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Ein amerikanischer Verleger verschwindet in London. Sein Freund – niemand Geringeres als der erfolgreiche Schriftsteller Rudyard Kipling – wendet sich Hilfe suchend an Enola. Er befürchtet, dass konkurrierende Verleger aus den USA ihre Finger im Spiel haben. Doch gerade, als er Enola auf den Fall neugierig gemacht hat, entreißt er ihr ihn wieder. Er will das Ganze keiner jungen Frau anvertrauen und bittet ausgerechnet Sherlock Holmes den Fall zu übernehmen. Das lässt sich Enola nicht gefallen! Schon gar nicht von ihrem Bruder! Fest entschlossen, die Wahrheit hinter dem Verschwinden des jungen Amerikaners zu erfahren, fängt sie an auf eigene Faust zu ermitteln. Sie begibt sich in die Verlagswelt, die gefährlicher ist als erwartet, und stößt dabei auf eine mysteriöse Bruderschaft. Kann sie den Verschwundenen noch rechtzeitig aufspüren und unversehrt zu seinen Freunden und seiner Familie zurückbringen ...? Der Film Enola Holmes mit Millie Bobby Brown, Henry Cavill und Helena Bonham Carter war 2020 einer der erfolgreichsten Filme auf Netflix. Auch die Fortsetzung gehörte 2022 zu den meistgestreamten Filmen!
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2024
NANCY SPRINGER
ENOLA HOLMES
EIN ENOLA-HOLMES-KRIMI
Aus dem Amerikanischen vonNadine Mannchen
Für all die Schriftsteller*innen,die mich inspiriert haben.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Anmerkungen der Autorin
»Seit Neuestem nennt er mich ›Cotswold‹«, berichtete ein lächelnder Wolcott Balestier seiner Schwester, während sie gemeinsam vor dem Kamin ihren Tee zu sich nahmen.
»Dann mag er dich.« Caroline Balestier erwiderte das Lächeln nicht ganz so herzig – ihr Bruder verfügte über ein offeneres, liebevolleres Temperament als sie. Hier waren sie nun also, eine Amerikanerin und ein Amerikaner in London, England, weil seine törichten idealistischen Überzeugungen ihn hierhergeführt hatten – und in der Tat hatte dies zwangsläufig bedeutet, dass sie ebenfalls hier gelandet war. Der Überzeugung der Gesellschaft nach war es unerlässlich, dass jeder Gentleman eine Frau an seiner Seite hatte (ob Mutter, Schwester, Gattin, spielte keine Rolle), die sich »seiner annahm«.
»Carrie? Was hast du?«, fragte er mit seiner freundlichen Stimme, und sie musste sich eingestehen, dass sie wohl ein recht finsteres Gesicht gezogen hatte.
»Ach, nichts weiter. Nicht der Rede wert.« Im Geiste schüttelte sie sich selbst, lächelte aber und nahm sich einen Scone. »Dann läuft die Zusammenarbeit mit ihm gut?«
»Nahezu besser, als ich glauben kann. Er hat vorgeschlagen, dass wir gemeinsam einen Roman verfassen – das war noch nie da! Er schreibt alle anderen mühelos an die Wand. Er schreibt mich an die Wand!« So ernst, dass er sogar das Essen vergaß, beugte Wolcott sich zu ihr. »Er ist wirklich und wahrhaftig ein Genie im Umgang mit Worten, Carrie. In meinen zehn Jahren im Verlagsgeschäft habe ich nie auch nur zu hoffen gewagt, einen Mann mit einer derart außergewöhnlichen literarischen Begabung kennenzulernen.«
»Was macht ihn so außergewöhnlich?«, fragte Carrie, betont gleichgültig, um ihre eigenen tief empfundenen Gefühle zu verbergen.
Inzwischen hatte sie besagtes Genie ein paarmal getroffen, dabei hätte ein einziges Mal schon genügt. Ein muskulöser Mann war er, der vor Leben nur so strotzte, und damit das genaue Gegenteil ihres sanftmütigen, schmächtigen Bruders, sodass die beiden ein wirklich seltsames Paar abgaben.
Carrie konnte sich nur wundern, wenn sie an Wolcotts Freund dachte: Wie direkt, wie unwiderstehlich intensiv er war, wie geistreich und mitreißend er von seinen vielen Abenteuern berichtete, wie sehr er sich begeistern und wie sehr er bisweilen auch verzweifeln konnte (man munkelte sogar, er habe vor nicht allzu langer Zeit einen Nervenzusammenbruch erlitten!), seine Gefühlsausbrüche … Dies war ein Mann, der wahrhaftig eine starke Frau an seiner Seite brauchte, die sich seiner annahm! Sie hatte bereits beschlossen, ihn zu heiraten.
Wolcott, der nachdenklich in seinem Tee rührte, war ihr die Antwort schuldig geblieben. »Cotswold?«, riss sie ihn neckisch aus seinen Gedanken.
Als er aufblickte, lag ein erfahrener Ausdruck in seinen Augen, den man einem jungen Mann Mitte zwanzig noch lange nicht zugetraut hätte. »Es liegt an seinen Leidenschaften – oder besser: an seinen Überzeugungen«, sagte Wolcott. »Schreiben können viele, doch die wenigsten haben eine solche Seelenkraft. Moment, Carrie.« Mit schlanken Fingern durchforstete er die Taschen seiner Weste. »Ich habe ihm über die Schulter gesehen, als er das hier verfasste, und es hat mich so beeindruckt, dass ich es abgeschrieben habe. Hier, bitte.« Er reichte ihr ein mehrfach gefaltetes Blatt Papier. »Lies.«
Sie las. Es begann mitten im Satz: »… die nüchterne Liebe, die zwischen Männern erwächst, die sich gemeinsam geplagt haben und durch die Innigkeit dieser Mühsal zum Gespann wurden. Dies ist eine gute Art von Liebe, und da sie Konflikte, Vorwürfe und brutale Ehrlichkeit nicht nur erlaubt, sondern vielmehr sogar dazu ermutigt, stirbt sie nicht, sondern wächst und wird nicht beeinträchtigt durch …«
Im Gegensatz zu der nicht ganz so nüchternen Liebe zwischen einem Mann und einer Frau?
Nachdem Carrie dies gelesen hatte, blickte sie mit einem düsteren Gefühl auf, von dem sie sich jedoch nicht überwältigen lassen würde. Alles war möglich und konnte vollbracht werden. Betont gelassen sagte sie: »Von so etwas habe ich noch nie gehört.«
Wolcott schenkte ihr ein zurückhaltendes, schiefes Lächeln. »Du und die meisten Menschen, wie ich vermute. Doch Ruddy ist anders.«
Mit weiterhin perfekt kontrolliertem Tonfall fragte Carrie: »Glaubst du, das ist es, was er bei dir sucht? Die nüchterne Liebe zwischen Männern, die sich gemeinsam abmühen? Bittet er dich deshalb, mit ihm ein Buch zu schreiben?«
»Durchaus möglich«, antwortete Wolcott.
Die Haustür öffnete sich so plötzlich und schwungvoll, dass ich heftig zusammenzuckte und die Kegelschnitte ruinierte, die ich gerade so sorgfältig für meinen Geometrieunterricht zeichnete. Verärgert blickte ich zu Joddy, meinem Pagen, der sich beeilte, dem unverhofften Besucher sein Tablett entgegenzustrecken, um dessen Visitenkarte entgegenzunehmen. Doch der Mann schob sich an ihm vorbei und schritt geradewegs an meinen Schreibtisch, was in meinem Kopf einen eigenartigen, plissierenden Effekt hatte, als würde die Zeit gefaltet und verdichtet. Immerhin war es kein Jahr her, dass ich mit meinen beiden viel älteren Brüdern, Sherlock und Mycroft Holmes, Frieden geschlossen hatte, während ich zuvor auf der Flucht vor ihnen gewesen war, verängstigt und stets in Verkleidung. Obwohl ich inzwischen ganz mein jugendliches Selbst sein konnte und in einem maßgeschneiderten Leinenkostüm mit einem kurzen Rock steckte, der knapp unterhalb meiner Knöchel endete – obwohl es mir also freistand, die lebensechte, sehr moderne Enola Holmes des Mais 1890 zu sein, verwundert es kaum, dass ich plötzlich wieder in die Rolle der mit Rüschen aufgehübschten und dienstbeflissenen Ivy Meshle verfiel, die im Empfangsraum des großen Dr. Ragostin ihre Arbeit verrichtete. Immerhin prangte am Vorderfenster noch immer der Schriftzug: Dr. Leslie Ragostin, Wissenschaftlicher Perditor. (Eine beeindruckende Art auszudrücken, dass der völlig frei erfundene Doktor, meine »Tarnung«, sich dem Aufspüren vermisster Personen verschrieben hatte.)
»Wo ist Ragostin?«, schnauzte mein Besucher, der mir sein Kinngrübchen entgegenreckte, über dem ich vor allem eine beträchtliche Menge von dunkelbraunem Schnauzbart, buschige Augenbrauen und eine Brille mit dicken Gläsern ausmachte. Er konnte nicht älter sein als fünfundzwanzig, gekleidet wie ein Gentleman, jedoch gänzlich ohne die Manieren eines solchen.
Entfernt kam er mir bekannt vor, wie jemand, den man aus der Zeitung kennt, und er war auf eindrucksvolle Art gut aussehend … Aus irgendeinem Grund brachte er mich gehörig aus dem Gleichgewicht, sodass ich doch tatsächlich kleinlaut à la Meshle antwortete: »Dr. Ragostin ist nicht da, doch ich bin befugt, Ihnen an seiner Stelle weiterzuhelfen. Bitte nehmen Sie Platz.«
Tat er nicht, stattdessen ragte er weiter über mir auf, wobei sein Bart seinen Mund vollkommen versteckte, abgesehen vom winzigen Zentrum seiner Unterlippe. Ich fragte mich, wie er es mit diesem Kekswedel schaffte zu essen. Laut sagte er: »Ragostin muss Wolcott Balestier finden!«
Mit dem Stift in der Hand bemühte ich mich mitzuschreiben. »Wären Sie wohl so freundlich, das zu buchstab–?«
»Er könnte einer Intrige zum Opfer gefallen sein! Scotland Yard habe ich bereits verständigt, doch dort schenkte mir niemand Gehör!«
Ich versuchte es noch einmal. »Könnten Sie bitte –?«
»Diese ungeziefergleichen Piraten haben ihn!«
Als ich das hörte, gingen mir prompt die Augen über. »Piraten?« In meinem Geist flatterte eine schwarze Totenkopfflagge im Wind.
»Elende, heimtückische Feiglinge! Wehe ihnen, sollten sie meinem Busenfreund Cotswold etwas zuleide tun!«
»Wer?«, wollte ich wissen und meinte damit die absolut faszinierenden Piraten, seefahrende Plünderer mit einem höhnischen, vom Säbel malerisch verunstalteten Grinsen.
»Mein Kamerad! Mein Kumpel! Der beste Freund, den ein Mann je hatte! Wolcott Balestier!«
Schöner Mist. Wir waren also wieder am Anfang. »Würden Sie mir bitte den Namen buchstabieren?«
Endlich, noch dazu sehr laut, tat er mir den Gefallen. Ich notierte ihn oberhalb meines ruinierten Kegelschnitts.
»Wo ist Ragostin?«, wollte er wissen. »Man hat mir gesagt, er sei ein Spezialist!«
»Ich bin befugt, alles Nötige in die Wege zu leiten«, beruhigte ich ihn. Eigentlich hatte sich »Dr. Ragostin«, der nichts weiter als mein kreatives Hirngespinst war, schon im Juli des vorigen Jahres zur Ruhe gesetzt, weil ich ihn nicht länger nötig hatte, um mich vor Mycroft und Sherlock zu schützen, die sich so dringend in mein Leben hatten einmischen wollen. Nun, da ich mich mit beiden gut gestellt hatte, widmete ich mich einem Studium und hatte mein erstes Jahr an der Akademie für Frauen beinahe abgeschlossen. Konfrontiert mit diesem lauten und vehementen Besucher, hätte ich Dr. Ragostin also weiter seinen Ruhestand genießen lassen sollen. Doch etwas an der Vorstellung von Piraten ließ mich nicht los – könnte das vermisste Opfer etwa über die Planke geschickt worden sein? Ich war gefesselt. »In welcher Beziehung steht Mr Balestier zu Ihnen?«
»Er ist ein Freund!«
»Und seine Adresse?«
Er lieferte mir nur eine Teilantwort. »Maiden Lane! Wo steckt nun Dr. Ragostin, dieser verdammte Scharlatan!« Mit derart vulgärer Dringlichkeit redete dieser Mann, ja, schrie beinahe: »Er muss Cotswold finden!«
Cotswold war der Name einer Region in England, nahe dem Fluss Severn. Doch offenbar benutzte dieser Pfeffersack von einem Menschen ihn als Spitznamen, denn als er seine tabakbefleckte Hand in seine Weste schob, zog er aus einer versteckten Tasche über seinem Herzen eine kleine Fotografie mit dem Gesicht eines Mannes hervor, nicht älter als er selbst und dennoch in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil. »Cotswold« hatte weder eine borstige Visage noch einen Busch von einem Bart, auch Brille trug er keine. Tatsächlich hatte er eine Haut, so zart wie die einer Dame, sanft geschwungene Brauen über großen, intelligenten Augen, eine elegante Nase und einen breiten, aber feinsinnigen Mund, der kaum wahrnehmbar lächelte. Als ich nach dem Bild griff, fielen mir Cotswolds makelloser Kragen, die ordentliche Frisur, die spitz zulaufenden Ohren, das bescheidene, aber ausreichend markante Kinn auf. Doch mein ungestümer Besucher überließ mir die Fotografie nicht – er entriss sie mir und steckte sie zurück in die Westentasche.
»Ich will mit Ragostin sprechen!«, forderte er erneut.
Bezwingend entgegnete ich: »Ich werde ihm ausrichten, da–«
»Ich werde verflucht noch mal selbst mit ihm reden!« Vorbei an meinem Schreibtisch, stürmte er zur Flügeltür des eigentlichen Büros. Zuerst hämmerte der stürmische junge Mann mit den Fäusten dagegen, bevor er versuchte, sie aufzureißen, und feststellen musste, dass sie verriegelt war.
Um zu sehen, ob er als Nächstes versuchen würde, sie aufzubrechen, musste ich gezwungenermaßen aufstehen und mich umdrehen. »Dahinter befindet sich lediglich ein leerer Raum«, versicherte ich ihm, noch immer geduldig, denn obwohl ich eigentlich eine Auszeit nahm von meiner Berufung, vermisste Personen und Dinge aufzuspüren, hatte dieser Fall doch mein Interesse geweckt. »Wenn Sie mir nun Ihren Namen verraten würden –«
»Ganz gewiss nicht!« Mit geballten Fäusten wirbelte er zu mir herum und starrte mich finster an. »Entweder ich spreche mit dem Experten persönlich oder gar nicht!«
Das traf einen Nerv – um meine Geduld war es geschehen. Nun funkelte ich ihn ebenfalls an, und weil ich groß bin, prallten unsere Duellierblicke auf die kurze Distanz in ungefähr gleicher Höhe aufeinander – allerdings wurde seiner zusätzlich betont von der dicken Brille. Leidenschaftlich stellte ich klar: »Ich bin die Expertin! Dr. Leslie Frei Erfunden Ragostin ist nichts als meine absolut unfairerweise notwendige pseudomännliche Identität. Ich bin die wissenschaftliche Perditorin, die findet, was verloren ist! Ich –«
Gerade wollte ich ihm schwören, dass ich seinen Freund aufspüren würde, als er mir mit einem überaus haarsträubenden Fluch das Wort abschnitt. »Sie?«, fuhr er mit irrem Blick brüllend fort. »Sie Straußenhenne mit dem Mundwerk eines Maultiertreibers! Sie dummdreiste Schnepfennase, Sie sind die Dämonin Putana, die Männern das Blut aussaugt und deren Milch Babys vergiftet! Scheren Sie sich fort! Hinweg mit Ihnen!«
Sprachlos stand ich da, den Mund weit aufgerissen, doch ein anderer ergriff das Wort für mich. Eine tapfere Kinderstimme schrillte: »Jetzt hör’n Sie mal, so sprechen Sie aber nich mit Miss Holmes!« Joddy schob seine kleine Gestalt zwischen mich und den rasenden Besucher. Der ihn am Ohr packte, als würde er ihn an diesem zerbrechlichen Körperteil von den Füßen heben wollen!
Joddy brüllte vor Schmerz.
Ich riss meinen Dolch aus meinem Oberteil, richtete die Klinge auf die Kehle des ungehobelten Rüpels und sagte: »Lassen Sie den Jungen los.«
Nun seinerseits sprachlos und Maulaffen feilhaltend, tat er, wie ihm geheißen. Doch schon im nächsten Moment klappte sein Mund fest zu und sein Arm schnellte vor. Seine Finger grabschten nach meinem Handgelenk, um mich zu entwaffnen.
Den Dolch im Anschlag, wich ich aus. Joddy schnappte sich die Polizeipfeife von meinem Schreibtisch und rannte damit zur Haustür, die er weit aufriss, um mit einem schrillen Pfiff Hilfe zu holen.
Gelassen informierte ich unseren Besucher: »Gemäß der Kinder-Charta, die das Parlament letztes Jahr erlassen hat, ist es in England nicht länger erlaubt, Unschuldigen Leid zuzufügen.«
»Törichtes Mädchen, nehmen Sie Ihren Saufänger runter, bevor Sie sich selbst verletzen!«
Stattdessen trat ich einen Schritt zurück, schleuderte den Dolch in die Höhe und fing ihn, als er herunterkam, gekonnt mit der anderen Hand am Griff auf. »Nennen Sie mich nicht ›Mädchen‹«, wies ich den Hitzkopf zurecht. »Vergessen Sie nicht, ich bin diejenige, die Ihren vermissten Kameraden finden wird.«
»Teuflisches Weibsstück!«, stieß er zwischen gefletschten Zähnen hervor, »Tochter eines Ochsen, ich verschwende hier meine Zeit!« Er machte auf dem Absatz kehrt (ein schreckliches und obendrein fragwürdiges Klischee, aber genau das tat er) und marschierte energisch zum Ausgang. Mit einem knappen Nicken gab ich Joddy zu verstehen, dass er ihn gewähren lassen sollte, und wartete, bis der Fremde mit einem Krachen zur Tür hinaus verschwunden war. Dann erst steckte ich meinen Dolch weg.
Um bei der Wahrheit zu bleiben, sollte ich wohl ein leichtes Schwächegefühl in den Knien erwähnen. Zu gern kehrte ich daher an meinen Platz zurück. Joddy kam zu mir, um die Polizeipfeife wieder in die japanische Schale auf meinem Schreibtisch zu legen, in der solcher Krimskrams aufbewahrt war. Dabei warf er mir einen verstohlenen Blick zu.
»Danke, Joddy, für diese bemerkenswerte Ritterlichkeit«, wandte ich mich in einem Tonfall an ihn, der ihm versicherte, dass er richtig gehandelt hatte. »Sollte der Wachtmeister erscheinen, was ich bezweifle, kümmere ich mich darum.«
Nachdem ich aus einer Schublade ein Blatt meines besten Zeichenpapiers geholt hatte, begann ich, aus meiner Erinnerung das Gesicht von Wolcott Balestier zu skizzieren, solange ich die Fotografie noch frisch vor meinem geistigen Auge hatte.
Wieder spürte ich Joddys besorgten Blick auf mir, und ich beschloss, seine unausgesprochene Frage zu beantworten: Was tat ich da?
»Die beste Art von Rache für das ungehobelte Benehmen dieses Raubeins«, sagte ich, »wird es sein, seinen vermissten Freund für ihn zu finden.«
Als am Abend mein Lieblingskutscher eintraf, um mich nach Hause zu fahren, bahnten sich blassgelbe Streifen von Frühlingssonne einen Weg durch den Londoner Nebel, was so hinreißend aussah, dass ich einen Augenblick am Bordstein stehen blieb und dem Pferd die Stirn streichelte. »Hallo, Brownie«, begrüßte ich es, und den Kutscher: »Hatten Sie einen guten Tag, Harold?«
»Lief wie geschmiert, Miss.« Vermutlich sollte das heißen, er hatte gutes Geld verdient. »Gott sei Dank«, erklärte er weiter, »das warme Wetter lockt die Leute für ne Kutschfahrt ins Freie. Und wie lief’s bei Ihnen, Miss Enola?«
»Nicht reibungslos. Ich habe meine Geometriehausaufgabe nicht geschafft«, gab ich zu. Nach dem Geschrei des ungehaltenen Gastes hatte ich alles Interesse an Kegelschnitten verloren, sie beiseitegelegt und den Rest des Tages damit verbracht, einen detailreichen Kopf von »Cotswold« zu zeichnen und darüber hinaus viele respektlose Karikaturen seines Freunds, des hitzigen Klienten, der kein Klient war und dessen Namen ich nicht kannte.
»Harold«, fragte ich, »wo liegt die Maiden Lane?«
Nachdenklich verzog er das Gesicht und zupfte an seinem rechten Ohrläppchen. »Is das nich irgendwo bei Charing Cross, Miss Enola?«
»Sehen wir doch nach, Harold. Bringen Sie mich hin.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, jetzt gleich.« Ich stieg in die Kutsche. »Quasi sofort.«
Wir klapperten von dannen. Die Fahrt zur Maiden Lane dauerte nicht lang. Mitten im Herzen des alten London nistete Charing Cross, bestehend aus einem eigentümlich sich reimenden Spinnennetz von Hauptstraßen: Mall, Pall Mall, Whitehall, Strand, Northumberland … Während sich Harold brüllend bei anderen Kutschern durchfragte, fuhr er in einen Teil Londons nahe der Straße, die die Londoner »Strand« nannten, einer Querstraße der Bedford Street.
Von meinem luftigen Sitzplatz in der Kutsche aus beobachtete ich auf den Gehsteigen Scharen gut gekleideter Männer und Frauen, von denen die meisten zum Abendessen nach Hause eilten. Kein einziges Gassenkind sah ich, auch keine Bettler oder Krämer – dies war ein feines Viertel. Augenblicklich wurde meine Aufmerksamkeit von einer bestimmten Frau angezogen – einer attraktiven Dame, die es wirklich verdiente, eine Lady genannt zu werden. Sie trug ein silbrig glänzendes Seidenkleid, nur warum stand sie an der Straßenecke, als hätte sie etwas zu verkaufen? Blass und starr wie eine Statue ragte sie inmitten schicker Gentlemen und Damen in geblümter Frühlingsgarderobe auf, sprach alle an, die an ihr vorbeiliefen, berührte sie an den Ärmeln, hielt sie an und redete höchst eindringlich auf sie ein, während sie ihnen etwas zeigte.
Was in aller Welt …? In den feineren Vierteln traf man eigentlich nicht auf religiöse Fanatiker oder Ähnliches. Ich musste herausfinden, was hier vor sich ging. Doch noch während ich meinen Sonnenschirm hob, um gegen das Kutschendach zu klopfen, bog Harold um eine Ecke auf eine Seitenstraße ab und hielt an. »Da wärn wir, Miss Enola«, rief er mir vom hohen Kutschbock hinter mir zu. »Maiden Lane.«
Ich stieg aus und blickte zu ihm hoch. »Könnten Sie und Brownie wohl einen Moment warten, solange ich einen Spaziergang mache?«
»Natürlich, Miss.«
Es war eine hübsche, wenn auch schmale Straße voll kleiner Läden, über denen sich Wohnungen befanden. Ich ging los, allerdings nicht gemächlich schlendernd. Zielstrebig wie die ernsten und ordentlichen Fußgänger um mich herum lief ich zurück zu der Ecke, an der die interessante Lady stand. Als ich mich ihr näherte, hörte ich deutlich ihre eindringliche Stimme. »Haben Sie ihn heute schon einmal gesehen?«
Gute Güte, sie war Amerikanerin! Der Akzent war unverkennbar. Benahm sie sich deswegen so ungeheuer exzentrisch?
Ohne jede Scham hielt sie den Herrn vor mir am Ellbogen fest. »Haben Sie zufällig diesen Mann gesehen? Er ist gestern nicht nach Hause gekommen.« In der anderen Hand hielt sie eine große gerahmte Fotografie.
Selbst aus einigen Schritten Entfernung konnte ich sie sehen. Und erkennen. Gute Güte zum Zweiten, es war derselbe Mann, dasselbe Bild, das der ungehaltene Gast mir gezeigt hatte: Wolcott Soundso. Cotswold.
Ich muss zugeben, ich empfand einen überdeutlichen Anflug von Freude.
Der Herr schüttelte mit einer leichten Verneigung den Kopf, bevor er weiterzog, doch durchaus gern nahm ich seinen Platz ein. »Ich bitte um Verzeihung, Miss, aber Sie sagen, jemand ist vermisst?« Da ich größer war als sie, musste ich nach unten und unter die Krempe ihres mit einem Federbausch geschmückten Huts spähen, um ihr Gesicht zu erkennen.
Sofort wurde mein Hochgefühl von Mitgefühl verdrängt, als ich bemerkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Einen Moment lang konnte sie nicht einmal sprechen. Liebreizend war ihr Gesicht nicht. Für eine Frau war es etwas zu kantig und zu kräftig, und ihre Nase war beinahe so hervorstechend wie meine – ein Grund mehr für mich, mit ihr zu fühlen.
»Es tut mir so leid«, sagte ich wahrheitsgetreu, als sie mir mit zitternden Fingern die Fotografie reichte. »Ich habe ihn nicht gesehen. Ist das Ihr Ehemann?«
»Nein!« Ihre Stimme bebte wie ihre Hände. »Nein, er ist mein Bruder! Ich kümmere mich um seinen Haushalt!«
In der Tat, ihr Gesicht ähnelte dem ihres Bruders. Sie hatte seine feine Haut, die geschwungenen Brauen, die offenen Augen und denselben hübschen breiten Mund.
»Du meine Güte!« Diesmal platzte ich laut heraus. »Dann ist auch er Amerikaner?« Geniale deduktive Schlussfolgerung, Enola, dachte ich und errötete darüber, das Offensichtliche ausgesprochen zu haben.
Doch sie bemerkte meine Dummheit nicht einmal, solange ich ihr nur Gehör schenkte. »Er wollte gestern Abend noch am Strand spazieren gehen«, erklärte sie mit brüchiger Stimme, »die Lichter des Savoy Hotels anschauen. Und er kam … einfach … nicht nach Hause.«
Sie redete von den neumodischen elektrifizierten Lampen. Londons neueste Sensation, das Savoy Hotel, hatte erst vor Kurzem seine dekadenten Türen geöffnet. Zu diesem Anlass war sogar eine Parade von Babyelefanten durch die Innenhöfe der Hotelanlage gezogen, die von beeindruckend modernen Lichtquellen geflutet wurde. Erbaut als achtes Weltwunder, prahlte das Savoy mit elektrischen Lichtern überall in dem hohen, majestätischen Bau, einschließlich sämtlicher opulenter Gästezimmer! Außerdem, zumindest hatte ich das gehört, bot es den Luxus einer elektrischen Heizungsanlage und sogar elektrische »aufsteigende Räume«, wenngleich ich mir darunter nichts Genaues vorzustellen vermochte.
»Er wollte das neue Savoy Hotel sehen«, hakte ich nach.
»Kurz nach Einbruch der Dunkelheit, gestern Abend, aber ich weiß nicht … was ihm … zugestoßen ist.«
Ich schüttelte den Kopf, um anzudeuten, dass ich es ebenso wenig wusste, bevor ich mich wieder auf den Weg machte. Die amerikanische Lady (sofern diese Bezeichnung kein Widerspruch in sich war), die teuer gekleidete Frau, schnappte sich die nächste Person, die vorbeikam. »Haben Sie diesen Mann gesehen? Er wird vermisst.«
Zurück an der Kutsche, sagte ich zu Harold: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.« Nachdem ich ihn wie immer großzügig entlohnt hatte, erklärte ich, dass ich seine Dienste heute nicht mehr benötigen würde.
Er nahm die Zügel in die Hand, zögerte jedoch. »Miss Enola, sin Sie sicher, dass Sie klarkommen?«
»Natürlich komme ich zurecht.« In meinen Augen musste meine mir eigene Besessenheit gelodert haben – zu finden, was verloren ist. Beinahe konnte ich spüren, wie meine Nasenlöcher zuckten wie die eines Bluthunds, der eine Fährte aufgenommen hatte. »Harold«, wandte ich mich mit einem liebevollen Vorwurf an den onkelhaften Kutscher, »haben Sie vergessen, wie wir uns das erste Mal begegnet sind?« Damals hatte ich seine Bedenken mit einer fürstlichen Summe zerstreut und mir seine Kutsche, seine Jacke und seinen Filzhut ausgeborgt, um auf der Suche nach einer verschwundenen Herzogin Zigarre rauchend gemeinsam mit Brownie das Londoner East End zu durchforsten.
Ich sah seinem himmelwärts gerichteten Blick an, dass er sich bestens erinnerte. Damals war ich wie jetzt auf der Jagd gewesen – dennoch lächelte ich und fühlte mich innerlich regelrecht gewärmt von seiner Sorge um mich. Mein Name, Enola, liest sich rückwärts »alone«. Und den Großteil meines Lebens, nämlich bis vor Kurzem, hatte ich mich in der Tat sehr »allein« gefühlt.
Mir dessen bewusst, redete ich besänftigt weiter. »Ich werde zurückkommen«, versicherte ich Harold.
Ebenso, wie ich hoffte – wie ich plante – wie Wolcott Balestier.
Nachdem Harold davongefahren war, zwirbelte ich meinen Sonnenschirm und schlenderte betont fröhlich noch einmal zu der Ecke, an der Wolcott Balestiers Schwester nicht müde wurde, Gott und die Welt zu fragen, ob sie ihren Bruder gesehen hätten. Obwohl ihre Vorgehensweise nicht wissenschaftlich war, musste ich doch ihre Tatkraft bewundern und wollte ihr wirklich gern dabei helfen, Cotswold zu finden. Denn wenn er seiner Schwester auch nur annähernd ähnlich war, mochte ich ihn schon jetzt. Beim Versuch, sie unauffällig zu observieren, spazierte ich in einen kleinen Schreibwarenladen, wo ich einen Spitzer nach dem anderen in die Hand nahm. Einer war kunstfertiger hergestellt als der andere, dennoch sehr wahrscheinlich unbrauchbar. Traurige Erfahrung hatte mich gelehrt, dass man entweder den Spitzer festhielt, während man den Stift drehte, oder aber den Stift hielt, während man den Spitzer drehte. Und nahezu unweigerlich zerbrach am Ende einer von beiden die Bleimine. Immer wieder spähte ich bei meiner Begutachtung dieser ärgerlichen kleinen Dinger aus dem Schaufenster: Miss Balestier verließ ihren Posten nicht. Albernerweise kaufte ich am Ende tatsächlich einen weiteren Stiftspitzer (in Form eines Bahnhofs!), um damit meine Sammlung zu ergänzen – wie immer in der Hoffnung, dass er auf wundersame Weise bessere Dienste leisten würde als seine Vorgänger.
Ich verließ den Schreibwarenladen und betrat das nächste Geschäft, eine Parfümerie. Auf der Flucht vor dem übertriebenen Bouquet (zu viele Aromen, überlagert von noch mehr Duftmischungen) war ich von dort rasch wieder verschwunden, um mich dem nächsten Laden zuzuwenden, einem Handschuhmacher. Miss Balestier indessen blieb in der Nähe und flehte alle und jeden an: »Haben Sie diesen Mann gesehen?« Selbst in dem Geschäft konnte ich die verzweifelte Stimme der Frau noch verstehen, und zum Glück brauchte (oder treffender gesagt: wollte) ich wirklich ein neues Paar Handschuhe, die zu meinem herrlichen neuen rotbraunen Kleid passen sollten. Vielleicht hellgraues Ziegenleder? Begierig durchkämmte ich die Regale. Handschuhe aus Wolljersey mit Spitzenärmeln, Schweinsleder, Veloursleder, Ziegenleder, Baumwolle mit zierlicher Stickerei am Handrücken und aus – oh, der letzte Schrei: Seide! In Hellblau, Eierschalenweiß, Jasmin und – oh! – Lavendel. Die allerneueste Modefarbe.
Gerade wollte ich meine treuen beigen Ziegenlederhandschuhe aufknöpfen, um ein neues Paar anmessen zu lassen, als Big Ben zur vollen Stunde schlug, kleinere Glocken läuteten und ich nach draußen blickte. Der Tag wich der Dämmerung und die Fußgängerschar lichtete sich. Eine kräftige Frau mittleren Alters im schwarzen Kleid und der weißen Schürze einer Haushälterin, die durch ihren hastigen, schwungvollen Gang auffiel, eilte herbei. Ihr Gesicht war rot und ihre Spitzenhaube saß schief. Gleichzeitig impulsiv und zögerlich (wie Dienstboten weltweit sich immer dann verhalten, wenn sie endlich den Mut aufgebracht haben einzuschreiten) hielt sie schnaufend an und wandte sich an die amerikanische Dame. »Bitte, Miss Balestier«, redete sie auf sie ein, »bitte kommen Sie ins Haus, bevor Sie sich in der Kälte noch den Tod holen.« Auftreten und Akzent der Angestellten waren keineswegs amerikanisch, sondern durch und durch britische Arbeiterklasse. Wie ein großer englischer Hütehund, der führte, ohne zu berühren, versuchte das Dienstmädchen, Miss Balestier von ihrer Ecke fortzulocken.
Doch die Lady in silberner Seide schenkte ihr keinerlei Beachtung. Als wäre sie mit dem Boden verwurzelt, rief sie wie zuvor allen vorbeieilenden Fremden zu: »Haben Sie diesen Gentleman gesehen? Er wird vermisst!«
Jeder Gedanke an neue Handschuhe war im Nu vergessen. Ich trat aus dem Laden, um zu beobachten. Schon rannte eine jüngere Dienstmagd niedrigeren Ranges die Maiden Lane herauf, unterm Arm eine weiße Spitzenstola. Gemeinsam bemühten sich die Frauen behutsam, dieses unangemessene Kleidungsstück über die Schultern der Lady zu drapieren, die es jedoch achtlos und gleichgültig abschüttelte.
Ratlos sahen die Hausangestellten sich an und berieten sich im Flüsterton. Dann eilte die ältere davon. Nachdem ich ihr unauffällig gefolgt war, prägte ich mir die Adresse in der Maiden Lane ein, zu der sie zurückkehrte, in der Hoffnung, es würde sich als die des Vermissten herausstellen.
Kurz nachdem die Frau im Haus verschwunden war, flitzte ein Junge zur Tür heraus und davon. Die Kriegermiene in seinem stumpfnasigen Gesicht brachte mich zu dem Schluss, dass man ihm einen wichtigen Auftrag erteilt hatte.
Meine Körpermitte stieß ein rebellisches, wildes Knurren aus. Äußerst streng wies ich sie zurecht. Mein Hunger würde warten müssen, denn wenn ich nicht vollkommen falschlag, standen bedeutsame Ereignisse bevor. Ich schlich zurück in Richtung Miss Balestier und bezog in dem länger werdenden Schatten neben dem Handschuhmacher Stellung, um abzuwarten, was als Nächstes geschehen würde.
Wie eine Statue verharrte die Dame an ihrer Ecke, das blasse Gesicht verzweifelter denn je, während sie das Bild von ihrem Bruder in die gleichgültige Nacht hielt. Inzwischen kamen zunehmend weniger Gentlemen und Ladys vorbei, dafür hatte sich um Miss Balestier ein bunt gewürfeltes Publikum aus Armen wie Reichen gebildet. Ich hörte mitfühlendes Getuschel.
»… nich mehr alle Tassn im Schrank.«
»… ein Fall von gebrochenem Herzen …«
»Wo steckt nur der Ehemann? Oder der Vater?«
»… sollte sich ein Arzt drum kümmern.«
Die Spitzenstola der Dame lag noch auf dem Gehsteig, und eine ältere Frau in schäbigen Kleidern humpelte vor, hob sie auf und legte sie Miss Balestier einigermaßen umständlich um die Schultern. Dieser Akt bescheidener Fürsorglichkeit rührte mich, und ich musste mich zügeln, nicht selbst hinzuzueilen, um meinen Trost anzubieten. Doch ich blieb, wo ich war, und redete mir ein, dass gleich etwas passieren würde, sollte ich mich nicht sehr täuschen.
Die blasse Dame stach aus der Dämmerung hervor wie ein alabasterfarbenes Symbol der Verzweiflung, ohne die Umstehenden überhaupt wahrzunehmen. In ihrem kräftigen Gesicht stand deutlich das Elend geschrieben, während ihre Augen ins Leere blickten.
Am Rande meines Gesichtsfelds bemerkte ich etwas anderes fast Weißes, das durch die Dunkelheit anrückte.
Ich machte große Augen. Durch die Maiden Lane schritt ein Gentleman mit weißer Krawatte, weißer Weste und weißer Orchidee im Knopfloch, dessen Rockschöße wie Flammen hinter ihm herzüngelten, als er zur Rettung eilte. »Carrie«, rief er, »Caroline, höchste Zeit für brave Mädchen, nach Hause zu gehen.« In seinem Tonfall lag nur ein Anflug von Sarkasmus. Trotzdem erkannte ich diese Stimme.
Bei Gott! Ich reagierte, indem ich mich noch tiefer in den Schatten drückte, denn dieser Neuankömmling war kein anderer als der borstige Armleuchter, der mich am Nachmittag in meinem Büro belästigt hatte.
Die Lady – Caroline – riss die starren Augen weit auf und schien endlich zu sich zu kommen, während sie den Kopf langsam in seine Richtung drehte, als er sich neben sie stellte.
»Himmel, Frau«, sagte er auf eine zärtliche, verspielte Art, die ich ihm nicht zugetraut hätte, »hier draußen in der hässlichen, kaltbefingerten Dunkeldämmerung herumzustehen – haben Sie nicht mehr Verstand als eine Pastinake?« Jetzt konnte ich sein Gesicht sehen, und obwohl er sie neckte, machte er sich irgendwie doch nicht über sie lustig.
Leise und stockend sagte sie: »Ich kann unmöglich einfach nur herumsitzen und nichts tun, Ruddy.«
War das sein Name? Er passte zu ihm, klangen in meinen Ohren doch Bezeichnungen wie Raubein und Rüpel darin an.
Doch zumindest im Augenblick führte er sich nicht auf wie ein Pavian. »Carrie, Liebes, kommen Sie ins Haus.« Wie ein echter Gentleman bot er ihr seinen Arm an.
Sie zögerte. »Haben Sie diesen … Doktor für uns gewinnen können …?«
»Ragostin? Nein, er stellte sich als Betrüger heraus, ein Scharlatan, wie er im Buche steht. Doch ich habe jemand anderen, sehr Respektablen angeheuert.« Albernd, zweifellos, um sie aufzuheitern, ahmte er einen irischen Akzent nach. »Carrie, Liebchen, komm heime. Hier draußen machste dich ja doch nur zum Klatsch des Tages – und ich sollt ja grad mit den feinen Ladys tanzen und so.«
»Oh, Ruddy, es tut mir so leid!« Man hörte ihr an, dass es ihr damit tatsächlich ernst war. Sie ergriff seinen Arm und ließ sich von ihm fortführen. »Ich habe gar nicht mehr daran gedacht … ganz vergessen … Sie haben dich von deiner Gesellschaft weggeholt?«
»Sicher doch, und die nächste Gesellschaft kommt gewiss, Caroleen, mein Mädel«, säuselte er, während er sie festen Schritts bis an die Türschwelle in der Maiden Lane eskortierte, wo sie von der Haushälterin in Empfang genommen wurde.
Gesellschaft?, wunderte ich mich, als ich kehrtmachte, um selbst nach Hause zu gehen. Welcher Gesellschaft konnte dieser Ruddy angehören?
Zum Tagesanbruch am nächsten Morgen wagte es ein großes, wenn auch schüchternes und schmuckloses schäbiges Bettelmädchen, an die Dienstbotentür der Balestier-Residenz zu klopfen. Schlotternd, da der Frühling sich wieder abgekühlt hatte, erkundigte es sich mit einem Cockney-Akzent danach, ob es im Haus vielleicht Arbeit für sie gäbe, im Austausch für etwas zu essen und einen Penny.
Das war ich. Ich wollte mehr über Wolcott Balestier und die Umstände seines Verschwindens in Erfahrung bringen. Zu diesem Zweck hatte ich mein Gesicht mit Dreck eingerieben und meine Nase mithilfe von Einsätzen verbreitert, meine Zähne braun angemalt und meine Augen so lange mit den Knöcheln geknetet, bis sie gerötet und verweint aussahen. Am Abend zuvor hatte ich absichtlich darauf verzichtet, meine Haare zu flechten, sodass sie nach dem Schlafen ganz zerzaust waren. Lose und ungekämmt hingen sie über meine Schultern. Außerdem hatte ich dafür gesorgt, dass jeder Teil von mir verwahrlost und ärmlich erschien. Meine ansonsten nackten Füße steckten in alten Männerschuhen, deren Spitzen weit auseinanderklafften. Tatsächlich fürchtete ich, dass ich es mit meiner Verkleidung etwas übertrieben hatte, am Ziel »armes Ding« vorbeigeschossen war und stattdessen »Schreckgespenst« erreicht hatte – was zumindest die Reaktionen der Passanten erklärt hätte, die vor mir zurückscheuten, als ich die U-Bahn-Station von Charing Cross verließ!
Doch das Dienstmädchen, das mir die Tür öffnete, wich nicht vor mir zurück, im Gegenteil. Sie schickte den Jungen nach der beherzten Haushälterin, die an diesem Morgen reichlich mitgenommen aussah. Nachdem diese mich von der Magd auf Flöhe und Läuse hin hatte untersuchen lassen, hieß sie mich zu gern willkommen. Es war ganz, wie ich vermutet hatte: Der Haushalt der Balestiers war von dem rätselhaften Verschwinden des Hausherrn, der eine weitere Nacht ausgeblieben war, vollkommen auf den Kopf gestellt. Es hatte ein reges Kommen und Gehen geherrscht, die Dame des Hauses hatte extra umsorgt werden müssen, und das Geschirr des vorigen Abendessens war noch nicht gespült. Kurz darauf schrubbte ich es mit grausamer Kalkseife ab, die meine Hände verätzte, bis sie ein hässliches Rot annahmen.
Die Köchin, eine stämmige, dunkelhäutige Frau mit einer gusseisernen Bratpfanne voll allerlei Essensresten im Anschlag, kam zu mir, um das saubere Geschirr mit einem Kessel kochenden Wassers abzubrühen, bevor das Mädchen für alles abtrocknete. »Macht doch alles keinen Sinn nich«, wandte die Köchin sich an die Magd. »Was soll man da schon von halten? Beim Abendessen war der Hausherr doch noch bester Dinge, oder?«
Oho! Meine Ohren spitzten sich neugierig. Dennoch war ich zuversichtlich, dass mir niemand anmerkte, wie begierig ich lauschte.
»Bedrückt war er nich, als er losging zum Spaziern«, gab das Mädchen ihr recht.
»Was die Herrin da nur ständig redet, von wegen Buchpiraten hättn ihn verschleppt! Kein Wort davon glaub ich.«
Schon wieder Piraten, aber Buchpiraten?
Die Köchin schüttelte den schweren Kopf. »Kann so gefährlich ’n Beruf nich sein, Bücher machn.«
»Sollt man nich glauben«, sagte das Mädchen in einem Tonfall, der andeutete, dass »man« es vielleicht doch tat. »Andrerseits sind sie ja Amerikaner und alles.«
Leider ließen sie dieses interessante Thema fallen, denn nun kam ein weiteres Dienstmädchen in die Küche. Ich hörte, wie sie eintrat und ein Tablett auf den Tisch stellte. »Wie gehts der Herrin?«, wollte die Köchin wissen.
»Sie macht sich solche Sorgen. Den Armen Ritter hat sie nicht angerührt, nicht mal einen Bissen vom Hefegebäck«, antwortete die andere. »Nur etwas Toast mit Birnenbutter hat sie zu sich genommen, aber nicht mal ne ganze Scheibe.«
»Arme Frau, ganz erschöpft is sie.«
»Schlapp genug, um im Bett zu frühstückn, aber jetzt will sie aufstehn.«
Das Frühstück, das nicht für die Herrin gedacht war und in der Pfanne warm wurde, gab einen seltsam brutzelnden, zischenden Laut von sich, und schnell eilte die Köchin wieder an den Herd. »Hinsetzen«, befahl sie, während sie die erste Portion austeilte. Andere kamen herbei und ich riskierte einen Blick – dies war ein bescheidener Haushalt, der lediglich aus drei Dienstmädchen und dem Jungen bestand. Und wenn überhaupt, hatten wohl die wenigsten davon Quartiere im Haus, denn die Balestiers bewohnten lediglich eine Wohnung, wenn auch eine von beträchtlicher Größe.
Ich schrubbte weiter dreckiges Geschirr, von dem die Köchin immer mehr herbeizauberte, obwohl die Spüle bereits überquoll. Nachdem die anderen eilig ihr Frühstück verspeist hatten und aufgebrochen waren, befahl sie mir: »Hände abtrocknen, Ärmel runterkrempeln und hinhockn.« Sie hatte mir eine ordentliche Portion von dem spärlichen Angestelltenfrühstück aufgehoben, und ich hatte keine Probleme damit, meine Rolle der armen Bettlerin zu spielen: Ausgehungert schlang ich alles hinunter.
Im Anschluss hatte ich das Geschirr vom Frühstück abzuwaschen, die Tische zu wischen und den Müll nach draußen zu tragen. Danach übergab die Köchin mich der Haushälterin. Sobald ich die warme Küche verlassen hatte, stellte ich fest, dass es im Haus beinahe so kalt wie im Freien war, denn solange die Kamine nicht gekehrt waren, konnte kein Feuer entfacht werden. Erst musste die Asche vom Vorabend verschwinden. Ausgestattet mit einem ganzen Stapel Metalleimer, einer unhandlichen Schaufel in Form eines Schöpflöffels und einem Handbesen, machte ich meine Runde: Empfangszimmer, Wohnzimmer, Esszimmer, Bibliothek, Schlafzimmer (solange Miss Balestier im Ankleideraum war und die Dienstmädchen das Bett machten) und anschließend das zweite Schlafzimmer, das natürlich Wolcott Balestier gehörte.
