Ich habe einmal in den Blättern der Gesellschaft für naturwissenschaftliche Forschung einen Aufsatz von ihm gelesen. Es war alles andere als eine aufsehenerregende Arbeit.«

»Das glaube ich gern. Aber wie ich schon sagte, ist Ihr Wissenschaftler ein Mensch wie alle anderen auch. Kassen wurde zweimal gedemütigt, einmal in Bonn, und dann noch einmal in Chicago. Und jetzt hat er, ob zu Recht oder zu Unrecht, eine Wut auf die ganze Welt. So wie ich die nachtragenden Ixanier kenne, überrascht mich das nicht. Wut hin oder her, die Bombe wurde fertig gestellt. Und vor etwas mehr als drei Wochen wurde sie getestet. Ein Vertreter von Cator & Bliss war dabei, inkognito natürlich. Die Versuche fanden in den Bergen statt, etwa hundert Meilen nördlich von Zovgorod. Bukarest, das einige hundert Meilen von der Versuchsstelle entfernt ist, registrierte ein leichtes seismisches Beben. Eine kleine Kassen’sche Bombe, angeblich kaum größer als eine Handgranate, bewegte mehr als tausend Tonnen Felsgestein.«

»Das ist ja entsetzlich«, keuchte der Professor, aber dann gewann die Vernunft wieder die Oberhand und stellte die Wahrheit des eben Gehörten in Frage, »und unmöglich.«

»Schrecklich, ganz gewiss«, pflichtete Groom bei, »aber unmöglich nicht. Wie Sie sicher wissen, verdankt gewöhnlicher Sprengstoff seine Wirkung der plötzlichen und gewaltigen Volumenvergrößerung. Trinitrotoluol zum Beispiel vergrößert, wenn es mit Knallquecksilber gezündet wird, sein Volumen in einem Sekundenbruchteil ungefähr 500000-mal. Soweit ich die Sache verstanden habe, basiert die Kassen’sche Bombe auf dem gleichen Prinzip. Die Bombe beeinflusst bei der Detonation gewöhnliches Silikongestein oder Erde so, dass eine Veränderung der Atomstruktur eintritt, wobei riesige Mengen von trägen Gasen wie Stickstoff, Argon und Helium produziert werden. Mit andern Worten: Die Erde ist der Sprengstoff. Kassens Bombe ist bloß eine Art Zünder.«

Der Professor schwieg. Er schaute durchs Fenster in den Hotelgarten. Narzissen wiegten sich im sanften Wind. Alles war grün und friedlich an diesem Frühlingsnachmittag. Der Professor kam sich vor, als sei er soeben aus einem Albtraum erwacht, und der Schrecken saß ihm noch in den Knochen. Als er sich dazu zwang, Groom wieder in die Augen zu blicken, spürte er, wie er zitterte.

»Warum erzählen Sie mir das?«

Groom beugte sich vor.

»Ungefähr vor zwei Wochen traf ein Vertreter der ixanischen Regierung in England ein und gab bekannt, dass er Maschinen zur Herstellung von Süßigkeiten zu kaufen wünsche. Eine der Firmen, an die er sich wendete, gehört mehrheitlich dem Cator-&-Bliss-Konzern, und da es sich um eine Maschine handelte, die nicht dem Standardtyp entsprach, wurde er an den Hauptsitz verwiesen. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich aber waren die Spezifikationen. Sie stammten von einem Mann, der entweder keine Ahnung von der Herstellung von Zuckerwerk hat oder die Maschinen für etwas anderes braucht. Gewisse Kreise begannen sich für die Sache zu interessieren, und es erging Order, sich diesen Auftrag um jeden Preis zu sichern. Fürs Erste haben wir es somit in der Hand, die Massenherstellung der Bombe unseres Freundes Kassen eine Zeit lang hinauszuschieben.«

Der Professor rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

»Mr Groom, ich kann mir nicht helfen, aber mir scheint, dass Sie diese Geheimnisse etwas – nun – unvorsichtig preisgeben. Schließlich bin ich ja für Sie ein völlig Fremder und –«

Groom hob die Hand.

»Professor«, sagte er, »ich habe gelernt, nur zwei Dingen zu vertrauen: dem Schicksal und meiner Intuition. Beide sagen mir, dass dies hier eine günstige Gelegenheit ist, und ich nehme ihren Rat dankbar an. Es ist unumgänglich, dass wir in den Besitz sämtlicher die Herstellung der Kassen’schen Bombe betreffenden Informationen gelangen. Ich bin, wenn ich Ihnen alles das erzähle, nicht so indiskret, wie es Ihnen erscheinen mag. Ich möchte Ihnen nämlich einen Vorschlag unterbreiten. Doch zuvor sollte ich Ihnen vielleicht etwas über meine Stellung erzählen. Ich bin Auslandsvertreter von Cator & Bliss und einer ihrer Direktoren. Was immer ich Ihnen anbiete, kann, wenn nötig, binnen zwei Stunden schriftlich bestätigt werden. Meine Kollegen im Aufsichtsrat vertrauen mir in dieser Beziehung voll und ganz. Sie verstehen doch, was ich sagen will?«

Der Professor nickte langsam.

Groom war jetzt ganz Geschäftsmann.

»Kurz, mein Vorschlag ist folgender: Ich erwarte jeden Moment Nachricht von der Abreise des ixanischen Vertreters nach Zovgorod. Ich werde ihm folgen. Meine Agenten in Ixanien werden ihn beschatten und herausfinden, wer seine Auftraggeber sind. Wie ich die ixanischen Beamten kenne, kommen wir leicht an die Informationen heran, die wir brauchen. Doch gehe ich davon aus, dass man versuchen wird, mir wertlose Informationen anzudrehen. Ich brauche einen technischen Berater. Cator & Bliss verfügt selbstverständlich über einmalige technische Mittel und über die besten Fachleute, aber dies hier ist ein Sonderfall. Es gibt auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen, der mehr über die Möglichkeiten angewandter Kernenergie weiß als Sie, und der heißt Kassen. Das kann ausgeglichen werden. Professor Barstow, ich bitte Sie, mit mir nach Zovgorod zu fahren. Ich offeriere Ihnen den Posten eines technischen Beraters von Cator & Bliss.«

2. Kapitel

17. und 18. April

Es vergingen einige Sekunden, bevor Professor Barstow begriff, was der andere wollte.

»Aha«, sagte er dann.

Sanft fuhr Groom fort: »Natürlich wird Ihre Beziehung zu Cator & Bliss absolut vertraulich behandelt. Was die finanzielle Seite betrifft, so können Sie verlangen, was Ihnen angemessen erscheint. Auf einer Auflage müssen wir allerdings bestehen: Cator & Bliss bleibt alleiniger Eigentümer sämtlicher Ergebnisse Ihrer Arbeit.«

Der Professor schluckte.

»Und wenn ich das Angebot ablehne?«

»Für diesen unwahrscheinlichen Fall werden Sie sich selbstverständlich daran erinnern, dass Sie mir Ihr Wort gegeben haben, alles, was ich Ihnen mitteilen würde, streng vertraulich zu behandeln. Nichts liegt mir ferner, als Ihnen etwas suggerieren zu wollen, aber ich glaube, dass Sie als verantwortungsbewusster Staatsbürger davor zurückschrecken werden, eine internationale Krise heraufzubeschwören, die ganz gewiss zu einem Krieg führen würde – das heißt, immer vorausgesetzt, es gelänge Ihnen, auch nur einen Menschen von der unglaublichen Wahrheit zu überzeugen.

Indes«, fuhr er fort, »bin ich überzeugt, dass Sie nicht ablehnen werden, Professor. Zu viel steht auf dem Spiel. Stellen Sie sich die Konsequenzen für Europa vor, wenn dieser drittrangige Staat dank einer Laune des Schicksals alle andern in der Hand hat. Macht ist für die Mächtigen. Geben Sie den Schwachen Macht in die Hand, und Sie haben Tyrannei. Hier ist Ihre Chance, Professor, nicht nur der Wissenschaft, sondern der ganzen zivilisierten Menschheit einen Dienst zu erweisen. Sie werden sehen, dass der Lohn die Mühe wert ist.«

Der Professor erhob sich mit entschlossener Miene und sagte sehr deutlich:

»Mr Groom! Im Verlaufe unseres Gesprächs habe ich geäußert, dass sich die Wissenschaft nicht mehr ausbeuten lassen kann. Und das habe ich genauso gemeint, wie ich es gesagt habe. Sie wünschen meine Mitarbeit bei einem Unternehmen, von dem Sie sagen, dass es der Wissenschaft und der zivilisierten Menschheit diene. Darf ich Sie korrigieren? Dieses Unternehmen nützt nur einer ganz kleinen Minderheit, nämlich den Aktionären von Cator & Bliss. Wenn das, was Sie mir erzählt haben, wahr ist und dieser hirnverbrannte Kassen seine Fähigkeiten destruktiv statt konstruktiv verwendet, dann ist das eine Angelegenheit, die die ganze Menschheit angeht. Meine Antwort auf Ihren Vorschlag lautet: nein.«

Groom lachte.

»Habe ich recht mit der Annahme, Professor, dass Sie die Absicht haben, dem Völkerbund von unserem Gespräch Mitteilung zu machen?«

»Sie hatten ja die Liebenswürdigkeit«, gab der Professor zur Antwort, »mich daran zu erinnern, dass ich Ihnen mein Wort gegeben habe, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Aber es würde mir ja sowieso keiner glauben, wenn ich mein Wort breche. Im Übrigen hoffe ich, dass dies alles nur ein unangenehmer Traum ist und ich bald erwache.«

Groom seufzte.

»Ach, Professor«, murmelte er, »ich wollte, wir könnten alle so gut Realität und Phantasie vermengen. Für mich persönlich sind ethische Fragen immer nur eine Frage des Standpunktes. Und so hoffe ich denn immer noch, dass Sie sich in dieser Sache auf meinen Standpunkt stellen werden.«

Professor Barstow vergaß einen Moment seine gute Erziehung.

»Da können Sie verdammt lange warten, Mr Groom«, sagte er in festem Ton.

Groom erhob sich langsam. Seine Lippen lächelten, aber seine Augen waren zu Nadelspitzen kalter Wut geworden und bohrten sich gnadenlos direkt in das müde Gehirn des Professors. Seine Stimme klang wie von weit her.

»Ganz wie Sie wollen, Professor, ich denke nicht daran, Ihr Nein zu akzeptieren. In den nächsten Tagen wohne ich im Ritz in Paris. Ich fliege heute Abend. Sollten Sie ihre Ansicht ändern …«

Aber der Professor hörte nichts mehr, er stand wie betäubt da, sein Gehirn war leer, und er spürte nur noch das Schlagen seines Pulses. Mit letzter Kraft riss er sich zusammen, aber als er endlich wieder aufsah, war Groom gegangen.

Er sank in seinen Stuhl und griff nach seinem Kaffee; er war kalt geworden, und so blieb er sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, und schaute aus dem Fenster.

Der Himmel war bedeckt, und es fiel ein leichter Regen. Das Einzige, was er in seiner Verwirrung klar spürte, war, dass er nicht sofort nach Truro weiterfahren wollte. Wieder hatte er das Gefühl, dass er gerade aus einem Albtraum erwacht sei. Das Blut hämmerte in seinem Kopf, als er sich erhob und den Speisesaal verließ. »Sollten Sie Ihre Ansicht ändern …« Grooms letzte Worte passten sich dem Rhythmus seines Herzens an. Der Professor schüttelte sich. Er begann die Kontrolle über sich zu verlieren. Ohne zu wissen, was er tat, stolperte er durch die Hotelhalle in den leeren Aufenthaltsraum.

Im Kamin knisterte ein großes Holzfeuer, und er setzte sich davor. Die Wärme, der bequeme Sessel, das gute Essen, die Müdigkeit, alles lud zu einem Nickerchen ein. Aber das überreizte Gehirn ließ den Professor nicht zur Ruhe kommen. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder und immer wieder eine Schreckensszene.

Er lag auf einem Hügel. Unten im Tal, inmitten von Blumen, spielten Kinder. Der Wind trug ihre dünnen, schrillen Stimmen zu ihm herauf. Dann bemerkte er, dass die Kinder nicht allein waren. Ganz in ihrer Nähe, in einer Senke, waren Männer, Männer in Uniform, die sich eifrig über etwas zu unterhalten schienen, das aber so klein war, dass er es nicht sehen konnte. Im nächsten Augenblick rannten sie auseinander. Dann blieben sie stehen und schauten hinunter zu dem Blumenmeer und den spielenden Kindern. Nichts war zu hören außer den Stimmen der spielenden Kinder im Wind. Plötzlich zitterte der Boden unter seinen Füßen, bebte, tat sich brüllend auf und spie schwarze Erde gen Himmel, wo diese wie ein Vorhang hängen blieb. Dann sank der Vorhang, langsam, wie vom Wind getragen, und enthüllte die Szene dahinter. Mit einem Schrei des Entsetzens erwachte der Professor.

Ein Scheit war vom Rost gefallen und flackerte heftig. Er starrte einen Moment drauf, noch ganz befangen vom letzten Schreckensbild, das er gerade gesehen hatte.

Als er das Scheit auf den Rost zurücklegte, bemühte er sich, seine Gedanken zu ordnen. Was hatte er sich denn da eingebildet? Wie kam er, ein intelligenter und angesehener Wissenschaftler, dazu, die fixen Ideen eines übergeschnappten Hotelgastes ernst zu nehmen? Das war ja absurd. Und doch, wie man’s auch drehte und wendete, Simon Groom entsprach kaum dem Bild eines harmlosen Narren. Dieser kühle, stete, berechnende Blick, die selbstsichere, ruhige, gebieterische Art, das waren alles nicht die Kennzeichen eines Dummkopfes. Er versuchte, sich die ganze Sache aus dem Kopf zu schlagen.

Wenn es nun aber doch wahr wäre?

Die Frage ließ und ließ ihn nicht in Ruhe. Nur einmal angenommen, es wäre wahr. Groom hatte gesagt, dass ihm niemand die Geschichte glauben würde, und für den Fall, dass er doch einen fände, so wären die Konsequenzen höchstwahrscheinlich katastrophal. Vielleicht war es doch besser, dass Cator & Bliss die Sache in die Hand nahmen und sie nach alter Väter Sitte und zum Besten ihrer Aktionäre erledigten. Solche Gewalt wäre auf jeden Fall in ihren Händen besser aufgehoben als in den Händen der ixanischen Regierung. Cator & Bliss würden die neu erworbene Macht wenigstens verteilen, das heißt, sie den Meistbietenden verkaufen. Die Regierung von Ixanien hingegen würde sie mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit dazu benutzen, ihre territorialen Forderungen bei ihren unglücklichen Nachbarn durchzusetzen.

»Das ›Gleichgewicht der Kräfte‹ muss erhalten bleiben«, murmelte der Professor vor sich hin.

Hatte man das nicht schon seit Jahrhunderten gesagt? Hatte nicht Kardinal Wolsey das Heinrich dem Achten als Außenpolitik verschrieben? Hatte nicht jeder europäische Staatsmann seit jener Zeit danach gestrebt? Und strebten sie nicht immer noch danach, mit all ihren Pakten, Verträgen und Bündnissen? Und doch hatte es immer wieder Krieg gegeben, und es sah ganz so aus, als ob es immer wieder Krieg geben würde. Was konnte man auch Besseres erwarten, solange der Krieg noch ein gangbares Mittel war, internationale Auseinandersetzungen zu regeln? Was konnte man erwarten, solange Menschen, die Frieden wollten, glaubten, Kriegsvorbereitungen seien die beste Garantie für die nationale Sicherheit? Was konnte man von einem Gleichgewicht der Kräfte erwarten, das durch Länder, Soldaten und Waffen, mit andern Worten, durch Geld reguliert wurde. Kriege kündigten sich durch Ultimaten, Hassausbrüche und defensive Mobilmachungen an, aber angezettelt wurden sie von jenen, die die Macht hatten, das Gleichgewicht zu stören, mit internationalem Geld und Wertpapieren zu intrigieren und zu schmieren; von jenen, die zum Zwecke der Befriedigung ihrer Privatinteressen ökonomische und soziale Situationen schufen, die zu Krieg führen mussten. Der größte Posten in jedem Staatshaushalt war für vergangene oder zukünftige Kriege. Es hatte ganz den Anschein, als sei die Hauptbeschäftigung und das einträglichste Geschäft einer jeden Regierung das Kriegführen.

Was tun? Eins war klar: Es lag am System. Das Geldsystem machte das Schmiergeldsystem erst möglich. Hier musste eine radikale Änderung eintreten. Aber während die Völker dieser Erde lernten, wie man es anders und besser machte, könnte die alte Ordnung zusammenbrechen und sie unter sich begraben. Zum Beispiel diese Erfindung von Kassen: Die Wissenschaft schritt voran, ohne soziale Verhältnisse abzuwarten, für die ihre Errungenschaften ein reiner Segen wären. In einer andern, besseren Weltordnung hätte diese Erfindung einem guten Zweck dienen können, nämlich der Energieversorgung. So aber, wie die Dinge jetzt lagen, hatte das von der Pest der Vaterländerei befallene Genie Kassens eine Höllenmaschine erfunden. Dass eine solche Situation unvermeidlich gewesen war, wusste niemand besser als der Professor. Die Wissenschaft hatte den Menschen unversehens überlistet. Jetzt war es zu spät, um von einer neuen Weltordnung zu reden. Die Vernichtung stand unmittelbar bevor. Zwar fuhr man noch Ford, Citroën, Opel, Morris-Cowley, und die Ehefrau wusch einem die Kleider und stopfte die Socken, aber in einem Labor in einem winzigen Balkanstaat, in den Direktionsräumen der Firma Cator & Bliss und hier in diesem Hotel waren Männer dabei, die alte Welt in Schutt und Asche zu legen.

Wie konnte man sie aufhalten? Und selbst angenommen, man könnte sie aufhalten, wer wäre dazu in der Lage? Einmal angenommen, man könnte dem Mann von der Straße die Gefahr, in der er schwebte, plausibel machen, und er könnte veranlasst werden, etwas dagegen zu unternehmen, wie würde er vorgehen? Die bloße Existenz einer Organisation würde mit Sicherheit den Untergang herbeiführen, den sie verhindern sollte. Nein, der kleine Mann hatte nur eine Chance: Ein außerordentlicher Mensch musste erscheinen und für ihn kämpfen, ein Mann mit übermenschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, ein Mann, der die Machenschaften von Kassen, Ixanien und Cator & Bliss rasch und unauffällig vereiteln würde.

Wo sollte man einen solchen Mann finden? Aus lauter Verzweiflung nahm der Professor das Buch in die Hand.

Sein Eigentümer hatte es auf dem Sofa neben dem Sessel, in dem der Professor saß, liegen lassen. Es war aufgeschlagen, umgedreht, und sein grellgelber Umschlag stach in die Augen. Auf der Rückseite war eine Liste der andern Bücher des Verlags, auf der Vorderseite prangte ein dreifarbiges Bild, das einen schlanken Mann mit markantem Kinn und starkem Bartwuchs zeigte, der eine automatische Pistole in der Hand hielt. Darüber der Titel in blutroten Lettern:

CONWAY CARRUTHERS, DEPT. Y.

Der Professor wollte das Buch schon wieder weglegen, da es ja nicht ihm gehörte, als sein Blick an einem Absatz auf der aufgeschlagenen Seite hängen blieb. Er begann zu lesen.

Carruthers’ Muskeln strafften sich, dann sprang er mit der Geschmeidigkeit eines Panthers und hielt sich mit beiden Händen am Sims fest. Unter sich sah er Krask verbissen die Feuertreppe heraufklettern, in der Hand eine glitzernde automatische Pistole. Es war keine Zeit zu verlieren. Mit einem Klimmzug seiner mächtigen Muskelpakete hievte sich Carruthers in den Schutz der Fensterbrüstung. Für einen Augenblick war er in Sicherheit. Aber Krask hatte ihn gesehen, und Carruthers hörte, wie er die Mauser entsicherte. Zum ersten Mal in seinem Leben war Carruthers wirklich in einer verzwickten Lage. Ins Innere des Hauses zurückzukehren würde seinen sicheren Tod bedeuten – Schwartz würde dafür sorgen. Mit einem unbewaffneten Krask wäre er leicht fertiggeworden, aber er musste mit der Mauser rechnen, und Krask stand im Ruf eines Meisterschützen. Da kam ihm jene unglaubliche Findigkeit zu Hilfe, die den Namen Carruthers in allen fünf Erdteilen zu einem Schrecken für die Verbrecher gemacht hatte. Schnell, doch sehr ruhig, wickelte Carruthers von seiner Hüfte eine lange, seidene Kordel. Ein japanischer Fischer, der ihm sein Leben verdankte, hatte sie ihm verehrt. Sie war dünn, aber sie trug leicht das Gewicht eines Mannes und hatte ihm schon aus mancher Klemme geholfen. Mit leichter, geübter Hand knüpfte er einen Gleitknoten hinein, legte sich die Kordel wie ein Lasso um die Hand und ging dann auf Zehenspitzen an den Rand des Simses. Krask war nun etwa sechs Meter weiter unten. Er schnaufte, und sein brutales Gesicht troff vor Schweiß, aber er hielt die Pistole fest in der Hand, und es war klar, dass er sofort losballern würde. Carruthers prüfte die Schlinge ein letztes Mal. Ein Cowboy aus Arizona, mit dem er befreundet gewesen war, hatte ihn in die Geheimnisse des Lassowurfs eingeweiht. Zischend schlängelte sich die Seidenkordel nach unten. Krask hörte sie nur. Doch dann stellte er fest, dass ihm die Mauser aus der Hand gerissen worden war. Verblüfft blieb er stehen. Dann erfasste ihn die Panik. Er drehte sich um und rannte die Feuertreppe hinunter. Er kam nicht weit.

»Noch ein Schritt«, sagte Carruthers freundlich, aber unerbittlich, »und Sie sind ein toter Mann.«

Professor Barstow seufzte. Er hatte dergleichen seit Jahren nicht mehr gelesen. Der Mathematiker Barstow konnte den Romantiker Barstow nicht brauchen. Doch im Herzen eines Mannes stirbt der Sinn für Romantik nie. Die reine Vernunft mag sie entthronen, der Alltag sie ersticken, aber sie schwelt weiter und erwischt den Mann in seinen schwachen Augenblicken und spornt ihn an in seinen besten. Der Verstand hatte den Professor an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Nun winkte die Phantasie in der farbenprächtigen Gestalt eines Conway Carruthers. Es war also nichts weiter als logisch, dass der Professor die erste Seite des Buches aufschlug und zu lesen begann.

Der passionierte Leser von Abenteuergeschichten und Kriminalromanen verlangt vom Helden bloß eines: jeder Situation gewachsen zu sein. Sei dieser nun Detektiv oder Meisterverbrecher, er muss der Inbegriff der Vollkommenheit sein. Ist er einmal in einer kritischen Situation, so darf sie nur vorübergehend sein. Sein riesiges Arsenal an Erfahrung muss ihm in jedem Moment die richtige Waffe liefern, die ihn auch aus der verzweifeltsten Situation heraushaut, oder aber den glücklichen Einfall, der, wenn auch auf Umwegen, zum guten Ende führt.

Professor Barstow machte da keine Ausnahme.

Conway Carruthers befriedigte alle seine Ansprüche restlos.

Es gab nichts, was dieser bemerkenswerte Mann nicht hätte vollbringen können. Verglichen mit anderen Gestalten des Buches musste er etwa vierzig Jahre alt sein. Dagegen sprach aber seine körperliche Leistungsfähigkeit, die jedem fünfundzwanzigjährigen Olympia-Athleten zur Ehre gereicht hätte. Es war ihm auch im Laufe seines Lebens gelungen, einer Vielzahl von Menschen der verschiedensten Länder das Leben zu retten und