Der Fall Lizzie Borden - Daniela Mattes - E-Book

Der Fall Lizzie Borden E-Book

Daniela Mattes

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Beschreibung

Der Fall von Lizzie Borden ist einer der berühmtesten Doppelmorde in der amerikanischen Geschichte, der die Amerikaner auch heute noch beschäftigt. Am 4. August 1892 werden der schwerreiche Fabrikant Andrew Borden sowie seine zweite Frau Abby Borden mit mehreren Axthieben bestialisch ermordet. Außer der jüngsten Tochter Lizzie und der Dienstmagd Bridget war zum Tatzeitpunkt niemand im Haus. Doch angeblich hat keine der beiden etwas gesehen oder gehört. Lizzie Borden wird schließlich der Prozess gemacht, doch sie wird aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Zu Recht? War sie es? Hat sie den perfekten Mord begangen? Oder war sie es nicht? Aber wer war es dann? Viele Verdächtige, zwielichtige Zeugen, schlampige Polizeiarbeit und die Missachtung üblicher juristischer Verfahrensweisen geben dem Fall zusätzlich einen seltsamen Anstrich. Was ist damals in Fall River, Massachusetts wirklich geschehen? Das Buch versucht, den Fall umfassend darzustellen und Lösungen dafür anzubieten, was sich damals zugetragen hat. Folgen Sie der Autorin auf der faszinierenden Spurensuche eines der berühmtesten Fälle der Kriminalgeschichte.

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„Lizzie Borden took an axe, And gave her mother forty whacks, When she saw what she had done, She gave her father forty-one.”

Die Überlieferung besagt, dass dieser Vers von einem anonymen Verfasser verwendet wurde, um mehr Zeitungen zu verkaufen.

In Wirklichkeit hat Lizzies Stiefmutter nur 18 oder 19 Schläge abbekommen und ihr Vater 10 oder 11. Außerdem wurden sie mit einem Beil getötet und nicht mit einer Axt.

Abb. 1: Lizzie Borden, 1889

Inhalt

Vorwort

Teil I Hintergründe

Der Fall im Überblick

Zeitungsberichte 1892

Historischer Hintergrund

Die Geschichte der Familie Borden

Teil II Der Ablauf der Ereignisse

Chronologischer Ablauf

TEIL III Die Hauptverdächtigen

Die Hauptverdächtigen im Falle Borden

TEIL IV Das Verfahren

Die Tage bis zum ersten Verhör

Beginn der formellen Untersuchung

Die Polizeiarbeit und die Presse während der verhandlungsfreien Zeit

Preliminary Hearing

Die Zeit bis zum Prozess

Der Prozess des Jahrhunderts

TEIL V Nach dem Prozess

Lizzies Leben in Maplecroft

Emma

Was geschah mit den anderen?

Theorien und Legenden

TEIL VI Der Fall aus heutiger Sicht

Was sagen Mindhunter des FBI über den Fall Lizzie Borden?

Wie würde die Polizei den Fall 2017 klären?

Welche Hinweise ergeben sich heute nachträglich aus forensischer Sicht?

War Lizzie geisteskrank?

TEIL VII Die Lösung des Falles

Die Suche nach dem Motiv

Die Suche nach dem Mörder

TEIL VIII Das Borden-Haus heute

Nachwort

Quellen

Über die Autorin

Vorwort

Es gibt auf der ganzen Welt unheimliche, ungeklärte, spektakuläre und mysteriöse Mordfälle. Der Fall von Lizzie Borden ist einer der berühmtesten Doppelmorde in der amerikanischen Geschichte, der sogar in einem Kinderreim (siehe vorige Seiten) verewigt wurde.

Der Fall treibt die Amerikaner immer noch um. Das ehemalige Haus von Lizzie Borden ist heute ein Museum inklusive „Bed & Breakfast“. Hier werden regelmäßig Touren angeboten und die Übernachtungsgäste gruseln sich, weil sich anscheinend die ruhelosen Geister der Toten noch in den beinahe im Originalzustand belassenen bzw. derart wiederhergestellten Räumlichkeiten herumtreiben.

Warum genau ist der Fall aber so spektakulär? Er spielte sich in der High Society ab und bezichtigte eine junge, kirchlich engagierte Frau aus reicher Familie und mit einwandfreiem Leumund einer grauenhaften Tat: dem bestialischen Mord an ihrer Stiefmutter und ihrem Vater.

Nicht nur, dass Elternmord an sich schon besonders schrecklich ist, nein, es ist auch die Art und Weise, wie sie gemordet hat. Zwar nicht wie in dem überlieferten Kinderreim mit 40 Schlägen, aber dennoch mit 11 und 19. Die Toten wurden in blankem Hass oder rasender Wut geradezu hingerichtet.

Trotz mehrerer Hinweise auf weitere Verdächtige hat sich die Obrigkeit schnell auf Lizzie als Täterin eingeschossen. Juristen bemängeln auch heute noch, dass die Polizeiarbeit und Spurensuche keine Glanzleistung war und außerdem einige Verfahrensgrundsätze missachtet wurden. Einen derartigen Ablauf der Falluntersuchung und des Gerichtsprozesses würde es heute nicht geben.

Aus Mangel an Beweisen wurde Lizzie schlussendlich freigesprochen, aber die Bevölkerung von Fall River war sich nicht sicher, ob sie nicht doch die Täterin war. Die Morde hafteten ihr ein Leben lang an und sind auch heute noch Mittelpunkt vieler Spekulationen.

War sie es? Hat sie den perfekten Mord begangen? Oder war sie es nicht? Aber wer war es dann? Mit dem Abschluss des Prozesses und ihrem Freispruch verfolgte die Polizei auch keine anderen Spuren mehr, und wenn es einen anderen Täter als Lizzie gab, so ist er mit einem Doppelmord straffrei davongekommen.

Diese Fragen machen für viele Menschen den Reiz aus und den Antrieb, das Geheimnis schlussendlich zu lösen und den Täter zu finden. Dies wird vermutlich niemals gelingen, weil die Akten unvollständig überliefert sind, die damalige Presse teilweise hanebüchene Berichte über den Fall abgedruckt hat (und auch einen besonders spektakulären rufschädigenden Bericht widerrufen musste) und man beim Durchlesen der Prozessabschriften unweigerlich zu dem Schluss kommt, dass irgendwie alle Beteiligten, seien es Zeugen oder Polizisten, nicht alles gesagt haben, was sie wussten oder auch einfach gelogen haben.

Der Tote war ein schwerreicher Mann und aus seiner Hinterlassenschaft war es den Kindern (Emma und Lizzie) problemlos möglich, die besten Anwälte zu bezahlen, die man bekommen konnte – oder auch Zeugen zu bestechen??

Werfen Sie mit mir nun einen Blick auf die Hintergründe des Falles, auf die Abläufe und Zeugenaussagen sowie auf die mögliche Lösung des Falles.

TEIL I HINTERGRÜNDE

Abb. 2: Karte von Massachusetts

Massachusetts: In dem Neu-England-Staat siedelten die ersten Einwanderer, die mit der „Mayflower“ ankamen. Und in der Stadt Salem fanden die berühmten Hexenprozesse statt. Außerdem spielte der Staat eine wichtige Rolle bei der industriellen Revolution. Massachusetts war auch einer der Staaten, in denen die Abolitionisten vorherrschten und außerdem eine der 13 Kolonien, die sich in der Amerikanischen Revolution gegen die britische Herrschaft auflehnten.

1. Der Fall im Überblick:

Es ist der 4. August 1892, ein heißer Sommertag, und wir befinden uns in Fall River, einer Stadt in Bristol County, Massachusetts, USA. Sie liegt am östlichen Ufer des Mount Hope Bay an der Mündung des Taunton Rivers.

An jenem Tag im August 1892 ereignete sich einer der aufsehenerregendsten Doppelmorde der amerikanischen Geschichte, als Andrew Borden, Millionär, Textilfabrikant und Präsident der Union Savings Bank mit 11 Axthieben auf den Kopf bzw. ins Gesicht erschlagen wurde. Kurz zuvor war seine zweite Frau Abby Borden im Gästezimmer des Hauses mit 18 Schlägen ebenfalls getötet worden.

Außer der jüngsten Tochter Lizzie und der Dienstmagd Bridget war zum Tatzeitpunkt niemand im Haus. Daher gab es vorrangig zwei Verdächtige. Da Lizzie zumindest ein Motiv hatte, wurde ihr der Prozess gemacht, doch aus Mangel an Beweisen wurde sie freigesprochen. Zu Recht?

Bis heute ist unklar, was damals tatsächlich geschah. Trotz verdächtiger und widersprüchlicher Aussagen der Beklagten, die sie zur offensichtlich Verdächtigen machten, konnte ihr die Schuld nicht nachgewiesen werden, da die Jury sich einfach nicht vorstellen konnte, wie die vergleichsweise schwache und auch unauffällige Frau mit einer derartigen Brutalität ihren Vater und ihre Stiefmutter ins Jenseits befördert haben konnte.

Doch offenbar war sie die einzige Person, die sich zur fraglichen Zeit im Haus aufhielt. Oder hat man nur damals nicht akribisch genug geforscht? Die Möglichkeiten der Polizei und der Forensik waren natürlich 1892 noch nicht so gut wie heute, könnten sich also Fehler bei der Ermittlung eingeschlichen haben? War ein anderer Täter raffiniert genug, die Morde der jungen Lizzie in die Schuhe zu schieben? Oder gab es sogar eine Gemeinschaft von Tätern, die sich gegenseitig deckten?

Die Tageszeitung von Fall River führt online am Freitag, 02.08.2013 anlässlich des Jahrestages der Ereignisse ganz sparsam einige zentrale Höhepunkte auf (Anmerkungen in Klammern stammen von der Autorin):

1892, 2./3. August – Am Tag vor der Tat

00:00 Uhr: Die Eheleute Borden sind (plötzlich) um Mitternacht krank. (Abby Borden vermutet, dass jemand sie vergiften will, und sucht den Hausarzt auf)

13:30 Uhr: John Vinnicum Morse, der Bruder von Lizzies verstorbener Mutter und einer der Verdächtigen, trifft (überraschend und unerwartet) um 13:30 Uhr ein.

19-21 Uhr: Lizzie spricht mit der Nachbarin Alice Russell (darüber, dass sie Angst hat, dass jemand ihr oder ihrem Vater etwas antun will).

1892, 4. August – Am Tag der Tat

7:00 Uhr: Die Eheleute Borden frühstücken mit John Morse.

8:45 Uhr: John Morse verlässt das Haus, kehrt erst um 11.30 Uhr zurück.

8:50 Uhr: Lizzie kommt aus ihrem Zimmer herunter und frühstückt alleine (wie eigentlich immer, da sie ihrer Stiefmutter aus dem Weg geht).

9:15 Uhr: Andrew Borden verlässt das Haus, um Besorgungen zu machen (er geht jeden Tag zur Bank und zur Post).

9:30 Uhr: Abby Borden geht ins Gästezimmer, wo sie ermordet wird.

10:45 Uhr: Andrew Borden kehrt (früher als üblich) zurück, weil er sich nicht wohlfühlt.

11:05-11:10 Uhr: Lizzie informiert die Magd Bridget (die sich in ihrem Zimmer ausruhte), dass ihr Vater ermordet wurde. (Sie schreit panikartig nach ihr und schickt sie sofort nach dem Hausarzt Dr. Bowen).

2. Zeitungsberichte 1892

„Pittsburg dispatch”, August 05, 1892

Fall River, Mass., Aug. 4 – Andrew J. Borden, the millionaire mill owner and his aged wife were murdered in their home today, just before noon, and although there were other members of the family on the premises at the time, they heard no sound and the murder escaped without leaving a clue, so far as is known, although his clothing must have been covered with the blood of his victims (…)

04. August 1892 The Fall River Herald

SHOCKING CRIME

A VENERABLE CITIZEN AND HIS AGED WIFE

HACKED TO PIECES THEIR HOME.

MR. AND MRS. ANDREW BORDEN LOSE THEIR LIVES

AT THE HANDS OF A DRUNKEN FARM HAND.

POLICE SEARCHING ACTIVELY FOR THE FIENDISH MURDERER.

05. August 1892 The Fall River Herald

THURSDAY'S AFFRAY

NO CLUE AS YET TO ITS PERPETRATOR.

POLICE WORKING HARD TO REMOVE THE VEIL OF MYSTERY THAT ENVELOPS THE AWFUL TRAGEDY.

A POSTAL CARD THAT WOULD SERVE AS A LINK.

„It was an impossible crime. But it was committed.”

Hosea Knowlton, District Attorney

Abb. 3: Abby Bordens Leichnam, 04.08.1892

Abb. 4: Der tote Andrew Borden, 04.08.1892

3. Historischer Hintergrund

Wie soll man einen solch komplexen Fall mit all seinen Widersprüchlichkeiten am besten darstellen?

Die Autorin Victoria Lincoln („A private disgrace“) sagt, dass man die Hintergründe bzw. einige Hintergründe nur verstehen kann, wenn man zu jener Zeit in Fall River aufgewachsen ist und mit den gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensweisen vertraut war. Denn nur daraus ließen sich wichtige Rückschlüsse auf das Verhalten oder die Aussagen der Zeugen und Beteiligten ziehen.

Sie selbst ist dort in der Nachbarschaft von Lizzie aufgewachsen und kannte sie sogar persönlich, genau wie andere Personen, die mit dem Fall zu tun hatten und die sie bei ihren Recherchen auch befragen konnte – was Autoren späterer Bücher in neuerer Zeit nicht mehr möglich war.

Daher ist es nicht schlecht, wenn wir uns zunächst einen groben Überblick über den Ort und die Zeit verschaffen, an dem/zu der sich die Bluttat ereignet hat.

Abb. 5: North Main Street, ca. 1910

Die viktorianische Epoche und die Wohnsituation in Fall River

Wir befinden uns in der viktorianischen Epoche, im Jahr 1892, in den Neuenglandstaaten von Amerika, genauer gesagt in Massachusetts. Hier in Fall River gilt die Familie Borden als eines der wichtigsten Gründungsmitglieder der Stadt, die ungefähr 8 Generationen zuvor aus dem Boden gestampft wurde. In Fall River herrscht die Baumwoll-/Textilindustrie vor und verbreitet sich geradezu explosionsartig.

Abb. 6: Die erste Baumwollfabrik in Fall River, erbaut 1811

Mit ihr steigt auch die Anzahl von Einwanderern massiv an. Die willigen Arbeitskräfte der Masseneinwanderung kamen in den 1870er Jahren hauptsächlich aus England, Irland, Kanada und Portugal, wodurch sich die Bevölkerung von Fall River innerhalb von ca. 20 Jahren ungefähr vervierfachte.

Durch diesen Anstieg der Fremden, die zudem auf der sozialen Leiter sehr tief standen, fühlte sich die Elite von Fall River dazu berufen, sich von den „niedrigeren“ Personen abzugrenzen.

Abb. 7: Border City Mill Apartment. 1873 als Fabrik erbaut, kann man heute in dem historischen Gebäude wohnen.

Die Elite (die sieben Gründerfamilien, darunter auch die Bordens) sonderte sich in den reicheren Teil der Stadt ab, wo sie nichts mit den Immigranten und ihrem schlechten Einfluss mitbekamen, denn sie fürchteten sich vor dem plötzlichen Anstieg der Kriminalität, der nicht nur sie selbst bedrohte, sondern auch die Jugend verderben und überhaupt den guten Namen der erfolgreichen Stadt beschmutzen würde.

Das neue Domizil war der Stadtteil „The Hill“. Hier wohnten nur die Reichsten und Besten in einer Spitzenlage mit Blick auf die Mount Hope Bucht und jeder Neureiche setzte sich zum Ziel, eines Tages ein Haus in dem Gebiet sein Eigen nennen zu können.

Das Gefälle zwischen Reich und Arm oder auch zwischen dieser Elitegruppe und den Einwanderern oder den ärmsten Bürgern der Stadt war extrem und ließ sich am besten an den verschiedenen Stadtteilen ablesen, in denen die Menschen je nach Einkommensklasse hausten.

Die Reichen hatten vor allem unbedingt Dienstboten zu haben, das war einfach unumgänglich. Zu diesem Zweck wurden die irischen Einwanderer bevorzugt, da sie eine strenge Erziehung genossen hatten und außerdem billig waren.

Allerdings waren die Iren Katholiken, was für die protestantische Gesellschaft ein Problem darstellte – und die Iren außerdem zusätzlich noch minderwertiger dastehen ließ. Dieses schlechte Bild der Iren war auch ein Grund, warum die irische Dienstmagd Bridget Sullivan, die bei den Bordens arbeitete, eigentlich eine Vorzeigeverdächtige für den Mord gewesen wäre. Leider gab es dafür aber weder ein Motiv noch Beweise.

Abb. 8: Das Academy Building (mit Theater), erbaut 1875 zu Ehren und als Erinnerung an Nathaniel Briggs Borden. (Foto von 1979)

Das Haus der Bordens

Abb. 9: Das Borden-Haus in der Second Street 92

Wenn man sieht, wie die Reichen ihrer Ansicht nach zu wohnen hatten, und wo, dann wundert man sich darüber, dass unsere Bordens nicht in dem vornehmen oder „richtigen“ Stadtteil lebten, sondern stattdessen an der viel befahrenen Durchgangsstraße in der Second Street in einem viktorianischen Doppelhaus. Und inmitten einer irisch-katholischen Nachbarschaft! Dies war gesellschaftlich keinesfalls angemessen.

Für Andrew Borden war die Lage perfekt. Zum einen war er ohnehin geizig, weswegen ein preiswertes Haus durchaus ausreichend war (und das Haus dementsprechend mit abgewohnten Möbeln und fast ohne Luxus ausgestattet) und zum anderen war die Lage für ihn günstiger, da er in direkter Nähe zu seinen Fabriken lebte, was es ihm ermöglichte, diese mit einem kurzen Fußmarsch zu erreichen.

Lizzie und Emma hätten sich lieber selbst auf „The Hill“ gesehen und waren entsprechend unzufrieden mit der Wohnsituation. Lizzie stärker als Emma, sie war noch jünger und auch extrovertierter als ihre ältere Schwester.

Abb. 10: Bank Street, Downtown Fall River, Massachusetts

Das Haus war ursprünglich für zwei Familien gedacht, die jeweils ein Stockwerk bewohnen sollten. Doch Andrew Borden gestaltete das Haus nach seinen Bedürfnissen um. Die Anordnung war eigenwillig und ungewöhnlich, spielte aber für den späteren Ablauf (bei der Suche nach Ein- und Ausgängen für einen Mörder) eine Rolle.

Das Haus besaß im ersten Stock die Küche, ein Wohn- und Esszimmer sowie einen Salon. Daneben gab es einen Raum oder eine Kammer für den Abwasch und einen für Lebensmittel.

Im Obergeschoss lagen die Schlafzimmer von Lizzie, Emma, den Eheleuten Borden sowie ein Gästezimmer und unter dem Dach befand sich das Dienstbotenzimmer sowie ein weiteres Gästezimmer, das gelegentlich von einem Farmarbeiter genutzt wurde, wenn er für die Bordens kleinere Arbeiten zu erledigen hatte.

Abb. 11: Das A. J. Borden Building in der South Main Street 91-111, wurde 1889 erbaut und ging nach seinem Tod auf Lizzie Borden über

Die Zimmer gingen alle ineinander über und waren mehr oder weniger Durchgangszimmer mit vielen Türen. Besonders in der oberen Etage, wo die Schlafzimmer lagen, war dies ungünstig. Wenn man die Treppe nach oben ging, kam man vom Treppenabsatz nach links ins Gästezimmer, welches eine Verbindungstür in Lizzies Zimmer hatte, welches von der Treppe aus gesehen geradeaus lag.

Von Lizzies Zimmer kam man linkerhand in Emmas Zimmer (welches früher Lizzies Zimmer gewesen war, aber die Schwestern hatten die Zimmer getauscht) und weiterhin nach hinten in das Zimmer der Eltern. Die Verbindungstüren waren jedoch geschlossen und von jeweils beiden Seiten mit Riegeln versehen, sodass ein Zutritt nicht möglich war.

Die Eheleute Borden konnten ihr Schlafzimmer und das Ankleidezimmer nur erreichen, wenn sie vom Hintereingang des Hauses (der Seitentür aus) die hintere Treppe nach oben gingen und von dort ihr Zimmer betraten.

Diese Hintertreppe führte auch weiter nach oben in Bridgets Zimmer. Dadurch war der vordere, obere Teil des Hauses also nur von Lizzie und Emma erreichbar, die das Gästezimmer als Empfangsraum benutzten, wenn sie Besuch bekamen und unter sich sein wollten.

Was den weiteren Luxus betraf, so ist zu sagen, dass Andrew Borden auch hier für einige Annehmlichkeiten wie fließendes Wasser zu geizig war. Denn obwohl es 1892 bereits Toiletten gab, befand sich lediglich eine selten genutzte Toilette mit Wasserspülung im Keller bei der Waschküche. Ansonsten wurden Nachttöpfe benutzt, die morgens zusammen mit dem Wasser der morgendlichen Wäsche und des Zähneputzens in den Hof (Rasen) geleert wurden.

Es hatte auch als einziges Haus in der Straße keinen Gasanschluss und Andrew beleuchtete das Haus lieber mit Kerosin-Lampen. Dabei saß er dann oft abends lieber im Dunkeln, um Kerosin zu sparen. Zeitungen sparte er auf zum Feuer machen oder als Toilettenpapier.

Immerhin gab es im Keller einen Heizkessel, der über verschiedene Rohre die Wärme in die oberen Zimmer des Hauses leitete. Der Kessel wurde mit Kohlen befeuert, die auch im Keller gelagert wurden. Dort befand sich die Waschküche, ein Vorrat an Kohle und Holz sowie Lebensmittel und auch die selten genutzte Toilette mit Wasserspülung.

Die gesamte Einrichtung des Hauses war eher fad und entsprach nicht der Einkommensklasse der Bordens, und schon gar nicht dem Geschmack der beiden Töchter. Apropos Geschmack: Andrew geizte auch beim Essen, denn dieses wurde so oft wieder aufgewärmt, bis es restlos verbraucht war – und was auch ein Grund für die plötzliche Übelkeit und angeblichen „Vergiftungserscheinungen“ der Familie am Tag vor den Morden hätten gewesen sein können.

Überhaupt waren der Geiz und das kalte, distanzierte Verhalten bezeichnend für Andrew Borden. Während andere wohlhabende Familien der Wohlfahrt und der Kirche spendeten, vergeudete er keinen Penny an diese Institutionen. Er war nicht sehr beliebt in der Stadt.

Abb.12: Grobe Skizze des ersten Stockwerkes (Autorin) An der hinteren Treppe befindet sich der Hintereingang in den Garten und der Aufgang zum Schlafzimmer der Bordens und Bridgets Dachkammer sowie der Abstieg in den Keller. Auf dem Sofa lag die Leiche von Andrew Borden.

Abb. 13: Grobe Skizze des zweiten Stockwerks (Autorin). Der Durchgang zwischen Lizzies Zimmer und dem Gästezimmer sowie Lizzies Zimmer und dem Schlafzimmer der Eltern war stets verschlossen (beidseitig) bzw. zusätzlich mit Möbeln von Lizzies Seite aus verstellt. Im Gästezimmer zwischen Bett und Kommode wurde Abbys Leiche gefunden.

Abb. 14: Grobe Skizze des Kellers (Autorin) mit Wäscheplatz und Kohle-/Holz-/Obst- und Gemüsekeller sowie der Toilette mit Wasserspülung und Ausgang in den Garten.

Abb. 15: Lageplan der Nachbarschaft. Vorne verläuft die Second Street, die hintere Straße ist die Third Street.

Haus der Bordens

Einfahrt zur Scheune

Haus der Churchills

Haus der Kellys

Haus von Dr. Bowen

Beobachtungsposten (Polizei)

Haus von Dr. Chagnon

Scheune der Bordens

Borden-Zaun, mit Stacheldraht obenauf

Obstgarten

Haus der Crowes

Lizzies mögliche Wurfposition des Beils

Scheune der Crowes, Fundort des Beils

Das Bild wurde von Autor und Illustrator Kurt Diedrich nach historischen Zeitungsausschnitten erstellt.

4. Die Geschichte der Familie Borden

Die Bordens gehörten, wie bereits erwähnt, zu den Gründerfamilien von Fall River. Ein kurzer Blick auf die Ahnenreihe bis hin zu den Geschäften des unsanft verstorbenen Andrew Borden gibt weitere Einblicke in das Denken und Handeln dieser Familie.

Begonnen hat alles mit John Borden, der 1635 von Kent, England, nach Boston auswanderte. Wegen Häresie seiner Gattin Anne Hutchinson, die die kirchlichen Schriften für den Geschmack der Obrigkeit etwas zu frei interpretierte, wurde er 1638 nach Portsmouth, Rhode Island verbannt.

Johns Sohn, ebenfalls auf den Namen John getauft, wurde 1640 geboren und 1684 ins Gefängnis gesperrt, weil er sich weigerte, Steuern zu bezahlen. Ihm gehörte das Land, das als das „West End“ von Fall River bekannt ist.

Johns Sohn Richard kaufte die Wasserrechte und zusätzliches Land im heutigen Fall River, um einen Grundstückstreit beizulegen. 1714 gehörten Richard und seinem Bruder fast das gesamte Gebiet von Fall River und ein großer Teil dessen, was heute Swansea und Somerset ist.

Richards Sohn, der wiederum ebenfalls Richard genannt wurde, wurde 1750 in eine reiche Familie geboren. Dessen Sohn Abraham (Vater unseres ermordeten Andrew und Großvater unserer Lizzie) hatte jedoch nicht den guten Geschäftssinn seiner Vorfahren geerbt und verlor recht schnell das gesamte Vermögen seiner Vorfahren.

Seinem Sohn Andrew konnte er lediglich die Wasserrechte und den Familienbesitz in der Ferry Street 12 hinterlassen, was zudem noch kein luxuriöses Anwesen war, sondern eine Hütte im Armenviertel der Stadt.

Andrew Borden hatte also alle Hände voll zu tun, um sich aus dieser Misere wieder hochzuarbeiten. Das gelang ihm auch durch Ausdauer und harte Arbeit. Doch obwohl er als ehrlicher Geschäftsmann galt, bediente er sich seltsamer Geschäftstaktiken.

Zunächst verdiente er sein Geld als Agent für „Crane’s Patent Casket Burial Cases“, ein Sargunternehmen, das Luxussärge verkaufte. Ihm wurde nachgesagt, dass er – wenn die Särge zu klein waren für die Verstorbenen – ihnen einfach die Füße abschnitt und daneben in den Sarg stopfte.

Danach kaufte er Gewerbeanwesen, die er an neue Geschäftsleute weitervermietete. Auch verlassene Farmen wurden von ihm aufgekauft und mit Gewinn weiterveräußert.

Schließlich begann er zusammen mit seinem Partner, William J. Almy, in Fall River ein Bestattungsunternehmen aufzuziehen. Von April 1844 bis ins Jahr 1878 führte er das Unternehmen sehr erfolgreich, bevor sie sich zur Ruhe setzten, aber weiterhin in der Immobilienbranche tätig blieben.

Almy und Borden kamen beide auf tragische Weise ums Leben und die Gerüchteküche führte diese Tatsache auf die unlauteren Geschäftspraktiken der beiden Herren zurück, die ihre Klienten oft betrogen und teure Särge verkauften, die beim anschließenden Begräbnis rasch gegen günstige Särge getauscht wurden.

1845 heiratete Andrew Borden Sarah Morse, eine Farmerstochter. Laut den Aussagen seiner Freunde eine echte Liebesheirat, im Gegensatz zur zweiten Ehe. 1851 wurde Emma geboren, 1856 Alice, die aber zwei Jahre später starb und 1860 folgte Lizzie – zur Enttäuschung von Andrew, der wenigstens jetzt mit einem Sohn gerechnet hätte. Daher taufte er sie „Lizzie Andrew Borden“.

1863 starb Sarah Borden im Alter von nur 40 Jahren an einer Unterleibskrankheit. 1865 heiratete Andrew erneut, Abby Durfee Gray, Tochter eines Weißblechverkäufers, der seine Ware von der Handkarre herunter feilbot. Abby war schon 38 und es war ihre erste Ehe.

Abb. 16: Karte von 1893. Rechts Fairhaven (wo Emma sich aufhielt) links New Bedford, von wo die Zuglinie nach Fall River führt (nach links weg, nicht mehr im Bild) und unten South Dartmouth, wo sich Onkel John Morse herumtrieb.

Die Familienmitglieder

Im Rahmen der Familienchronik haben wir schon gesehen, dass es sich bei Andrew Borden um einen schwierigen Menschen gehandelt haben musste. Ihm war nicht das Geld seiner Vorfahren in die Wiege gelegt worden, sondern er musste sich den Wohlstand wieder hart erarbeiten. Vielleicht stammte daher sein Geiz?

Nachdem wir auch sein Geschäftsgebaren gesehen haben, ist es nicht weiter verwunderlich, dass er sich auf diese Art und Weise Feinde geschaffen hatte – aber war diese Feindschaft stark genug, um ihn ermorden zu wollen?

Nicht nur die Geschäftspartner kamen als mögliche Mörder in Betracht, sogar in der eigenen Familie könnte sich der Mörder befinden. Neben Lizzie wurden zunächst noch andere Personen verdächtigt.

Werfen wir noch einen Blick auf diese anderen Familienmitglieder, von denen sich gewöhnlich nur die Eheleute Borden, die Schwestern Emma und Lizzie sowie das Dienstmädchen Bridget im Haus in der Second Street 92 aufhielten:

Sarah Borden, geborene Morse

Sarah heiratete Andrew mit 23 und bekam zunächst Emma, dann Alice, die jedoch nicht lange lebte und zuletzt Lizzie. Sie starb, als Lizzie zwei Jahre alt war.

Man sagte, sie hätte an schwerer Migräne sowie unkontrollierten Wutausbrüchen gelitten. Bösen Stimmen zufolge war dies jedoch der Tatsache geschuldet, dass sie ausgerechnet mit Andrew Borden verheiratet war.

Man hatte ihr auch nachgesagt, dass sie wohl verrückt war, aber das konnte nicht bewiesen wären – es war wohl nur eine Wunschvorstellung der vielen Forscher, die gerne Lizzie eine Art „vererbten Wahnsinn“ angedichtet hätten, um die Morde zu erklären.

Dass Lizzie die Tat möglicherweise wirklich in einer Art Anfall begangen hat, wurde häufig thematisiert und wird in einem separaten Kapitel noch untersucht werden.

Abb. 17: Sarah Morse mit Baby Emma

Abby Durfee Gray (Borden)

Abby war bereits 39 als Andrew sie geheiratet hat und genaugenommen keine standesgemäße Wahl für den reichen Witwer. Dieser arbeitete 14 Stunden am Tag und brauchte mehr oder weniger jemanden, der sich um die beiden kleinen Mädchen und den Haushalt kümmerte.

Abb. 18: Abby Borden

Abby war zufrieden damit, eine reiche Partie gemacht zu haben. Von einer Liebesheirat kann nicht die Rede sein. Dennoch berichten die Quellen, dass die Ehe wohl für beide zufriedenstellend war. Für Abby war sie eine gute Partie und Andrew hatte jemanden, der Zuhause nach dem rechten sah.

Verschiedene Quellen berichten unterschiedlich von ihren Leistungen und Bemühungen als Stiefmutter der beiden Mädchen. Einerseits heißt es, sie habe sich redlich bemüht, die kleinen Mädchen gut zu erziehen und sich um sie zu kümmern, andere sagen, sie hätte mit den Kindern überhaupt nichts anfangen können.

Manche gehen so weit, ihr sogar regelrechte Quälereien und Gemeinheiten zu unterstellen. Lizzie behauptete bei verschiedenen Gelegenheiten und auch ihren Freunden gegenüber, dass sie Abby nicht leiden konnte, weil sie so gemein zu ihr war.

Andrew Borden

Andrew war ein Geschäftsmann, der pünktlich seine Schulden zahlte und unerbittlich war gegenüber seinen Schuldnern. Auch im privaten Leben war er geizig und gönnte sich selbst keine Freude.

Er war aktives Mitglied der Abstinenzbewegung der Kirchengemeinde und trank nicht nur selbst keinen Alkohol, sondern verachtete diejenigen, die sich ab und zu Alkohol gönnten. Sogar Gewürzen im Essen gegenüber war er abgeneigt, da diese angeblich später – nach dem Essen – den Wunsch nach Alkohol aufkommen lassen.

Abb. 19: Andrew J. Borden

Seine Sparsamkeit zeigte sich auch am Essen, beispielhaft an dem Frühstück, das es am Mordtag gegeben hatte: übrig gebliebene Suppe, kaltes Hammelfleisch und Johnnycakes (eine Art Maisfladen).

Zum Vergleich: Das typische Frühstück der damaligen Zeit bestand üblicherweise aus Beefsteak, Bacon, Eiern, Bratkartoffeln, Weizengebäck, Würstchen, Porridge, Doughnuts (Krapfen) und Früchten.

Obwohl er also gut betucht war, war er zu geizig für ein gängiges Frühstück. Und wenn man sein Verhalten, seine Lebensweise und sein Geschäftsgebaren betrachtet, ist es kein Wunder, dass zu seiner Beerdigung zwar mehrere Tausend Schaulustige kamen, aber kaum jemand darunter war, der ernsthaft um ihn trauerte.

Emma Borden

Von Emma ist so gut wie nichts überliefert. Sie war eine recht farblose und unauffällige Person, schüchtern, zurückhalten und fleißig, und war stets froh, wenn man sie einfach übersah. Mit ihrer häuslichen und gesellschaftlichen Situation schien sie zufrieden zu sein und ansonsten gibt es von ihr praktisch keine Berichte und noch weniger Fotos.

Sie hatte nur wenige Freunde und war für die kleine Lizzie eher eine Mutterfigur als eine Schwester. Angeblich hatte sie mit 14 Jahren ihrer Mutter am Sterbebett versprochen, sich stets um Lizzie zu kümmern. Was sie auch während der harten Zeit der Verhandlungen im Mordfall tat.

Emma ging – im Gegensatz zu Lizzie - nicht gerne in die Kirche und stoppte ihre Aktivitäten beizeiten, doch sie ließ es sich nicht nehmen, stattdessen viel Zeit mit ihrem Onkel und ihrer Tante väterlicherseits zu verbringen.

Manche versuchen trotz Emmas unauffälliger Art dennoch, einen Bogen zu spannen, um in Emma die Mörderin zu sehen, wofür es aber keinerlei handfeste Anhaltspunkte gibt. Außer vielleicht der Tatsache, dass sie früh und viel erben würde, denn ihr Vater war ein reicher Mann und Geld ist oft ein Motiv.

Als weiterer Grund wird genannt, dass sie sich in einen Mann verliebt hatte, der unter ihrem Stand war und den sie aufgrund eines Verbotes von Andrew Borden nicht heiraten durfte. Angeblich konnte auch ihr Alibi – ihr Aufenthalt in Fairhaven zum Zeitpunkt des Mordes – nicht bestätigt werden.

Abb. 20: Emma Borden

Hiram Harrington

Mit ihrem Onkel Hiram und ihrer Tante verbrachte Emma viel Zeit, da sie die beiden mochte – was offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte.

Mrs. Luana Harrington war Andrews Schwester, Hiram Harrington sein Schwager. Wo Andrew laut und extrovertiert war, war Hiram eher ruhig und zurückgezogen. Er und seine Frau hatten sich nach dem Tod von Sarah Borden gut um die Mädchen gekümmert. Hiram entsprach als Schmied jedoch nicht dem sozialen Status der Bordens.

Hiram mochte zwar Emma, konnte aber Lizzie nicht leiden und diskreditierte sie nach den Morden heftig bei einem Zeitungsinterview. Sie konnte ihn ihrerseits auch nicht ausstehen und führte ihn vor Gericht als Hauptverdächtigen für die Morde an. Die Spur wurde jedoch nicht verfolgt.

Zur Beerdigung erschienen Abbys zwei Schwestern, Lizzie, Emma, Alice Russell, Onkel John Morse, Addie Churchill, Mrs. Holmes, Dr. Bowen mit Gattin, Mr. Almy und die Priester Mr. Buck und Mr. Adams. Andrews Schwester Mrs. Harrington sowie Hiram Harrington erschienen dagegen (zumindest lt. Victoria Lincoln) nicht zur Beerdigung. Diese Angabe variiert jedoch in den Quellen.

John Vinnicum Morse

Onkel John, Bruder der ersten Frau von Andrew Borden, war kurz nach dem Mord der erste Verdächtige, den die Einwohner von Fall River mit Vergnügen aufgehängt hätten.

Er war ein geheimnisvoller, großer, gut aussehender Fremder, der zwar in Fall River aufgewachsen war, aber schon früh nach Westen ging. John war höchst verdächtig, bereits aufgrund seines Aussehens, denn er kleidete sich wie ein „Hobo“, ein nordamerikanischer Wanderarbeiter, ein oft heimatloser Taglöhner.

Abb. 21: Beispiel für die Kleidung: Hier zwei „Hobos“, ca. 1880-1930

Er zog von Fall River zuerst nach Illinois und dann nach Iowa, wo er 25 Jahre als Pferdezüchter arbeitete. John und Lizzie hatten kein gutes Verhältnis zueinander, und immer wenn er auftauchte, achtete sie darauf, ihm aus dem Weg zu gehen.

Als er sogar in der Zeitung (Daily Globe vom 11. August) offiziell als frei von jedem Verdacht dargestellt wurde, ließ das erste Interesse an seiner Person und seiner Täterschaft sofort nach. Sein seltsam verdächtiges Verhalten, das er am Tag des Mordes zeigte, hinterlässt jedoch einen seltsamen Beigeschmack.

John Morse vertrug sich sehr gut mit Andrew Borden und konsultierte ihn stets, wenn Geschäfte anstanden, und fragte ihn um Rat. Beide Männer waren charakterlich zumindest geschäftlich auf einer Wellenlänge und verstanden sich gut.

Abb. 22: John V. Morse

Bridget Sullivan

Bleibt noch Bridget („Maggie“) Sullivan, die irische Dienstmagd, die am Tag des Mordes anwesend war und die Möglichkeit für den Mord gehabt hätte. Hatte sie auch ein Motiv?

Man sagte, dass sie mit den teilweise minderwertigen Arbeiten im Haushalt und der schlechten Behandlung durch die Familie schwer unzufrieden gewesen sei. Aber auch hier ist die Frage: Reichte dies aus, um die Arbeitgeber in blinder Wut in Stücke zu hacken?

Außerdem entspricht dies nicht einmal der Wahrheit, denn Bridget hatte nur wenige Pflichten im Haus. Kochen und die Wäsche machen gehörten dazu, Fenster putzen und einige Zimmer reinigen. Aber ansonsten kümmerten sich die Bordens jeder um seinen eigenen Bereich und das machte Bridget eher zu einer Köchin mit kleineren Putzaufgaben.

Die hübsche junge Frau war seit 1889 im Haushalt der Bordens angestellt und vertrug sich gut mit den Schwestern und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass sie sich mit ihren Arbeitgebern nicht gut verstanden hätte.

Abb. 23: Bridget Sullivan

William Borden

Interessanterweise taucht in einigen Quellen „William Borden“ auf, der uneheliche Sohn von Andrew, der ebenfalls als Mörder infrage kommt. Er hatte anscheinend versucht, bei seinem Vater Geld zu schnorren, was dieser vehement ablehnte. Reichte das als Mordmotiv?

Nachdem er bei seinem Vater erfolglos um Geld gebeten hatte, genauer gesagt um das ihm zustehende Erbteil, hatte Andrew Borden die Nase voll und änderte sein Testament.

Im Falle seines Todes würde das Geld entweder an Abbys Familie oder eine gemeinnützige Organisation gehen. Was somit natürlich auch Lizzie und Emma ausschloss. Ein weiteres Mordmotiv, was für eine der beiden Schwestern sprechen würde?

Wie wir noch in einem separaten Kapitel über den geheimnisvollen Mann sehen werden, ist aber der uneheliche Sohn ein umstrittenes Thema und ein Testament von Andrew Borden konnte nirgendwo gefunden werden. Diese Spur führt also ins Leere.

Lizzie Andrew Borden

Kommen wir schließlich zur Hauptperson dieses Buches.

Lizzie wurde am 19. Juli 1860 in Fall River geboren, zwei Jahre später starb ihre Mutter. Ihre ältere Schwester Emma war damals bereits 12 Jahre alt. Für die kleine Lizzie war Emma wie eine Freundin oder Mutter.

Der schwerreiche Witwer Andrew Borden heiratete erneut, Abby, die eigentlich keine große Lust hatte, zwei Stiefkinder aufzuziehen.

Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, denn die Schwestern konnten ihre neue Mutter nicht ausstehen. Bei Lizzie war die Feindschaft aber offenbar stärker ausgeprägt als bei Emma.

Abb. 24: Lizzie Borden

Die beiden Mädchen verbrachten ihre Zeit hauptsächlich mit verschiedenen kirchlichen Aktivitäten, Lizzie unterrichtete sogar Immigrantenkinder in der Sonntagsschule. Sie war nie auffällig geworden, schon gar nicht als gewalttätige Person.

Allerdings war sie äußerst unzufrieden mit ihren Lebensumständen. Denn obwohl ihr Vater schwer reich war, war er extrem geizig und ein Kontrollfreak.

Andrew Borden wurde bei seinem Tod auf 500.000 $ geschätzt, was heute einem Vermögen von 1 Million $ entspricht.

Abb. 25: N.B. Borden School, Morgan Street 43, erbaut 1867 . Die älteste Schule in Fall River. Sie wurde erst 2007 geschlossen.

Die Familie hatte unter seiner bestimmenden und lieblosen Art zu leiden und besonders Lizzie fühlte sich in der häuslichen Umgebung unwohl. Sie würde gerne standesgemäß leben, Partys geben und sich schöne Dinge leisten können, stattdessen war das Haus reparaturbedürftig und das Essen manchmal verdorben, weil der Vater darauf bestand, dass sie die Vorräte aufzuessen hatten, anstatt sie wegzuwerfen.

Lizzie war ebenfalls schüchtern, genau wie Emma, wollte aber gerne Teil der High Society sein, wie es sich für eine reiche Borden gehörte. Sie war kräftig gebaut und hatte eine dicke Taille und breite Schultern, dazu noch rote Haare, was damals als hässlich galt.

Auch ihr breiter Unterkiefer war wenig vorteilhaft, sodass sie sich für Fotografien stets nur seitlich ablichten ließ, um nicht noch breiter zu wirken. Ihre Hände waren etwas zu groß, aber weiß und elegant und sie besaß Augen von einem anziehenden, fast durchsichtigen Eisblau.

Sie kleidete sich stets nach dem neusten Schrei und vor allem teuer. Lizzie war stets höflich und freundlich und spielte Klavier – wenn auch nicht übermäßig gut – wie es sich für alle Mädchen ihrer damaligen Gesellschaftsschicht gehörte.

Abb. 26: Fall River Public Library, 1899. Die Bücherei wurde 1860 erbaut. Lizzie war eine begeisterte Leserin und lieh sich nach Auskunft der Bücherei mehr Bücher aus als andere Einwohner von Fall River.

Fünf Jahre vor den Morden wurde sie ein aktives Mitglied der „Central Congregational Church“, was ihren sozialen Status festigte, und sie schaffte es sogar, ihren Vater zum Beitritt zu überreden, obwohl er nur ungern Mitglied wurde.

Auch ihr weiteres Engagement war vorbildlich:

Sie wurde Schatzmeisterin der „Christian Endeavor“. Dabei handelte es sich um eine nicht-konfessionelle evangelische Gesellschaft, die in Portland, Maine, im Jahre 1881 von Francis Edward Clark gegründet wurde. Ziel war die Förderung eines ernsthaften, christlichen Lebens und der Bereitschaft, sich im Dienste Gottes nützlich zu machen.

Abb. 27: Lizzies Kirche: Die Central Congregational Church, Rock Street 100, (jetzt: International Culinary Arts Institute) wurde 1875 erbaut.

Daneben war sie ein aktives Mitglied der „Ladies Fruit and Flower Mission“, die den Kranken im Hospital Obst und Blumen brachte.

Und sie war auch ein Mitglied der „Woman's Christian Temperance Union (WCTU)“, der größten Frauenorganisation der damaligen Zeit, die sich für das Alkoholverbot, die Rechte der Frauen und Sozialreformen einsetzte.

Ein Jahr vor den Morden wurde sie Vorstandsmitglied des „Good Samaritan Charity Hospital“.

Sie arbeitete sehr hart für ihre Vereinigungen, verrichtete auch viele niedere Arbeiten und unterstützte die Gruppen hauptsächlich finanziell – wobei dieses Geld wiederum von ihrem Vater kam, der seinen Töchtern kaum einen Wunsch abschlagen konnte, sie aber auch nicht gerade mit Reichtum überhäufte.

Trotz ihres fleißigen Einsatzes und der Sonntagsschulklasse chinesischer Immigrantenkinder, die sie unterrichtete, attestierte ihr die Schule ungeachtet ihres guten Rufes, dass sie es nicht schaffte, in der Klasse für Disziplin zu sorgen.

Sie konnte sich nicht einmal gegen die Kinder durchsetzen. So sagte der Schulleiter gegenüber einem Reporter des Providence Journals aus, als er im Rahmen der Berichte nach den Morden über Lizzie befragt wurde.

Das Providence Journal ist die größte Tageszeitung in Rhode Island und die älteste in den Vereinigten Staaten. Sie erschien erstmals 1823 und hat bislang viermal den Pulitzer Preis erhalten.

Lizzie war anscheinend stets auf der Suche nach Anerkennung und Liebe und konnte mit Kritik und Ablehnung nicht gut umgehen. In der Liebe zu ihrem Vater war ihre Stiefmutter ihr ein Dorn im Auge, da sie eine Nebenbuhlerin war. Mehr als einmal hatte sie offen zugegeben, dass sie ihre Stiefmutter nicht leiden konnte. Das wurde auch vor Gericht von den Zeugen ausgesagt.

Ihr ehemaliger Lehrer Horace Benson sagte aus, dass sie in der Schule durchschnittlich war, launisch und stets unzufrieden mit ihrer Stiefmutter, was sie auch ohne zu zögern kommunizierte.

Sie hing sehr an ihrer Schwester Emma, die für sie der eigentliche Mutterersatz („kleine Mutter“) war. Emma hatte Sarah Borden auf dem Sterbebett versprochen, sich stets um „Baby Lizzie“ zu kümmern und das hat sie auch ihr Leben lang getan.

Am 21.06.1890 reisten Lizzie und Emma 19 Wochen durch Europa, was als Hinweis dafür gedeutet wurde, dass sie ihrem unglücklichen Zuhause eine Weile entfliehen wollten.

TEIL II DER ABLAUF DER EREIGNISSE

Chronologischer Ablauf

Über diesen Fall wurde so viel berichtet, auch so viel Widersprüchliches, das wir im Laufe des Buches einiges davon enttarnen werden. Lassen Sie uns zunächst die Kernpunkte des Falls in einer groben Zusammenfassung anschauen. Auf die Hauptpunkte darin gehen wir dann später ein, um den Ablauf nicht durch zu lange Erklärungen aufzublähen.

Abb. 28: Haus von Lizzie Borden

3. August 1892 – Am Vortag der Morde

Sehen wir uns nun zunächst den Tag vor dem Mord an: Die Familie fühlte sich bereits in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch nicht wohl und Abby und Andrew mussten sich heftig übergeben.

08:00 Uhr: Abby Borden sucht Dr. Bowen auf und erzählt ihm, dass sie befürchtet, vergiftet worden zu sein.

Dr. Bowen kann die Diagnose nicht bestätigen. Es handelt sich seiner Meinung nach vielmehr um die ungünstige Auswirkung des mehrfach aufgewärmten Resteessens, das in dem geizigen Haushalt serviert wurde. In diesem Fall alter Fisch und aufgewärmter Hammel.

Als er ein oder zwei Stunden später im Haus auftaucht, um nach den Bordens zu sehen, bemerkt er, wie Lizzie die Treppe hinaufhastet.

Andrew Borden rügt den Arzt wegen des unaufgeforderten Auftauchens. Er ist der Meinung, dass die Konsultation eines Arztes nicht notwendig sei, und hatte Abby daher bereits vor dem Verlassen des Hauses gesagt, dass er für diesen Arztbesuch nicht bezahlen würde.

10 – 11:30 Uhr: Lizzie versucht in „Smiths Apotheke“ an der Ecke Main Street/Columbia Street Blausäure von Apotheker Eli Bence zu kaufen.

Sie behauptet, sie benötigt es, um einen Pelz von Ungeziefer zu reinigen. Doch Blausäure ist rezeptpflichtig, da hochgiftig, und der Apotheker weigert sich, es ihr zu verkaufen. Im Prozess behauptet sie, sie sei nie in der Apotheke gewesen und kenne weder diese noch die Adresse noch den Apotheker. Außerdem sei sie den ganzen Tag Zuhause gewesen.

12:00 Uhr: Lizzie, Andrew und Abby essen gemeinsam. Dies ist ungewöhnlich, da Lizzie normalerweise, genau wie Emma, die Mahlzeiten nicht gemeinsam mit der Stiefmutter einnimmt.

12:35 Uhr: Lizzies Onkel John Vinnicum Morse nimmt den Zug von New Bedford nach Fall River

13:30 Uhr: Morse geht vom Bahnhof zum Haus der Bordens.

Da John Morse Pferde züchtet, ist es zunächst seltsam, dass er mit der Bahn und zu Fuß kommt. Außerdem reist er ohne Gepäck, obwohl er beabsichtigt, mehrere Tage zu bleiben.

14:00 – 16:00 Uhr: John Morse und Andrew unterhalten sich im Wohnzimmer; Lizzie hört ihr Gespräch mit.

Es wird vermutet, dass sie hierbei etwas hört, was sie später zur Tat treibt. In Verdacht steht ein für sie finanziell nachteiliges Geschäft oder auch der Gedanke, dass der Vater sie wegen ihrer unstabilen Psyche „wegsperren“ lassen will.

Welche Gespräche sie hört, bleibt reine Spekulation. Hierüber sagt sie nichts aus und der einzige andere Zeuge, John Morse, gehört zum Kreise der Verdächtigen, seine diesbezügliche Aussage muss also nicht zwangsläufig korrekt sein.

16:00 Uhr: John Morse mietet Pferd und Wagen bei Kirby‘s Stable und fährt am späten Nachmittag nach Swansea, wo Andrew Borden eine Farm besitzt. John beabsichtigt anscheinend, diese zu erwerben, Andrew überlegt jedoch, ob er sie Abby überschreiben soll.

Dies wäre ein zweites Geschäft zu Lizzies und Emmas Ungunsten, die schon bei der Überschreibung eines Hauses zuvor „ausgeflippt“ sind und von ihrem Vater zur Besänftigung eine Immobilie erhalten hatten. Seit diesem Vorfall hatte Lizzie auch aufgehört, Abby „Mutter“ zu nennen.

19:00 Uhr: Lizzie besucht ihre Freundin Alice Russell und sagt ihr, dass sie Angst hat, „dass etwas passieren wird“.

Sie erzählt ihr von der Übelkeit, die im Haushalt der Bordens grassiert und der Vermutung, dass jemand sie vergiften haben könnte. Sie erzählt auch, dass sie Angst hat, dass jemand ihrem Vater etwas antun könnte, weil er nicht nett sei zu den Leuten.

Außerdem berichtet sie ihrer Freundin erstmals von einem Einbruch im Vorjahr, über den bisher Stillschweigen bewahrt wurde – vermutlich, weil Lizzie angeblich kleptoman ist und der Einbruch von ihr durchgeführt wurde.

Andrew Borden hat die diesbezüglichen Nachforschungen bei der Polizei zurückgezogen. Seither wurden auch alle Zimmer und das Haus stets mehrfach gut verschlossen gehalten wie eine Festung.

20:45 Uhr: Morse kehrt aus Swansea zurück, spricht im Wohnzimmer mit Andrew und Abby.

21:00 Uhr: Lizzie kehrt von Alice Russell zurück und geht sofort in ihr Zimmer, ohne mit ihrem Vater oder Onkel zu sprechen.

John ist selten da und Lizzie geht ihm regelmäßig aus dem Weg, weil es immer irgendeine Art von Ärger gibt, wenn er auftaucht. Dazu später noch mehr, wenn es um die Immobilienangelegenheiten geht.

21:15 Uhr: Lizzie geht zu Bett. Sie gibt später zu, dass die Stimmen der Erwachsenen unten sie gestört hätten und sie daher ihre Zimmertür geschlossen hat.

In dem hellhörigen Haus und bei den geöffneten Fenstern hat sie vermutlich dennoch das Gespräch der Männer verfolgen können, was den oben genannten Verdacht zusätzlich unterstreicht.

22:00 Uhr: Andrew und Morse gehen ebenfalls schlafen.

Das Gespräch mit Alice Russell am Vorabend der Morde

Wir haben bei der Schilderung der Tage vor dem Mord einige Punkte erfahren, die wir ausführlicher anschauen müssen, bevor wir uns um den Tag der Tat kümmern.

Am Mittwoch Abend, dem Tag vor dem Mord, verließ Lizzie noch einmal das Haus und vertraute sich ihrer Freundin Alice Russell, die unweit von ihr in der Borden Street 33 wohnte, an.

Abb. 29: Zeichnung von Alice Russell in der Zeitung, 1893

Lizzie fühlte sich bedroht, konnte nicht schlafen, hatte das Gefühl, dass etwas passieren würde. Sie bezog sich dabei auf die Scheune, in die bereits zweimal eingebrochen worden war und erzählte von einem Einbruch vor einem Jahr, den die Familie bisher geheim gehalten hatte, sowie von Männern, die ihren Vater besucht und mit ihm gestritten hatten.

Sogar von Abbys Angst, vergiftet worden zu sein, erzählte sie ihrer Freundin. Alles in allem schien sie schwer beunruhigt.

a) die geheimnisvollen Männer

Sie erzählte Alice, dass sie Angst hatte, dass ihr Vater einen Feind hätte, der ihm etwas tun würde und dass sie so unruhig sei, dass sie stets mit einem offenen Auge schliefe.

Außerdem erzählte sie von einem Mann, der vor zwei Wochen bereits mit Andrew gestritten hatte, weil er einen Laden mieten wollte. Namen und Beschreibungen konnte sie jedoch keine abgeben, weil sie die Männer nur gehört, aber nicht gesehen hatte.

Bei ihrer Befragung später erwähnte sie, dass sie bei zwei Gelegenheiten einen Mann auf dem Grundstück gesehen hatte (in der Nacht), der dann weggelaufen war.

Nach dem Mord ergänzte sie, dass am Tattag morgens um neun ein Mann geklingelt habe, der sich mit ihrem Vater gestritten hätte. Er hatte sich angehört wie ein „Englishman“, ein Ausdruck, der zur damaligen Zeit für einen „Lancashireman“ verwendet wurde, einen Fabrikarbeiter. Erneut der Mann, den der Vater nach dem letzten Gespräch des Hauses verwiesen hatte?

b) der Einbruch und Lizzies Kleptomanie

Am 24.06.1891 waren Andrew und Abby gemeinsam unterwegs zur Farm in Swansea. Ein seltenes Ereignis, da Abby ihn für gewöhnlich nicht begleitete. Emma, Lizzie und Bridget waren Zuhause.

An diesem Datum wurde prompt am hellichten Tag bei den Bordens eingebrochen und zielsicher Schmuck (Familienerbstücke) und Bargeld (30 Dollar) sowie Fahrkarten (die nummeriert waren und somit bei der Verwendung den Dieb bloßstellen würden!) aus dem Schlafzimmer der Eltern, genauer gesagt aus Abbys Geldbeutel, entwendet. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört.

Abb. 30: Beispiel für eine Straßenbahn von 1884, Fall River

Die Polizei fand einen Nagel in der Kellertür, mit dem man das Schloss wohl aufgebrochen hatte. Der Fall blieb verzwickt, wurde nie aufgelöst und schließlich wurde sogar die Anzeige bzw. die Untersuchung von Andrew Borden zurückgezogen.

Man vermutete, dass Andrew Borden dies tat, weil er seine eigene Tochter als Diebin im Verdacht hatte, vor allem, da sie angeblich bereits des Ladendiebstahls überführt werden konnte. Die Legende besagt, dass fehlende Gegenstände in den Geschäften ihm dann als von Lizzie gestohlen gemeldet wurden und er sie bezahlte, ohne ein großes Aufheben davon zu machen.

Die Kleptomanie, die Lizzie gar nicht nötig gehabt hätte, weil sie sich diese Dinge auch hätte problemlos von ihrem eigenen oder Vaters Geld leisten konnte, könnte auch die Begleiterscheinung einer psychischen Störung gewesen sein – oder ein Ruf nach Aufmerksamkeit. Manche Autoren weisen übrigens darauf hin, dass die Kleptomanie nur eine Legende war und es keine Belege dafür gab.

Dass es auch außerdem überhaupt nicht zu Andrew Borden passen würde, unbesehen irgendwelche Rechnungen zu bezahlen, von denen Ladenbesitzer behaupteten, dass es sich dabei um Dinge handelte, die Lizzie gestohlen hatte.

Jedenfalls lag der Verdacht nahe, dass es sich bei dem Diebstahl um einen „Inside-Job“ gehandelt hatte. Es steht sogar angeblich fest, dass die Fahrkarten tatsächlich von Lizzie eingelöst worden waren (es wird berichtet, dass der Schaffner dies aussagte). Nur dann würde es auch Sinn machen, dass Andrew Borden plötzlich von einer Strafverfolgung absah.

Nach diesem Einbruch wurde jede Tür des Hauses durch mehrfache Schlösser gesichert, wie in einem Hochsicherheitstrakt. Andrew Borden schloss sein Zimmer stets ab und hängte den Schlüssel auf den Kaminsims – für manche Interpreten ein deutliches Zeichen dafür, dass er Lizzie in Verdacht hatte und den Schlüssel als stumme Warnung in Sichtweite aufbewahrte. Nur dann würde diese ungewöhnliche Handlung einen Sinn ergeben.

(Angeblich gewährte er jedoch Bridget einen Schlüssel für die Seitentür, damit sie nach oben in ihr Zimmer gehen konnte.)

Lizzie selbst schloss ihr Zimmer auch immer ab, selbst wenn sie nur kurz ihr Zimmer verließ, um nach unten in den Salon oder in die Küche zu gehen. Auch bei den Durchgangszimmern im zweiten Stock wurden alle Türen geschlossen und von beiden Seiten verriegelt.

Somit fiel auch der Durchgang vom Gästezimmer in Lizzies Zimmer und von dort ins Zimmer ihrer Eltern flach. Die Türen waren nicht nur von beiden Seiten verriegelt, sondern auch von Lizzies Seite aus mit einem Regal bzw. einem Schreibtisch zugestellt.

Diese mehrfachen Verriegelungen machten es für die Anklage auch so schwer, von einem externen Täter auszugehen, denn er hätte nur begrenzte Eintritts-, Aufenthalts- und Fluchtmöglichkeiten gehabt.

c) Einbruch in den Stall: das Tauben-Drama

Im April/Mai 1892 ereignete sich das nächste für Lizzie dramatische Ereignis. Sie züchtete im Schuppen Tauben, da sie Tiere liebte.

Nachdem das Pferd verkauft worden war und bereits zweimal in den Stall eingebrochen worden war, um Tauben zu stehlen, machte Andrew Borden kurzen Prozess. Er köpfte alle mit einem Beil und schaffte damit den Grund für die Einbrüche ab.

Lizzie war schockiert und erschüttert. Sie sagte später, sie dachte, der Vater hätte ihnen den Hals umgedreht, angeblich war ihr nicht klar, dass er sie mit dem Beil geköpft hatte.

Sarah Miller weist in ihrem Buch über den Fall darauf hin, dass die Tauben vermutlich keine Freizeit-Zucht von Lizzie waren, sondern dort einfach nur gehalten wurden, um sie gelegentlich zu verspeisen. Insofern wurde der Fall in der einschlägigen Literatur wohl ein wenig überbewertet. Aber wie bekannt ist, liebte Lizzie Tiere und so taten ihr die Vögel vermutlich trotzdem leid.

Es ist aber schwer vorstellbar, dass Lizzie ihren Vater deswegen tötete, weil er die Tauben, die nur als Nahrungsmittel gehalten wurden, umbrachte, um sich vor weiteren Einbrüchen zu schützen.

d) angekündigte Reise nach Marion zum Fischen

Kurz nach dem Tauben-Drama reisten die Schwestern nach New Bedford, blieben aber bei verschiedenen Freunden. Lizzie verreiste auch gelegentlich alleine, am 23. Juli ging sie zum Beispiel auf Shopping-Tour und am 25. Juli besuchte sie den reichen Charles W. Anthony auf seiner Jacht.

Alice Russell hatte Lizzie offenbar empfohlen, mal wieder zu verreisen und Lizzie sagte ihr am Tag vor den Morden, sie hätte bereits nach Marion geschrieben und dort zugesagt. Sie fühlte sich aber ein wenig depressiv, wie schon beim letzten Treffen, und hätte das seltsame Gefühl, dass irgendetwas über ihr hinge, was sie nicht abschütteln könnte, egal wo sie sich aufhielt.

Der zugesagte Angelausflug passt jedenfalls zu der Geschichte, dass sie in der Scheune nach Grundgewichten/Bleigewichten für diesen Ausflug suchte. Und wenn sie tatsächlich am Freitag noch neue Gewichte und Angelleinen hätte kaufen müssen, war es keineswegs verfrüht, am Donnerstag zu prüfen, ob sie noch Gewichte hatte oder diese auch besorgen musste.

e) Krankheit und Vergiftung

Am Sonntag vor den Morden gab es Hammelfleisch – was von den Chronisten als Anomalie angesehen wird, da Bridget angeblich in den drei Jahren seit sie bei den Bordens arbeitete, noch nie Hammel serviert hatte. Der Hammel wurde dann anscheinend am Mittwoch und Donnerstag erneut serviert (zum Frühstück und zum Mittagessen), dazwischen gab es am Montag und Dienstag Fisch.

An dem Tag, Dienstag, gab es zum Abendessen aufgewärmten Fisch vom Vortag und in der Nacht mussten sich Andrew und Abby laufend übergeben. Am Mittwoch fühlten sich Lizzie und Bridget (die Magd) flau und unwohl. Dies gaben sie auch beim Verhör so zu Protokoll.

Abby spürte anscheinend, dass Unheil drohte. Nicht nur, dass sich Lizzie bei dieser Hitzewelle in ihrem Zimmer verbarrikadierte, anstatt mit ihren Freundinnen schwimmen zu gehen und nicht nur dass sie sich – obwohl sie bislang noch nie Magenverstimmungen gehabt hatte – die ganze Nacht hatte übergeben müssen, nein, ihr Gatte war (mit dem Swansea-Geschäft) dabei, denselben Fehler zu begehen wie damals, als Lizzie aufgehört hatte, sie „Mutter“ zu nennen und die Situation bereits schon einmal eskaliert war.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Und so zog sie sich am Mittwoch an und suchte Dr. Seabury Bowen, den Hausarzt, auf, der im Haus gegenüber wohnte.

Andrew rief ihr noch hinterher, dass er für diesen Arztbesuch nicht bezahlen würde, weil er ihn für völlig unnötig hielt. Abby erzählte Dr. Bowen, dass sie Angst hatte, vergiftet zu werden und wurde von ihm ausgelacht, als er vom aufgewärmten Fisch hörte. Danach ging er trotzdem zu den Bordens hinüber, um nach den anderen zu sehen. Andrew stritt daraufhin mit ihm.

Es war Lizzie peinlich, wie sich ihr Vater dem Hausarzt gegenüber aufführte und sie erzählte Alice auch diese Begebenheit. Sie erwähnte auch, dass es allen schlecht gegangen wäre, außer Bridget. (Eine versteckte Anspielung?)