Die Maske des Dimitrios - Eric Ambler - E-Book

Die Maske des Dimitrios E-Book

Eric Ambler

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Beschreibung

Istanbul in den 1930ern: Auf seiner Reise sucht der englische Kriminalschriftsteller Charles Latimer nach Inspiration. Als er von der Polizei erfährt, dass gerade eine Leiche aus dem Bosporus gefischt wurde ? entstellt bis zur Unkenntlichkeit ?, wittert er den Stoff für sein nächstes Buch. Doch wie nah darf er dem Verbrechen kommen? Bei dem Toten handelt es sich um niemand geringeren als Dimitrios, den berüchtigten und seit langem gesuchten Betrüger und Mörder. Latimer ist fasziniert und macht sich daran, Dimitios' Spuren zu folgen. Es beginnt eine Jagd durch ganz Europa, bei der er sich mit jedem Hinweis, dem er nachgeht, tiefer in Gefahr begibt. Als Latimer schließlich erkennt, mit welchen Mächten er sich angelegt hat, steht sein eigenes Leben bereits auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 390

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Eric Ambler

Die Maske des Dimitrios

Roman

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Hoffmann und Campe

Für Alan und Felice Harvey

»Das Vergessen streut blind und ungerecht seine Saat aus und behandelt das Andenken der Menschen ohne Rücksicht auf Verdienst und Unsterblichkeit …

Ohne bleibende Aufzeichnungen wäre der erste Mensch so unbekannt wie der letzte, und Methusalems langes Leben wäre seine einzige Chronik gewesen.«

Sir Thomas Browne,

Hydriotaphia

1Ursprung einer Obsession

Ein Franzose namens Chamfort, der es hätte besser wissen müssen, hat einmal gesagt, dass Zufall ein Spitzname für Vorsehung sei.

Dies ist einer jener bequemen, fragwürdigen Aphorismen, die geprägt wurden, um die unangenehme Wahrheit zu verschleiern, dass der Zufall eine wichtige, wenn nicht die Hauptrolle im Leben der Menschen spielt. Ganz abwegig ist Chamforts Gedanke jedoch nicht. Der Zufall kommt manchmal so unsicher daher, dass man ihn leicht mit dem Ergebnis bewusster Vorsehung verwechseln kann.

Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von Dimitrios Makropoulos.

Dass jemand wie Latimer von der Existenz eines Mannes wie Dimitrios erfährt, ist an sich schon grotesk. Dass er die Leiche dieses Dimitrios zu sehen bekommt, kostbare Wochen darauf verwendet, Licht in die dunkle Geschichte dieses Mannes zu bringen, und sein Leben schließlich der eigenwilligen Wohnungseinrichtung eines Verbrechers verdankt – das alles ist von atemberaubender Absurdität.

Gleichwohl, wenn man diese Umstände zusammen mit den anderen Fakten dieses Falles betrachtet, ist es schwer, nicht in abergläubischer Ehrfurcht zu versinken. Angesichts der ganzen Absurdität scheint sich der Gebrauch des Wortes ›Zufall‹ zu verbieten. Für den Skeptiker bleibt nur ein Trost: Sollte es so etwas wie ein übernatürliches Gesetz geben, so wird es außerordentlich stümperhaft angewendet. Die Entscheidung, Latimer zu seinem Instrument zu machen, konnte nur ein Idiot getroffen haben.

Charles Latimer hatte die ersten fünfzehn Jahre seines Erwachsenenlebens als Dozent für Volkswirtschaft an einer kleineren englischen Universität verbracht. Mit fünfunddreißig hatte er außerdem drei Bücher geschrieben. Das erste war eine Arbeit über den Einfluss Proudhons auf die politischen Theorien im Italien des neunzehnten Jahrhunderts. Das zweite trug den Titel Das Gothaer Programm von1875. Das dritte war eine Untersuchung über die wirtschaftspolitischen Implikationen von Rosenbergs Buch Der Mythus des20. Jahrhunderts.

In der Hoffnung, die schwarzen Gedanken zu vertreiben, die sich im Gefolge seiner zeitweiligen Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Philosophie und ihrem Propheten, Dr. Rosenberg, bei ihm eingestellt hatten, schrieb Latimer, unmittelbar nachdem er den Stapel Fahnen zu seinem dritten Werk korrigiert hatte, seinen ersten Kriminalroman.

Eine blutige Schaufel fand sofort großen Anklang. Es folgte »Ich«, sagte die Fliege und Tödliche Waffen. Aus der großen Schar von Professoren, die in ihrer Freizeit Detektivgeschichten schreiben, trat Latimer bald als einer der wenigen Verschämten hervor, die mit ihrem Hobby Geld verdienen konnten. Es war wohl unausweichlich, dass er die Schriftstellerei früher oder später zu seinem Hauptberuf machte. Drei Dinge beschleunigten diese Entwicklung. Erstens eine Meinungsverschiedenheit mit der Universitätsverwaltung in einer für ihn grundsätzlichen Frage. Zweitens eine Erkrankung, drittens der Umstand, dass er Junggeselle war. Wenig später veröffentlichte er Eine böse Überraschung, und nach seiner Krankheit, die seine Konstitution sehr geschwächt hatte, reichte er ohne großes Bedauern seine Kündigung ein und beschloss, seinen fünften Kriminalroman in einem wärmeren Klima zu beenden.

Sobald sein sechstes Buch fertig war, fuhr er in die Türkei. Er hatte ein Jahr in Athen und Umgebung verbracht und sehnte sich nach einer Ortsveränderung. Gesundheitlich ging es ihm schon viel besser, aber die Aussicht auf einen englischen Herbst erschien ihm nicht verlockend. Auf Vorschlag eines griechischen Freunds fuhr er mit dem Schiff von Piräus nach Istanbul.

Dort hörte er durch Oberst Hakki zum ersten Mal von Dimitrios.

Empfehlungsbriefe sind eine heikle Sache. Meist kennt der Schreiber den Überbringer nur flüchtig und den Empfänger womöglich noch weniger, und es besteht nur geringe Aussicht, dass die Übergabe alle drei zufriedenstellt.

Einer der Empfehlungsbriefe, mit denen Latimer in Istanbul eintraf, war an eine Madame Chavez adressiert, die in einer Villa am Bosporus wohnte. Drei Tage nach seiner Ankunft schrieb er ihr, woraufhin sie ihn zu einer viertägigen Party in ihre Villa einlud. Mit gemischten Gefühlen sagte er zu.

Für Madame Chavez, eine sehr attraktive Türkin, war der Weg von Istanbul nach Buenos Aires ebenso mit Gold gepflastert gewesen wie der Weg zurück. Sie hatte einen reichen argentinischen Fleischindustriellen geheiratet, sich scheiden lassen und mit einem Bruchteil ihres dabei erzielten Gewinns einen kleinen Palast gekauft, der früher einem Angehörigen der türkischen Herrscherfamilie gehört hatte. Die Villa lag, schwer zugänglich und abgelegen, an einer Bucht mit phantastischem Blick und war – wenn man davon absah, dass die Wasserversorgung nicht einmal für eines der insgesamt neun Badezimmer ausreichte – großzügig ausgestattet. Latimer, dem dieser grandiose Mangel an Komfort ungewohnt war, hätte sich wohlgefühlt, wären nicht die anderen Gäste gewesen und hätte seine Gastgeberin nicht nach türkischer Sitte ihre Angestellten ins Gesicht geschlagen, wenn sie, was oft vorkam, mit ihnen unzufrieden war.

Bei den anderen Gästen handelte es sich um zwei lärmende Franzosen aus Marseille, drei Italiener, zwei junge türkische Seeoffiziere mit ihren derzeitigen »Bräuten« und einige Istanbuler Geschäftsleute mit ihren Frauen. Die meiste Zeit trank man Madame Chavez’ scheinbar unerschöpfliche Vorräte an holländischem Gin und tanzte zu den Klängen eines Grammophons, während ein Diener pausenlos neue Platten auflegte, selbst dann, wenn nicht getanzt wurde. Der Hinweis auf seine angeschlagene Gesundheit diente Latimer als Vorwand, sich vor dem Trinken und dem Tanzen weitgehend zu drücken. Niemand beachtete ihn.

Am frühen Abend seines letzten Tages dort, während er draußen auf einer weinumrankten Terrasse saß, wo das Grammophon nicht zu hören war, sah er eine große Limousine den langen, staubigen Weg zur Villa heraufkommen. Der Wagen rollte in den Innenhof, und noch ehe er hielt, stieß die Person, die im Fond saß, die Tür auf und sprang hinaus.

Es war ein hochgewachsener Mann mit hagerem, muskulösem, leicht gebräuntem Gesicht, zu dem die grauen Stoppelhaare sehr gut passten. Das schmale Stirnbein, die lange Nase und die dünnen Lippen gaben ihm etwas Raubtierhaftes. Latimer schätzte ihn auf mindestens fünfzig, und neugierig musterte er die Taille unter der elegant geschnittenen Offiziersuniform, in der Hoffnung, die Andeutung eines Korsetts zu entdecken.

Der schlanke Offizier zog ein seidenes Taschentuch aus dem Ärmel, wischte ein paar unsichtbare Stäubchen von seinen glänzenden Reitstiefeln, setzte sich die Mütze verwegen auf den Kopf und verschwand mit langen Schritten aus dem Blickfeld. Irgendwo in der Villa läutete eine Klingel.

Oberst Hakki – so hieß der Mann – war sofort Mittelpunkt der Party. Eine Viertelstunde nach seinem Eintreffen kam Madame Chavez mit ihm auf die Terrasse und stellte ihn vor, wobei ihr Ausdruck schüchterner Verwirrtheit den Gästen offensichtlich signalisieren sollte, dass sie sich durch die unerwartete Ankunft des Obersts hoffnungslos kompromittiert fühlte. Dieser schlug die Hacken zusammen, küsste Hände, verbeugte sich lächelnd, erwiderte den Gruß der Marineoffiziere und warf den Frauen der Geschäftsleute galante Blicke zu. Dieses Schauspiel fand Latimer derart faszinierend, dass er zusammenfuhr, als die Reihe an ihn kam und sein Name genannt wurde. Der Oberst schüttelte ihm jovial die Hand.

»Wirklich schön, Sie kennenzulernen, mein Freund«, rief er.

»Monsieur le Colonel parle bien anglais«, erklärte Madame Chavez.

»Quelques mots«, sagte Oberst Hakki.

Latimer sah in ein Paar hellgraue Augen. »Sehr erfreut.«

»Habe die Ehre«, antwortete der Oberst förmlich und wandte sich dann einer drallen Schönheit im Badeanzug zu, um ihr die Hand zu küssen und sie bewundernd zu taxieren.

Erst am späten Abend sprach Latimer wieder mit dem Oberst, der mit seinen Witzen, seinem dröhnenden Lachen, den humorvoll frechen Avancen gegenüber den Ehefrauen und den eher verstohlenen gegenüber den unverheirateten Damen Leben in die Gesellschaft gebracht hatte. Von Zeit zu Zeit traf sich sein Blick mit dem Latimers, und dann grinste er entschuldigend. ›Ich muss hier den Clown spielen – das wird von mir verlangt‹, sagte das Grinsen, ›aber glauben Sie ja nicht, dass es mir gefällt.‹ Nach dem Essen, als die Gäste nicht mehr tanzen wollten, sondern ein gemischtes Spiel Strip Poker ihr Interesse erregte, nahm ihn der Oberst am Arm und ging mit ihm auf die Terrasse hinaus.

»Entschuldigen Sie, Monsieur Latimer«, sagte er auf Französisch, »aber ich würde mich gern einmal mit Ihnen unterhalten. Diese Frauen – puh!« Er hielt Latimer sein Zigarettenetui unter die Nase. »Zigarette?«

»Vielen Dank.«

Oberst Hakki sah sich um. »Der andere Teil der Terrasse ist ruhiger«, sagte er, und während sie schon losgingen, fuhr er fort: »Wissen Sie, ich bin eigentlich nur gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Madame hat mir erzählt, dass Sie hier sind, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Autor kennenzulernen, dessen Bücher ich so sehr bewundere.«

Latimer murmelte eine unverbindliche Antwort auf dieses Kompliment. Da er nicht wusste, ob der Oberst seine wissenschaftlichen Untersuchungen oder seine Kriminalromane meinte, war er etwas verunsichert. Einen liebenswürdigen alten Professor, der Interesse an seinem »letzten Buch« bekundet hatte, hatte er mit der Frage irritiert, ob ihm erschossene oder erschlagene Leichen lieber seien. Zu fragen, welche Sparte Bücher gemeint seien, erschien ihm albern.

Oberst Hakki fuhr ohnehin schon fort: »Ich bekomme die neuesten Kriminalromane aus Paris zugeschickt. Ich lese überhaupt nur Kriminalromane. Ich würde Ihnen gern einmal meine Sammlung zeigen. Besonders mag ich die englischen und amerikanischen. Die besten werden ins Französische übersetzt. Von den französischen Autoren halte ich nicht so viel. Aufgrund ihrer Kultur und Lebensart können sie keine erstklassigen Kriminalromane hervorbringen. Ich habe meiner Bibliothek gerade Ihr Une Pelle Ensanglantée hinzugefügt. Sehr bemerkenswert! Aus dem Titel werde ich allerdings nicht recht schlau.«

Latimer versuchte, das im englischen Titel enthaltene Wortspiel zu übersetzen, das einen Hinweis auf die Person des Mörders lieferte.

Oberst Hakki hörte aufmerksam zu, nickte mit dem Kopf und sagte: »Aha, ich verstehe«, noch ehe Latimer bei der Pointe angekommen war.

»Monsieur«, sagte er, als Latimer verzweifelt aufgab, »ich würde Sie gern an einem der nächsten Tage zum Mittagessen einladen«, und geheimnisvoll fügte er hinzu: »Ich glaube, ich könnte Ihnen helfen.«

Latimer hatte keine Ahnung, inwiefern Oberst Hakki ihm helfen konnte, nahm die Einladung aber an. Sie vereinbarten, sich drei Tage später im Hotel Pera Palace zu treffen.

Erst am Vorabend fiel Latimer die Einladung wieder ein. Er saß mit dem Chef seiner Istanbuler Bankfiliale in der Hotelhalle.

Collison war ganz nett, aber etwas langweilig. Sein Beitrag zur Unterhaltung bestand fast ausschließlich aus Klatsch über die englische und amerikanische Kolonie in Istanbul. »Kennen Sie die Fitzwilliams?«, fragte er. »Nein? Schade. Würden Ihnen gefallen. Also neulich …« Als Quelle von Informationen über die Wirtschaftsreformen unter Atatürk taugte er jedenfalls nichts.

»Übrigens«, sagte Latimer, nachdem er dem Bericht über die Frau eines amerikanischen Automobilverkäufers, eine gebürtige Türkin, gelauscht hatte, »kennen Sie einen gewissen Oberst Hakki?«

»Hakki? Wie kommen Sie denn auf den?«

»Ich bin morgen Mittag mit ihm verabredet.«

Collison zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wirklich? Donnerwetter!« Er kratzte sich am Kinn. »Ich kenne ihn vom Hörensagen.« Er zögerte. »Hakki ist einer dieser Leute, von denen man hier viel hört, aber nie Genaues. Einer der Akteure hinter den Kulissen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hat mehr Einfluss als viele der Männer, die in Ankara das Sagen haben. War 1919 einer von Atatürks Vertrauten in Anatolien und Mitglied der provisorischen Volksversammlung. Ich habe damals schon Geschichten über ihn gehört. Soll ein blutrünstiger Hund gewesen sein. Es gab Gerüchte, dass Gefangene gefoltert wurden. Aber das haben schließlich beide Seiten gemacht, und ich behaupte, dass die Kerle des Sultans damit angefangen haben. Habe auch gehört, dass er an einem Abend ein paar Flaschen Whisky trinken kann und dabei völlig nüchtern bleibt. Glaube ich aber eher nicht. Wie sind Sie denn an ihn rangekommen?«

Latimer erklärte es. »Was für eine Stelle bekleidet er?«, fragte er dann. »Ich kenne mich mit diesen Uniformen nicht aus.«

Collison zuckte mit den Schultern. »Ich habe aus zuverlässiger Quelle gehört, dass er der Chef des Geheimdienstes ist, aber auch das dürfte nur ein Gerücht sein. Das ist das Problem hier. Von dem, was man im Club hört, kann man kein Wort glauben. Stellen Sie sich vor, erst neulich …«

Latimer ging tags darauf sehr viel neugieriger zu seiner Verabredung. Er hatte Oberst Hakki als ziemlichen Haudegen eingeschätzt, und Collisons vager Hinweis hatte ihn darin nur bestärkt.

Der Oberst, der unter einem Schwall von Entschuldigungen zwanzig Minuten zu spät kam, führte seinen Gast gleich in das Restaurant. »Wir müssen sofort einen Whisky Soda trinken«, sagte er und rief laut nach einer Flasche »Johnnie«.

Während des Essens sprach er fast nur über die Kriminalromane, die er gelesen hatte, was er von ihnen hielt, wie er die Figuren fand und dass er eine Vorliebe für Mörder hatte, die ihre Opfer erschossen. Schließlich, mit einer fast leeren Flasche Whisky neben sich und einem Erdbeereis vor sich, beugte er sich über den Tisch.

»Mr Latimer«, sagte er wieder, »ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«

Latimer überlegte kurz, ob Hakki ihm eine Stelle im türkischen Geheimdienst anbieten würde, sagte dann aber: »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.«

»Ich wollte immer schon mal einen guten Kriminalroman schreiben. Ich denke oft, dass ich es könnte, wenn ich nur die Zeit hätte. Das ist das Problem – die Zeit. Das ist mir inzwischen klar. Aber …« Er hielt inne.

Latimer wartete. Immer lernte er Menschen kennen, die glaubten, sie könnten Kriminalromane schreiben, wenn sie nur die Zeit hätten.

»Ich habe die Handlung skizziert«, fuhr der Oberst fort. »Ich würde Ihnen den Entwurf gern schenken.«

Latimer sagte, dass das sehr großzügig sei.

Der Oberst tat seinen Dank mit einer Handbewegung ab. »Ihre Bücher haben mir so viel Vergnügen bereitet, Mr Latimer. Ich freue mich, dass ich Ihnen die Idee zu einem neuen Buch liefern kann. Ich selbst habe nicht die Zeit, etwas daraus zu machen, und sowieso«, fügte er großmütig hinzu, »würden Sie etwas sehr viel Besseres daraus machen als ich.«

Latimer murmelte etwas Unverständliches.

»Die Geschichte spielt in England«, fuhr Oberst Hakki fort, die grauen Augen fest auf Latimer gerichtet, »auf dem Landsitz des reichen Lord Robinson. Es ist Wochenende, man feiert eine Party. Während der Party wird Lord Robinson an seinem Arbeitstisch in der Bibliothek aufgefunden – tot, mit einer Schusswunde an der Schläfe. Die Wunde weist Schmauchspuren auf. Eine Blutlache hat sich auf dem Schreibtisch gebildet und ein Blatt Papier getränkt. Es ist das neue Testament, das der Lord gerade unterzeichnen wollte. Dem alten Testament zufolge wäre sein Vermögen zu gleichen Teilen an sechs Personen gefallen, seine Verwandten, die bei der Party anwesend sind. Das neue Testament, dessen Unterzeichnung durch die Kugel des Mörders verhindert wurde, spricht alles einem der Verwandten zu. Also« – anklagend hob der Oberst seinen Eislöffel – »ist einer der fünf anderen der Täter. Ist doch logisch, oder nicht?«

Latimer öffnete den Mund, machte ihn dann wieder zu und nickte.

Oberst Hakki grinste triumphierend. »Das ist der Trick.«

»Was für ein Trick?«

»Der Lord wurde nicht von einem der Tatverdächtigen ermordet, sondern vom Butler, dessen Frau ebendieser Lord verführt hatte! Wie finden Sie das, hm?«

»Sehr raffiniert.«

Sein Gastgeber lehnte sich zufrieden zurück und strich sich über den Uniformrock. »Es ist nur ein Trick, aber ich freue mich, dass er Ihnen gefällt. Ich habe die ganze Handlung detailliert ausgearbeitet. Die Rolle des Detektivs spielt ein Kommissar von Scotland Yard. Er verführt eine der Angeklagten, eine bildschöne Frau, und ihretwegen löst er das Rätsel. Es ist ziemlich gekonnt. Aber wie gesagt, ich habe die ganze Sache ausgearbeitet.«

»Ihre Notizen würden mich sehr interessieren«, sagte Latimer ehrlich.

»Ich hatte auf diese Reaktion gehofft. Haben Sie’s eilig?«

»Keineswegs.«

»Dann könnten wir in mein Büro gehen, und ich zeige Ihnen meinen Entwurf. Er ist auf Französisch.«

Latimer zögerte nur kurz. Er hatte nichts Besseres vor, und vielleicht war es interessant, Oberst Hakkis Dienstzimmer zu sehen. »Ich komme mit«, sagte er.

Das Büro befand sich im obersten Stockwerk eines Gebäudes in Galata, das früher ein billiges Hotel gewesen sein mochte, jetzt aber unverkennbar als Sitz einer staatlichen Behörde diente. Das Büro war ein großes Zimmer am Ende eines Korridors. Als sie eintraten, beugte sich ein uniformierter Angestellter gerade über den Schreibtisch. Er richtete sich auf, schlug die Hacken zusammen und sagte etwas auf Türkisch. Der Oberst antwortete und entließ ihn mit einer Kopfbewegung. Latimer schaute sich um. Außer dem Schreibtisch standen mehrere kleine Stühle im Zimmer sowie ein amerikanischer Eiswasserspender. Die Wände waren kahl, auf dem Fußboden lagen Kokosmatten. Lange grüne Jalousien draußen vor den Fenstern hielten das Licht ab. Es war sehr kühl nach der Hitze in dem Auto, das sie gebracht hatte.

Der Oberst zeigte auf einen Stuhl, bot Latimer eine Zigarette an und begann, in einer Schublade herumzuwühlen. Schließlich holte er einige maschinenbeschriebene Seiten heraus und gab sie ihm.

»Hier, Mr Latimer. Das Blutbefleckte Testament habe ich es genannt, aber ich bin nicht sicher, ob das ein guter Titel ist. Die besten Titel sind ja alle schon verwendet worden. Aber ich werde mir etwas anderes einfallen lassen. Lesen Sie, und scheuen Sie sich nicht, mir offen Ihre Meinung zu sagen. Wenn Sie finden, dass irgendwelche Details geändert werden sollten, werde ich sie ändern.«

Latimer nahm die Notizen und las, während der Oberst auf einer Schreibtischecke saß und ein langes, glänzendes Bein schwingen ließ.

Latimer las ein zweites Mal und legte die Seiten dann wieder auf den Schreibtisch. Er schämte sich, weil er mehrere Male am liebsten gelacht hätte. Er hätte nicht mitkommen sollen. Da er aber doch mitgekommen war, sollte er möglichst schnell wieder gehen.

»Im Moment wüsste ich nicht, was man verbessern könnte«, sagte er langsam. »Natürlich muss man sich alles genau überlegen. Bei solchen Problemen macht man leicht Fehler. Es gibt so viel zu berücksichtigen. Fragen der englischen Prozessordnung, beispielsweise …«

»Ja, ja, selbstverständlich.« Oberst Hakki erhob sich von seiner Tischecke und setzte sich auf seinen Stuhl. »Aber Sie glauben, Sie können es verwenden, hm?«

»Sie sind wirklich sehr großzügig«, sagte Latimer ausweichend.

»Nicht der Rede wert. Sie werden mir ein Exemplar des fertigen Buches schicken.« Er drehte sich auf seinem Stuhl herum und griff zum Telefonhörer. »Ich werde eine Abschrift für Sie anfertigen lassen.«

Latimer lehnte sich zurück. Na gut. Lange konnte es nicht dauern, eine Kopie anzufertigen. Der Oberst sprach mit jemandem, runzelte die Stirn, legte dann den Hörer auf und wandte sich um.

»Gestatten Sie, dass ich zwischendurch eine Kleinigkeit erledige?«

»Natürlich.«

Der Oberst zog eine dicke braune Akte heran und begann zu blättern. Bei einem Dokument hielt er inne. In dem Moment klopfte es an der Tür, und der uniformierte Angestellte trat mit einem dünnen gelben Hefter unter dem Arm ein. Oberst Hakki nahm den Hefter und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch, dann reichte er dem Beamten mit einer Anweisung das Blutbefleckte Testament. Der Mann salutierte und ging wieder hinaus. Es war ganz still im Raum.

Latimer tat, als sei er mit seiner Zigarette beschäftigt, während er über den Schreibtisch hinwegblickte. Mit einem Ausdruck, den Latimer jetzt zum ersten Mal an ihm bemerkte, blätterte Oberst Hakki langsam in der Akte. Es war der Ausdruck eines Profis, der seine Arbeit tut. Die konzentrierte Ruhe auf seinem Gesicht erinnerte Latimer an eine alte und erfahrene Katze, die eine junge und unerfahrene Maus beobachtet. In diesem Moment revidierte er seine Meinung über Oberst Hakki. Er hatte fast Mitleid für ihn gehabt, so wie man Mitleid für jemanden empfindet, der sich ungewollt blamiert hat. Jetzt erkannte er, dass der Oberst dieses Mitgefühls nicht bedurfte. Während jener mit langen, gelblichen Fingern den Hefter durchblätterte, fiel Latimer die Bemerkung von Collison ein: Es gab Gerüchte über Folter an Gefangenen. Plötzlich wusste er, dass er zum ersten Mal den wahren Oberst Hakki vor sich sah. Da blickte der Oberst auf, und seine hellen Augen ruhten nachdenklich auf Latimers Krawatte.

Für einen Moment hatte Latimer das unangenehme Gefühl, dass der Mann, der ihm gegenübersaß und auf seine Krawatte starrte, in Wahrheit in sein Innerstes sah. Dann hob der Oberst den Blick und grinste in einer Weise, dass Latimer sich vorkam, als hätte man ihn bei einem Diebstahl erwischt.

Der Oberst sagte: »Ich überlege gerade, ob Sie an echten Mördern interessiert sind, Mr Latimer.«

2Die Akte Dimitrios

Latimer spürte, dass er rot wurde. Er, der herablassende Profi, stand plötzlich wie ein lächerlicher Amateur da. Er war leicht irritiert.

»Äh, doch«, sagte er stockend, »ja.«

Oberst Hakki spitzte die Lippen. »Wissen Sie, Mr Latimer«, sagte er, »Mörder in einem Kriminalroman sind mir viel sympathischer als echte Mörder. In einem Kriminalroman gibt es eine Leiche, etliche Verdächtige, einen Detektiv und den Galgen. Das ist Kunst. Ein echter Mörder ist kein Künstler. Ich, der ich so etwas wie ein Polizist bin, sage Ihnen das ganz ehrlich.« Er tippte auf den Aktenordner vor sich. »Hier haben Sie einen echten Mörder. Wir wissen seit zwanzig Jahren von seiner Existenz. Dies ist seine Akte. Wir wissen von einem Mord, den er verübt haben könnte. Es gibt bestimmt andere, von denen uns jedoch nichts bekannt ist. Dieser Mann ist exemplarisch. Ein mieser Typ, gemein, feige, asozial. Mord, Spionage, Rauschgift – voilà. Außerdem Beteiligung an zwei Attentaten.«

»Attentate? Das spricht doch eher für Mut, nein?«

Der Oberst lachte unangenehm. »Mein lieber Freund, Dimitrios würde bei der eigentlichen Schießerei nie in Erscheinung treten. Niemals! Typen wie er würden nie ihre Haut riskieren. Sie bewegen sich am Rand des Geschehens. Sie sind die Profis, sie vermitteln zwischen den Geschäftsleuten, den Politikern, die das Ergebnis wollen, aber vor der Tat zurückschrecken, und den Fanatikern, den Idealisten, die bereit sind, für ihre Überzeugungen zu sterben. Bei einem Attentat oder einem Attentatsversuch kommt es weniger darauf an, wer den Schuss abgegeben hat. Man muss vielmehr herausfinden, wer für die Kugel bezahlt hat. Ratten wie Dimitrios können einem das am besten erzählen. Sie sind immer bereit auszupacken, um sich die Unannehmlichkeiten einer Gefängniszelle zu ersparen. Dimitrios unterscheidet sich darin nicht von anderen. Mut! Dass ich nicht lache! Ich gebe zu, Dimitrios war ein wenig schlauer als die anderen. Meines Wissens hat ihn kein Staat je zu fassen gekriegt, und es gibt kein Foto in seiner Akte. Aber wir kannten ihn trotzdem, und in Sofia, Belgrad, Paris und Athen war er ebenfalls bekannt. Er ist viel herumgekommen, dieser Dimitrios.«

»Das klingt, als wäre er tot.«

»Ja, er ist tot.« Oberst Hakki zog verächtlich die Mundwinkel herunter. »Gestern Nacht wurde seine Leiche von einem Fischer aus dem Bosporus gezogen. Wir nehmen an, dass er erstochen und dann über Bord geworfen wurde. Und dann trieb er im Wasser, wie es sich für Abschaum gehört.«

»Jedenfalls ist er eines gewaltsamen Todes gestorben«, sagte Latimer. »Das sieht nach ausgleichender Gerechtigkeit aus.«

»Ah!« Der Oberst beugte sich vor. »Aus Ihnen spricht der Schriftsteller. Alles muss künstlerisch sauber sein, wie in einem Kriminalroman. Na schön!« Er zog die Akte zu sich heran und schlug sie auf. »Hören Sie gut zu, Mr Latimer. Dann können Sie sagen, ob es künstlerisch ist.«

Er begann vorzulesen.

»Dimitrios Makropoulos.« Er sah auf. »Wir haben nicht herausfinden können, ob das der Name der Familie war, die ihn adoptiert hat, oder ein Deckname. Er hieß überall nur Dimitrios.« Er wandte sich wieder der Akte zu. »Dimitrios Makropoulos. Geboren 1889 in Larissa. Findelkind. Eltern unbekannt. Mutter vermutlich Rumänin. Von einer griechischen Familie adoptiert, registriert als griechischer Staatsangehöriger. Straffällig geworden, Einzelheiten bei den griechischen Behörden nicht in Erfahrung zu bringen.« Er sah Latimer an. »Das war, bevor wir auf ihn aufmerksam wurden. Zum ersten Mal hörten wir 1922 in Izmir von ihm, nachdem wir die Stadt zurückerobert hatten. Ein Geldverleiher namens Scholem wurde mit durchschnittener Kehle in seinem Zimmer aufgefunden. Dieser Mann bewahrte sein Geld unter den Fußbodendielen auf. Diese waren herausgerissen, das Geld war verschwunden. Damals ging es drunter und drüber in Izmir, und die Militärbehörden konnten nicht überall gleichzeitig nach dem Rechten sehen. Die Tat konnte von einem unserer Soldaten verübt worden sein. Dann wies ein Verwandter von Scholem die Militärbehörden auf einen gewissen Driss Mohammed hin, der in Kaffeehäusern mit Geld um sich geworfen und geprahlt hatte, ein Jude habe ihm das Geld zinslos geliehen. Ermittlungen wurden aufgenommen, und Driss wurde verhaftet. Da seine Erklärungen das Militärgericht nicht überzeugen konnten, wurde er zum Tode verurteilt. Daraufhin legte er ein Geständnis ab. Er war Feigenpacker. Er sagte, einer seiner Arbeitskollegen namens Dimitrios habe ihm von Scholems Geld erzählt, das unter den Dielen versteckt sei. Sie hätten den Raub gemeinsam geplant und seien zu nächtlicher Stunde in Scholems Zimmer eingedrungen. Driss erklärte, dass Dimitrios den Juden umgebracht habe. Er vermutete, dass Dimitrios, der griechische Papiere besaß, an Bord eines der Flüchtlingsschiffe, die an versteckten Orten entlang der Küste warteten, nach Griechenland entkommen sei.«

Der Oberst zuckte mit den Schultern. »Das Gericht hat ihm diese Geschichte nicht abgenommen. Wir führten damals Krieg gegen Griechenland, und es war so eine Geschichte, wie sie ein Schuldiger erfinden mochte, um seinen Kopf zu retten. Man stellte fest, dass es tatsächlich einen Feigenpacker namens Dimitrios gegeben hatte, der bei seinen Arbeitskollegen unbeliebt und irgendwann verschwunden war.« Er grinste. »Ziemlich viele Griechen mit Namen Dimitrios sind seinerzeit verschwunden. Ihre Leichen lagen auf den Straßen und trieben im Hafenbecken. Die Geschichte von Driss Mohammed war unbewiesen. Er wurde gehängt.«

Er hielt inne. Während seines Berichts hatte er kein einziges Mal in der Akte nachgesehen.

»Sie haben ein ausgezeichnetes Faktengedächtnis«, sagte Latimer.

Der Oberst grinste wieder. »Ich war der Vorsitzende des Militärgerichts. So konnte ich Dimitrios’ Spur später verfolgen. Ein Jahr später wurde ich zum Geheimdienst versetzt. 1924 wurde ein Komplott zur Ermordung Atatürks aufgedeckt. Das war das Jahr, in dem er das Kalifat abschaffte, und das Attentat sollte nach außen hin das Werk einer Gruppe von religiösen Fanatikern sein. Tatsächlich standen Leute dahinter, die gute Kontakte zur Regierung eines befreundeten Nachbarstaates hatten und an einer Beseitigung Atatürks interessiert waren. Die Sache flog auf. Die Einzelheiten sind unwichtig, aber einer der Agenten, der entkommen konnte, war ein Mann namens Dimitrios.« Er schob Latimer das Zigarettenetui zu. »Bitte, bedienen Sie sich!«

Latimer schüttelte den Kopf. »Derselbe Dimitrios?«

»Jawohl. Also, Mr Latimer, mal ehrlich, finden Sie daran etwas Künstlerisches? Könnten Sie einen guten Kriminalroman daraus machen? Sehen Sie irgendetwas, was für einen Schriftsteller auch nur von minimalem Interesse sein könnte?«

»Die Arbeit der Polizei interessiert mich natürlich sehr. Aber was wurde aus Dimitrios? Wie ist die Geschichte ausgegangen?«

Oberst Hakki schnipste mit den Fingern. »Ah! Auf diese Frage habe ich schon gewartet. Ich wusste, Sie würden danach fragen. Und meine Antwort lautet: Sie ist noch lange nicht zu Ende.«

»Was ist passiert?«

»Ich werde es Ihnen erzählen. Das erste Problem war, dass festgestellt werden musste, ob der Dimitrios aus Izmir mit dem Dimitrios aus Edirne identisch ist. Wir haben daher den Fall Scholem wieder hervorgeholt, haben einen griechischen Feigenpacker namens Dimitrios wegen dringenden Mordverdachts zur Fahndung ausgeschrieben und ausländische Polizeibehörden um Mithilfe gebeten. Wir haben nicht viel erfahren, aber die wenigen Informationen reichten uns. Dimitrios war an dem versuchten Attentat auf Stamboliski in Bulgarien beteiligt, das vor dem Putsch der mazedonischen Offiziere im Jahre 1923 stattgefunden hatte. Die Polizei in Sofia wusste sehr wenig, eigentlich nur, dass er dort als Grieche aus Izmir bekannt war. Eine Frau, mit der er in Sofia ein Verhältnis hatte, wurde verhört. Sie gab an, kurz zuvor einen Brief von ihm ohne Absenderangabe erhalten zu haben; da sie aber dringend Kontakt mit ihm aufnehmen wollte, habe sie auf den Stempel gesehen. Der Brief war in Edirne abgestempelt. Die Polizei in Sofia ließ sich eine ungefähre Beschreibung von ihm übermitteln, die mit der übereinstimmte, die Driss Mohammed in Izmir gegeben hatte. Die griechische Polizei erklärte, er sei schon vor 1922 straffällig geworden, und teilte weitere Einzelheiten zu seiner Person mit. Der Haftbefehl besteht wahrscheinlich noch immer, er hat uns aber nicht geholfen, Dimitrios zu finden.

Erst zwei Jahre später hörten wir wieder von ihm. Die jugoslawischen Behörden erkundigten sich bei uns nach einem türkischen Staatsangehörigen namens Dimitrios Talaat, der offenbar wegen Raubes gesucht wurde; einer unserer Agenten in Belgrad meldete jedoch, dass es sich bei besagtem Raub um den Diebstahl von Militärdokumenten gehandelt habe und dass die Jugoslawen hofften, ihn wegen Spionage für Frankreich vor Gericht stellen zu können. Aufgrund des Vornamens und der von den Belgrader Behörden gelieferten Beschreibung vermuteten wir, dass es sich bei Talaat wahrscheinlich um unseren Dimitrios aus Izmir handelte. Etwa zur gleichen Zeit verlängerte unser Konsul in der Schweiz einen Pass, der in Ankara auf den Namen Talaat ausgestellt worden war. Talaat ist ein verbreiteter türkischer Name, aber als der Vorgang zur Registratur im Ministerium eintraf, zeigte sich anhand der Nummer, dass ein solcher Pass nie ausgestellt worden war. Der Pass war gefälscht.« Oberst Hakki breitete die Hände aus. »Verstehen Sie, Mr Latimer? Da haben Sie Ihre Geschichte. Unvollständig. Unkünstlerisch. Kein Detektiv, keine Verdächtigen, keine verborgenen Motive. Nur eine miese kleine Geschichte.«

»Trotzdem interessant«, warf Latimer ein. »Wie ist die Sache mit Talaat weitergegangen?«

»Noch immer neugierig, wie Ihre Geschichte ausgeht, Mr Latimer? Na schön. Nichts ist mit Talaat passiert. Es ist bloß ein Name. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Ob er den Pass verwendet hat, wissen wir nicht. Es spielt auch keine Rolle. Wir haben Dimitrios. Als Leiche zwar, aber immerhin. Wir werden wohl nie herausfinden, wer ihn umgebracht hat. Die Polizei wird ihre Ermittlungen durchführen und uns mitteilen, dass keine Aussicht besteht, den Mörder ausfindig zu machen. Die Akte wird ins Archiv gehen. Es ist nur einer von vielen ähnlichen Fällen.«

»Sie haben etwas von Rauschgift gesagt.«

Oberst Hakki guckte gelangweilt. »O ja. Dimitrios hat vermutlich einen Haufen Geld verdient. Noch so eine unabgeschlossene Geschichte. Etwa drei Jahre nach der Sache in Belgrad hörten wir wieder von ihm. Es betraf uns zwar nicht, aber die Hinweise wurden routinemäßig in unsere Akte aufgenommen.« Er schlug die Akte auf. »1929 wurde der Rauschgiftkommission des Völkerbunds von der französischen Regierung mitgeteilt, dass an der Schweizer Grenze eine größere Menge Heroin beschlagnahmt worden sei. Der Stoff war in einem aus Sofia kommenden Schlafwagen versteckt. Als Verantwortlicher wurde ein Schlafwagenschaffner ermittelt, aber er konnte oder wollte der Polizei nicht mehr sagen, als dass die Lieferung in Paris von einem Mann in Empfang genommen werden sollte, der auf dem Bahnhof arbeitete. Den Namen des Mannes wusste er nicht, und er hatte auch nie mit ihm gesprochen, aber er beschrieb ihn. Der betreffende Mann wurde später verhaftet. Im Verhör legte er ein Geständnis ab, behauptete aber, nichts über den endgültigen Bestimmungsort des Rauschgiftes zu wissen. Einmal pro Monat erhalte er eine Lieferung, die von einem dritten Mann abgeholt werde. Die Polizei stellte diesem dritten Mann eine Falle und konnte ihn fassen, aber es zeigte sich, dass es noch einen vierten Verbindungsmann gab. Insgesamt sechs Personen wurden in diesem Zusammenhang festgenommen, und es ergab sich nur ein brauchbarer Hinweis, nämlich der, dass dieses Geschäft von einem Mann namens Dimitrios kontrolliert wurde. Über die Kommission erklärte die bulgarische Regierung dann, sie habe in Radomir ein geheimes Heroinlabor entdeckt und zweihundertdreißig Kilo transportbereites Heroin beschlagnahmt. Der Name des Empfängers lautete Dimitrios. Ein Jahr später konnten die Franzosen weitere größere Sendungen für Dimitrios abfangen. An Dimitrios selbst kamen sie aber nicht heran. Es gab Schwierigkeiten. Das Zeug nahm offenbar nie zweimal denselben Weg, und Ende 1930 hatte man nicht mehr vorzuweisen als ein paar verhaftete Schmuggler und unbedeutende Händler. Nach der Menge an beschlagnahmtem Heroin zu urteilen, muss Dimitrios ein Vermögen verdient haben. Etwa ein Jahr später zog Dimitrios sich dann ganz plötzlich aus dem Drogengeschäft zurück. Das Erste, was die Polizei davon hörte, war ein anonymer Brief, in dem die Namen der wichtigsten Bandenmitglieder standen, ihre persönlichen Daten und detaillierte Angaben, wie gegen jeden von ihnen Beweise zu beschaffen seien. Die französische Polizei hatte seinerzeit die Theorie, dass Dimitrios selbst rauschgiftsüchtig geworden sei. Ob das stimmt oder nicht, Tatsache ist, dass die Bande im Dezember aufflog. Nach einem der Mitglieder, einer Frau, wurde bereits wegen Betrugs gefahndet. Einige drohten damit, sie würden Dimitrios nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis umbringen, aber der Polizei konnten sie auch nicht mehr über ihn berichten, als dass er mit Nachnamen Makropoulos hieß und dass er eine Wohnung im siebzehnten Arrondissement hatte. Weder die Wohnung noch Dimitrios wurden je gefunden.«

Der Beamte war eingetreten und stand neben dem Schreibtisch.

»Ah«, sagte der Oberst, »hier ist Ihre Abschrift.«

Latimer nahm sie und bedankte sich zerstreut.

»Und das war das Letzte, was Sie von Dimitrios gehört haben?«, fragte er.

»O nein. Etwa ein Jahr später hörten wir zuletzt von ihm. Ein Kroate wollte in Zagreb einen jugoslawischen Politiker ermorden. In dem Geständnis, das er gegenüber der Polizei ablegte, erklärte er, Freunde von ihm hätten die von ihm benutzte Pistole in Rom von einem gewissen Dimitrios bekommen. Wenn es der Dimitrios aus Izmir war, muss er zu seinem alten Beruf zurückgekehrt sein. Ein mieser Typ. Es gibt noch so ein paar wie er, die im Bosporus treiben sollten.«

»Sie sagen, Sie haben nie ein Foto von ihm gehabt. Wie haben Sie ihn dann identifiziert?«

»Im Futter seines Mantels haben wir einen französischen Ausweis gefunden, der vor etwa einem Jahr in Lyon auf den Namen Dimitrios Makropoulos ausgestellt worden war. Es ist ein vorläufiger Ausweis, und als Beruf ist ›stellungslos‹ angegeben. Das kann alles Mögliche bedeuten. Der Ausweis war natürlich mit einem Foto versehen. Wir haben ihn den Franzosen ausgehändigt. Sie sagen, er ist echt.« Er schob die Akte beiseite und stand auf. »Morgen ist die amtliche Untersuchung. Ich muss mir die Leiche in der Leichenhalle ansehen. Mit solchen Dingen wie Dienstvorschriften brauchen Sie sich in Ihren Büchern nicht herumzuplagen, Mr Latimer. Eine Leiche treibt im Bosporus. Eindeutig ein Fall für die Polizei. Weil dieser Mann aber zufällig in meinen Akten vorkommt, müssen auch wir uns mit ihm beschäftigen. Mein Wagen wartet draußen. Kann ich Sie irgendwohin bringen?«

»Vielleicht könnten Sie mich vor meinem Hotel absetzen, wenn es kein zu großer Umweg ist.«

»Gewiss. Sie haben meine Notizen für Ihr neues Buch eingesteckt? Gut. Dann können wir gehen.«

Unterwegs sprach der Oberst ausführlich über die Qualitäten des Blutbefleckten Testaments. Latimer versprach, in Verbindung zu bleiben und ihn über den weiteren Fortgang seiner Arbeit auf dem Laufenden zu halten. Das Auto hielt vor seinem Hotel. Sie hatten sich schon voneinander verabschiedet, und Latimer wollte gerade aussteigen, doch er zögerte und ließ sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen.

»Herr Oberst«, sagte er, »ich möchte Sie um etwas bitten, was Ihnen vermutlich sehr merkwürdig vorkommen wird.«

Der Oberst machte eine ausholende Handbewegung. »Nur zu.«

»Ich würde gern die Leiche dieses Dimitrios sehen. Wäre es Ihnen möglich, mich mitzunehmen?«

Der Oberst runzelte die Stirn und zuckte die Schultern. »Wenn Sie unbedingt wollen, bitte. Aber ich verstehe nicht ganz …«

Latimer sagte rasch: »Ich habe noch nie eine Leiche gesehen, und in einem Leichenschauhaus bin ich auch noch nie gewesen. Ich finde, jeder Kriminalschriftsteller sollte so etwas gesehen haben.«

Hakkis Gesicht hellte sich auf. »Aber sicher, mein Freund. Was man nicht gesehen hat, darüber kann man nicht schreiben.« Er gab dem Chauffeur ein Zeichen, weiterzufahren. »Vielleicht«, fügte er hinzu, »können wir eine Szene im Leichenschauhaus in Ihr neues Buch einarbeiten. Ich werde es mir überlegen.«

Die Leichenhalle war eine kleine Wellblechbaracke auf dem Gelände einer Polizeiwache unweit der Nuri-Osmanieh-Moschee. Ein Polizist, der unterwegs zu ihnen gestoßen war, führte sie über den Hof. Die Luft über dem Asphalt flimmerte in der Nachmittagshitze, und Latimer wünschte, er wäre nicht mitgekommen. Es war nicht das Wetter, um Leichenhallen aus Wellblech zu besuchen.

Der Beamte schloss auf und öffnete die Tür. Ein Schwall heißer, karbolgeschwängerter Luft schlug ihnen wie aus einem Ofen entgegen. Latimer setzte den Hut ab und folgte dem Oberst hinein.

Es gab keine Fenster in dem Raum, und die einzige Lichtquelle war eine starke Glühbirne mit Emailschirm. Beiderseits des Mittelgangs standen vier Platten auf hohen Holzgestellen. Einer der Tische war leer. Die drei übrigen waren mit steifen, schweren Tüchern abgedeckt, die sich leicht wölbten. Es war unerträglich heiß. Latimer spürte, wie der Schweiß sein Hemd durchnässte und an den Beinen hinunterrann.

»Eine Affenhitze«, sagte er.

Der Oberst sagte schulterzuckend und mit einer Kopfbewegung zu den Tüchern: »Die da beklagen sich nicht.«

Der Beamte ging zum ersten Tisch, beugte sich darüber und zog das Tuch weg. Der Oberst trat näher und sah hinunter. Latimer zwang sich, es ihm gleichzutun.

Die Leiche auf dem Tisch war die eines kleinen, breitschultrigen, etwa fünfzigjährigen Mannes. Von seiner Position am Fußende konnte Latimer sehr wenig vom Gesicht sehen, nur einen Teil des kittfarbenen Fleischs und eine graue Haarsträhne. Der Leichnam war in ein Gummituch eingewickelt. Neben den Füßen lag ein ordentlicher Haufen zerknitterter Kleidungsstücke: Unterwäsche, ein Hemd, Socken, eine gemusterte Krawatte sowie ein blauer Sergeanzug, der vom Salzwasser eine gräuliche Färbung angenommen hatte. Neben diesem Stapel lag ein Paar schmaler, spitzer Schuhe, deren Sohlen sich während des Trocknens gebogen hatten.

Latimer trat einen Schritt näher, damit er das Gesicht sehen konnte.

Niemand hatte sich die Mühe gemacht, dem Toten die Augen zuzudrücken, weshalb sie jetzt nach oben ins Licht starrten. Der Unterkiefer hing leicht nach unten. Es war nicht ganz das Gesicht, wie Latimer es sich vorgestellt hatte – es war viel runder und hatte dicke statt dünne Lippen, ein Gesicht, das bei innerer Anspannung und Bewegung vermutlich zitterte. Die Wangen waren schlaff und von tiefen Linien durchzogen. Doch jetzt war es zu spät, sich ein Urteil über den Menschen zu bilden, dem dieses Gesicht einmal gehört hatte. Es war kein Leben mehr darin.

Der Oberst hatte mit dem Beamten gesprochen. Jetzt hielt er inne.

»Getötet durch einen Messerstich in den Bauch, sagt der Doktor«, übersetzte er. »Schon tot, als er ins Wasser geworfen wurde.«

»Und wo sind die Kleidungsstücke her?«

»Aus Lyon, abgesehen vom Anzug und den Schuhen, die sind aus Griechenland. Armseliges Zeug.«

Er nahm seine Unterhaltung mit dem Beamten wieder auf. Latimer starrte die Leiche an. Das also war Dimitrios. Das war der Mann, der Scholem die Kehle durchgeschnitten hatte, der Mann, der Beihilfe zu Attentaten geleistet, für Frankreich spioniert hatte. Das war der Mann, der mit Rauschgift gehandelt, einem kroatischen Terroristen eine Waffe besorgt hatte und schließlich selbst eines gewaltsamen Todes gestorben war. Diese graue Masse war das Ende einer Odyssee. Dimitrios war zum Schluss in das Land zurückgekehrt, aus dem er viele Jahre zuvor aufgebrochen war.

So viele Jahre. Das kreißende Europa hatte für kurze Zeit neuen Glanz gesehen und war dann zusammengebrochen, hatte sich abermals der Agonie von Krieg und Schrecken ergeben. Regierungen waren an die Macht gelangt und gestürzt worden, Männer und Frauen hatten gearbeitet und gehungert, hatten Reden gehalten und gekämpft, waren gefoltert worden und gestorben. Hoffnungen waren gekommen und gegangen, flüchtige Erscheinungen am wohlriechenden Busen der Illusion. Die Menschen hatten gelernt, sich dem berauschenden Traum der Seele hinzugeben und untätig zuzusehen, während in den Fabriken die Kanonen zu ihrer Vernichtung hergestellt wurden. Und in all diesen Jahren hatte Dimitrios gelebt und geatmet und sich mit seinen merkwürdigen Göttern arrangiert. Er war ein gefährlicher Mann gewesen. Jetzt, in der Einsamkeit des Todes, konnte er einem nur noch leidtun.

Latimer beobachtete die beiden Männer, die eifrig diskutierend ein Formular ausfüllten, das der Beamte hervorgeholt hatte. Sie wandten sich den Kleidungsstücken zu und begannen, sie zu inventarisieren.

Irgendwann musste Dimitrios aber Geld verdient haben, viel Geld. Was war daraus geworden? Hatte er es ausgegeben oder verloren? »Wie gewonnen, so zerronnen«, sagt man. Aber war Dimitrios der Typ gewesen, der Geld, ganz gleich, wie er es verdient hatte, sofort wieder ausgab? Sie wussten so wenig von ihm. Ein paar merkwürdige Fakten im Zusammenhang mit ein paar merkwürdigen Ereignissen in seinem Leben, mehr gab die Akte nicht her. Immerhin, man erfuhr etwas. Beispielsweise, dass er skrupellos, brutal und ein Verräter gewesen war, dass er durchweg ein kriminelles Leben geführt hatte. Man erfuhr jedoch nichts über den Menschen, der Scholem die Kehle aufgeschlitzt und in Paris im siebzehnten Arrondissement gewohnt hatte. Und für jedes seiner Verbrechen, die in der Akte vermerkt waren, muss es andere, vielleicht noch üblere gegeben haben. Was war in den Zeiträumen von jeweils zwei, drei Jahren passiert, über die in der Akte so locker hinweggegangen wurde? Und was war seit seinem Aufenthalt in Lyon passiert? Auf welchem Weg war er gereist, um seine Verabredung mit der Nemesis einzuhalten?

All diese Fragen würde Oberst Hakki nicht zu beantworten suchen, ja nicht einmal stellen. Ihm, dem Profi, oblag nur die wenig berauschende Aufgabe, einen verwesenden Leichnam unter die Erde zu bringen. Aber es musste Leute geben, die Dimitrios kannten, seine Freunde (wenn er welche gehabt hatte), seine Feinde, Leute in Izmir, in Sofia, in Belgrad, in Edirne, in Paris, in Lyon, überall in Europa, Leute, die diese Fragen würden beantworten können. Wenn man diese Leute fand und die Antworten bekam, würde man das Material für eine der ungewöhnlichsten Biographien haben.

Latimer stockte das Herz. Das zu versuchen wäre eine ganz absurde Vorstellung. Völlig idiotisch. Falls man es aber versuchte, würde man in Izmir anfangen und den Weg eines Menschen von dort aus weiter verfolgen müssen, wobei die Akte als grobe Orientierungshilfe dienen würde. Im Grunde wäre es ein kriminalistisches Experiment. Man würde sicher nichts Neues entdecken. Aber selbst aus einem Misserfolg würden sich wertvolle Erkenntnisse ergeben. All die Routineermittlungen, über die man in seinem eigenen Roman so beiläufig hinwegging, würde man selber anstellen müssen. Nicht dass ein Mensch, der bei klarem Verstand war, auf eine derart verrückte Jagd gehen würde – um Himmels willen, nein! Aber es war doch eine amüsante Vorstellung, und falls es in Istanbul etwas langweilig würde …

Er sah auf. Sein Blick traf sich mit dem des Obersten, der das Gesicht vor Hitze verzog. Er hatte seine Besprechung mit dem Beamten beendet. »Haben Sie gesehen, was Sie sehen wollten?«

Latimer nickte.

Oberst Hakki wandte sich um und betrachtete die Leiche, als wollte er sich von seiner selbst angefertigten Handwerksarbeit verabschieden. Einen Moment stand er reglos da. Dann streckte er den rechten Arm aus, packte den toten Mann bei den Haaren, hob den Kopf hoch, sodass die leeren Augen ihn anstarrten.

»Hässlicher Teufel, was?«, sagte er. »Das Leben ist schon komisch. Ich kenne ihn seit fast zwanzig Jahren, aber jetzt sehe ich ihn zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Diese Augen haben Dinge gesehen, die ich gern sehen würde. Schade, dass er darüber nicht mehr reden kann.«

Er ließ den Kopf los, sodass er dumpf auf den Tisch fiel. Dann nahm er sein seidenes Taschentuch und wischte sich sorgfältig die Finger ab. »Je früher er im Sarg liegt, desto besser«, sagte er beim Hinausgehen.

31922

In den Morgenstunden des 26. August 1922 griff die türkisch-nationalistische Armee unter Mustafa Kemal Pascha bei Dumlu Pinar, einem Ort auf der Hochebene dreihundert Kilometer östlich von Smyrna (Izmir), die Hauptstreitmacht der griechischen Armee an. Am nächsten Morgen waren die Griechen geschlagen und zogen sich überstürzt in Richtung Smyrna zur Küste zurück. Bald wurde aus dem Rückzug eine panische Flucht. Die Griechen, die der türkischen Armee nichts entgegensetzen konnten, gingen dabei mit unglaublicher Brutalität gegen die türkische Zivilbevölkerung vor. Von Alaschehir bis Smyrna blieb kein Dorf verschont. Unter den rauchenden Trümmern fanden die türkischen Verfolger die Leichen der Dorfbewohner. Gemeinsam mit den wenigen, vor Schmerz fast wahnsinnigen anatolischen Bauern, die überlebt hatten, übten sie Rache an den Griechen, die sie einholen konnten. Neben den toten türkischen Frauen und Kindern lagen nun die verstümmelten Leichen der griechischen Nachhut. Doch der Großteil der griechischen Armee konnte übers Meer entkommen. Die Türken, die noch immer nach dem Blut der Ungläubigen riefen, zogen weiter. Am neunten September eroberten sie Smyrna.

Zwei Wochen lang waren Flüchtlinge vor den heranrückenden Türken in die Stadt geströmt, zu den bereits vorhandenen Griechen und Armeniern, in der Annahme, die Griechen würden die Stadt verteidigen. Aber die griechische Armee hatte sich abgesetzt. Nun saßen sie in der Falle. Das Gemetzel begann.

Nachdem den Türken das Register der Armenischen Verteidungsliga in die Hände gefallen war, drang in der Nacht des 10. September ein Trupp regulärer Soldaten in das Armenierviertel ein, um all jene aufzutreiben und zu töten, deren Name im Register verzeichnet war. Die Armenier leisteten Widerstand, daraufhin liefen die Türken Amok. Das anschließende Massaker wirkte wie ein Fanal. Angespornt von ihren Offizieren, fielen die türkischen Soldaten tags darauf in die nichttürkischen Viertel Smyrnas ein und begannen mit der systematischen Ermordung der Bewohner. Männer, Frauen und Kinder wurden aus ihren Häusern und Verstecken gezerrt und abgeschlachtet, und bald waren die Straßen mit verstümmelten Leichen übersät. Die Kirchen, in die sich die Massen geflüchtet hatten, wurden mit Benzin übergossen und angezündet. Wer nicht lebendig verbrannte, sondern ins Freie gelangte, wurde mit dem Bajonett erstochen. In vielen anderen Stadtteilen wurden geplünderte Häuser ebenfalls angezündet, und die Flammen breiteten sich allmählich aus.

Zunächst versuchte man, den Brand zu isolieren. Doch dann drehte der Wind, sodass die Flammen nicht auf türkische Viertel übergriffen, und die türkischen Truppen legten weitere Brände. Bald stand die ganze Stadt, mit Ausnahme des türkischen Teils und einiger Häuser in der Nähe des Kassamba-Bahnhofs, in Flammen. Das Massaker ging mit unverminderter Brutalität weiter. Um die Eingeschlossenen am Verlassen des brennenden Izmir zu hindern, wurde ein Truppenkordon um die Stadt gelegt. Die von Panik ergriffenen Menschen wurden gnadenlos niedergeschossen oder in das Inferno zurückgetrieben. Die engen, ausgebrannten Gassen waren vor lauter Leichen so verstopft, dass irgendwelche Helfer, selbst wenn sie den üblen Gestank ausgehalten hätten, dort nicht vorwärts gekommen wären. Die Stadt war ein einziges Schlachthaus. Viele Flüchtlinge hatten versucht, den Hafen zu erreichen. Erschossen, ertrunken, von Schiffsschrauben zermalmt, trieben ihre Leichen im blutroten Wasser. Und noch immer drängten Menschen zu den Kais, während nur wenige Schritte hinter ihnen die brennenden Häuser einstürzten. Die Schreie dieser Leute sollen noch weit draußen auf See zu hören gewesen sein. Gâvur Izmir, das gottlose Smyrna, hatte für seine Sünden gebüßt.

Als der Morgen des fünfzehnten September heranbrach, waren über hundertzwanzigtausend Menschen umgekommen, aber irgendwo in dieser Hölle hatte Dimitrios überlebt.

Als Latimer sechzehn Jahre später mit dem Zug in Izmir eintraf, kam er sich reichlich töricht vor. Dies war kein Schluss, den er voreilig oder ohne sorgfältige Prüfung der vorhandenen Beweise gezogen hatte. Es war ein Schluss, der ihm ganz und gar nicht gefiel. Zwei Dinge waren jedoch nicht zu leugnen. Erstens hätte er Oberst Hakki bitten sollen, ihm zu helfen, Zugang zu den Prozessakten einschließlich der Geständnisse von Driss Mohammed zu bekommen, doch ihm war kein plausibler Vorwand eingefallen. Zweitens konnte er so wenig Türkisch, dass ihm die Dokumente, einmal angenommen, er würde sie auch ohne Oberst Hakkis Hilfe einsehen können, nicht viel nützen würden. Sich auf diese absurde und reichlich würdelose Aktion einzulassen war schlimm genug. Sich nicht entsprechend vorbereitet zu haben war die reinste Idiotie. Wäre er nicht schon eine Stunde nach seiner Ankunft in einem ausgezeichneten Hotel untergekommen, hätte sein Zimmer nicht ein sehr bequemes Bett gehabt und einen herrlichen Blick über die Bucht bis zu den ausgedörrten, sandfarbenen Hügeln am Horizont, und hätte ihn der französische Hotelbesitzer nicht mit einem trockenen Martini begrüßt, er hätte seinen kriminalistischen Versuch abgebrochen und wäre auf der Stelle nach Istanbul zurückgekehrt. Nun, da er einmal in Izmir war, konnte er sich die Stadt ruhig anschauen, Dimitrios hin, Dimitrios her. Er packte einen Teil seiner Koffer aus.