Lichtträger - Torsten Fink - E-Book

Lichtträger E-Book

Torsten Fink

4,8
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die neue All-Age-Trilogie

Gegen jede Wahrscheinlichkeit ist es dem jungen Seher Awin gelungen, den Lichtstein zu erlangen. Aber als er zu den Zelten seines Stammes zurückkehrt, hat die Wüstengöttin Slahan seine Sippe entführt. Awin bricht sofort auf, um seinen Clan zu retten, doch Intrigen, Missgunst und alte Feinde halten ihn auf. Und als Awin endlich erahnt, was die grausame Slahan wirklich plant, scheint es längst zu spät zu sein, um sie aufzuhalten …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 608

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Prolog
Frostland
Copyright
Für Annerose und Jens
Prolog
DER BOGEN WAR fast fertig. Tuge nahm ihn in seine kräftigen Hände und prüfte ihn erneut. Er begutachtete das Horn und lauschte auf das leise Knarren des Holzkerns. Es klang beinahe vollkommen, aber eben nur beinahe. Vorsichtig nahm er sein kleines Messer zur Hand und schabte etwas Horn vom Bogenbauch. Auf der anderen Seite des Feuers saß der junge Kolyn und sah ihm mit leuchtenden Augen zu. »Wenn es so kalt ist wie jetzt, musst du ihn warm halten, dann schöpfen seine Arme neue Kraft«, mahnte ihn Tuge mit strengem Blick. Kolyn nickte eifrig. Der Bogner seufzte. Vor zwei Jahren hatte er Holz und Horn für dieses Stück ausgesucht. Er hatte nur vom Allerbesten genommen, denn dieser Bogen hätte einmal seinem Sohn Tauru gehören sollen. Doch der war tot, gefallen und begraben in der Fremde.
»Ist er jetzt fertig, Meister Tuge?«, fragte der Junge.
Der Bogner schüttelte den Kopf. »Nicht so ungeduldig, junger Freund, aber ich glaube, wir können langsam daran denken, die Sehne aufzuziehen.«
»Und dann ist er fertig?«
Tuge lächelte. Seit Kolyn wusste, dass dieser Bogen für ihn bestimmt war, saß er jeden Tag in seinem Zelt. Der Bogner prüfte mit dem Daumen die Stelle, die er gerade bearbeitet hatte. Es fühlte sich gut an. »Er braucht noch seine Schutzschicht, weißt du das nicht?«
»Dann morgen?«
»Eine Woche, vielleicht zwei«, erklärte Tuge. »Es kommt darauf an, wie er sich mit der Sehne macht.« Der Knabe erlebte gerade seinen elften Winter. Es zeigte, wie verzweifelt sie waren, dass sie Kolyn schon zum Jungkrieger beriefen und ihm einen Bogen anvertrauten, der eigentlich zu groß für ihn war. Tuge fuhr noch einmal mit der Hand über das glatte Horn. Tauru hätte der Bogen sicher gefallen.
Das Zelt erzitterte unter einem Windstoß. Seit Tagen plagte sie ein eiskalter, namenloser Nordwind. Noch ein Grund, warum sich Kolyn lieber im warmen Zelt als draußen bei den Herden aufhielt. Sein Vater Meryak hatte nichts dagegen. Die Herden waren klein geworden, denn der Heredhan hatte ihnen die meisten Tiere genommen. Tuges Miene verdüsterte sich, als er daran dachte, mit welcher Selbstherrlichkeit Heredhan Horket in ihr Lager geritten war, geschützt von Dutzenden Kriegern, um eine Sühne einzufordern, die ihm der Klan angeblich schuldete. Es war gut, dass Yaman Aryak das nicht mehr erleben musste. Was hatte Horket ihnen gelassen? Zwei Dutzend Pferde und ebenso viele Schafe, eine Handvoll Trampeltiere und die Ziegen. Es reichte gerade zum Überleben - vielleicht. Der Winter konnte noch lang werden, und irgendwann würden die Wölfe kommen. Dann konnten sie einen weiteren Bogen gut gebrauchen, auch wenn er in der Hand eines Kindes lag. Die doppelte Lederhaut vor dem Eingang wurde zurückgeschlagen, und eine junge Frau steckte ihren Kopf herein. »Onkel Tuge, komm, sieh dir das an!«, forderte sie.
Tuge runzelte die Stirn. Die Arbeit an einem Bogen war etwas Heiliges, er schätzte Störungen dieser Art nicht besonders. »Was gibt es denn, Wela, Tuwins Tochter, dass du mich von meiner Arbeit fort in diese böse Kälte hinauslocken willst?«, brummte er.
»Sieh es dir an. Ich glaube, es gibt bald einen Sandsturm.«
»Du musst dich irren, Nichte. Es ist tiefster Winter, und wir sind weit von der Slahan entfernt. Ich glaube, selbst der wütende Nyet würde sich nicht so weit hinaus in die Steppe wagen.«
»Dann komm und sieh!«, forderte Wela.
Missmutig erhob sich der Bogner und trat vor das Zelt. Seine Nichte würde ohnehin keine Ruhe geben. Es war still. Der Nordwind schien sich gelegt zu haben. Tuge blickte in die Richtung, in die Wela wies. Tatsächlich, der Horizont zeigte sich gelb verfärbt, das untrügliche Zeichen für einen Sandsturm. Dennoch, es war unmöglich. Tuge sah sich um. Die Handvoll Rundzelte, die ihr Klan bewohnte, war halb eingegraben, weit über den Südhang eines Hügels verteilt. Kein Mensch war draußen. Nur die Ziegen drängten sich unruhig aneinander. Sie schienen den kommenden Sturm zu wittern. In der Ferne wieherte ein Pferd. Meryak war mit Malde und den Rössern in einem kleinen Tal, das Schutz vor dem eisigen Nordwind bot. Doch dieser schien jetzt eingeschlafen zu sein. Es war nahezu windstill. Ein weiterer Vorbote dieses seltsamen Sturms, der sich in der Ferne abzeichnete.
»Was machst du überhaupt hier draußen, Wela?«, fragte Tuge.
»Die Luft in den Zelten hat mir Kopfschmerzen verursacht, Onkel, die Luft, und das Geschwätz der Frauen. Aber es wird auch hier draußen nicht besser.«
»Skefer«, sagte der junge Kolyn mit Kennermiene.
Tuge warf ihm einen halb belustigten Blick zu. »Soso, junger Freund, dann verrate mir doch, was Skefer so weit von seiner Heimat entfernt will.«
»Er geht dem Sturm voraus«, behauptete der Knabe kühn. Wela grinste. »Du kennst die Winde der Slahan gut, Kolyn«, lobte sie ihn.
»Ja, und jetzt ist es auf einmal Dauwe, der mit seinem Schweigen Nyet ankündigt.«
»Dauwe erscheint nie im Winter«, belehrte ihn Tuge. Er spürte einen Stich im Bein, eine alte Wunde, die ihn bei Wetterwechseln oft plagte. Die gelbe Wand war in die Höhe gewachsen und schon beträchtlich näher gerückt. »Vielleicht ist es wirklich Nyet«, sagte er mit einem Achselzucken, »und vielleicht vertreibt er diesen elenden Frost. Dann soll mir sein Zorn willkommen sein.«
»Soll ich Malde und Meryak warnen?«, fragte Wela.
»Sie werden es schon selbst bemerken. Außerdem glaube ich nicht, dass du sie noch vor dem Sturm erreichen würdest.« Tuge legte die Stirn in besorgte Falten. Dieser Sturm kam sehr schnell näher, selbst für Nyets Verhältnisse. Eine leichte, milde Brise wehte plötzlich um die Halteseile seines Zeltes, und der Bogner vermeinte, ein leises Flüstern im Wind zu vernehmen.
Auch Wela hatte es gehört. »Seweti?«, fragte sie erstaunt.
Tuge schüttelte den Kopf. »Die Tänzerin verspottet jene, die Nyet in offener Wüste begegnen und sich hinterher fluchend aus dem Sand ausgraben. Niemals geht sie einem Sturm voraus«, sagte er langsam.
»Holla, Tuge, was geht da vor?«, rief eine Stimme. Es war Gregil, Yaman Aryaks Witwe, die vor ihr Zelt getreten war und den Himmel musterte.
Tuge zögerte mit einer Antwort. Der Sturm raste heran. In wenigen Augenblicken würde er über ihren Zelten zusammenschlagen. Es war Zeit, hineinzugehen und den Eingang zu verschließen. Dann konnte man nur noch einen Sud aufsetzen, dem Wind lauschen und warten. Die Winterzelte der Hakul waren ein gutes Stück in die Erde eingegraben und konnten selbst einem sehr wütenden Nyet trotzen. Aber Tuge zögerte. Das Flüstern im Wind war jetzt nicht mehr zu überhören. Es erinnerte ihn an die Geschichten der Alten. An Erzählungen aus der fernen Zeit, bevor Etys mit dem Lichtstein die Gefallene Göttin gebannt hatte, als Xlifara Slahan, die Verfluchte, in Gestalt eines Sturmes die Zelte der Hakul heimgesucht und Menschen verschleppt hatte, um mit ihrem Blut ihren ewigen Durst zu stillen. Und zuvor hatte Seweti die Tänzerin zu jener Zeit die Hakul verhöhnt, ihnen mit ihrem Flüstern Angst gemacht. Tuge erbleichte.
Der Lichtstein war geraubt worden, er schützte sie gar nicht mehr vor der rachsüchtigen Göttin. Die ersten Windböen drängten ins Zelt und ließen die ledernen Häute knarren. Ein süßlicher Geruch stieg dem Bogner in die Nase. Er formte die Hände zu einem Trichter, um den Wind zu übertönen, und rief Gregil zu: »Ins Zelt, ins Zelt, es ist Xlifara! Slahan kommt, um unser Blut zu holen!« Er war sich nicht sicher, ob die Yamani ihn verstanden hatte. Wela starrte ihn ungläubig an, dann verstand sie und rief: »Schnell, wir müssen die anderen …«
Tuge packte sie am Kragen und hielt sie fest. »Bleib. Es ist zu spät. Die Göttin ist hier.« Und mit diesen Worten zog er die widerstrebende Wela und den jungen Kolyn hastig in sein Zelt.
»Aber, Onkel …«, begann Wela.
Tuge beachtete sie nicht, er zog die Verschlüsse des Eingangs fest. Der süßliche Geruch drang dennoch herein. Es roch nach Tod und Verwesung. Er sah sich um und versuchte, sich an die alten Geschichten zu erinnern. Es gab etwas, das die Alten gepredigt hatten: Schutz, einen Weg, die Gefallene Göttin am Betreten eines Zeltes zu hindern. Das Rundzelt wankte unter einem heftigen Schlag. Der Sturm war da. Stimmen waren im Wind, ein Stöhnen und Wimmern, das dem Bogner durch Mark und Bein ging. Kolyn sah ihn ängstlich an.
»Den Trog, vor den Eingang, schnell!«, rief Tuge und lief selbst schon zu dem schweren Bottich, in dem er sonst den Bogenleim anzurühren pflegte. Wela packte mit an. »Den Eimer, Junge, den Wassereimer, aber lass ihn nicht fallen!«, herrschte Tuge den verstörten Kolyn an. Dieser nickte verwirrt und schleppte stolpernd den Wassereimer heran. Tuge goss das Wasser in den Trog. Würde das wirklich ausreichen? Er sandte ein Stoßgebet an Tengwil, die Schicksalsweberin, sie möge auf ihre Fäden achten. Es wurde dunkel, und das kleine Feuer schien zu schrumpfen, als sich die Finsternis des Sandsturms auf das Zelt legte. Das Stöhnen draußen wuchs zu einem Brüllen an, und wieder wankte das Zelt unter dem wütenden Nyet. Die Werkzeuge und Gerätschaften, die der Bogner an die innere Zeltwand gehängt hatte, klapperten unruhig. Besorgt musterte Tuge die Stangen. Bis jetzt hatte sein Zelt jedem Sturm standgehalten, doch nun rüttelte eine Göttin an seinen Pfosten. Hakul-Zelte waren geweiht, ein alter Brauch aus jener dunklen Zeit, als Xlifara noch oft über das Staubland gekommen war. Der Bogner fragte sich, ob die alten Zauber noch wirkten. Das Brüllen Nyets vermischte sich mit einem alles durchdringenden Heulen und Stöhnen, das wenig Irdisches an sich hatte. Tuge sah, dass Kolyn mit den Tränen kämpfte.
»Sie kann nicht herein«, versuchte er ihn zu beruhigen. Der Junge nickte tapfer. Ein reißendes Geräusch erklang vom Eingang. Dort machte sich jemand an den Häuten zu schaffen. War das nur der Wind? Sechs Augen schauten gebannt auf die doppelte Lederhaut. Plötzlich stieß die Spitze eines Dolchs hindurch. Noch einmal. Und dann schnitt die Klinge, sorgsam geführt, die Verschlussleinen auf. Wer immer dort draußen mit dem Sturm gekommen war, er kannte die Art, wie die Hakul ihre Zelte bauten. Die Lederhäute wurden zurückgeschlagen. Sand und Staub wirbelten herein, und mittendrin zeichnete sich der Umriss eines Mannes ab. Wela schrie auf. Es war ein Hakul, die Tracht war unverkennbar, aber in dem Flackern, das ihr schwaches Feuer über sein Gesicht huschen ließ, stachen zwei Augen hervor, die nichts Menschliches an sich hatten. Sie waren vollkommen gelb. Der Fremde hielt den Dolch in der Hand und hob den Fuß, um das Zelt zu betreten. Hinter ihm war ein zweiter Umriss zu erahnen. Der Mann mit den gelben Augen zögerte, als er den Bottich bemerkte. Er zischte, und Sand rann aus seinem Mund.
Plötzlich durchschnitt ein helles, kurzes Sausen das Heulen des Sturms, und ein gefiederter Pfeil durchbohrte dem Eindringling die Brust. Er stolperte zurück und sackte noch auf der Schwelle zusammen. Der Schatten hinter ihm stieg über den Gefallenen. Auch er trug die Kleidung eines Hakul, und auch ihm waren diese furchtbaren gelben Augen zu eigen. Er verharrte am Eingang, starrte auf den Trog und wurde von einem zweiten Pfeil zurückgeworfen. Tuge ließ den Bogen sinken. Er spürte, dass ihm der kalte Schweiß ausgebrochen war. Sand wirbelte durch den zerschnittenen Eingang hinein.
»Was war das, Meister Tuge?«, fragte Kolyn zitternd.
Der Bogner antwortete nicht, sondern legte einen weiteren Pfeil auf die Sehne. Er lauschte auf den Sturm und die grausamen Stimmen, die den Wind begleiteten. Das Zelt ächzte unter der Wut Nyets, die Stangen knackten, und dann hörte Tuge, wie eines der Halteseile riss. Xlifara Slahan rüttelte an seinem Zelt, und er vermeinte zu spüren, wie ihr uralter Hass auf alle Menschen sich einen Weg durch die Nähte und Lederhäute suchte, ja, er war sich sicher, dass sie erst von ihnen ablassen würde, wenn sie alle tot waren.
Frostland
DER ATEM DER Pferde bildete flüchtige Wolken in der kalten Luft. Awin schlug den Sandschal zurück. Sofort fuhr ihm der eisige Nordwind ins Gesicht. Er zog die grob zugeschnittene Lederhaut, die er über seinem Gewand trug, enger an sich, ohne allzu viel Linderung zu erwarten. Die Kälte war ihm in die Knochen gekrochen, und sie schien nicht die Absicht zu haben, von dort so bald wieder zu weichen.
»Ein seltsamer Winter ist das. Wenn wenigstens Schnee liegen würde«, sagte Merege.
Die Kariwa hatte ein Schaffell nachlässig über die schmalen Schultern gelegt, und es war offensichtlich, dass ihr der kalte Wind nichts ausmachte. Awin hingegen sehnte sich nach einem Zelt und einem wärmenden Feuer. Es war nicht mehr weit bis zu den Hügeln, in denen der Klan Jahr für Jahr sein Winterlager aufschlug. Er zitterte. Viel schlimmer als die Kälte war jedoch die Angst, dass er auch dort das Schreckensbild vorfinden würde, das er nun schon dreimal gesehen hatte. Unruhig sah er zu, wie Eri durch das weiße Gras schritt, den Blick auf den Boden geheftet. Es war schon richtig, die Pferde brauchten eine Pause, auch die Reiter brauchten eine Rast, aber er wollte weiter. Aus dem Augenwinkel sah er hinüber zu Curru. Der ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Pfeilwunde aus der Schlacht am Glutrücken immer noch plagte, aber wenn er sich unbeobachtet fühlte, so wie jetzt, stahl sich ein Ausdruck des Schmerzes in sein Gesicht.
»Sand«, sagte Eri düster.
Awin biss sich auf die Lippen. Es durfte nicht sein! Vor einer Woche waren sie auf das erste zerstörte Lager gestoßen. Sie hatten sich lange in wilden Vermutungen ergangen, wer für die Zerstörung verantwortlich sein könnte, nur weil sie sich nicht eingestehen wollten, was sie im Grunde ihrer Herzen wussten. Sie hatten sich eingeredet, es könnte ein Zufall sein - ein anderer Feind musste dieses Lager zerstört haben, und nur zufällig war die von ihnen in die Flucht geschlagene Slahan darübergezogen. So hatten sie sich den allgegenwärtigen Sand erklärt. In feinen Schleiern lag er überall, wo ihn der eisige Nordwind nicht hatte aufnehmen und forttragen können.
Es war ein erschreckender Anblick gewesen, selbst für die Krieger der Hakul: die toten Pferde und Schafe, von Geiern und anderen Aasfressern nur halb abgenagt, weil die tödliche Ernte so reich war, die zahlreichen, hastig in die gefrorene Erde gekratzten Gräber, die zusammengefallenen Zelte und diese bedrückende Stille, die über der Zerstörung lastete. Selbst die Aasfresser waren weitergezogen, und sie erfuhren bald, warum: Zwei Tage später fanden sie das zweite zerstörte Klanlager. Ab da gab es keine Zweifel mehr, dass Slahan für diese Verwüstung verantwortlich war, denn wieder fand sich feiner Sand im weiß gefrorenen Gras. Es war die Gefallene Göttin, die sie in Uos Mund besiegt hatten. Und sie zog eine breite Spur der Verwüstung durch Srorlendh. Die Spur war leicht zu verfolgen, und dennoch gab sie ihnen Rätsel auf. Sie lief nach Nordosten, schwenkte plötzlich nach Westen und verlor sich in der Wüste. Dort verfolgten sie sie nicht weiter, glaubten sie doch, der Zorn der Göttin habe sich wieder gelegt. Aber die Spur kreuzte später wieder ihren Weg, lief abermals nach Nordost, nur um dann erneut nach Westen abzubiegen. Es war Curru, der das Rätsel schließlich löste: »Es ist Fahs’ Fluch. Die Göttin kann kein offenes Wasser überqueren, sie kann ja nicht einmal davon trinken. Also ist jeder kleine Bach für sie ein unüberwindbares Hindernis.«
Das war einleuchtend, aber auch beunruhigend, denn sie kehrte immer wieder in das Staubland zurück, wenn sie einen Bachlauf umgangen hatte, und stets kamen der Sturm, die Zerstörung und der Tod mit ihr. Auf Umwegen führte ihr Weg sie so immer weiter nach Norden. Keiner von ihnen sprach es aus, aber jeder fürchtete, dass Slahan in ihrem Rachefeldzug auch das Lager ihres eigenen Klans überfallen könnte. Von diesem Augenblick an war aus ihrem Ritt eine grimmige, aber hoffnungslose Jagd geworden. Die Göttin war ihnen fast zwei Wochen voraus. Und sosehr sie ihre Pferde auch antrieben, sie wussten, sie konnten den Sturm nicht einholen. Sie ließen alle Vorsicht außer Acht und folgten der Göttin mitten durch Horkets Weideland, obwohl sie hier das Schlimmste befürchten mussten. Heredhan Horket hatte ganz sicher nicht vergessen, dass Eri seinen Vetter getötet hatte.
»Es ist nicht gesagt, dass sie unser Lager findet. Es liegt geschützt«, meinte Curru jetzt.
Merege schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum dieser Knabe überhaupt vom Pferd gestiegen ist. Seht ihr nicht, dass sich das Land verfärbt hat, so weit das Auge reicht? Selbst der reine Nordwind, der hier das Gras unablässig mit weißem Atem überzieht, kann den Sand nicht tilgen. Slahan ist hier durchgekommen, mit aller Macht, über die sie noch gebietet, und wenn es stimmt, dass euer Lager hier in der Nähe liegt, bräuchte es weit mehr als einfaches Glück, um dem Hass der Göttin zu entgehen.«
»Achte auf deine Worte, Hexe. Tengwil könnte dich hören«, zischte Curru wütend.
»Es ist doch schon Tage her, dass sie hier durchkam«, nahm Awin das Mädchen in Schutz.
»Ich sehe hier keine Toten, weit und breit nicht«, sagte Eri.
»Ein schlechtes Zeichen«, entgegnete Merege trocken.
Awin wollte dazu nichts sagen. Die Leichen, auf die sie immer wieder stießen, waren das Schlimmste. Zunächst hatte Awin sich eingeredet, es handele sich um Tote, die der Sturm irgendwie aus der Erde gewühlt hatte, aber bald war klar, dass der furchtbare Anblick der toten Körper daher rührte, dass Slahan sie ausgesaugt und nicht viel mehr als eine vertrocknete Hülle übrig gelassen hatte.
»Immer hat sie Durst«, warf Curru jetzt ein. »Ich kann ihn fühlen, ebenso ihren Hass, den diese Hexe und mein ehemaliger Schüler geweckt haben.«
Auch auf diese Bemerkung ging Awin nicht ein. Er war in Gedanken bei seiner Schwester Gunwa und bei all den anderen Menschen, die sie zurückgelassen hatten, als sie ausgezogen waren, den Dieb des Lichtsteins und Mörder Elwahs zu jagen. Fünfunddreißig Mal hatte er seitdem die Sonne aufgehen sehen, doch in der Welt außerhalb von Uos Mund war ein halbes Jahr vergangen. Der Winter hatte das Land fest im Griff, der Winter und Slahan, die Gefallene Göttin. »Ich glaube, die Pferde können weiter«, sagte er knapp.
»Dann lasst uns eilen. Noch vor Anbruch der Nacht können wir dort sein«, meinte Eri und sprang in den Sattel. Dann gab er seinem Tier die Fersen und jagte davon. Sie folgten ihm, und Awin trieb seinen Braunen zur Eile. Das Tier hatte ihm gute Dienste geleistet. Von Uos Mund bis zum Rotsee hatten sie laufen müssen, ein gefährlicher Weg. Eigentlich hätten sie diesen Marsch kaum überleben dürfen, denn der Glutrücken kannte keinen Winter - doch Slahan war fort, und es schien, als habe der kalte Nordwind die Gelegenheit genutzt und die verlassene Wüste erobert. Das hatte ihnen letztlich das Leben gerettet. Die Pferde waren ihnen dann am Rotwasser zugelaufen, das heißt, eigentlich war es Merege gewesen, die abends hinter den Felsen verschwunden und am Morgen mit dem Braunen und drei weiteren Pferden wiedergekehrt war. Curru war deswegen immer noch beleidigt. Er war ein Hakul, im Sattel geboren, wie er zu sagen pflegte - und da kam diese Kariwa vom Rand der Welt und verstand sich besser auf Pferde als sie alle zusammen. Natürlich beschuldigte er sie wieder der Hexerei, aber seine Abneigung gegen Merege war doch nicht groß genug, um das mitgebrachte Tier, einen stark gebauten Schimmel, abzulehnen.
Das Land wurde schon hügeliger, und in nicht allzu großer Ferne ragten die Schwarzen Berge aus der Ebene auf. Awin sah Curru die wachsende Unruhe an. Sie würden bald das Lager erreichen. Egwa war dort, Currus Frau und Awins Ziehmutter. Und Gunwa würde vermutlich bei ihr sein. Sie würde am Feuer sitzen und sehr staunen, denn sie musste glauben, dass ihr Bruder tot war wie all die anderen aus Aryaks Sger, die in der Schlacht am Glutrücken gefallen waren.
Die Dämmerung tauchte die weiße Ebene bereits in ungewisses Zwielicht, als Eri, der ihnen stets ein gutes Stück vorausritt, sein Pferd mit einem scharfen Reißen am Zügel anhielt. Das Wintertal, so nannten sie jene Senke zwischen sanften Hängen, in der sie seit Menschengedenken ihr Lager in den kalten Monden aufzuschlagen pflegten. Es war nur ein Tal unter vielen hier, unweit der Schwarzen Berge, und nicht leicht zu finden. Ein Fremder würde auf das Lager nur stoßen, wenn er den Rauch der Feuer sah. Und in gefährlichen Zeiten konnten die Hakul selbst im Winter auf Feuer verzichten. Genau deswegen hielt Awin schon die ganze Zeit Ausschau nach den schlanken Rauchfahnen, die über dem Lager stehen mussten. Es wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass das Lager sich in Sicherheit wiegte. Aber die Luft war rein und klar, und nirgendwo trübte ein grauer Schleier die grausame Schönheit des Abendrots. Awin sank der Mut. Alles in der Haltung des jungen Kriegers oben auf dem Kamm sagte ihm, dass ihre Befürchtungen wahr geworden waren. Es war, als sei Eri im Sattel förmlich erstarrt. Curru stieß einen heiseren Ruf aus und trieb sein Pferd zur Eile. Awin folgte ihm und verlangte einen letzten Galopp von seinem Braunen. Noch vor der Kuppe zügelte er das Tier. Immer langsamer näherte er sich dem Unausweichlichen. Schließlich hielt er neben den anderen und blickte hinab. Es war das Lager des Klans, auch wenn er sich wünschte, dass es nicht so wäre. Slahan war hier gewesen, und sie hatte nicht viel übrig gelassen. Dort lag ein eingestürztes Zelt, daneben tote Ziegen. Raureif bedeckte die verbogenen Zeltstangen und die zerrissenen Lederbahnen, die träge im Wind flatterten. Awin entdeckte drei menschliche Körper, die dicht beieinander auf der weißen Erde lagen. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Neben ihm stöhnte Curru auf.
»Es gibt ein Grab«, sagte Merege und deutete auf einen flachen Hügel. Aus irgendeinem Grund schien sie das wichtig zu finden. Awin blickte sie verständnislos an, und sie erklärte es ihm: »Jemand muss diese Gräber ausgehoben haben.«
»Überlebende!«, rief Awin.
Sie trieben die Pferde eilig den Hügel hinunter. Curru stieg ab und sah sich die drei Leichen an. »Es sind keine unserer Männer, jedoch Hakul«, sagte er nachdenklich.
»Sie wurden nicht begraben«, wunderte sich Awin.
»Dort drüben liegt noch einer. Vielleicht Plünderer«, rief Eri, der sein Pferd durch das Lager hetzte.
»Ich glaube nicht, dass hier noch etwas von Wert ist«, sagte Curru düster.
»Seht nur, hier unter den Häuten liegt ein Wagen, doch man hat ihn zerschlagen«, rief Awin überrascht. Er hatte sich das zusammengefallene Zelt angesehen und erleichtert festgestellt, dass es nicht das seiner Zieheltern war, also auch nicht das, in dessen Überresten er seine Schwester vermuten musste. Aber es gab noch ein Grab. Er versuchte, ruhig zu bleiben, und sandte ein Stoßgebet an die Schicksalsweberin.
»Und sie haben das Holz nicht mitgenommen«, murmelte Curru, der hinzugetreten war.
»Vielleicht galt es, Wichtigeres mitzunehmen«, meinte Merege.
»Wichtiger als Holz?«, fragte Curru mit bitterem Lachen. »Man merkt, dass du vom Leben im Staubland wenig weißt, Kariwa.«
Auch Awin fand das seltsam, noch seltsamer als die Tatsache, dass man ein Zelt zurückgelassen hatte. Holz war sehr kostbar in diesem Teil der Steppe.
»Sei es, wie es sei«, rief Eri ungeduldig. »Wenigstens werden wir in der Nacht ein gutes Feuer haben, aber jetzt brauchen wir Fackeln.« Er war vom Pferd gesprungen, drängte sich nun an Curru vorbei und zog einen schmalen Pflock unter dem Leder hervor.
Awin legte ihm eine Hand auf den Arm. Im Wind war ein neuer Geruch. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Das bedeutete Gefahr. »Warte«, flüsterte er.
»Worauf? Dass es noch dunkler wird?«
Ein leises Sirren durchschnitt die Luft. Awin ahnte das Geschoss mehr, als dass er es sah. Er stieß Eri, ohne nachzudenken, zur Seite und spürte, wie etwas seinen ledernen Überwurf traf. Es war ein Hakul-Pfeil. Eine Handbreit weiter rechts hätte er sein Herz durchbohrt, so aber fuhr er unter seiner Achsel hindurch, ohne ihm ein Haar zu krümmen.
»Deckung!«, zischte Curru und kauerte schon hinter dem Zelt. Ein zweiter Pfeil sirrte durch die Luft. Awin warf sich auf den Boden.
»Gebt es ihnen! Verschont keinen!«, rief eine raue Stimme.
Awin rollte sich zur Seite und kroch eilig in den Schatten des Zeltes. Der Schutz der Dunkelheit war beinahe alles, was sie zu ihrer Verteidigung hatten. Ihre Bogen hatten sie am Glutrücken eingebüßt. Wenn der Feind das bemerkte, waren sie verloren. Zwei Pfeile trafen genau da, wo Awin eben noch gelegen hatte, den gefrorenen Boden, prallten ab und glitten davon.
»Vorsicht, einer will zu den Pferden!«, rief die Stimme.
»Tuge? Tuge der Bogner, bist du das?«, rief Curru hinüber.
»Wer will das wissen?«, fragte die Stimme, die Awin jetzt auch eindeutig als die von Tuge erkannte.
»Ich bin es, Curru, mit Yaman Eri. Um Kalmons willen, hört auf zu schießen.«
»Curru? Der ist lange tot«, lautete die Antwort, mit einem Pfeil übersandt, der sich dicht neben dem alten Seher in das Zelt bohrte.
»Tuge, du störrischer Esel, erkennst du die Stimme eines Freundes nicht, wenn du sie hörst?«, rief Curru hinüber.
»Er ist es wirklich, Onkel«, rief eine helle Stimme.
»Wela?«, fragte Awin. »Wela, Tuwins Tochter? Ich bin es, Awin!«
»Bei den Hütern, es ist ein Wunder, ein großes Wunder. Hört auf zu schießen, hört auf! Sie sind es wahrhaftig«, rief Tuge.
Neben Wela war noch ein Junge mit Tuge gekommen. Er hieß Kolyn, und Awin erinnerte sich, dass er vor ihrem Aufbruch noch ein Kind gewesen war, ein Ziegenhirte, von dem niemand verlangt hätte, in den Krieg zu ziehen. Jetzt baumelte ein Sichelschwert an seinem Waffengurt, und er führte einen Bogen, für den er eigentlich noch zu klein war. Awins erste Frage galt seiner Schwester, und auch Eri und Curru bestürmten den Bogner mit Fragen nach ihren Familien, doch Tuge wehrte bekümmert ab und sagte: »Ich habe schlechte Nachrichten für euch, und ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde, um zu beschreiben, was geschehen ist, doch denke ich, dass es besser ist, der Reihe nach zu berichten, denn sonst werdet ihr vielleicht nicht verstehen, was ich euch über die Euren zu sagen habe.«
Nach dieser umständlichen Einleitung schilderte Tuge, wie der Sturm über die Hügel herangekommen war, und in seinem Schutz Slahan, die Menschendiebin. »Sie kam nicht allein. Nyet ging ihr voraus und rüttelte an unseren Zelten, Seweti war dort und verspottete uns mit ihrem Flüstern, und als es vorüber war, blieb Dauwe zurück mit seinem lastenden Schweigen und labte sich an unserem Elend. Aber am seltsamsten war, dass auch Menschen bei ihr waren. Seht ihr jene drei dort? Solche hat sie viele, Sklaven, und ihre Augen sind aus Sand. Ich bin nicht sicher, ob es noch Menschen sind, doch kann man sie töten, so wie ich diese drei tötete. Deine Mutter Gregil hat ebenfalls einen erschlagen, Eri, einen Krieger, der über ihre Schwelle wollte, und so blieb auch ihr Zelt verschont, und alle, die darinnen waren. Doch viele hatten weniger Glück. Viele hat Slahan getötet, und die liegen dort, unter jenem Grabhügel, und ich muss dir leider sagen, Curru, mein Freund, dass deine Frau Egwa unter ihnen ist.«
Curru verfärbte sich, aber er sagte keinen Ton. Awin schluckte und unterdrückte die Tränen, die ihm in die Augen steigen wollten. Die strenge und immer etwas raue Egwa hatte ihn und seine Schwester an Kindes statt angenommen und großgezogen. »Auch Meryak liegt dort, der bei den Herden von Slahan überrascht wurde, nicht aber Malde, der bei ihm war. Und auch von meinem Sohn Karak fehlt jede Spur. Ich fürchte, ihnen ist Schlimmeres widerfahren als der Tod. Außer uns dreien sind nur Gregil, die alte Telia, eine Handvoll Kinder und der junge Mabak, der gar nicht im Lager war, dem Verhängnis entkommen. Wirklich, Tengwil hat ein furchtbares Schicksal für uns gewoben.« Und dann zählte er die Namen derer auf, die bei dem Angriff gestorben waren. Es waren viele.
»Und Gunwa, meine Schwester?«, rief Awin, der die Ungewissheit nicht länger ertrug.
»Auch sie ist verschwunden, wie viele andere unseres Klans. Slahan hat sie mitgenommen, zu welchen düsteren Zwecken auch immer.«
Ein Abgrund öffnete sich vor Awin. Seine Schwester war von Xlifara Slahan verschleppt worden?
»Sie wird sie zu Sklaven machen, wie die, die ihr getötet habt«, warf Merege kühl ein, »oder sie wird auch mit ihrem Blut ihren Durst stillen.«
Eine tiefe Stille folgte dieser Bemerkung. Schließlich sagte Curru böse: »Was weißt du schon, Hexe?«
»Ich glaube, alter Freund, dieses Mädchen hat recht«, sagte Tuge nach einer längeren Pause.
»Wenn sie gefangen sind, dann können wir sie auch befreien«, sagte Awin mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.
»Befreien? Aus den Klauen einer Göttin? Aber wir sind nur schwache Menschen«, wandte der Bogner ein.
»Wir haben den Heolin. Wir können sie besiegen«, entgegnete Awin grimmig. »Schon einmal haben wir das geschafft.«
»Ihr habt ihn wieder?«, rief Tuge mit großen Augen.
»Wir wären nicht ohne ihn zurückgekehrt, Bogner«, antwortete Eri stolz.
Curru richtete sich auf. Er war immer noch leichenblass. »Ja, wir haben den Lichtstein, den Stein, für den so viele von uns ihr Leben gelassen haben. Und der Junge hat recht, wir haben Slahan einmal besiegt, wir können es wieder.« Und dann begann Curru zu berichten.
Kolyn hatte unterdessen Feuerholz zusammengetragen, das er nun entzündete. Awin überließ seinem ehemaligen Meister gern das Reden. Er war in Gedanken bei seiner Schwester und bei Egwa. Sie hatte aus nichts eine nahrhafte Suppe gezaubert, auch wenn sich über deren Geschmack manchmal streiten ließ. Und selbst in den schlimmsten Wintern wäre sie lieber selbst verhungert, als ihre Ziehkinder darben zu lassen. Awin streckte die Hände aus. Die Kälte wich allmählich aus seinen Knochen, aber dafür griff eine andere Kälte nach seinem Gemüt. Seine Schwester war verschleppt worden, seine Ziehmutter tot. Vor seinem geistigen Auge sah er plötzlich eine Reihe von Menschen, die ihm nahegestanden hatten und die nun tot waren: Egwa, Yaman Aryak, Mewe der Jäger, der dicke Bale, Tuwin der Schmied, und dahinter warteten noch weitere Gesichter. Er versuchte die düsteren Gedanken zu verscheuchen. Gunwa lebte noch. An diese Vorstellung klammerte er sich. Der alte Seher berichtete unterdessen von ihren Erlebnissen. Am Anfang redete er stockend, tastete nach den richtigen Worten, aber langsam, Satz für Satz, wurde seine Stimme fester. Das Erzählen schien ihm zu helfen. Mabak, der sich bei Serkesch von ihnen getrennt hatte, hatte dem Klan schon vor einem halben Jahr viel von ihren Erlebnissen berichtet. Curru knüpfte dort an, er schilderte die Schlacht am Glutrücken, und wie sie in Uos Mund hinabgestiegen waren. Er hielt sich sogar weitgehend an die Tatsachen, auch wenn es seltsamerweise so schien, als hätten vor allem Eri und er selbst die Hauptarbeit verrichtet, und Awin und Merege seien eher zufällig dabei gewesen. Awin war es gleich. Es gab Überlebende, das war die Hauptsache. Seine Schwester war verschleppt, nicht tot. Also gab es noch Hoffnung für sie und für die anderen.
Wela hatte sich die ganze Zeit um das Feuer gekümmert und geschwiegen. Jetzt sagte sie: »Ich verstehe eines nicht, Curru. Du nennst Awin immer deinen Schüler, doch Mabak hat uns berichtet, welche Wunder er vor Serkesch vollbracht hat. Hat er nicht Dinge gesehen, die dir verborgen blieben?«
Curru starrte sie finster an. »Mabak ist noch jung, er hat das eine oder andere vielleicht nicht richtig verstanden.«
»Auch der Yaman, und ich meine nicht diesen Knaben, sondern seinen Vater Aryak, hat anerkannt, dass Awin nun ein Seher ist«, erklärte Merege ruhig. »Hat er ihm nicht den Speer seines Sohnes Ech gegeben als Zeichen, dass er nun zu den Yamanoi gehört?«
Curru warf ihr einen feindseligen Blick zu, stand auf und verschwand in der Dunkelheit. Tuge gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Dann haben wir also nun zwei Seher in unserem Klan - beinahe genauso viele, wie wir Krieger haben.«
»Und ihr habt wieder einen Yaman«, warf Eri ein.
Tuge warf Holz ins Feuer. »Es stimmt, du hast Anspruch auf die Nachfolge deines Vaters, doch können wir wenigen noch Klan genannt werden? Du hast es der Klugheit deiner Mutter zu verdanken, dass es unsere Sippe überhaupt noch gibt, Eri. Heredhan Horket war hier. Er hat uns berichtet - von der Schlacht am Glutrücken und auch von seinem Vetter, den du erschlagen hast.«
Eri biss sich auf die Lippen und verstummte. Awin fragte sich, ob er Reue empfand. Seine unbedachte Tat hatte letztlich zum Tod vieler guter Männer geführt.
Tuge fuhr fort: »Der Heredhan hat uns angeboten, uns in seinen mächtigen Klan aufzunehmen. Aber deine Mutter lehnte dankend ab und sagte, dass wir bereits mit Auryds Klan über einen Zusammenschluss verhandeln. Horket nahm es zähneknirschend hin, und dann raubte er uns drei Viertel unserer Tiere als Sühne für seinen Vetter.«
»Vereinigen mit dem Fuchs-Klan?«, fragte Eri mit einem Stirnrunzeln. »Das ist ein seltsamer Gedanke. Und nicht meine Mutter hat darüber zu befinden, und auch nicht du, Tuge, sondern ich, Eri, Aryaks Sohn und rechtmäßiger Yaman des Klans der Schwarzen Berge.«
Der Bogner sah ihn nachdenklich an. »Ich weiß nicht einmal, ob wir noch genug Männer im Klan haben, um dich auf den Schild zu heben, Eri, Aryaks Sohn.«
»Das wird sich schon finden. Doch sag uns endlich, wo meine Mutter ist und wo die anderen sind«, forderte Eri ungehalten.
»Sie sind am Sichelsee, bis auf den jungen Mabak, der schon beim letzten Neumond aufgebrochen ist, sich eine Braut in Auryds Klan zu suchen«, berichtete Tuge. »Als wir das Lager verließen, konnten wir jedoch nicht alles Wertvolle mitnehmen, denn wir hatten weder genug Wagen, noch genug Pferde, sie zu ziehen, oder auch nur Hände, um sie zu lenken. Einen der Wagen mussten wir ohnehin zurücklassen, denn der Sturm hat ihn den Hang hinuntergetrieben, und eines der Räder war zerbrochen. Wir haben ihn zerschlagen und unter diesen Zelthäuten verborgen. Nun sind wir zurückgekommen, um zu holen, was noch von Wert ist. Da sahen wir auf der Hügelkuppe vier Reiter vor dem Abendrot - und den Rest kennt ihr. Ihr hättet uns sicher auch entdeckt, doch ich glaube, eure Augen galten ganz und gar dem Lager.«
Awin nickte düster. »Es hätte gut zu dieser verfluchten Geschichte gepasst, dass wir von den eigenen Leuten erschlagen werden.«
»Stell dich nicht so an, du lebst ja noch«, erwiderte Wela. Vielleicht sollte es spöttisch klingen, doch Awin konnte nicht darüber lachen. Zu viel Schreckliches war geschehen. Dann fiel ihm ein, dass Welas Vater am Glutrücken gefallen war und dass auch sie Entsetzliches durchgemacht haben musste. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte, und fragte daher: »Du bist jetzt die Schmiedin unseres Klans?«
»So ist es. Doch ich sage dir, ich hätte gerne noch viele Jahre darauf gewartet. Und du bist jetzt Seher?«
Eri schnaubte verächtlich, doch Awin hatte genug davon, dass der Yamanssohn, ebenso wie Curru, bei jeder Gelegenheit versuchte, ihn herabzusetzen. Die Lage war viel zu ernst, um sich weiter mit solchen Kindereien aufzuhalten. »Ja, ich bin ein Seher«, sagte er schlicht. »Ich war auf der Großen Reise des Geistes, und ich habe Dinge gesehen, die wenige vor mir sahen. Und wenn das manchen in diesem Klan nicht gefällt, nun, es gibt andere Sippen.«
In der Ferne heulte ein Wolf.
»Die Wölfe wittern den Zwist«, meinte Merege, »und sie warten darauf, dass einer die schützende Herde verlässt.«
»Diese junge Frau hat recht«, sagte Tuge. »Wir sind zu wenige, um uns zu streiten.«
»Was ist mit dem Wagen, Meister Tuge?«, fragte Kolyn schüchtern.
Der Bogner sah ihn an. »Wo habe ich nur meine Gedanken? Wela, willst du nicht mit Awin gehen und den Wagen herbringen? Die Pferde sind schutzlos in der Dunkelheit.«
Der schwere Wagen stand nicht weit entfernt vom Lager. Sie hätten ihn sicher bemerkt, wenn der schreckliche Anblick sie nicht so gefangen genommen hätte.
»Du hast viel gesehen, sagst du?«, fragte Wela.
Awin, der die Fackel trug, nickte stumm. Die Pferde waren an einen großen Felsbrocken gebunden.
»Auch die Stadt Serkesch?«
»Ja, das heißt, ich war nicht in der Stadt selbst«, antwortete Awin.
Die Pferde wirkten unruhig. Wela löste das Seil und schnalzte mit der Zunge. Der Wagen setzte sich rumpelnd in Bewegung. »Aber du hast versprochen, mir davon zu erzählen.«
»Ja, natürlich«, murmelte Awin, dem so viele andere Gedanken durch den Kopf gingen.
»Ist sie so schön, wie man sagt?«, fragte Wela.
Awin zuckte mit den Achseln. »Eine Stadt eben, Häuser, hohe Mauern, eng.«
»Und die Bewohner? Du hast doch sicher einige Akkesch gesehen? Was sind das für Menschen, wie sehen sie aus, welche Kleidung tragen sie?«
»Eigentlich habe ich nur Krieger gesehen. Und die trugen Rüstung, Speer und Schild.«
»Und die Frauen?«
»Unter den Kriegern gab es keine«, antwortete Awin zerstreut. Er ging neben ihr zurück zum Lager. Die schweren Wagenräder knarrten.
»Awin, du hast mir einen Bericht versprochen.«
»Wie? Ja, du hast recht. Verzeih, aber können wir das verschieben? Vielleicht magst du auch lieber Curru fragen. Er war inSerkesch. Ich glaube, er hat auch eine Frau erwähnt.«
»Awin Sehersohn, du bist ein Dummkopf«, lautete die Antwort.
Awin blieb verblüfft stehen. Womit hatte er denn das verdient?
Sie schliefen in dieser Nacht nicht, sondern saßen am Feuer und tauschten Geschichten aus, nachdem sie an den Gräbern ihre Opfer gebracht hatten. Es gab viel zu berichten, nur wenig davon war erfreulich, aber sie hatten den Heolin, und Awin zeigte ihn am Feuer. Die Bernsteinfarbe wirkte stumpf, und kein Licht war in ihm. Awin erzählte, wie Merege seine Macht beschworen und die Göttin geschlagen hatte, eine Geschichte, die in einigen wichtigen Punkten von dem abwich, was Curru zuvor erzählt hatte. Wenigstens Wela und Tuge entging das sicher nicht, aber sie schwiegen dazu, während der junge Kolyn mit offenem Mund lauschte. Als der nächste kurze Wintertag anbrach, luden sie die ledernen Häute des Zelts und auch das Holz auf den Wagen. Nachdem alles aufgeladen schien, schlug Tuge noch eine alte, zerschlissene Decke zur Seite, die zusätzlich unter einer dünnen Schicht Erde verborgen gewesen war. In einer kleinen Grube darunter fanden sich Bogen, Schwerter und einige große bronzene Gefäße.
Curru konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich dachte mir schon, dass ihr euch nicht nur wegen des Holzes auf den weiten Weg gemacht habt.«
»Es schien mir zu gefährlich, alles Wertvolle auf einmal mitzunehmen. Es gibt nicht nur Wölfe in der Steppe, Curru. Es ist Winter, Kriegszeit, und bei den Schwarzen Bergen sind Fremde gesehen worden.«
»Dann sollten wir die Bogen tragen und nicht verstecken«, meinte Eri, und sie folgten diesem Vorschlag.
Sie verließen die Spur der Verwüstung, die Xlifara Slahan durch die Steppe gezogen hatte. Awin war darüber froh und gleichzeitig beunruhigt. Immer wieder hatte Slahan auf ihrem Weg die blutleeren Leichen ihrer Opfer zurückgelassen. Er war erleichtert, das nicht mehr sehen zu müssen, aber er fürchtete auch die Ungewissheit, war es doch möglich, dass nun auch Männer, Frauen oder Kinder seines Klans unter diesen Opfern waren. Slahan war weitergezogen in Richtung der Schwarzen Berge, die in der Ferne in den Himmel ragten, ihr eigener Weg führte sie aber zunächst nach Osten. Mit dem Wagen würden sie fast drei Tage zum Sichelsee brauchen.
»Die Spur der Göttin ist kaum zu verfehlen, Seher«, meinte Tuge, als Awin mit ihm darüber sprach, dass er Slahan verfolgen wollte. »Du wirst sie leicht wieder aufnehmen können. Doch solltest du auf den Gedanken kommen, sie allein zu verfolgen, muss ich dir abraten, auch wenn du den Lichtstein hast. Srorlendh ist voller Gefahren, und wer einen Sturm jagt, kann auch durch einen Wolf, einen Räuber oder auch nur einen dummen Sturz vom Pferd ums Leben kommen.«
»Du hast recht, Tuge. Doch wen soll ich mitnehmen, wenn ich Gregil und die anderen Frauen und Kinder nicht schutzlos zurücklassen will? Etwa den jungen Kolyn?«
»Ein tapferer Junge, doch hatte ich eher die Männer anderer Klans im Sinn. Wir sind, wie schon gesagt, nicht die Einzigen, die am Sichelsee Zuflucht suchen. Aber natürlich weiß ich nicht, ob sie gewillt sind, dir oder uns zu folgen. Es sind Hakul, und sie gehorchen kaum ihren eigenen Anführern.«
Awin dachte nach, dann nickte er. »Ich werde sie überzeugen, so wie es einst Etys gemacht hat, mit dem Lichtstein in der Hand. Dem Heolin werden sie sich nicht widersetzen.«
Merege hatte diese Bemerkung gehört. Sie sprach Awin etwas später, als sie beide dem Wagen ein Stück vorausritten, darauf an.
»Du willst der Göttin nachjagen?«
Awin war stillschweigend davon ausgegangen, dass Merege ihn begleiten würde. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sie vielleicht hätte fragen sollen. »Sie hat meine Schwester, viele aus meinem Klan und noch mehr Menschen aus meinem Stamm entführt. Du verstehst sicher, dass ich ihr folgen muss.«
»Und du willst den Heolin mitnehmen«, stellte die Kariwa kühl fest.
»Ich sehe keine andere Möglichkeit, Merege«, antwortete er.
»Du weißt, dass dieser Stein nicht euch gehört.«
»Er gehört uns seit Jahrhunderten!«, widersprach Awin heftig. »Du siehst doch, was geschieht, wenn wir seinen Schutz nicht haben.«
»Ich sehe, was geschieht, wenn ihr ihn habt«, lautete die trockene Antwort. »Sein Zauber beschützt euch nicht mehr, oder?«
»Das ist noch nicht erwiesen«, entgegnete Awin scharf.
Mereges Augen blieben ruhig. »Er gehört meinem Volk. Ihr habt ihn bloß gestohlen.«
Awin zuckte zusammen. »Das ist nur eine eurer Geschichten«, entgegnete er wütend.
Die Kariwa ließ sich von seinem Zorn nicht beeindrucken. »Ich habe dir gesagt, Awin, dass ich ihn dir überlassen werde, vorerst, bis du mit Senis darüber gesprochen hast, was geschehen soll. Doch du sprichst nicht mit Senis.«
Awin schwieg. Damit berührte sie einen wunden Punkt. Seit dem Kampf in Uos Mund hatte er keine Gesichte mehr gehabt. Er hatte am Rotwasser und auch danach wiederholt versucht, auf die Reise zu gehen, doch war ihm das, sehr zu Currus Befriedigung, nicht gelungen.
»Ich hoffe sehr, junger Seher, dass du nicht versuchst, mich hinzuhalten.«
Awin starrte die Kariwa mit offenem Mund an. »Was denkst du nur von mir? Ich stehe in deiner Schuld, und ich verspreche dir, dass ich dir diesen Stein geben werde, sobald wir ihn nicht mehr brauchen.«
Merege sah ihn mit ihren blassblauen Augen nachdenklich an. »Ich vertraue dir, doch nicht deinen Stammesbrüdern, Awin.« Und bei diesen Worten gab sie ihrem Pferd die Fersen und galoppierte ein Stück voraus.
Awin sah ihr sprachlos hinterher. Sie besaß die Gabe, ihn zu treffen, und zwar immer so, dass es schmerzte, vor allem wenn sie, wie jetzt, recht hatte. Er selbst würde sein Versprechen unter allen Umständen halten, das wusste er, aber jeder andere Hakul würde den Heolin einer Fremden nur über seine Leiche überlassen, oder lieber noch über ihre.
Wela schloss zu Awin auf. »Diese bleiche Ziege ist also die Zauberin, von der Mabak berichtet hat«, begann sie.
Awin starrte sie mit offenem Mund an.
»Ich habe gehört, sie kann Bogen und Schwerter mit bloßen Händen zerbrechen.«
Awin schüttelte den Kopf und beschloss, nicht auf die Bemerkung mit der Ziege einzugehen. »Dein Vater sagte, es ist ihr Schwert, Wela. Die Schmiede der Kariwa scheinen es bei großer Hitze zu schmieden, in einem Feuer, das aus der Erde aufsteigt. Es ist härter als jede unserer Klingen, dabei leicht und schmal, nicht so plump wie die Eisenschwerter der Akkesch. Tuwin war sehr beeindruckt. Vielleicht zeigt sie es dir, wenn du sie darum bittest.«
»Also ist sie keine Hexe, wie Curru erzählt?«
»Seit wann glaubst du, was Curru sagt?«, entgegnete Awin verdrossen.
»Seit ich sehe, mit welchen Augen du der Schlange hinterherstarrst.«
»Eben war sie noch eine Ziege«, versuchte Awin, das Gespräch mit mildem Spott in eine etwas harmlosere Richtung zu lenken.
»Eben! Sie kann viele Gestalten annehmen, scheint mir. Du darfst ihr nicht trauen!«
Jetzt war es an Awin, sich wirklich zu ärgern. »Sie hat mir das Leben gerettet, und Eri und Curru übrigens auch, auch wenn die beiden das nicht wahrhaben wollen.«
Wela schwieg einen Augenblick. »Curru sagt, sie habe Slahan nur vertrieben, nicht vernichtet.«
»Das ist wahr«, gab Awin zu.
»Curru sagt auch, dass es ihre - und übrigens auch deine - Schuld ist, wenn die Gefallene Göttin nun hier ihre blutige Rache übt.«
»Unsere Schuld?«, fragte Awin fassungslos. Curru hatte schon in den vergangenen Tagen immer wieder Geschick darin bewiesen, die Geschichte so hinzubiegen, wie sie ihm gerade passte. Awin hatte bislang nicht viel darauf gegeben. Doch wenn er jetzt begann, seine verdrehte Darstellung der Ereignisse auch anderen zu erzählen, konnte er das nicht mehr auf sich beruhen lassen.
Wela nickte. »Curru sagt auch, dass er mit Freuden gestorben wäre, wenn er gewusst hätte, was euer Sieg für Folgen haben würde.«
Awin griff Wela in die Zügel und hielt ihre beiden Pferde an. Dann sagte er mit gezwungener Ruhe: »Nicht wir haben Slahan geweckt, es war der verfluchte Fremde, der den Heolin geraubt und zu ihr getragen hat, und glaube mir, Wela, Tuwins Tochter, ich würde immer noch gern mein Leben geben, um dieses Verhängnis aufzuhalten, und ich hoffe sehr, dass dann die Kariwa in meiner Nähe ist, um mir zu helfen, denn da ist sie nützlicher als ein Dutzend Hakul.«
Er hatte den letzten Halbsatz noch nicht gesagt, da bereute er ihn schon, denn er konnte sehen, dass es Wela hart traf, dass er die Kariwa offensichtlich seinen Stammesgefährten vorzog.
»Dann ist es ja gut«, antwortete sie bitter, riss ihm die Zügel aus der Hand und ritt zurück zum Wagen. Awin hätte sich gern auf die Zunge gebissen. Irgendwie schienen alle Worte seinen Mund anders zu verlassen, als er sie sich gedacht hatte. Für den Rest des Tages sprach er mit niemandem mehr als das Notwendigste.
Die Kälte wollte auch am nächsten Tag nicht weichen. Die Hakul kannten den Winter als ausdauernden Gast, der mehrere Monde lang über die Weiden verfügte. Meist kam er mit strengem Nachtfrost, war jedoch an den Tagen milder gestimmt, er brachte Schnee und wärmte das Staubland mit dieser schützenden Decke. Tagsüber verließ der Gott des Frostes das Land sogar oft und kam erst in der Nacht zurück. Doch dieser Winter war anders. Der fremde Nordwind hatte Srorlendh auch bei Tage fest im Griff. Das Gras war weiß von seinem kalten Atem, und selbst Merege schien gelegentlich zu frösteln. Sie kamen mit dem schweren Wagen nur langsam voran, und so fand sich Zeit für das eine oder andere Gespräch. Awin war an Tuges Bericht vom Überfall Slahans etwas aufgefallen, was er nun genauer wissen wollte. »Sag, Tuge«, begann er, »als Slahan in das Wintertal kam, da meintest du, ihre Windskrole hätten sie angekündigt.«
Der Bogner nickte.
»Und wenn ich mich nicht irre, waren Nyet, Skefer, Dauwe und auch Seweti die Tänzerin dort, aber ich kann mich nicht erinnern, dass du Isparra erwähnt hättest.«
»Isparra die Zerstörerin«, murmelte der Bogner nachdenklich. Dann erwiderte er: »Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Sie war nicht dort, vielleicht habe ich sie auch nur nicht bemerkt. Es sind Winde, schwer zu fassen, und als sie das Lager angriffen, hatte ich wahrlich andere Sorgen. Warum fragst du nach ihr, Awin?«
»Sie hat uns geholfen in Uos Mund. Und ich glaube, Slahan weiß es und hat sie dafür bestraft, vielleicht sogar getötet.«
»Kann man einen Wind töten?«, fragte Tuge nachdenklich.
Aber das wusste Awin auch nicht.
Gegen Abend wurden sie von einem großen Wolfsrudel entdeckt, das ihnen in einigem Abstand folgte und nachts das Lager umschlich. Es blieb ihnen auch am nächsten Tag auf den Fersen, hielt sich jedoch außer Bogenreichweite. Sie ritten nun dichter beisammen und hielten die Bögen in den klammen Fingern bereit.
»Sie sind noch nicht hungrig genug, um uns anzugreifen«, meinte Tuge am Abend, als sie das Feuer entfachten, »nicht, solange wir zusammenbleiben.«
»Es sind doch nur Wölfe«, bemerkte Merege mit einem Achselzucken, »und sie sind viel kleiner als die, die es in meiner Heimat gibt.«
»Dennoch haben sie scharfe Zähne«, brummte Tuge, beinahe beleidigt.
Aber auch in der folgenden Nacht hielten die Wölfe Abstand. Am Nachmittag des nächsten Tages erhoben sich schließlich zwei einsame Felsnadeln aus der weißen Ebene, ein Zeichen, dass sie sich dem Sichelsee näherten. Awin entdeckte vermummte Gestalten, die auf den Felsen dem eisigen Wind trotzten und das weite Land beobachteten. Vermutlich hielten sie Ausschau nach dem Sturm - oder auch nach anderen Feinden. Die Wölfe waren plötzlich verschwunden, und sie schickten Kolyn voraus, ihre Ankunft anzukündigen. Dann sahen sie den Rauch der Lagerfeuer. Awin war erst einmal, vor vielen Jahren, an diesem See gewesen. Er galt als heiliger Ort. Die Alten erzählten, er sei entstanden, weil Hirth, die Hüterin der Herden und Weiden, einst ihre große Sichel dort abgelegt habe. Und als sie sie wieder aufhob, um das hohe Gras zu mähen, sei ein tiefer Abdruck zurückgeblieben, der sich mit Wasser gefüllt habe. Die geschwungene Form des Sees, in den sich eine Halbinsel weit hineinschob, erinnerte Awin wirklich an eine stark gekrümmte Sichel. Es war ein stiller Ort, und im unergründlichen Wasser des Sees spiegelte sich der Himmel auf eine Weise, die die Abbildung beinahe erhabener erscheinen ließ als das Vorbild. Von dieser Erhabenheit hatte die Not wenig übrig gelassen. Rauch stieg zwischen zahlreichen Hakul-Zelten auf, die sich auf der Halbinsel drängten.
»Sagtest du nicht, es seien nur einige Hakul hier?«, fragte Awin Wela verwundert.
»So war es auch, als wir aufbrachen. Doch jetzt sind es dreioder viermal so viele, wie mir scheint. Ich hoffe, wir finden noch Platz für ein weiteres Zelt. Sonst müssen wir sehen, wie wir euch drei noch unterbringen.«
»Vier«, verbesserte Awin, aber Wela schwieg dazu.
Am Hals der Halbinsel waren Wagen zu einem notdürftigen Schutzwall zusammengeschoben worden, und davor machten sich einige Männer am gefrorenen Boden zu schaffen. Awin erkannte, dass sie mit behelfsmäßigem Werkzeug einen Graben aushoben. Ein schwarzbärtiger Mann schien die Arbeit zu beaufsichtigen. Er trat ihnen entgegen und warf einen Blick in ihren Wagen. »Sehr gut«, sagte er zufrieden, »ihr bringt Feuerholz. Das können wir gebrauchen.«
»Es ist unser Feuerholz, Yaman Uredh, und wir werden sehen, ob wir etwas davon entbehren können«, entgegnete Tuge.
»Ich hoffe, du erstickst an deinem Geiz, Hakul«, zischte der Yaman wütend.
»Lieber ersticke ich am Geiz, als dir zuliebe zu erfrieren, Hakul«, antwortete Tuge ruhig.
»Ich sehe, ihr seid ein Volk, das in der Not zusammenhält«, spottete Merege, als sie dem Wagen auf die Halbinsel folgten.
»Wir werden niemanden von unserem Stamm erfrieren lassen«, stellte Awin klar, »aber es gefällt uns nicht, wenn ein anderer unser Hab und Gut einfach als das Seine ansieht.«
»Und was ist mit mir? Ich gehöre nicht zu deinem Stamm. Und wenn ich in diese Gesichter hier sehe, fühle ich mich nicht sehr willkommen.«
Auch Awin konnte aus den Mienen der Hakul tief verwurzeltes Misstrauen lesen, als sie die Kariwa bemerkten. Hakul mochten Fremde nicht besonders. »Du gehörst zu unserem Sger, damit stehst du auch unter unserem Schutz. Oder hat dich jemand aufgehalten, als du dieses Lager betreten wolltest?«
»Und doch scheint sich niemand zu freuen, dass unser Sger hier angekommen ist«, meinte Merege trocken.
Awin blickte sich um. Die Kariwa hatte gut beobachtet. Die wenigen Hakul, die vor den Zelten waren, musterten die Neuankömmlinge neugierig, aber auch ablehnend. Der Sichelsee war eine Zufluchtsstätte, die allen offen stand, aber viele Hakul schienen sich die Frage zu stellen, ob sie noch mehr Flüchtlinge willkommen heißen sollten. Schon jetzt standen die Rundzelte dicht beisammen, und Schafe und Ziegen drängten sich dazwischen. Es brannten Opferfeuer, und Awin sah auch einige Schalen, in denen Wasser gefroren war. Natürlich, sie hatten Wasseropfer gebracht, um Slahan zu besänftigen. Er glaubte nicht, dass das noch helfen würde. Der sonst übliche Auflauf, mit dem die Rückkehr eines Sgers oder die Ankunft eines Fremden begrüßt wurde, blieb aus. Männer, Frauen, Kinder standen im Morast, der sich unter dem Tritt der vielen Stiefel und Hufe gebildet hatte, und starrten die Neuankömmlinge mit verschränkten Armen an. Dann sah Awin das Yamanszelt. Gregil stand davor, einige Kinder waren bei ihr. Awin hielt sein Pferd an. Eri ritt langsam an ihm vorüber. Seine Mutter musterte ihren tot geglaubten Sohn stumm, mit schneeweißem Gesicht. Er hielt sein Pferd neben ihr an und nickte ihr zu. Sie erwiderte den Gruß knapp, eine Yamani, zu stolz, ihre Gefühle zu zeigen. Eri sprang ab, ging an ihr vorüber und verschwand im Zelt. Sie folgte ihm wortlos. Kolyn wollte hinterher, doch Tuge hielt ihn am Kragen fest. »Glaube mir, mein Junge, es ist besser, wir lassen die beiden erst einmal eine Weile allein. Wir haben doch noch ein zweites Zelt aufgeschlagen, in dem wir uns aufwärmen können.«
Zwei Zelte? Ein Dutzend waren es noch im Sommer gewesen, die vielen Nebenzelte nicht mitgerechnet - und nun fanden alle Hakul vom Klan der Schwarzen Berge Platz in zwei Zelten? Awin wurde wieder schmerzhaft bewusst, wie viel sie verloren hatten.
»Bist du das, junger Seher?«, fragte Telia, als Awin das wärmende Zelt betrat. Telia war die Mutter des dicken Bale, die bei weitem älteste Frau des Klans, mit einem Gesicht, das nur aus Runzeln zu bestehen schien. Awin beantwortete ihre Frage mit einem Nicken.
»Mein Urenkel Mabak hat mir viel von dir erzählt. Und ich habe von dir geträumt, letzte Nacht.«
»Von mir?«, fragte Awin überrascht.
»Von dir und einem Mädchen mit weißer Haut. Ihr habt ein mächtiges Tor aufgestoßen. Und dann habt ihr die Welt in Brand gesetzt.« Sie sah ihn bei dieser Bemerkung scharf an. Dann fiel ihr das Kinn auf die Brust, und sie war eingeschlafen. Awin wusste nicht, was er davon zu halten hatte. Er schüttelte den Kopf. Vermutlich bedeutete es gar nichts. Wahrscheinlich hatte Mabak, ihr Urenkel, von Merege erzählt, dem Mädchen mit der hellen Haut. So musste es sein. Gesehen haben konnte sie die Kariwa nicht, denn Merege war draußen bei den Pferden geblieben.
»Was für ein Tor meint sie?«, fragte Wela, die zugehört hatte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Awin. »Wahrscheinlich hat sie von dem Tor in Serkesch gehört. Mabak könnte ihr davon erzählt haben.« Awin redete sich ein, dass es so sein musste, aber er war ein Seher und wusste auch, dass Tengwil den Sterblichen manchmal Botschaften in Träumen sandte. So ein Traum war es ja auch gewesen, der ihn und seine Klanbrüder nach Serkesch geführt hatte. Dennoch, warum sollte Tengwil ausgerechnet der alten Telia vom großen Daimonentor am Rande der Welt erzählen? Warum ihr, warum nicht ihm?
Awin wurde abgelenkt, denn die Kinder waren ihm und den anderen in das Zelt gefolgt, und sie hatten viele Fragen zu den Wundern der Fremde. Es waren sieben, Mädchen und Jungen, die lachten, wenn Awin immer wieder darüber staunte, wie groß sie seit seinem Aufbruch geworden waren. Er lachte mit, denn er wollte gar nicht daran denken, was mit den anderen geschehen war. Auch in den Augen dieser sieben sah er noch den Schrecken Slahans. Ihm gegenüber waren sie offen, vor Merege jedoch, die endlich das Zelt betrat, wichen sie scheu zurück. Die Kariwa nahm es mit dem ihr eigenen Gleichmut hin. Bald darauf erschien ein fremder Hakul im Zelt. »Ich suche die Männer, die den Lichtstein zurückgebracht haben.«
»Das sind wir«, erklärte Curru heiser. Er hatte die ganze Zeit still in einem Winkel des Zeltes gesessen und sich nicht auf die Fragen der Kinder eingelassen. Seit er erfahren hatte, dass Egwa tot war, schien er um Jahre gealtert.
»Yaman Uredh vom Klan der Schwarzen Faust und Yaman Brediak vom Schwarzen Horn rufen euch zu Strydhs Felsen. Zu Beginn der Dämmerung wollen wir beraten. Es gibt viele Fragen, vor allem an euch, Männer der Berge.«
»Und die können sie nicht im warmen Inneren eines Zeltes stellen?«, fragte Curru ungehalten.
»Ich glaube nicht, dass irgendein Zelt die vielen Männer fassen könnte, die hören wollen, was ihr zu berichten habt«, antwortete der Hakul und fuhr fort: »Und die vor allem beraten wollen, was nun mit dem Stein zu geschehen hat.«
Als der Mann gegangen war, erhob sich Curru mit finsterer Miene. »Überlasst mir das Reden. Der Heolin ist in unsere Obhut gegeben worden. Wir werden über ihn entscheiden, und kein Yaman eines anderen Klans soll sich dabei einmischen.«
Awin warf einen schnellen Seitenblick zu Merege, die auf einem Kissen saß und einen heißen Kräutersud trank. Beinahe schien es, als würde sie nicht auf das achten, was um sie herum vorging, aber ihre blassblauen Augen hatten sich doch ein wenig verengt. Awin fragte sich, was sie tun würde, wenn Curru versuchen sollte, den Lichtstein an sich zu bringen. Erneut wurde die Abdeckung des Eingangs zurückgeschlagen. Gregil und Eri betraten das Zelt. »Ihr habt gehört, dass die Yamane zur Beratung rufen?«, fragte die Yamani.
»Wir haben es gehört«, antwortete Tuge.
»Ich denke, wir sollten uns zuvor einig sein, wie wir die Schwäche unseres Klans mindern wollen«, erklärte Gregil.
»Dieser Klan braucht einen neuen Yaman«, fügte Eri hinzu.
»Eri hat recht«, pflichtete Curru ihm schnell bei. »Eine Sippe ohne Oberhaupt wird in den Augen der anderen Klans wenig Anerkennung finden. Ich habe nicht vor, mir von einem Uredh oder Brediak sagen zu lassen, was wir zu tun haben. Lasst uns Eri auf den Schild heben, besser heute als morgen. Dann haben wir die Führung, die wir brauchen.«
Awin starrte in die Flamme des kleinen Feuers, das das Zelt wärmte. Curru hatte recht: Die Yamane würden wahrscheinlich versuchen, den Heolin an sich zu bringen, und es war völlig unklar, was sie mit dem Lichtstein vorhatten. Dennoch hielt er Eri einfach nicht für geeignet, Yaman zu werden. Er war zu jung, jünger als er selbst. Seit den Ereignissen in Uos Mund schien er zwar gereift, aber er war immer noch sprunghaft und unberechenbar - Eri eben. Awin wusste aber auch, dass es keinen anderen Anwärter gab. »Ich hörte«, begann er also vorsichtig,
1. Auflage
Originalausgabe August 2010 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2010 by Torsten Fink
Umschlaggestaltung: HildenDesign München Lektorat: Simone Heller HK · Herstellung: sam
eISBN : 978-3-641-04862-4
www.blanvalet.de
Leseprobe

www.randomhouse.de