Der Erbe des Skorpions - Torsten Fink - E-Book

Der Erbe des Skorpions E-Book

Torsten Fink

4,3
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Söhne des Großen Skorpions haben das Reich in einen blutigen Bürgerkrieg getrieben, denn es kann nur einen Herrscher geben. Jarok kommandiert einen Trupp der Stadtwache, doch seine Fähigkeit, Verbrecher aufzuspüren, und sein beinahe magischer Sinn für Gefahr lassen ihn rasch zum obersten Leibwächter eines der Prinzen aufsteigen. Es dauert nicht lange, bis Jarok erkennt, dass der Mann, den er schützen soll, dem Wahnsinn verfallen ist. Als der Prinz beginnt, die unehelichen Kinder seines Vaters zu ermorden, wechselt Jarok die Seiten. Denn auch er ist ein Erbe des Skorpions.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 832

Bewertungen
4,3 (16 Bewertungen)
9
2
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Torsten Fink

DER ERBE DES SKORPIONS

Roman

Originalausgabe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Juni 2015 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © 2015 by Torsten Fink

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft,

unter Verwendung einer Fotografie von Nico Fung

Karte: © Jürgen Speh

Lektorat: Simone Heller

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15792-0V004

www.blanvalet.de

Für das Mädchen vom Dach

Jarok wünschte sich Regen, aber als er zum Abendhimmel aufblickte, sah er nur ein paar verlorene weiße Wolken, die von der tief stehenden Sonne in unpassend rosafarbenes Licht getaucht wurden. Ein Karren holperte über den breiten Steg. Der Mann, der ihn schob, fluchte unablässig leise vor sich hin, und eines der beiden großen Räder schlingerte ächzend auf der Nabe.

»Du wirst uns Ehre machen, verstehst du?«, sagte Jaroks Mutter.

Es war schwer, in der Dämmerung ihre Miene zu lesen, noch schwerer als sonst. Jarok, der einen Kloß im Hals spürte, nickte nur. Er durfte die Fassung nicht verlieren.

»Dein Großvater war der berühmteste Jäger der Geisterberge, und von deinem Vater müssen wir nicht reden, nicht wahr? Dein Blut ist von beiden Seiten gesegnet, vergiss das niemals!«

Er blickte hinüber zu den Häusern, die dunkel und hoch vor dem Abendhimmel standen. Der Karren rumpelte langsam näher. Er war mit Sackleinen verhängt, dennoch baumelte ein schlaffer Arm an der Seite heraus. Der Arm bewegte sich, aber Jarok wusste, dass das nur an den holprigen alten Planken lag, über die der Karren geschoben wurde.

Er war zum ersten Mal in seinem Leben in Gromar und vielleicht auch zum letzten Mal. Sein Stiefvater hatte ihm erklärt, dass dies der größte und wichtigste Hafen von Damatien war, das Tor zur Welt, aber ihm kam er schäbig und düster vor. Die Häuser hatten die gleiche Farbe wie die schlammigen Straßen, die sie in die Stadt geführt hatten, und der Hafen hatte nichts von großer weiter Welt. Er wirkte klein und unbedeutend. Im Augenblick war auch nur ein einziges Schiff am hölzernen Steg vertäut. Es roch nach Salz, faulem Fisch – und Blut. Ein kräftiger Schauer hätte diesen Geruch vielleicht fortgewaschen. Aber nicht deshalb wünschte sich Jarok Regen.

Männer schleppten Lasten über den alten Steg. Sie überholten den Mann mit dem Karren, der sich mit seiner Fracht abmühte und immer noch leise vor sich hin fluchte. Weder ihm noch seiner Last schenkten sie besondere Beachtung. Ein Matrose schleppte einen großen verhüllten Holzkäfig an Jarok vorüber. Es war einer von sieben. Sie waren ihm vorhin schon aufgefallen. Ein scharfes Krächzen ertönte unter dem dicken Tuch, dann rüttelte es den Käfig kräftig durch, und etwas hackte gegen die eisenharten Gitterstäbe. Fluchend zog der Mann seine Hand weg.

Den Eisgreifen scheint es auch nicht zu gefallen, dass sie die Heimat verlassen müssen, dachte Jarok.

»Vergiss nie, dass dir ein bedeutendes Schicksal bestimmt ist, Jarok, doch das kannst du nicht erfüllen, wenn du hierbleibst.« Seine Mutter beugte sich zu ihm herab und legte ihm die Hand auf die Schulter. Aber es war keine Geste des Trostes, eher der Ermahnung. Sie hätte sagen können, dass es zu gefährlich war hierzubleiben, und er hätte ihr geglaubt. Sie machte sich jedoch nicht einmal die Mühe, ihn anzulügen. »Du wirst lernen und tun, was man dir sagt, mein Junge, und nur die Götter dürfen wissen, wenn dir das schwerfällt. Hast du das verstanden?«

Wieder nickte er nur, weil er spürte, dass ihm die Stimme versagen würde.

»Du brichst auf in die große, weite Welt, zu gewaltigen Abenteuern«, mischte sich nun auch Sterro ein, der Heiler, der an der Seite seiner Mutter lebte, fast so lange Jarok denken konnte. »Als ich neun Jahre alt war, da führte mich mein Weg höchstens in die Berge, um Ziegen zu hüten. Wirklich, ich beneide dich um die Wunder, die du zu Gesicht bekommen wirst«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, aber Jarok dachte, dass das gelogen war. Sterro war offensichtlich erleichtert, den Jungen loszuwerden, den er nicht gezeugt hatte, und ihm war es vermutlich herzlich egal, ob er Wunder zu Gesicht bekam oder in der Fremde am Fieber verendete. Jarok fragte sich plötzlich, ob er jetzt, wo er das Haus verließ, vielleicht doch noch Geschwister bekommen und, wenn ja, ob er je von ihnen erfahren würde.

»Nun macht schon, Männer, die Flut wartet nicht«, mahnte der Steuermann vom Schiff herab.

»Schlepp du mal diese verdammten Viecher«, brummte einer der Lastenträger, der an der Hand blutete.

Eisgreife waren nicht gerne eingesperrt, so viel stand fest. Jarok fragte sich, ob sie vielleicht ahnten, dass sie in ein Land ohne Berge und ohne Schnee verfrachtet wurden. Sterro hatte ihm alles über Oramar erzählt, was er wusste. Viel war es nicht. Angeblich gab es dort nicht einmal Regen.

Der Heiler trat einen Schritt zur Seite, um dem ächzenden Karren Platz zu machen, und Jarok hörte den Mann an der Deichsel murmeln: »… ich habe dem Odaling gesagt, dass es die Götter und die Seelen dieser Dummköpfe beleidigen wird, dass es besser wäre, ihnen ein Grab zu geben, hab sogar angeboten, es selbst auszuheben, aber hat er auf mich gehört? Nein, er sagt, sie seien fremd und ihre Götter fern und machtlos, sonst hätten sie diese Männer nicht am Fieber sterben lassen. Was will man aber auch von einem erwarten, der aus den Bergen stammt und Stein in den Adern hat? Er versteht das Meer nicht! Aber er wird noch an mich …« Mehr konnte Jarok von dem Gemurmel nicht verstehen. Er sah einen nackten Fuß, der unter der Plane hervorragte. Jetzt passierte das seltsame Gefährt eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, die sich voneinander verabschiedeten. Sterro hatte erklärt, dass es Krieger waren, die in der Fremde ihr Glück machen wollten. Einige der jüngeren Frauen weinten beim Abschied. Jarok biss sich auf die Zähne. Auch ihm war zum Heulen, aber er durfte sich nicht gehen lassen. Wenn es geregnet hätte, hätte das seine Tränen verborgen, aber nicht deshalb wünschte Jarok sich Regen.

»Es gibt für dich keinen anderen Weg. Dein Blut verlangt es.« Der Blick seiner Mutter war streng und ohne jedes Zeichen von Rührung oder Abschiedsschmerz. Und genau deshalb wünschte sich Jarok, dass es wie aus Eimern schüttete – das Gesicht seiner Mutter wäre nass geworden, und er hätte sich dann weismachen können, dass ihre Wangen nicht nur vom Regen, sondern auch von Tränen feucht waren. Doch so stand unumstößlich fest, dass sie um seinetwillen keine Träne vergoss, ja, er konnte nicht einmal eine Spur von Rötung um ihre hellgrauen Augen entdecken.

»Nun geh«, befahl sie. Sie hatte eine zweite Hand auf seine schmalen Schultern gelegt, eine Geste, die bei ihrer gesamten Körpersprache einer Umarmung am nächsten kam. Seine Mutter war eben nicht von der Art, dass sie andere umarmte.

Jarok drehte sich um und schlich über die schwankende Planke an Bord des Handelsschiffes. Als die Leinen gelöst waren und sich das Gefährt träge in Bewegung setzte, stießen die Eisgreife schrille Schreie aus. Es klang wütend, auch ein bisschen verzweifelt. Er hätte gerne mit ihnen geschrien. Aber stattdessen stand er nur schweigend im Heck, während das Schiff langsam den Hafen verließ.

Der Karren hatte das Ende des alten Stegs erreicht, und nun kippte der Mann seine Last, drei Leichen, mit einem letzten Fluch ins Meer. Niemand außer Jarok schien ihn zu beachten. Die meisten Frauen auf dem Steg winkten ihren Liebsten zum Abschied. Seine Mutter gehörte nicht zu ihnen.

Erstes Buch

Der Stier

1.

Das zerbrochene Tragejoch hatte alles verdorben. Jarok starrte es feindselig an. Dieses nutzlose Stück Holz war schuld, dass er die Spur verloren hatte. Er wusste nicht weiter. Brakas schien das mit der ihm eigenen Gleichgültigkeit hinzunehmen. Er lehnte am Tisch eines Obststandes und spuckte Granatapfelkerne auf das staubige Pflaster. »Hörst du das? Diesen Jubel? Als ob die Leute keine Sorgen mehr hätten.«

Jarok hörte nur mit halbem Ohr zu. Er versuchte die Spur wiederzufinden. In den schattigen Gassen des Suks herrschte nicht das übliche geschäftige Durcheinander, denn Prinz Weszen, Herr über Ugir, hatte einen Feiertag ausgerufen.

»Er hat nun also einen Erben – aber was ändert das?«, fuhr Brakas fort. »Es beendet weder den Krieg, noch baut es zerstörte Häuser wieder auf. Ganz im Gegenteil. Das wird eine Menge böses Blut wecken. Denk an meine Worte.«

Jarok war geneigt, ihm zuzustimmen. Selbst hier im Suk war ein gewisser Zorn spürbar, auch wenn Brakas mit dem bösen Blut wohl kaum die Händler meinte, die mit grimmigen Mienen schwiegen, während ihre Kundschaft gerade vor dem Palast zusammenströmte, um dem neugeborenen Sohn des Prinzen zuzujubeln, statt bei ihnen einzukaufen.

»Ich frage mich, ob Weszen sich traut, der Menge den echten Prinzen zu zeigen, oder ob er aus Sicherheitsgründen irgendeinen Balg präsentiert, den sie einer Amme weggenommen haben. Schon interessant, nicht wahr? Der kleine Prinz ist noch keine zwei Tage auf der Welt und hat schon mehr Feinde als jeder von uns … Und, bei den Göttern, ich habe mir wirklich mein Leben lang redlich Mühe gegeben, mir welche zu machen.«

Jarok nickte abwesend. Die meisten Menschen, die sich in dieser Stunde unter den Baldachinen des Suks herumtrieben, waren Flüchtlinge, Treibgut des Krieges, das in der Stadt angeschwemmt worden war. Zum Großteil waren es Männer. Vielleicht suchten sie Arbeit, vielleicht hofften sie, bei einem unaufmerksamen Händler für ihre Familien, die im Sandviertel hausten, etwas aus der Auslage stehlen zu können.

Auch ein paar Kinder drückten sich zwischen den Ständen herum. Er sah den Hunger in ihren Augen und den Neid auf diesen Offizier, der an einem Stand lehnte und achtlos Granatapfelkerne in den Staub spuckte. Einige von ihnen mussten doch Beute gemacht haben, als dem Lastenträger das Joch gebrochen war. Jarok ging ein paar Schritte im Kreis. Die Männer beobachteten ihn, die Flüchtlinge mit einer gewissen Verlegenheit, sobald sie erkannten, dass sie es mit einer Wache zu tun hatten. Einige machten sogar kehrt, als sie merkten, was an der Kreuzung los war.

Wie sollte er unter all denen, die vor der großen Blutmühle des Krieges geflohen waren, jenen einen finden, der vor den Folgen seiner eigenen Tat floh? Die dünne Spur, die sie durch viele Gassen verfolgt hatten, war fort, und das nur, weil einem Lastenträger das Joch gebrochen war. Das schwere Holz lag auf dem Pflaster. Jarok konnte den Zorn des Trägers erkennen, der hin und her gesprungen war, um seine Last, Körbe mit Äpfeln, gegen die hungrigen Flüchtlinge zu verteidigen, und sie schließlich auf der Straße hatte davonschleifen müssen. Er ging noch einmal ein paar Schritte in die Richtung, die der Lastenträger eingeschlagen hatte. In der Staubschicht waren die Schleifspuren leicht zu erkennen. Aber, nein, der Mann, den sie verfolgten, war nicht in diese Richtung gegangen. Jarok kehrte zurück zur Kreuzung. Hunderte Füße hatten hier im allgegenwärtigen Wüstenstaub ihre Abdrücke hinterlassen. Er wischte sich den Schweiß ab. Welche davon waren die richtigen?

»Kann ich davon ausgehen, dass der edle Herr die Früchte, die er so eifrig kostet, auch bezahlen wird?«, fragte die dünne, aber entschlossene Stimme des Händlers, an dessen Auslage sich Brakas gütlich tat.

»Du machst Witze, oder? Ich bin Brakas von Trugge, Schwertmeister der Blutwölfe von Ugir. Siehst du nicht, dass ich hier meine Pflicht erfülle? Wir jagen einen gefährlichen Verbrecher!«

»Ihr werdet ihn kaum in der Auslage zwischen meinen Datteln finden, Herr.«

»Aber vielleicht dahinter, denn ich muss dir sagen, mein Freund, dass deine Granatäpfel trockener sind als die Wüste Abasch im Sommer, und deine Datteln sind nicht besser. Dafür Geld zu verlangen erscheint mir fast wie Betrug, und Betrug ist auch ein Verbrechen!«

Der Händler ließ sich jedoch nicht einschüchtern. »Seit wann jagen die Blutwölfe unseres viel geliebten und gerechten Statthalters ehrbare Obsthändler, die auch nichts dafür können, dass im Krieg die Ware immer schlechter wird? Sollten sie ihre Zähne nicht lieber in das Fleisch der echten Gauner schlagen?«

Die drei Männer, die Brakas’ Befehl unterstellt waren, lachten leise, bis sie ein Blick des Schwertmeisters zum Schweigen brachte. Doch dann rief er, selbst laut lachend: »Du gefällst mir, Mann! Hier hast du Silber für dein Dörrobst.«

»Aber das sind nur drei Para, Herr, und Ihr habt alleine Datteln für einen guten Denar …«

»Treib es nicht auf die Spitze, Mann!« Der drohende Unterton war nicht zu überhören.

Jarok war froh, dass der Händler zurücksteckte und den Mund hielt. Bei Brakas wusste man nie, wie so ein kleines Wortgeplänkel endete. Und er brauchte Ruhe, wenn er wiederfinden wollte, was er verloren hatte.

Ein Mann war ermordet worden, drüben im Herzviertel, gar nicht weit von ihrer Wache entfernt. Er hatte das Opfer sogar gekannt, es war Scharmeister Tusal von der Leibwache, ein kleiner, rotgesichtiger Alter mit weißem Backenbart, der eher für seine Großzügigkeit als für seine Tapferkeit bekannt war.

Die Zeugen – von denen es viele gab, denn das Verbrechen war am hellen Tag geschehen – hatten den Täter nicht nur sehr unterschiedlich beschrieben, nein, sie hatten ihn auch in alle möglichen Richtungen davonlaufen sehen. Jarok hatte dennoch seine Spur gefunden. Der Mörder war zunächst in der Menge untergetaucht, die Richtung Palast strömte, dann aber in die Prozessionsstraße abgebogen. Bis in den Roten Suk hatte Jarok der Fährte folgen können. Bis zu dieser Kreuzung, an dem einem unglückseligen Träger das Joch zerbrochen war.

Brakas hatte seinem Urteil, wie immer, vertraut. Bis jetzt. »Tja, ich glaube, unser großer Jäger hat ihn verloren«, meinte er, während er sich die saftverklebten Hände an seinen grauen Hosen abwischte. So trocken schienen die Granatäpfel also doch nicht gewesen zu sein.

Jarok warf dem großgewachsenen Westgarther einen kühlen Blick zu. Sie waren schon einige Minuten an diesem Stand, der sich an einer der Kreuzungen des Marktes befand. Aus den Werkstätten der Silberschmiede klang leises Hämmern, sonst war es beinahe still, was verriet, dass die Flüchtlinge, die sich in den kühlen Gassen des Suks herumtrieben, nicht zum Handeln gekommen waren. Wieder klang vieltausendstimmiger Jubel gedämpft vom Palastviertel herüber.

Jarok schüttelte den Kopf. Die Spur war noch da, er durfte sich nicht ablenken lassen. Er sah einen Bettler vor einem geschlossenen Stand sitzen. Er marschierte hinüber, ging in die Hocke. »Wir suchen jemanden. Einen Mann, nicht sehr groß, sehr in Eile. Habt Ihr ihn vielleicht gesehen, Freund?«

Der Bettler wich seinem Blick aus. Er hielt einen verbeulten Zinnbecher in den Händen. Sie wirkten kräftig. Der Mann hatte vermutlich sein Leben lang hart gearbeitet, und erst der Krieg hatte ihn an den Bettelstab gebracht. »Ich habe nichts gesehen, Herr.«

»Er ist ein Mörder. Er verdient es nicht, dass Ihr für ihn lügt.«

»Ich weiß nichts, Herr, gar nichts«, stieß der Bettler hervor. Jarok wusste, dass der Mann log. Er konnte es förmlich riechen. Und der unstete Blick ging doch immer wieder in dieselbe Richtung.

»Ich danke Euch, Freund«, sagte Jarok und ließ ein paar Münzen in den Becher des Bettlers gleiten, unauffällig, denn Brakas hätte ihn sonst wieder nur verspottet.

Er erhob sich, ging ein paar Schritte in die Richtung, die ihm der Mann, ohne es zu wollen, gewiesen hatte, schloss die Augen, atmete tief durch und entschied: »Er ist dort entlang.«

Brakas grinste breit. »Irgendwann musst du mir nochmal genau erklären, wie du das machst …«

»Bei Gelegenheit«, murmelte Jarok. Einmal hatte er es so versucht: »So, wie eine fliehende Gazelle eine Fährte im Gras hinterlässt, so hinterlässt ein flüchtender Verbrecher eine Spur in der Menge. Alles Mögliche kann ein Hinweis sein, ein Blick, eine halblaute Bemerkung zum Nebenmann, ein gewendeter Kopf, eine gerunzelte Stirn, sogar ein verärgertes Ausspucken.«

»Schon klar«, hatte damals Brakas’ Antwort gelautet, gefolgt von mildem Spott über seine poetische Umschreibung. Der Westgarther zog ihn gerne mit seiner Gabe auf, aber im Grunde respektierte er Jarok und seine besondere Fähigkeit, die ihrer Wache schon viel Anerkennung eingetragen hatte.

Und Jarok wusste doch selbst nicht so genau, warum er unter all den Gedanken, die die Menschen auf der Straße beschäftigten, jenen einen aus ihren Gesichtern und Gesten ablesen konnte, der sich mit dem Mann befasste, der rastlos davonhastete. Die Händler hatten ihn gesehen, ebenso wie der Bettler. Hätte Jarok sie allerdings gefragt, so hätten sie wohl – und das mit größerer Berechtigung als der Bettler – behauptet, nichts Auffälliges gesehen zu haben. Aber sie hatten etwas gesehen, etwas, das fremd in ihrem täglichen Einerlei war, und er merkte es ihnen an. Das war die Spur, der er seit dem Herzviertel folgte.

Er ging jetzt schneller. Das zerbrochene Joch hatte eine Menge Aufregung verursacht, und es war, als sei eine Herde Büffel über seine Fährte getrampelt. Viele Wege führten aus dem Suk, aber Jarok war jetzt wieder zuversichtlich, auf dem richtigen zu sein. Sollte der Mörder etwa versuchen, zum Skorpiontor und dann über den Fluss zu fliehen?

Jarok blieb stehen und gab den anderen das Zeichen, ebenfalls anzuhalten. Er warf einen Blick in den wolkenlosen Himmel. Hoch oben kreiste ein schwarzer Punkt, kaum wahrnehmbar vor dem grellen Licht der Mittagssonne. Das half ihm aber nicht weiter.

Der Mann, den sie verfolgten, hatte bis hierher Seitenstraßen benutzt, doch jetzt schien er der großen Straße gefolgt zu sein, die zum Fluss hinabführte.

Nein, da stimmte etwas nicht.

An der Ecke hörte er eine Frau von einem Balkon herunter mit ihrer Nachbarin tratschen, ein schwitzender Maurer, der eine Hauswand ausbesserte, genehmigte sich einen Schluck Wasser aus seiner Flasche, und ein paar Kinder spielten mit einem Welpen in der Sonne. Nein, der Mann war der Straße nicht gefolgt. Er war kurz hineingelaufen, dann aber umgekehrt und abgebogen, als habe er es sich anders überlegt. Er sah es am Verhalten der Kinder, die den Schatten mieden, was neunundneunzig von hundert Männern damit erklärt hätten, dass es eben Kinder waren. Aber da hätten sie sich geirrt, denn die Kinder mieden diesen Bereich, weil Kinder noch ein unbewusstes Gespür für Schuld hatten, und der Mann, den sie jagten, wurde von schwerer Schuld getrieben. Jarok näherte sich dem Schatten und sah im Straßenstaub den Abdruck einer Sandale. Hunderte Sandalen hatten hier an diesem Tag schon ihre kaum merklichen Spuren hinterlassen, aber Jarok war trotzdem sicher, dass diese Sandale dem Mörder gehörte.

Die Fährte endete ein paar Gässchen weiter in einem Innenhof, um den sich ein Dutzend hohe, schmale Häuser gruppierten. Es gab Treppen, Leitern und Türen, hier und da sogar einen Balkon, ansonsten waren nur die üblichen kleinen, runden Lichtlöcher in den abweisenden Lehmfassaden zu sehen. »Er wohnt hier«, verkündete Jarok.

»Und das kannst du riechen?«, fragte Brakas halb spöttisch, halb bewundernd.

»Er ist hier hineingelaufen, aber nicht wieder heraus.«

»Und hinter welcher dieser hübschen Türen werden wir ihn wohl finden?«

Jarok ließ seinen Blick über die abweisenden Fassaden wandern. Dieser Innenhof unterschied sich kaum von jenem, an dem er selbst wohnte. Es gab sogar einen ganz ähnlichen alten Opferturm, der die drei- und vierstöckigen Häuser überragte, und das rußgeschwärzte Holzgeländer seiner offenen Plattform verriet, dass dort oben noch Opfer gebracht wurden.

Die Mauern schwiegen, doch auf einer schien das Schweigen besonders schwer zu lasten. »Die gelb gestrichene Tür dort, im ersten Stock«, verkündete Jarok.

»Holt ihn euch, Jungs«, befahl Brakas. Ihre drei Begleiter zogen ihre Schwerter, aber sie wirkten verunsichert, ließ Brakas es sich doch sonst nicht nehmen, stets voranzugehen.

»Es wird Zeit, dass ihr mir zeigt, was ihr könnt, Welpen. Aber denkt daran, wir wollen ihn lebend!«, mahnte er und verunsicherte sie damit noch mehr.

»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte Jarok leise, als die drei jungen Männer die Treppe hinaufschlichen.

»Wird Zeit, dass sie erwachsen werden. Ich kann doch nicht immer auf sie aufpassen. Weißt du, ich hatte neulich einen Traum, in dem ich meine Axt zerbrach.« Er strich beinahe zärtlich über die Schneide seiner Waffe, die er trug, obwohl sein Rang eigentlich verlangte, dass er ein Schwert führte. »Ich verstehe das als Zeichen, dass meine Zeit bei den Blutwölfen sich dem Ende nähert«, fuhr er fort.

Jarok hatte nie verstanden, warum dieser Mann, der nicht viel auf die Götter oder sonst irgendeine Macht auf der Welt gab, so abergläubisch auf seine Träume lauschte, aber er behielt seine Gedanken für sich.

Die drei jungen Blutwölfe waren vor der Tür angekommen, aber sie schienen unsicher zu sein, wie sie weiter vorgehen sollten.

»Einfach die Tür eintreten, aber rechnet mit einer Waffe!«, rief der Westgarther gut gelaunt hinauf.

Endlich fasste sich einer ein Herz, nahm einen halben Schritt Anlauf und trat fest gegen die Tür. Sie flog schon beim zweiten Tritt aus den Angeln. Der Jungspeer stürmte brüllend hinein und taumelte gleich darauf jaulend zurück. Ein Armbrustbolzen war ihm in die Schulter gefahren. Seine beiden Gefährten ließen sich jetzt nicht mehr aufhalten. Brüllend stürmten sie die Wohnung, und einige Schreie, Flüche und Verwünschungen später zerrten sie einen kreischenden und jammernden Mann die Treppe herunter. Sein Gesicht war übel zugerichtet, aber er schien nicht ernsthaft verwundet zu sein.

Brakas warf ihm einen verächtlichen Blick zu und kümmerte sich um den Verwundeten, der sich die Schulter hielt. »Du bist doch der Neue … wie heißt du nochmal?«

»Quref.«

»Schön, Quref, was hatte ich über den Mann und seine Waffen gesagt? Na, Kopf hoch! Ich werde beim Quartiermeister ein gutes Wort für dich einlegen, damit er dir etwas Silber gibt, um deine Wunde zu kühlen. Aber erst geh zum Wundarzt. Er soll die Wunde sorgfältig ausbrennen, wenn der Bolzen draußen ist. Sag ihm das mit einem Gruß von mir. Er wird nämlich langsam alt und faul und scheint solche Dinge in letzter Zeit zu vergessen. Schau nicht so betrübt! Das ist eine ehrenvolle Narbe, mein Junge. Die Frauen mögen so was.«

Er wandte sich dem Gefangenen zu. »Und was für einen Sack Abfall haben wir hier?«

»Ich habe nichts getan«, stieß der Mann hervor.

»Falsch!«, lautete die scharfe Antwort. »Sogar zweimal falsch! Zum einen hast du auf einen meiner Männer geschossen, was wirklich außerordentlich dumm von dir war, zum anderen liegt drüben in der Stadt noch ein Toter, der sicher beleidigt aufschreien würde, solltest du seinen Tod unter nichts getan verbuchen wollen.«

»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht!«, rief der Mann und verfiel von da an in trotziges Schweigen, ganz gleich, was der Westgarther fragte.

»Warte«, sagte Jarok, als Brakas die Geduld zu verlieren schien. Er durchsuchte die Taschen des Mannes und fand – nichts.

Der Westgarther packte den Mann am Kragen: »Wieso der alte Tusal? Was hattest du für einen Grund?«

»Er hatte vielleicht keinen«, meinte Jarok. »Vielleicht hat er es für einen anderen getan.«

Brakas warf ihm einen schrägen Blick zu. »Stimmt das? Wer war es? Wer?«

Aber der Mann schwieg.

»Na, unsere Folterknechte werden dir schon die Zunge lösen!«

Wieder keine Antwort.

»Schön, du wirst schon bald sehen, was du davon hast. Ihr zwei, fesselt ihn mir ordentlich, und schafft ihn in den Palast. Er wird seine Tat schon bald bereuen. Du, Quref, darfst in der Wache die Meldung machen. Aber fall mir nicht vorher um, verstanden?«

»Ja, Schwertmeister!«, rief der junge Soldat und versuchte strahlend zu salutieren, was er mit einem kläglichen Stöhnen abbrach.

»Schon gut, mein Junge«, meinte Brakas und klopfte ihm breit grinsend auf die gesunde Schulter. »Und jetzt ab mit euch.«

»Ob er auch mit den anderen beiden Morden zu tun hat?«, fragte Jarok. »Sie wurden doch auch am helllichten Tag begangen.«

»Ich weiß nicht … den einen Täter hat man ja noch bei der Leiche festgenommen, weil er so einfältig war, die Tat zu begehen, als gerade eine Patrouille um die Ecke kam. Aber soweit ich weiß, hat man bisher nicht viel aus ihm herausgebracht. Es ist wie verhext! Ich kenne die Folterknechte. Es ist kein edles Handwerk, das sie ausüben, aber sie haben es dennoch zu hoher Kunst entwickelt. Und der Mann beantwortete ihnen jede Frage – nur nicht, warum oder in wessen Auftrag er diesen Mord begangen hat.«

»Ja, verhext«, murmelte Jarok.

Sie befragten die Nachbarn. Die meisten wurden nervös, sobald sie das Lederwams der Wache sahen, aber keiner hatte irgendetwas gesehen oder gehört, was sie weitergebracht hätte. Sie erfuhren lediglich, dass ihr Täter offenbar ein einfacher Bäckergehilfe war, der erst seit kurzem in der Gasse lebte.

Anschließend durchsuchten sie die Wohnung des Mannes, oder eigentlich durchsuchte sie vielmehr Jarok, während Brakas nur zusah. Jarok wanderte mit halb geschlossenen Augen durch die Behausung und suchte nach versteckten Hinweisen und den Geheimnissen, die ihr anvertraut worden waren. Eigentlich fand er immer etwas. Doch hier war nichts – gar nichts. »Mit der Hexerei könntest du dich allerdings irren …«, sagte er schließlich.

»Meinst du?«

»Hier ist nichts, gar nichts. Wenn Magie gewoben wurde, dann nicht in dieser Wohnung. Du weißt, dass ich ein Gefühl dafür habe …«

»Eigenartig. Eigentlich habe ich mit Zauberei gerechnet. Hast du dir unseren Mann angesehen? Er hatte keine Angst, obwohl er wusste, was ihm blüht. Wieso hat ein Bäckergeselle keine Angst vor der Folter? Ich hätte darauf gewettet, dass irgendeine Zauberei im Spiel ist.«

»Ich spüre aber nichts«, hielt Jarok dagegen. Aber das stimmte nicht ganz. Er hatte das Gefühl, dass da etwas war, etwas, was aber selbst seine Instinkte nicht zu fassen bekamen. Oder war es eher so, dass etwas fehlte?

»Also stecken wir hier in einer Sackgasse? Das wird weiter oben gar nicht gut ankommen.«

»Hast du das Opfer gekannt?«, fragte Jarok.

»Den Toten? Natürlich. Das war der alte Tusal von der Garde. Ich mochte ihn, denn er war freigiebig und hat in den Tavernen immer was springen lassen. Allerdings war er für einen Gardisten schon ziemlich alt. Warum fragst du?«

»Vor zwei Wochen erwischte es doch diesen Unterwesir von den Schreibern, der Prinz Weszen täglich die Berichte aus dem Umland brachte. Und unser Scharmeister ging ebenfalls im Palast ein und aus. Der Prinz vertraute ihm.«

»Vertrauen? Ich bezweifle, dass er ihn überhaupt kannte. Es gibt Dutzende von Scharmeistern im Palast. Das ist ja das Problem.«

»Nein, Brakas. Weszen hat ihn ehrenhalber eine Schar der Leibgarde führen lassen, obwohl er dafür viel zu alt war. Und vor drei Wochen hat es diesen Kaufmann erwischt. Er lieferte Weizen in den Palast …«, ging Jarok weiter seinen Gedanken nach. Ein Bild zeichnete sich ab, aber Brakas zerstörte es: »Ich verstehe, worauf du hinauswillst, mein Freund, aber leider haben tausende von Menschen mit dem Palast zu tun. Ein Lieferant, ein Scharmeister, ein Schreiber … Mag sein, dass sie sich gelegentlich über den Weg gelaufen sind, aber ich bezweifle, dass sie je auch nur ein Wort miteinander gewechselt haben.«

»Und wenn das alles auf Prinz Weszen selbst zielt?«

Der Westgarther zuckte mit den Achseln. »Unser viel geliebter Prinz hat zwar mehr Feinde als ein Hund Flöhe, aber er hat auch den besten Schutz, den es auf dieser Welt gibt. Ein gewöhnlicher Mörder wie diese Ratte, die wir gerade geschnappt haben, käme nicht einmal auf tausend Schritte an ihn heran. Nein, ich glaube nicht, dass diese Spur von Leichen am Ende zu Prinz Weszen führt. Dazu waren die drei Opfer zu unbedeutend.«

Sie verließen den Hof, und ihre Wege trennten sich kurz darauf, denn Brakas bestand nicht darauf, dass er ihn zur Wache begleitete. »Ich kümmere mich um die Meldung, falls diese Welpen das nicht ordentlich erledigt haben sollten, was ich ihnen nicht geraten haben möchte. Geh du nur nach Hause. Du siehst erschöpft aus, mein Freund, und bist vermutlich ohnehin heute nicht mehr für viel zu gebrauchen.«

Das war Brakas’ Art, Anerkennung zu zeigen. Der Westgarther wusste genau, dass sie ohne Jaroks besonderes Gespür den Mann nie erwischt hätten, er sprach es nur nicht gerne aus.

Jarok machte sich auf den Heimweg. Die Gassen der Stadt waren immer noch ungewöhnlich leer. Anscheinend war die halbe Bevölkerung zum Palast gepilgert, um den Sohn des Prinzen zu sehen. Er fragte sich, was sie sich von dem kleinen Erben erhofften. Seiner Einschätzung nach war er nur eine weitere Komplikation in einer ohnehin verworrenen Lage.

Der Bruderkrieg der Skorpione währte nun schon fast fünf Jahre, und die Erschöpfung war auf allen Seiten so weit fortgeschritten, dass trotz aller Kämpfe schon lange nichts Entscheidendes mehr geschehen war. Aber nun hatte Prinz Weszen einen Erben, das würde in den Augen seiner Brüder vieles ändern. Sie konnten nicht mehr darauf hoffen, dass eine einzige Klinge, ein einziger Pfeil diese Linie auslöschen würde. Jarok gähnte. Das war Politik, und es war in seinen Augen unnütz, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Er nahm einen kleinen Umweg in Kauf, um dem Lärm des Palastviertels auszuweichen, erwarb bei einem Metzger ein paar Schlachtabfälle und erreichte sein Heim im Glutviertel in der Abenddämmerung. Als er den Kopf in den Nacken legte, konnte er wieder den schwarzen Punkt sehen, der hoch über der Stadt kreiste.

Er ging am Opferturm vorbei, kletterte die Treppe in den zweiten Stock hinauf und fand die Wohnungstür wie immer unverschlossen und sein Heim ohne Licht.

»Du kommst schon nach Hause?«, fragte die brüchige Stimme von Bors Sillwa aus dem Halbdunkel.

Es war stickig in der kleinen Stube. Jarok ließ die Tür offen stehen. »Es gab einen Mord – und eine Jagd.« Er entzündete die Öllampe.

Bors saß still hinter dem Tisch in seiner Ecke. Sein Gesicht blieb im Dunkeln. Vor ihm stand eine Schale mit kaltem Reisauflauf, den er offensichtlich kaum angerührt hatte.

»Warum bist du nicht draußen? Die Hitze ist gewichen, und der Wind kommt ausnahmsweise nicht aus der Wüste, sondern von der See.«

»Wozu? Damit dieser feiste Priester wieder versucht, mich zu Ugana zu bekehren? Oder damit die Kinder mich verspotten? Nein, hier sitze ich doch gut. Du hast den Mörder zur Strecke gebracht?« Bors schien nicht daran zu zweifeln.

»Das habe ich«, erwiderte Jarok und gab Bors einen kurzen Bericht.

»Und du glaubst, dass es eine Verschwörung ist …«

»Offensichtlich, auch wenn ich nicht verstehe, warum die Verschwörer es auf Unterwesire und Lieferanten abgesehen haben.«

»Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht komme ich ja darauf, wenn ich mich nur lange genug damit beschäftige«, bot der Alte seine Hilfe an.

»Es kann nicht schaden. Vielleicht siehst du etwas, das uns entgangen ist.«

Bors lachte und beugte sich vor, so dass seine weißlichen Augen in den Lichtkreis der Lampe gerieten. »So habe ich das nicht gemeint«, versicherte Jarok schnell.

»Ich weiß, mein Junge, aber ich lache, weil du vielleicht Recht hast und am Ende ein Blinder entdecken wird, was ihr überseht. Vielleicht bin ich also noch nicht vollends unnütz.«

»Was ist eigentlich mit diesem Reis nicht in Ordnung?«, fragte Jarok, um das Thema zu wechseln.

»Er ist kalt.«

»Und das war er schon, als Artha ihn dir brachte?«

»Ich bin eben nicht mehr so hungrig. Geh doch hinunter und frag, ob sie ihn dir nicht noch einmal wärmt, mein Junge. Und vielleicht kannst du ihr dann auch sagen, dass sie nicht immer am Gewürz sparen soll.«

»Ich bin ebenfalls nicht hungrig.«

»Sie mag dich, mein Junge. Wenn sie für dich kocht, dann fehlt es nie an Pfeffer und Salz. Sie kann nämlich kochen, wenn sie will. Und sie hat Besitz! Was kann ein Mann mehr von einem Weib erhoffen?«

»Es gibt schon ein Weib in meinem Leben«, gab Jarok zurück. Bors beklagte sich oft über faden Geschmack. Aber Jarok wusste, dass es nicht an Arthas Kochkunst lag, sondern daran, dass seine Sinne nachließen.

»Ach, das zählt nicht«, meinte der Alte mit einer abfälligen Handbewegung.

Jarok lächelte. Sie führten diese Unterhaltung nicht zum ersten und ganz gewiss nicht zum letzten Mal. »Dennoch werde ich jetzt noch einmal nach ihr sehen, wenn du erlaubst.«

»Grüß sie von mir«, gab der Alte brummend zurück.

Jarok verließ die Wohnung. Er hatte einen Balken hinüber in den zweiten Stock des Opferturms gelegt und balancierte nun hinüber.

Der Alte wurde immer eigensinniger, und er schien von Tag zu Tag weniger gewillt, Hilfe anzunehmen. Bors war einer der Falkner des alten Padischahs gewesen, und er hatte den verängstigten Jungen, der vor fünfundzwanzig Jahren zusammen mit sieben Eisgreifen aus dem kalten Damatien ins glühend heiße Oramar gekommen war, unter seine Fittiche genommen. Falkenauge hatte man ihn damals genannt, weil keiner schärfere Augen hatte als Bors Sillwa, der Haretier, aber nach endlosen Jahren im Dienste der Jagdleidenschaft seines Herrn war er erst schleichend, dann immer schneller erblindet.

Jarok kletterte durch die Falltür auf die Plattform des alten Turms hinauf. Hier hatten schon lange keine Opferfeuer mehr gebrannt. Ugir, die Stadt der Gewürze, lag in der rasch fortschreitenden Abenddämmerung. Die Gassen waren voller Leben, offensichtlich befand sich die Menge, die zum Palast geströmt war, auf dem Heimweg. Er konnte den riesigen Palastkomplex von seinem Platz aus gut sehen. Die Soldaten auf den hohen Mauern entzündeten gerade ihre Wachfeuer. Auf einem der anderen Opfertürme, von denen es im Glutviertel etliche gab, entzündete ein Priester die heilige Flamme, und bald darauf stieg weißer Rauch auf.

Jarok hatte diesem seltsamen Ritual nie viel abgewinnen können. Er streifte den schweren Handschuh, den er hier oben in einer kleinen Kiste verwahrte, über den linken Arm und stieß einen schrillen Pfiff aus. Aus dem Himmel erklang die durchdringende Antwort. Jarok legte den Kopf in den Nacken. Der schwarze Punkt, der eben noch so hoch gekreist hatte, stürzte aus dem Abendhimmel rasend schnell wie ein Stein auf ihn zu. Dann, wenige Ellen über seinem Kopf, breitete der Eisgreif seine mächtigen Schwingen aus und landete leicht und sicher auf der dargebotenen Hand.

»Ich grüße dich, Hrima«, begrüßte er das stattliche Weibchen mit den üblichen Worten. Auch das hatte er von Bors gelernt, wie alles, was er über die Falknerei wusste. »Das Ritual der immer gleichen Worte wird das Band zwischen dir und deinem Schützling verstärken«, hatte ihm der Alte früh erklärt. Es schien sich zu bewahrheiten, denn Hrima war ihm nach Ugir gefolgt, obwohl er ihr die Wahl gelassen hatte.

Über fünf Jahre war es nun her, dass Padischah Akkabal at Hassat seinen Falkner Bors von seinen Pflichten entbunden hatte, weil dieser, schon halb blind, noch einmal die Heimat hatte sehen wollen. Und er hatte Jarok gestattet, seinen Meister zu begleiten. Doch dann fand Bors noch tausend Dinge, die er vor seiner Abreise zu erledigen hatte, und als sie die Jagdoase am Rande der Wüste Abasch endlich verließen, kamen sie nur bis nach Ugir, denn der Krieg war ausgebrochen und versperrte ihnen den Weg übers Meer. Ihre Ersparnisse waren schnell aufgebraucht, und Jarok, der nichts anderes kannte außer der Jagd, verdingte sich bei der Wache, denn von irgendetwas mussten sie leben.

Er fütterte Hrima mit den Schlachtabfällen, die er auf dem Heimweg erworben hatte, und sah ihr zu, wie sie Bissen auf Bissen verschlang.

»Bist du satt geworden, meine Schöne?«, fragte er, als sie den letzten Bissen verschluckt hatte.

Sie warf einen Blick auf seine nun leere Rechte, spreizte kurz die weiten Flügel, sprang mit der ihr eigenen Anmut von seiner Hand und landete sicher auf dem Horst, den sie sich in einer Ecke des Turmes gebaut hatte. Als sie mit dem Nestbau begann, hatten ein paar der in Ugir allgegenwärtigen Krähen versucht, ihr diesen Platz streitig zu machen. Sie waren wohl zuvor noch nie einem Eisgreifen begegnet. Inzwischen hielten sie respektvoll Abstand.

Jarok blieb auf dem Turm, bis Hrima den Kopf unter das Gefieder steckte, um zu schlafen. Dann kletterte er wieder den Turm hinab.

Im unteren Stockwerk war Licht. Er wurde bereits erwartet. »Euer Vogel – seht Euch an, was er getan hat!«, begrüßte ihn der dickliche Priester, der im selben Haus wohnte, und hielt ihm im Schein seiner Laterne ein paar blutige Federn unter die Nase.

Jarok seufzte. Er hatte die Hühnerfedern im Nest des Eisgreifen gesehen, aber gehofft, Hrima hätte sich ihre Beute anderswo geholt. Er konnte den Priester, der sich immer wieder über Hrima beklagte, jedoch nicht leiden. Also sagte er: »Ihr habt doch den Hühnerstall auf Eurem Dach abgeschlossen? Eisgreifen können keine Schlösser aufbrechen, wisst Ihr …«

»Das Dach, es war beschädigt! Dieses Untier hat die Schindeln zerschlagen!«

Jarok nahm die Federn zur Hand. Er deutete auf einen Knick. »Wenn meine Hrima sich dieses Tier geholt hätte, dann wären davon nicht mal mehr Federn übrig. Es wird eine Katze gewesen sein. Da, seht Ihr, diese Spuren hier, Bissspuren! Eine Katze, eindeutig!«

»Ihr könnt versuchen, Euch da herauszureden, aber ich weiß, was ich weiß!«

Jarok würdigte ihn keiner Antwort.

»Und überhaupt – die Opfer, ich kann die Opfer nicht mehr bringen! Das ganze Viertel ist besorgt, weil ich uns den Schutz Uganas nicht mehr sichern kann! Das kann so nicht weitergehen.«

»Ihr könnt gerne nach oben gehen – vielleicht erlaubt sie Euch ja beim nächsten Mal, die Plattform zu betreten.«

»Oh nein, diesem Dämon in Vogelgestalt werde ich mich auf keinen Fall noch einmal nähern!«

Der Priester hatte wirklich einmal versucht, den Eisgreifen vom Turm zu verjagen. Die Narben auf seiner Hand konnte man immer noch sehen. Er war also auch nicht klüger als die Krähen.

Jarok war müde, und er konnte und wollte dem engstirnigen Priester nicht helfen. »Dann kann ich Euch nur raten, Euch entweder einen anderen Turm oder einen anderen Gott zu suchen, dem Ihr opfern könnt.«

»Ich werde mich beschweren! Jawohl! Es ist mir gleich, dass Ihr ein Blutwolf seid – ich werde mich im Palast beschweren, und dann werden wir dieses Ungeheuer schon ausräuchern!«

Jarok packte den Priester am Kragen. »Wenn meiner Hrima auch nur eine Feder gekrümmt wird, werdet Ihr mir das büßen, Priester! Habt Ihr das verstanden?«

Der Priester, eben noch zornerfüllt, wurde kleinlaut. »Es ist nun einmal ein Opferturm – kein Nistplatz.«

»Aber es gefällt ihr dort – und solange das so ist, wird sie dort bleiben. Außerdem hält sie auch die Krähen fern, über die die anderen Priester sich dauernd beschweren. Und nun entschuldigt mich! Habt Ihr keine Armen und Kranken, die Eurer Aufmerksamkeit bedürften? Ich kenne da zum Beispiel einen alten, blinden Mann, der sich über Besuch wohl freuen würde, selbst wenn er von Euch käme.«

»Aber er glaubt nicht an Ugana!«, rechtfertigte sich der Priester.

»Wer tut das schon?«

»Sie ist die Herrin dieser Stadt – seit tausend Jahren!«

»Und seit hundert Jahren ist sie es nicht mehr!« Damit ließ Jarok den Priester stehen. Ugana hatte, so berichtete die Legende, ihre Stadt über Jahrhunderte vor allen Feinden beschützt. Doch dann war Bal-Ek at Hassat gekommen, der Stammvater der Skorpione, und seine Krieger hatten ihre Stadt bezwungen. Sie hatten Hilfe: Ghirtab, der Skorpiongott, hatte Qutaf aus seinem Schlummer geweckt, und der Weltenerschütterer hatte die unüberwindlichen Stadtmauern mit einem Erdbeben zerstört, und draußen im Meer hatte sich die Sturmschlange erhoben und die mächtige Flotte der stolzen Stadt einfach versenkt. Jarok kannte die Legende aus den traurigen Liedern, die sie über diesen Tag sangen. Seither war das mächtige Ugir einfach nur eine weitere Stadt im noch weit mächtigeren Reich Oramar, jenem Reich, das gerade in einem grausamen Bruderkrieg zerrissen wurde. Daran würden auch die Opfer, die dieser kleingeistige Priester gerne gefeiert hätte, nichts ändern.

2.

Am nächsten Morgen wurden Jarok und Brakas in den Palast befohlen.

»Das kann nichts Gutes bedeuten«, sprach der Westgarther aus, was Jarok dachte.

Ihre Wache lag im Herzviertel, ganz in der Nähe des Alten Suks. Sie folgten der Straße der Sieger Richtung Palast. Seit Jahrhunderten zelebrierten auf dieser Prachtstraße die siegreichen Feldherren und Admiräle von Ugir und später Oramar ihre Triumphe. In letzter Zeit waren diese Feiern jedoch selten geworden. Brakas meinte, auch das sei ein schlechtes Zeichen.

Im Gedränge kamen sie nur langsam voran.

Jarok hatte einmal gehört, dass in Ugir angeblich eine halbe Million Menschen gewohnt hatten – vor dem Krieg. Sie war eine der größten Städte der bekannten Welt, und nun schien die Zahl ihrer Bewohner sich noch einmal verdoppelt zu haben. Zwischen all den Menschen, die ihrer täglichen Arbeit nachgingen, den Händlern, Handwerkern und Lastenträgern, sah Jarok eine Menge Bettler und Männer, die an den Ständen nach Arbeit fragten. Abgemagerte Kinder strichen um die Stände und warteten darauf, dass dort etwas für sie abfiel, aber die Händler passten auf wie die Wüstenluchse.

Auf einem Podest auf halbem Weg ins Palastviertel stand ein fetter Offizier, der nach neuen Kriegern für den Prinzen suchte. Anders als früher hatte er keine Mühe, Männer zu finden. Viele Verzweifelte drängten sich um das Podest, und Jarok sah den Werber sogar Männer fortschicken, die eigentlich tauglich wirkten.

»Hast du es übrigens gehört?«, fragte Brakas, als sie sich durch das Gedränge schoben.

»Was gehört?«

»Weszen hat gestern nicht nur seinen Erben präsentiert, er hat sich selbst auch zum Ugir-Schah ausgerufen.«

»Im Ernst?«

»Hab mich auch gewundert, aber der alte Trottel, dem das Haus gehört, in dem ich so günstig wohne, hat es mir erklärt«, fuhr der Westgarther fort, geriet dann aber in Streit mit einem riesigen Lastenträger, der ihm, schwer beladen, wie er war, zu langsam Platz machte. Der Mann überragte ihn um mehr als Haupteslänge, aber Brakas ging keinem Streit aus dem Weg.

Jarok kannte den »Trottel«, von dem der Westgarther sprach, flüchtig. Es war ein Gelehrter, der in der Großen Bibliothek des Palastes arbeitete. Er war ein kluger Mann, der den Westgarther in sein Haus im Salzviertel aufgenommen hatte, weil er sich davon in diesen unsicheren Zeiten Schutz versprach. »Was hat er gesagt?«, fragte er, als Brakas den Riesen endlich eingeschüchtert und zur Seite gescheucht hatte.

»Wer?«

»Der Gelehrte.«

»Er sagte, damit wolle der Prinz … warte, wie sagte er es … ja, seine Legitimation erhöhen. Bisher war er ja eigentlich nur ein Satrap, ein Statthalter, ernannt von seinem Vater, dem alten Padischah. Ugir-Schah hingegen ist der alte Titel, den die Herren dieser Stadt vor ihrer Unterwerfung führten … Ich weiß nicht, ob es da nur um einen besser klingenden Titel geht. Vielleicht hat Weszen ja auch vor, Ugir ganz aus dem Reich zu lösen. Man hört da gewisse Gerüchte …«

»Man hört viel«, gab Jarok zurück, und das war noch untertrieben. Die Straßen summten von den verschiedensten Gerüchten: Weszen wolle sich mit dem Seebund, dem Erzfeind Oramars, verbünden, Weszen wolle ein Bündnis mit einigen seiner Brüder gegen einige andere seiner Brüder schmieden, Weszen wolle Ugir zur Hauptstadt eines neuen Reiches machen – jeden Tag gab es neue Nahrung aus der Gerüchteküche, und nie schien die Stadt davon satt zu werden.

Vor ihnen tauchte die hohe Mauer des Palasthofs auf. Jarok betrachtete die goldenen Schwerter, die die Mauer in der Nähe des Tores zierten, und fragte sich wieder einmal, ob das Gold echt war, und wenn ja, wie dick es wohl aufgetragen war. Die Wachen grüßten nachlässig und mit der ihnen eigenen Überheblichkeit, über die sich Brakas wieder einmal ärgerte. »Sie halten sich wirklich für was Besseres«, knurrte er, als sie das Tor passiert hatten. »Dabei sind wir es, die Ugir wirklich beschützen. Die stehen sich doch nur die Beine in den Bauch.«

Jarok war, wie stets, fasziniert vom Anblick des Palastes. Der Baumeister hatte ihn in Anlehnung an die Umrisse eines Skorpions gestaltet, und wer sich dem Palast näherte, trat unvermeidlich zwischen die beiden bedrohlich wirkenden Scheren, die nach Westen, zur See, ausgerichtet waren. Jarok wusste, dass es eigentlich nur zwei langgezogene Bauten waren, deren Kammern und Hallen der Verwaltung der Stadt dienten, aber die Erbauer des Palastes hatten die Fassade so gestaltet, dass man unweigerlich an gewaltige Skorpionscheren dachte. Der Turm, der im Osten den erhobenen Stachel des Wappentieres des mächtigen Herrschergeschlechts symbolisierte, stach als schwarzer Umriss in die noch tief stehende Sonne. Jarok fragte sich, wie die Stadt von dort oben aussehen mochte, aber diesen Turm würde er nie betreten, denn dort lagen die privaten Gemächer des Satrapen – oder Ugir-Schahs.

Vor dem Eingang in die erste Halle schien ein steinerner Riese auf sie zu warten: Es war die Statue von Bal-Ek at Hassat, dem Eroberer von Ugir, der sich hier selbst ein unbescheidenes Denkmal gesetzt hatte. Überall hieß es, dass Bal-Ek ein großer Herrscher gewesen sei: Er hatte die Dynastie der Silberspeere vom Pfauenthron vertrieben und die Dynastie der Skorpione begründet. Und er hatte neben Ugir noch viele andere Städte erobert und das Reich zu seiner ersten Blüte geführt. Bal-Ek stand nun hier mit strengem Blick, die Hand am vergoldeten Schwertgriff in Siegerpose, während ein gewaltiger Skorpion an seiner Seite mit seinen Zangen eine kauernde Frauengestalt, die Stadtgöttin Ugana, beschirmte. Jarok war sich nie sicher, ob der Skorpion diese Frau beschützte oder unterwarf. Vielleicht traf beides zu. Er konnte nicht sagen, dass die Statue ihm gefiel.

Sie eilten in die hohe Vorhalle und wurden von einem der zahllosen Wesire des Palastes mit einem übertriebenen Lächeln empfangen. »Ah, die ehrenwerten Vertreter der Blutwölfe. Folgt mir bitte.« Er führte sie eilig durch einen der vielen Gänge zu einem kleineren Saal im Nordflügel, hieß sie dann aber, noch einen Augenblick zu warten.

»Warum?«, fragte Brakas schlicht.

»Wie?«, fragte der Wesir, sichtlich irritiert.

»Warum müssen wir warten? Wir sind quer durch die Stadt gehetzt, weil Ihr nach uns gerufen habt.«

Der Wesir starrte ihn einen Augenblick an. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass man seine Anordnungen hinterfragte. Er merkte nicht, dass der Westgarther einfach nur seinen Schabernack mit ihm trieb.

Zu Jaroks Überraschung trat der Wesir näher an sie heran, senkte die Stimme und sagte: »Es ist eine Delegation des Seebundes bei unserem Prinzen. Und glaubt mir, da wollt Ihr nicht zugegen sein.«

Prinz Weszen selbst erwartete sie? Jarok hielt auch das nicht für ein gutes Zeichen. Der Prinz war seit einem knappen Jahr zurück in Ugir, und noch nie hatte er nach ihm schicken lassen. Falls Brakas ebenfalls überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Vielleicht war er, ebenso wie Jarok, zu dem Schluss gekommen, dass der Wesir sich gerne mitteilte, denn er fragte in gespielter, geradezu unverschämter Naivität: »Und was soll daran so schlimm sein, dass wir nicht einfach hinzutreten können? Wir sind auch ganz leise.«

»Der Ugir-Schah hat dem Seebund angeboten, vorerst auf Terebin zu verzichten. Ihr wisst doch bestimmt, dass Caisa, seine Frau, von dort stammt. Als Tochter des ermordeten Herzogs steht ihr der Thron zu, auf den sich dieser widerliche Graf Gidus gesetzt hat. Doch jetzt will Schah Weszen auf ihr Erbrecht verzichten, als Preis für ein Bündnis mit dem Seebund.«

»Weszen verzichtet auf etwas – das ist in der Tat ungewöhnlich.«

»Nun, er verzichtet nicht völlig. Alassa, sein neugeborener Sohn, soll diesen Thron in fünfzehn Jahren besteigen – und der fette Graf bis dahin als Vormund auf dem Marmorthron sitzen bleiben. Schahsana Caisa ist darüber nicht sehr erfreut, das kann ich Euch sagen. Der Palast hat in dieser Nacht in seinen Grundfesten gebebt, so heftig stritt sie sich mit dem Ugir-Schah!«

Der Wesir schien die neuen Titel des Prinzen und seiner Frau schon verinnerlicht zu haben, aber er redete für Jaroks Geschmack zu viel.

Die Pforte zum Thronsaal öffnete sich, und dann rauschte die Delegation des Seebundes heraus. Angeführt wurde sie von einem missmutig dreinschauenden knochigen Greis, dessen Kleidung abgetragen wirkte.

»Protektor Pelwa, angeblich der knauserigste Fürst des Goldenen Meeres«, flüsterte der Wesir, kaum dass die Abordnung außer Hörweite war. »Ich nehme an, der Seebund rechnet darauf, dass er sich auch bei diesen Verhandlungen von seiner geizigen Seite zeigt. Doch nun rasch – Schah Weszen wartet nicht gerne.«

Jarok betrat den Thronsaal mit gemischten Gefühlen. Er kannte den Prinzen gut aus friedlicheren Zeiten, von der Jagd, aber das war lange her.

Weszen saß auf einem schlicht gehaltenen Thron, Caisa zu seiner Rechten, Aphaskar, der Großwesir der Stadt, stand zu seiner Linken und war offensichtlich gerade dabei, sich mit dem Ugir-Schah zu beraten. Doch der unterbrach ihn mit einer schnellen Handbewegung und sprang auf. »Ah, da ist ja der Mann, von dem ich dir erzählt habe, liebste Caisa!«

Großwesir Aphaskar zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.

Weszen stürmte quer durch den Saal, blieb nur kurz vor Jarok stehen und umarmte ihn dann innig. »Jarok, mein Freund, es ist lange her, viel zu lange!«

»Das ist wahr, Hoheit«, gab Jarok vorsichtig zurück. Er hatte den Prinzen seit über fünf Jahren nicht gesehen, fand ihn aber kaum verändert. Weszen war immer noch so groß und kräftig wie früher. Den Stier nannte man ihn, und er führte dieses Tier auch mit Stolz im Wappen. Jarok fand, dass das ein treffender Name war, der treffendste von all seinen Beinamen vielleicht. Als sein Vater, der Padischah, noch am Leben gewesen war, hatte man ihn auch die Faust des Großen Skorpions genannt, weil er mit eiserner Strenge den Willen seines Vaters erfüllte, aber er hatte auch weniger schmeichelhafte Beinamen erworben: das Ungeheuer, der Henker, der Schlächter, der Witwenmacher. Jarok ermahnte sich, das nicht zu vergessen.

»Komm, ich will dich meiner Frau vorstellen!« Weszen zog ihn am Arm zum Thron. »Das ist er, Liebste, Jarok, der beste Falkner meines Vaters. Nein … genau das waren seine Worte, widersprich mir also nicht, mein Freund. Der Alte hatte immer gehofft, dass ich mich ebenso für die Falknerei begeistere, wie du es tatest, doch ist die Jagd mit einem Vogel nun einmal meine Sache nicht. Ich gehe mein Ziel lieber selbst an – und es sollte auch keine Antilope und kein Wüstenhase sein, nein, ein Löwe, das ist eine Beute, die des künftigen Herrn von Oramar würdig ist, oder habe ich Unrecht?«

»Nein, Hoheit«, erwiderte Jarok vorsichtig. Der Prinz schien ihm nur vordergründig guter Laune zu sein. Dahinter verbarg sich große Wut, das konnte er spüren, und er wollte nicht der Mann sein, der diesem Zorn zum Ausbruch verhalf. Jarok hatte auch nicht vergessen, was die Spatzen von den Dächern pfiffen: Weszen hatte seinen Vater, den Großen Skorpion, von dem er gerade so heiter sprach, vergiften lassen – und damit den Bruderkrieg um den Pfauenthron begonnen.

»Und es geschah auf einer Löwenjagd, dass dieser Mann mich rettete, obwohl ich all seine Warnungen in den Wind schlug. Ich war eben jung und voller Tatendrang.«

Jarok erinnerte sich gut an diesen Tag. Sie hatten einen verwundeten Löwen verfolgt, der Prinz dabei hoch zu Ross, was mehr als leichtsinnig gewesen war, zumal Jarok gespürt hatte, dass dort ein zweites Raubtier auf sie wartete.

Genau davon sprach Weszen jetzt: »Ich behauptete einfach stur, es sei nur ein Löwe, doch als ich den ersten, verwundeten mit meinem Speer niederstreckte, brach der zweite aus dem Dickicht hervor, packte mein Pferd in der Flanke und riss mich mit ihm zu Boden. Ohne Jarok und seinen Eisgreifen würde ich heute nicht hier stehen.«

Jarok hatte sich damals, ohne zu überlegen, mit seinem kurzen Wurfspeer auf den Löwen gestürzt, um ihn von Weszen abzulenken. Er hatte ihn nur verwunden können und dabei den Speer zerbrochen. Mit Schaudern erinnerte er sich an den Augenblick, als er ohne Waffe einem bis aufs Blut gereizten Löwen gegenübergestanden hatte. Genau in diesem Moment hatte sich sein Eisgreif auf das Raubtier gestürzt, hatte ihm die Krallen ins Gesicht geschlagen und war dafür von dem Löwen zerfetzt worden, ein Detail, das Weszen jetzt ausließ: »Dieser Mann und sein verrückter Vogel lenkten die Bestie ab, damit ich sie töten konnte. Es hätte übel ausgehen können, aber gemeinsam haben wir das Untier bezwungen!«

Die Schahsana erhob sich mit einem gezwungen wirkenden Lächeln. »Ihr habt meinen Mann gerettet, und dafür stehe ich, wie die ganze Stadt, tief in Eurer Schuld. Doch nun entschuldigt mich, Weszen, mein Gemahl. Ich will nach unserem Kind sehen.« Der Wesir hatte Recht, auch in ihren dunklen Augen brannte großer Zorn. Sie wirkte noch wütender als ihr Mann.

»Jaja, nur zu«, brummte Weszen.

Caisa rauschte davon, und Jarok konnte nicht anders, als ihr hinterherzustarren. Er hatte die Frau des Prinzen noch nie aus der Nähe gesehen. Die Dichter in den Tavernen und im Suk priesen sie in den höchsten Tönen, aber sie wurden ihr nicht gerecht. Jarok suchte das passende Wort, um die besondere Art ihrer Schönheit angemessen zu beschreiben. Sinnlich, das traf es vielleicht am besten, sinnlich auf eine sehr greifbare Art, vielleicht sogar zu sinnlich für die hohe Herrin über eine Million Seelen, und das hatte er in noch keinem Lied über sie gehört.

»Und wie kommt es, dass mein alter Freund Jarok nun Menschen statt Löwen oder Antilopen jagt?«, fragte Weszen unvermittelt.

»Ein Mann muss arbeiten, Hoheit. Und für die Falknerei sind die Zeiten schwierig.«

»Das kann man wohl sagen! Die Spähtrupps meiner Feinde tauchen jetzt schon in Sichtweite unserer Mauern auf, und Scharen aus Elagdad plündern die Dörfer an meiner Küste, aber ich habe eine Neuigkeit für sie, an der sie erst einmal zu schlucken haben werden! Der Seebund ist auf meiner Seite, endlich! Jetzt gehört das Meer wieder mir, und damit werde ich diese Kakerlaken, die es wagen, sich Skorpione zu nennen, in die Knie zwingen! Schon bald wird niemand mehr zwischen mir und dem Pfauenthron stehen.«

Großwesir Aphaskar räusperte sich. »Verzeiht, Hoheit, doch habt Ihr diese Männer gewiss nicht rufen lassen, um unsere Politik mit ihnen zu erörtern.«

Weszen warf seinem Berater einen scharfen Blick zu. Dann aber nickte er. »Ihr habt Recht, Aphaskar, kommen wir zum Geschäft. Wie ich erfahren habe, warst du es, der gestern diesen verfluchten Mörder gestellt hat. Und auch vorher sollst du erstaunliche Erfolge errungen haben. Wie ich weiter hörte, ist das der Grund, weshalb man die Männer deiner Wache inzwischen als die Blutwölfe kennt und fürchtet.«

»Das mag sein, Hoheit.«

»Ah! Immer noch so bescheiden! Doch leider schweigt dieser Hund, selbst unter schwerer Folter, ebenso wie jener, der meinen Schreiber ermordete.«

»Es gibt zwar keinen Beweis, dass diese Männer sich kannten«, warf der Großwesir ein, »doch ihre Opfer waren sämtlich Diener des Ugir-Schahs, ja, sogar Männer, die sein Vertrauen genossen. Irgendjemand muss den Auftrag zu diesen Morden gegeben haben, doch die Mörder schweigen.«

»Vielleicht ist Zauberei im Spiel, Hoheit«, warf Brakas ungefragt ein. Er war wohl nicht von diesem Gedanken abzubringen, obwohl Jarok ihm doch erklärt hatte, dass er in jenem Innenhof keine Magie verspürt hatte.

»Natürlich, wenn die Bluthunde nicht weiterkommen, muss Zauberei im Spiel sein«, höhnte eine heisere Stimme. Sie gehörte Schasur, dem Bannermeister der Leibwache, der bisher stumm und fast unsichtbar hinter dem Thron gestanden hatte, jetzt aber ins Licht trat. »Ich meine, wir sollten es auf die althergebrachte Art versuchen, Hoheit. Wir treiben alle zusammen, die mit den Mördern zu tun hatten – irgendeiner wird schon wissen, wer hinter dieser Verschwörung steckt.«

»Wer immer es ist, er versteht es, seine Spuren zu verwischen, Herr«, wandte Jarok vorsichtig ein.

»Da hört Ihr es, Schasur, ganz, wie ich es sagte«, rief Weszen. »Magie ist im Spiel. Und Zauberei kann man am besten mit Zauberei bekämpfen. Führt den Gefangenen herein!«

Der Großwesir sah aus, als wolle er Einwände erheben, schwieg aber.

Eine Seitenpforte öffnete sich, und dann schlurfte eine mitleiderregende Gestalt in die Halle. Jarok brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, dass der Mann schon seit Monaten, vielleicht sogar Jahren gefangen gehalten wurde. Sein Haar war lang und wirr, ebenso sein Bart. Er trug schwere Ketten an Hals, Händen und Füßen und schien unter ihrem Gewicht fast zusammenzubrechen. Das breite eiserne Halsband war mit eisernen, fremdartigen Symbolen beschlagen. Und obwohl er wirkte, als sei er völlig am Ende, wurde der Mann von einem Dutzend Wachen eskortiert, und vier von ihnen hielten ihre schussbereite Armbrust auf ihn gerichtet. Außerdem folgten zwei Magier diesem düsteren Zug, leicht zu erkennen an den üppigen blauen Linien in ihren Gesichtern.

»Den Teller!«, verlangte Weszen, als der Gefangene vor ihm angelangt war.

Jarok fragte sich, was der Mann verbrochen haben mochte und ob er wirklich so gefährlich war, wie es seine Bewachung nahelegte. Blaue Linien konnte er bei der ausgemergelten Gestalt nicht erkennen. Das war allerdings beunruhigend. Ihm waren nur zwei Zauberbünde bekannt, die diese Linien nicht trugen: Die Bruderschaft der Schatten – und der verbotene Orden der Totenbeschwörer …

Einer der beiden Magier eilte nach vorne und legte einen verbeulten Blechteller auf die kostbaren Marmorfliesen. Der andere brachte einen Krug mit Wasser, das er vorsichtig in diesen Teller füllte, dann nahm er dem Gefangenen das Halsband ab.

»Also – jetzt tut, was vereinbart ist«, verlangte Weszen.

»Der Beweis …«, krächzte der Gefangene.

»Ihr werdet Euren Beweis schon bekommen, Meister Ured«, knurrte der Prinz. »Oder zweifelt Ihr an meinem Wort? Fangt an!«

Der Gefangene sank auf die Knie, beugte sich über den Teller und begann, eine Beschwörungsformel zu murmeln. Eine ganze Weile brabbelte er vor sich hin. Jarok beobachtete fasziniert, wie die Augen des Mannes sich verklärten. Dann verkündete er leise: »Es sind etliche Zauberer in der Stadt … einige in diesem Palast. Noch mehr in einem Palast unweit des Meeres …«

»Die Bruderschaft des Sandes hat sich in ihrer Halle im Weihrauchviertel versammelt, Hoheit, wie Ihr es befohlen habt«, erklärte einer der Zauberer leise.

»Ja, Sandzauberer … möglich«, flüsterte der Gefangene.

»Erzählt uns etwas, was wir noch nicht wissen!«, polterte Weszen.

»Da ist noch einer … mitten in der Stadt, auf einem der Märkte … ah, schwer zu finden, versteckt … ein Schatten möglicherweise …«

»Auch von diesem Schatten weiß ich!«, rief der Ugir-Schah, und seine Ungeduld schien rasch zu wachsen.

Jarok tauschte einen Blick mit Brakas. Ein Schatten war in der Stadt? Und Weszen wusste davon? Weszen sollte zwar früher unter dem Schutz der Schatten gestanden haben, doch angeblich war das jetzt nicht mehr der Fall.

»Und dann ist da … da ist noch etwas, das ich nicht sehen kann«, erklärte der Gefangene flüsternd. Jarok musste sich schon anstrengen, um ihn zu verstehen.

»Was soll der Unsinn? Könnt Ihr den Mann nicht finden – oder wollt Ihr nicht? Ah, Ihr wollt nicht! Dann seid Ihr nutzlos! Schafft mir dieses Häufchen Elend aus den Augen!«

»Aber das könnte sein, was wir suchen!«, rief Jarok.

Einen Moment herrschte verblüffte Stille. »Erklär mir das, mein Freund?«, verlangte der Ugir-Schah scharf, und Jarok konnte sehen, wie sich sein Nacken versteifte. Es ist eben keine gute Idee, einem wütenden Stier in die Quere zu kommen, dachte er und erklärte rasch: »Ich habe gestern keinerlei Magie in der Wohnung dieses Bäckergesellen verspürt und dachte, da sei nichts, obwohl ich ein merkwürdiges Gefühl hatte. Jetzt begreife ich, dass dieses Nichts von Zauberhand erzeugt wurde. Jemand hat es verstanden, selbst die Spur dieses Zaubers zu verstecken.«

»Ja, ein Nichts«, flüsterte der Gefangene.

»Und wo finden wir dieses Nichts?«, fragte der Großwesir.

»Inmitten der Stadt, beim Alten Suk.«

»Und wo genau?«, fragte Weszen wie gebannt. Seine üble Laune war verschwunden.

»Nördlich …«, lautete die leise Antwort.

»Nördlich des Suks also … wird das reichen, Jarok?«

Jarok zögerte einen Augenblick, denn er war sich wirklich nicht sicher.

»Selbstverständlich wird uns das reichen, Hoheit«, verkündete der Bannermeister der Leibgarde prahlerisch.

»Das will ich für Euch hoffen, Schasur. Findet heraus, wer oder was sich hinter diesem Nichts verbirgt, und schleift es hierher!«

»Zu Befehl, Hoheit! Ich werde die Angelegenheit persönlich in die Hand nehmen!«

»Nehmt die Blutwölfe mit, denn wenn einer diesen Meister des Verbergens finden kann, dann ist es mein alter Freund Jarok.«

»Solange sie uns nicht im Weg stehen …«

»Ach, kommt, Schasur, ohne uns würdet Ihr doch nicht einmal den Suk finden!«, rief Brakas herausfordernd. Der Leibgardist würdigte ihn keiner Antwort.

»Der Beweis!«, rief der Gefangene, als einer der Magier ihm das eiserne Halsband wieder anlegte. »Meine Frau … meine Töchter … Ihr habt mir einen Beweis versprochen!«

Weszen gab einer der Wachen ein Zeichen, und sie verschwand. Jarok hätte gerne gesehen, worum es hier ging. Dieser Gefangene mit den erstaunlichen magischen Fähigkeiten faszinierte ihn.

Aber der Großwesir drängte zum Aufbruch: »Verliert keine Zeit. Dieser unbekannte Zauberer ist gefährlich und muss ausgeschaltet werden!« Zum unübersehbaren Ärger des Bannermeisters befahl er auch den beiden Magiern, sie zu begleiten.

Als sie aus dem Saal marschierten, kam ihnen im Gang die Wache entgegen, die Weszen eben fortgeschickt hatte. Sie trug am ausgestreckten Arm einen groben Sack, der etwas enthielt, das nicht viel größer sein konnte als eine Melone. Auf der Unterseite war das Sackleinen dunkelrot verfärbt. Jarok schützte einen gelösten Riemen an seinem Stiefel vor und blieb stehen, um zu lauschen.

Er hörte einen schrillen Schrei, der ohne Zweifel vom Gefangenen kam, und dann höhnte Weszens kräftige Stimme: »Hier habt Ihr den Beweis, den Ihr wolltet, Ured. Genügt Euch das, oder fordert Ihr noch den Beweis dafür, dass sich auch Eure Töchter in meiner Hand befinden?«

Der Gefangene antwortete mit Schreien, die Jarok durch Mark und Bein gingen.

»Jetzt komm schon!«, mahnte Brakas. »Das geht uns nichts an.«

Sie kamen auf den Straßen schneller voran als auf dem Hinweg, weil eine Welle der Furcht der Leibgarde voranging und ihnen Platz verschaffte.