Der Falschkünstler - Boris Revout - E-Book

Der Falschkünstler E-Book

Boris Revout

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Beschreibung

Eine fast unglaubliche Geschichte des Werdegangs eines kleinen Knabes, der in einer Arbeiterfamilie aufwuchs und mit dem bescheidenen Vergnügen vollkommen zufrieden war. Ein Zusammentreffen der Umstände sorgte aber dafür, dass man in ihm das Interesse an historische Ereignisse erweckte. Allmählich sollten alle benötigten Ereignisse und Personen so zielgerichtet zeitlich und räumlich zusammenfallen, als ob es von einem mächtigen himmlischen Willen vorbestimmt worden war. Der Inhalt des Buches bestätigt nochmals, dass sogar unwahrscheinliche Umwandlungen in dieser Welt möglich sind.

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Seitenzahl: 593

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Auf dem Umschlag das Gemälde von Natalie Revout

Inhaltsverzeichnis

Bruchstücke aus der Kindheit und Jugend

Eine beachtenswerte Unterhaltung

Der Anfang der großen Freundschaft

Historische Erfahrungen

Die Begeisterung für die Geschichte wächst

Die lebenswichtige Förderung

Die Reise nach Tadschikistan

Die Neugier, die unbekannte Erfahrungen mitbrachte

Die Sinnestäuschung geht weiter

Die Pflicht, brüderliche Bürde zu übernehmen

Der Verbündete des Atamans

Die größten Unruhestifter

Vielversprechende Aussichten

Sowjetische Nah Osten Politik

Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen

Alte Liebe rostet nicht

Verzweiflung, die unberechenbaren Gedanken auslösen kann

„Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewusst“

Die Katastrophe

Eine Sonderdialektik des Wachstums

Eine Kremlbegegnung

Ein seltsamer Traum

Können Vorstellungen über Menschen regieren?

Volkstümlichkeit

Das Bildungswesen

Der erste Überblick der Regierung

Ein unerwarteter Termin

Das Volk ist der Schöpfer der Geschichte

Wer Gott vertraut, hat nicht auf Sand gebaut

Kein Frieden ohne Krieg

Jedem Tierchen sein Pläsierchen

Kriminalitätsbekämpfung

Abweichung von einem richtigen Koordinatensystem

Erinnerung an die Jugend

Die hohe Kunst, Mitmenschen für sich zu gewinnen

Auf dem Kriegsfuß stehen

Ist die Weltherrschaft noch möglich?

Eine neue Wendung der Außenpolitik

Ein beschädigtes Selbstbewusstsein

Was man in der Politik wirklich ändern könnte

Cherchez la femme

Nicht majestätische Träume

Noch eine Anspielung aus dem Himmel

Der Epilog

Bruchstücke aus der Kindheit und Jugend

Als ein kleines Kind war Andrej Lusin ziemlich aufgeweckt, indem er manchmal imstande war, bestimmte Sachen des Haushalts ziemlich einfach aufzulösen. So setzte es seine Mutti in Erstaunen, als sie nach der schweren Arbeit zuhause war und deren kaputte Lieblingsschuhe repariert gefunden hatte. Die Nähte waren eher zu grob gemacht worden, doch man konnte die alten Schuhe unbedingt weitertragen, ohne Füße anzufeuchten. Die Mutti war sicher stolz auf ihn und pflegte sich, allen Verwandten und Bekannten davon zu erzählen. Die Eltern gehörten zur Arbeitsklasse, sie verdienten ihren Lohn bei einer Textilfabrik in Leningrad, was im sozialistischen Vaterland eine eigenartige Freude mitbringen sollte, machte es aber nicht. Denn ihr mühevolles Handwerk war sehr hart und mit einem Fließband verbunden, das rund um die Uhr mit einem unerträglichen Krachen weiterlief. Damals gab es noch keine Einsicht, dass der übermässige Lärm irgendwelche starkgefährlichen Wirkungen auf dem menschlichen Organismus haben könnte. Trotzdem beeinflusste er immer wieder das Gehör der Mitwirkenden, so dass einige von ihnen völlig gehörlos gewesen waren. Der Knabe Andrej gewöhnte sich auf jeden Fall, mit den Eltern sehr laut zu sprechen. Der Junge machte auch seine Beste, um die Schulaufgaben immer richtig zu erfüllen. Es gelang ihm aber weit nicht jedes Mal. Solche Umstände konnten ihn kaum besonders glückmachen. Deswegen verblieb der arme Andrej nicht selten bei einer betrübten Laune. Für ein Kind oder Teenager konnte es aber nicht lange dauern, er sollte irgendwelchen Ausgleich für seine Seele heraussuchen. Vor allem bestand das günstige Ding darin, passende Freunde zu haben, die nicht besonders klug oder anspruchsvoll sein sollten. Viel wertvoller würde deren Pfiffigkeit gewesen, die Andrej schon früh zu ahnen lernte. Von Anfang an bedeutete es aber ein Zweistandardleben: in der Schule sollte er immer ein fleißiger und anständiger Schüler werden, nach der Schule ließen sich er und seine Kumpane eine berüchtigte gewaltige Rowdy-Bande sein. Da sie hauptsächlich abends zusammenkamen, gab es eher nur eine geringere Gefahr, jemandem bekannten unter die Augen zu kommen. Eine Existenz mit den zwei Gesichtern war ja nicht einfach. Gleichzeitig besaß sie bestimmt einen großen Vorteil: man kapierte wohl, sich möglichst schnell diese beide unvereinbaren Welten zu wechseln, um sich in beiden frei und ungezwungen zu fühlen. Es war eine ständige Übung, die dem Betroffenen eine Chance geben sollte, aus jener Verlegenheit ohne physische und geistige Verletzungen auszugehen. Es war eine Art zusätzlicher Ausbildung, die man wahrscheinlich selbstständig absolvieren sollte. Diese Lehrart schloss aber auf keinen Fall die Lektüre der notwendigen Bücher aus, die mit der Tätigkeit der Spione und Geheimagenten zu tun haben sollten. Diese geschickten Männer waren nicht nur physisch so perfekt entwickelt, dass sie gegen Dutzend bewaffneten Gegner ohne Schusswaffe kämpfen und siegen könnten. Sie verfügten auch märchenhaft über manche sehr geschickten intellektuellen Vermögen, damit aus dem komplizierten Labyrinth den Ausweg zu finden. In diesen kleinen Büchlein, die massenhaft in billigen Ausgaben auf dem vergilbten Papier gedrückt worden waren, gab es eine Vielfalt von nützlichen Hinweisen, die man zwischen den Zeilen lesen konnte. Sie waren ganz unaufdringlich und für jeden einfach geschrieben, doch ein aufmerksamer Leser war sicher imstande, sie als Lehrstoff ausnützen zu können. Mit 15 stellte sich Andrej eine persönliche Aufgabe vor, die ausschließlich komplizierte vorbildliche Verhaltensweise seiner Lieblingshelden in seinem Alltag zu verwirklichen. Dieses Jahr war für ihn zweifellos sehr aufschlussreich. Vor allem, weil ihm es gelungen wurde, diesen neuen Lebensstil zu verwirklichen. Der Effekt traf alle Erwartungen über. Das ganze Lehrpersonal der Schule änderte wie nach einem Wink der Fee sein Verhältnis zu ihm. Es konnte natürlich nicht anscheinend sein, denn man bemerkte diese angenehme Änderung mit dem bloßen Auge. Er spürte deren Respekt sich gegenüber nicht allein aus ihren Wörter, sondern auch aus den Satzmelodien. Für einen Jugendlichen war es ein großer Erfolg, der ihm einen wichtigen Entschluss fassen ließ. Der Schlüssel zum rätselhaften menschlichen Inneren wurde in der Psyche gesteckt, deren Beschaffenheit man eigenwillig entdecken könnte. Trotz der merklichen Verschiedenartigkeit der Charaktere und Temperamenten reagierten fast alle Leute ganz günstig auf bestimmte Redearten und Mienenspiele des Gesichts. Sie fühlten sich selten überschätzt und freuten sich über jeden ihren guten Ruf. Außerdem war Andrej klug genug, um eine aufrichtige Lobpreisung lieber zu vermeiden. Sonst konnte man ihn zurecht einer falschen Offenherzigkeit verdächtigen. Nein, so einfältig war er gerade nicht. Viel vernünftiger fand er allerdings vermeintlich wissenschaftliche Überlegungen. Z.B. sagte er dem einsichtigen Mathelehrer, dass die einigen amerikanischen Hirnforscher vor kurzem herausgefunden… Darauf folgten gewisse Tugendeigenschaften, die man nach solchen oder anderen Kriterien voraussagen könnte. Die Auswahl von diesen amerikanischen war doch gar nicht zufällig. Bei einer allgemeinen Entgegnung dem Amerikanismus gegenüber, wurde es praktisch überall annehmbar, auf die großen Ergebnisse dortigen Forscher zu vertrauen. Selbstverständlich konnte sich keine in den Kopf setzen, seine eigenen Gedanken für die amerikanischen Daten zu verkaufen. Also waren Andrejs Überlegungen ganz gut ausgeglichen worden. Und wenn der Zuhörer zu kapieren begann, sich selbst unter diesen gescheiten und barmherzigen Menschen zu sehen, zeigte er kein Merkmal davon. Denn es war ihm ausreichend, diese angenehmen Kenntnisse über sich zu bekommen. „Ja, ja“, dachte sich der gut gelaunte Lehrer, „der Kerl namens Andrej Lusin ist zweifelsohne ein gerechter Schüler und eine Einzelpersönlichkeit. In seinem Alter war ich viel leichtsinniger gewesen“. Ob es in der Tat so war, bleibt aber umstritten. Ganz zu gleicher Zeit gehört die starke Begeisterung Andrejs für die fesselnden sportlichen Nahkämpfe, die er nach den Empfehlungen eines Nachbars, der als Trainer arbeitete, regelmäßig besuchte. Eigentlich versuchte der alte Sportler, dessen Lehrlings neben allen guten und geschickten Kampfverfahren auch die hohen humanistischen Prinzipien einzuflößen, die jede von ihnen durch sein ganzes Leben mittragen sollte. Doch der junge Verstand war ziemlich flexibel, um sich auch andere Möglichkeiten vorzustellen. Diese Sportart stattete die Person mit den übermenschlichen Kräften aus. Wie man damit zu verfügen bereit war, hing ausschließlich von ihm selbst ab. Darüber hinaus änderte sich sicher mit Jahren das Individuum selbst, indem es sich entweder erheblich verbessern oder noch stärker verschlechtern könnte. Solche dialektischen Vorgänge konnte wahrscheinlich kein Prophet vorhersagen. Dennoch sollten diese spitzfindigen Handgriffe, die der weise Coach meisterhaft gezeigt, aber auch gründlich mit jeden von ihnen eingeübt habe, etwas teuflisch Verführerisches einschließen. Denn der hagere Teenager erwarb die Fähigkeit, den großen und starken Mann durch diesen Handgriff zu Fall zu bringen. Für ein junges Wesen war es sicher nicht einfach, solch anziehende Verlockung loszulassen. Tatsächlich lenkte Andrej sofort die Trainers Aufmerksamkeit auf sich: er war so klein, dürr und schwach, dass sein Aussehen leidtat. Ein kreativer Lehrer (und der alte Coach war unbedingt solcher Mensch) wünschte sich, ihm zu helfen, ihn kraftvoll und mächtig zu machen. Man muss aber diesem Andrej Lusin selbst Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er trainierte sich hart und selbstlos. Zugleich war er so erfinderisch, dass seine gleichaltrigen Gegner von ihm jeden Augenblick etwas absolut sprengartig Unerwartetes befürchten sollten. Die Pubertätsjahre erlebte Andrej auch wie eine Entstehung des Charakters mit. Er bemerkte, dass seine nahe Umgebung nicht allein eine höfliche Verhaltensweise brauchte, sondern sie schätzte alle persönlichen Kraftarten hoch. Diese besondere Beschaffenheit, innerlich eine mächtige Persönlichkeit zu spüren, kam vielleicht von unseren fernen Vorfahren, die darin eine verlässige Chance für sich sahen, von großer Gefahr gerettet zu werden. Ein Sterblicher war sicher nicht in der Lage, den Ausweg aus jener tödlichen Situation zu wissen. Er konnte aber diese übermenschliche Fähigkeit erfolgreich vortäuschen, so dass die Stammmitglieder daran zu glauben pflegten. Die hunderttausend Jahren der Menschheit änderte drastisch das Gesicht des Planeten, sie schafften die märchenhafte Zivilisation mit Kultur und Technik. Was ihnen aber kaum gelungen wurde, betraf das biologische Wesen der besonnenen Sippe Homo sapiens, die streng an den Instinkten und „Bauchempfindungen“ gebunden blieb. Deswegen erkannte man fehlerfrei im 21. Jh. wie vor dutzendtausend von Jahren die Person, mit der die künftige Karriere und Sicherheit zuverlässig gewährleistet werden sollten. Diese bedeutende Schlussfolgerung zog Andrej im Alter von zirka 17 Jahren, und er zweifelte nicht daran auch als ein Erwachsener. Schließlich kapierte er, dass die ganze Bevölkerung von einer solchen Persönlichkeit absolut begeistert werden konnte, die angeblich die helle Zukunft klarsah und den Weg dahin zu bestimmen fähig war. Auf jeden Fall gefiel ihm nicht den Vergleich der Bevölkerung mit dem Haufen, besonders, wenn man ihn mit den schlimm kränkenden Adjektiven, etwa hirnlose oder schwachsinnige, versorgte. Nein, das gilt für die Bevölkerung überhaupt nicht. Nicht zuletzt deswegen, weil er, Andrej Lusin, selbst ein davon war. Sie konnte bestimmt wegen ihrer Einigkeit und Geschlossenheit eine riesige Kraft erweisen. Die letzte Beschaffenheit verlangte aber einen Führer, der tief verborgen stets in der Volksseele existierte. Eine autoritäre Herrschaft entsprach auch dem Volksgeist, der auf solchen eher falschen Ideen erzogen worden war. Das Leben für den Führer zu opfern, war nicht nur eine wohltuende und selbstlose Handlung. Es war ein fast kultisches oder theatralisches Spiel, das die ganze Bevölkerung aufrichtig begrüßte. Denn der hervorragende Führer verkörperte symbolisch das Land, dessen Wohlstand sich weit übers Leben jenes Bürgers oder der Millionen Bürgers befand. Man dachte dort nie darüber nach, dass das träge unbelebte Land nichts im Vergleich mit dem menschlichen Leben kostete, dass das wichtigste Ziel des Staates das Leben und Wohlbefinden der Bürger und nicht umgekehrt war. Andererseits ließ die Billigkeit des menschlichen Lebens der Regierung, solch riesiges Vorhaben glücklich zu verwirklichen, die sich keine liberale Verwaltungsform leisten dürfte. Das Volk im Andrej Land war extrem zutraulich. Es nahm alle Mitteilungen von oben wie die einzige Wahrheit, mit der man nur einverstanden sein musste. Der Tod auf dem Schlachtfeld war so ehrenhaft und beneidenswert, dass ihn sich jedermann wünschen könnte. Alle Kunstarten huldigten diesen Helden mit der vollen Kraft, was von der Regierung auch mit den höchsten staatlichen Preisen ausgezeichnet worden war. Es gab auch eine Verlockung, sich davon zu bereichern, was sich viele talentierte Personen nicht verabsäumen ließen. Doch ihre Leistung war in einem erhabenen Sinne auch eine Heldentat oder mindestens etwas Ähnliches gewesen.

Streng genommen waren Andrejs Eltern weit von solchen tiefen und einsichtigen Erörterungen entfernt. Er teilte ihnen seine Gedanken kaum mit und wenn doch, dann entsprachen sie dem, was sie sich angenehm zu hören wünschten. Auf diesen Grund freuten sie sich über die menschenfreundlichen Ansichten ihres Sohnes und waren überzeugt, dass der Junge ein barmherziger und ehrlicher Mensch wird. Ihr Kleiner war der gleichen Meinung, obwohl er unter den genannten Eigenschaften etwas Anderes vorstellen konnte. Sie schienen ihm ganz richtig und wohl im Allgemeinen und nicht im Besonderen. Sein noch kurzer Verbleib in dieser Welt ließ ihm aber feststellen, dass ein vernünftiger Mensch immer anschaulich und gegenständig urteilen sollte. Eine Überlegung im Großen und Ganzen war seiner Auffassung nach das Vorrecht der beschränkten Typen, zu denen er ehrlich gesagt auch seine Eltern zuzählte. Sie waren unbedingt offen (manchmal auch überflüssig offen), gutmütig und ordnungsgemäß, was keinen Einwand erwecken konnte. Ihre hohen sittlichen Prinzipien schafften ihnen allerdings ein Eisenbett und eine halbhungrige Existenz in einem zwanzig Quadratmeter Wohnzimmer sowie mehrere Nachbarn in derselben Wohnung. Wäre es nicht sinnvoller, mit den Prinzipien ein Bisschen locker zu sein, und sich etwas ganz Bequemeres zu leisten? Ihre qualvolle Arbeit fand Andrej unakzeptabel. „Warum eigentlich nicht ein glücklicher Lebensmittel Lagerdirektor zu sein“, dachte er sich, „wie, z.B. der Vater seines Klassenkameraden Viktors, der sogar einen großen Dienstwagen mit dem Chauffeur habe. Dieser Kerl saß in einem gut ausgestatteten Büro mit mehreren Telefongeräten, die ihn mit den stadtwichtigen Personen verbanden, und erteilte Befehle an seinen Sekretären und Assistenten. In Ferien brachte er seine Familie nach luxuriösen südlichen Meeresorten, wo er seinen Angehörigen diese echten aristokratischen Lebensbedingungen zur Verfügung stellte. Auf jeden Fall nannte dieser Kamerad solche Leckerbissen, über die Andrej nie gehört hatte, geschweige denn, nie probiert hatte. Heiße Sonne, köstliche Obst und Gemüse, ausgesuchte Fleisch- und Fischgerichte erregten in Andrejs Mund einen starken Speichelstrom. Entsprach diese seltsame Tatsache wirklich den hohen Gesetzen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, auf denen ihr sozialistischen Land aufgebaut worden war? Wenn ja, sollten alle diese Üppigkeit seinen Eltern überlassen werden, die unter schlimmsten Umständen arbeiteten und bis dato nichts Gutes sehen konnten. Zugleich fühlten sie sich eher zufriedener, als die Familie dieses superreichen Vaters, die immer etwas Ungünstiges im Leben herauszufinden pflegte. Darüber wusste Andrej auch von diesem Kumpel Viktor selbst. Der sollte hauptsächlich ihm, Andrej, dankbar sein. Sonst konnte er ihn denunzieren, so dass die ganze Familie ihren guten Ruf zu verlieren riskierte. Es wäre auch anlockend. Allerdings habe Andrej es nicht im Sinne, solches Unheil seinem Mitschüler gegenüber auszuüben. Ehrlich gesagt empfand er sogar ein gewisses angenehmes Gefühl der Zufriedenheit, dass er gerade darauf verzichtete, was ihm die allgemeine gesellschaftliche Achtung und Ehrerbietung mitbringen könnte. Das heißt aber nicht, dass seine tiefe Feindschaft dieser ekelhaften Familie gegenüber vollkommen verdampft worden war. Ganz im Gegenteil verbarg sich diese total abscheuliche Schattierung tief in seinem Herzen. Auf diese Art und Weise kapierte er wohl die alten wohlgesinnten Revolutionäre, die entschlossen mit der offenen Ungerechtigkeit und Willkür kämpften. Ungeachtet seiner tiefen atheistischen Erziehung glaubte Andrej an die herrschende Rolle des Schicksals aufs menschliche Leben. Unklar blieb ihm aber die Quelle, woraus das unheilvolle Schicksal vorkommen könnte. Wenn es tatsächlich existierte, sollten bestimmte übermenschlichen Mächte vorhanden sein, die sie verteilen mussten. War es ein starker Beweis zugunsten religiösen Glaubens oder gab es eine Möglichkeit, das Schicksal mithilfe der wissenschaftlichen Einstellung zu erklären, etwa wie ein Zusammentreffen der Umstände oder Ähnliches. Er dachte häufig auch darüber nach, ob man die Gerechtigkeit als einem Ausgangspunkt des Gesellschaftaufbaus vorstellen durfte. Denn alle Menschen waren von Geburt an kaum berechtigt begabt, und sie haben deswegen ganz unterschiedliche Chancen, eine Karriere zu machen oder viel Geld zu verdienen. Bedeutet es, dass auch für die höhen Kräfte, die unser Geschick bestimmen sollten, alle Menschen ungleich oder mit anderen Worten mehr oder weniger geschätzt bzw. beliebt waren? Wie sollte die Natur der menschlichen Gerechtigkeit aussehen? Durfte die regierende Oberschicht einfach nach ihrer Wahl die ursprünglichen natürlichen Begabungen deren Untertanen so korrigieren lassen, dass die individuellen Einkommen ungefähr ausgeglichen werden? Die langjährige Erfahrung der sozialistischen Staaten zeigte, dass dieser Versuch ein Fehlschlag war. Statt einer feierlich verkündeten Gleichheit und Gerechtigkeit entstanden neue Reiche aus der Parteifunktionäre und Krämerleute, die es kaum verdient haben. Außerdem blühte wegen des ständigen Mangels an Lebensmittel und Waren eine erhebliche Korruption auf. Ob es mit der Gerechtigkeit in den westlichen Ländern besserging, vermutete Andrej umstritten zu sein, obwohl er dort nie gewesen war. Solche Schlussfolgerung des jungen Burschen, der ständig über seine gute Zukunft träumte, riefen in seinem Kopf keine verheißungsvollen Gedanken hervor. Vor allem wurde ihm angst und bange, wenn er seinen langen Weg als eine Wiederholung dessen seiner Eltern darstellte. Es wäre so schlimm und tragisch, dass seine eher tierische Existenz in eine echte irdische Hölle zu verwandeln vermöge. Kein Mensch mit der Selbstachtung durfte es sich leisten. Es war natürlich eine Vielfalt von Berufen, die man erfolgreich und gewinnbringend ausüben ließ. Die Mehrheit dieser Fachgebiete forderte ein Talent oder mindestens eine kleine Begabung, die er von seinen alten kaum vererben konnte. Andrej legte doch sich selbst ehrlich Rechenschaft darüber nach ab, dass er sich eher zu stümperhaften zählen sollte. Allerdings sollten sich die himmlischen Kräfte (wenn es solche überhaupt gab) darum kümmern, dass auch solche armen Sterblichen eine Chance bekommen dürften. Man brauchte dafür „nur“ das Gelingen, das ganz unabhängig von Abstammung und Anlagen vonstattenging. Es bedeutete aber auf keinen Fall, dass man jahrelang aufs Gelingen warten sollte. Viel günstiger wäre, dem Gelingen selbst zu helfen versuchen. Praktisch gesehen könnte man die Situation durch mehrere Freunde und Bekannte verbessern, die man zuerst irgendwie interessieren sollte. Sonst gab es keinen Sinn, ihm zu helfen. Trotz des ziemlich breiten Bekanntenkreises sollte Andrej ehrlich einräumen, dass ihm enorm echte Freunde fehlten. Selbstverständlich gab es eine Schar der Gauner, die ganz nützlich bei einer Schlägerei sein könnten. Manche Namen davon waren ekelig berühmt, dass man davon auf der Straße profitieren konnte. Deren harter Einfluss verbreitete sich doch ausschließlich auf die kriminelle Gemeinde. In einer „normalen“ Welt konnten sie keinen Protegé machen. Darüber hinaus wollten sie selbst mit den „Normalen“ nichts tun haben. Sicher gab es unter allen seinen Klassenkameraden eine Menge kluger Typen aus den sogenannten anständigen Familien, also solche Kerle, deren Eltern mit allen „notwendigen“ Menschen der Stadt gute Beziehungen aufgenommen haben, was für den künftigen Werdegang von großer Bedeutung sein sollte. Diese Individuen waren ihm aber überwiegend fremd, mindestens um etwas zu bitten. Dieser Umstand sorgte dafür, dass Andrej zum ersten Mal in seinem kurzen Leben über den starken Paradigmenwechsel nachdachte. Fernerhin sollte er solche günstigen Verbindungen aufnehmen, die auf etwas Vielversprechendes hoffen ließen. Seine Kontakte zu Ganoven wollte er aber auch nicht zerreißen. Eine Entscheidung zu treffen war nur die Halbesache, die zweite Hälfte bestand darin, sie zu realisieren. Es war allerdings viel schwieriger geworden. Vor allem, weil die nützlichen Kameraden sich inzwischen viel schneller als er zu entwickeln vermochten. Sie lasen in solche Bücher, die er niemals gehört habe. Auf diesen Grund war er ihnen absolut uninteressant. Zugleich war er zu beschäftigt mit dem Kampfsport und sonstigen Sachen, um die Zeit für die Lektüre zu sparen. Als einem Ausweg fand er das Verfahren heraus, statt dicken Bücher deren kurze Zusammenfassungen zu lesen, die gewöhnlich für die Unterhaltung ausreichend waren. Schon seine ersten Gespräche zeigten die Zuverlässigkeit dieser Methode. In einigen Fällen gelang es ihm, sogar sich einsichtiger zu äußern, als die, die das Buch vollkommen gelesen hatten. Es war der Grund seines Zweifels, ob sie selbst das Buch in der Tat gelesen haben. Nichtsdestoweniger änderte sich ihr Verhältnis Andrej gegenüber, so dass manche ihn für klug und lehrfähig hielten. Nun konnte er schon auch auf ihre Beteiligung an seinem Schicksal rechnen. Im Laufe der Zeit entwickelten sich diese Beziehungen weiter, einige waren schon bereit, ihn seinen Eltern vorzustellen. Ihre „alten“ waren von Andrej bestimmt nicht begeistert geworden. Zugleich ließen sie sich im erzieherischen Sinne kein Zeichen davon den Jungen geben. Sie sprachen mit ihm betonend höflich und ehrerbietig. Der Bursche versuchte seinerseits, bei solchen Besuchen keine Minute zu vergeuden. Er beobachtete aufmerksam die Verhaltensweise dieser geistigen Personen, hörte ihren eigentümlichen Sprachausdrücke zu und wunderte sich über ihre zurückhaltenden und beruhigenden Manieren. Er hatte seine helle Freude über den Verbleib dort. Es war eine Gegensätzlichkeit zu seinem Elternhaus, wo die Rede immer vom täglichen Brot und Geldmangel war. Diese erhabenen Personen haben niemals etwas Ähnliches erwähnt, als ob das Thema woanders außerhalb ihres Lebens existierte. Er probierte, beharrlich seine neuen Umweltempfindungen mit den vorigen zu vergleichen und sah einen großen Unterschied als ob es um zwei verschiedenen Andrej handelte. Nun wusste er genau, was er für ein glückliches Leben brauchte. Neben einer Menge Geld war es die Zugehörigkeit zur Leitung, wenn mehrere Leute von deinem Wunsch, deiner Laune, Absicht und Vorstellung abhängig werden sollten, wenn das Schicksal, dies geheimnisvolles Rätsel des Weltalls, fest in seinen Händen läge. Es war wirklich so süß und verführerisch, dass es ihm schwindelte. Es gab vielleicht dutzende Wege zu diesem Ziel, doch die innere Stimme warnte ihn vor denen. Denn eine funkensprühende Karriere war mit der riesigen Verantwortlichkeit verknüpft, die dem Betroffenen oft absolut des Schlafs zu berauben vermöge. Also Bluthochdruck, psychische Störungen und weitere Erkrankungen zwingen massiv, über das Glück vollständig zu vergessen. So bezahlte man im Großen und Ganzen für höheres Einkommen und Macht. Solche düstere Aussicht gefiel Andrej überhaupt nicht. Wer sich tatsächlich in dem guten sozialistischen Vaterland versichert empfinden könnte? Neben einzelnen Personen aus der Parteielite gab es eine ziemlich zahlreiche Gruppe der Kontrollbeamten, von denen tausende Menschen eine schauderhafte Angst haben sollten. Man konnte sagen, dass die Beziehungen mit ihnen einseitig verblieben. Das heißt, der Aufseher war vollkommen imstande, mit dem unter Kontrolle stehenden eine beliebige Strafmaßnahme zu erfinden. Das arme Opfer konnte aber gar nichts dagegen unternehmen. Nein, ganz prinzipiell gab es sicher eine kleine Möglichkeit, einer dauerhaften Gerichtsverhandlung den Anstoß zu geben. Aber realistisch gesehen wollte man keinen Bock darauf haben. Denn einerseits versprach das Gerichtsurteil dem Kläger nichts Gutes, eher eine jahrelange Haft. Andererseits sollte solch Benehmen des Kontrollierten dem Aufseher gegenüber den Letzten so ärgern, dass er eine noch stärkere Rache zu nehmen vermöge. Auf jeden Fall litt ausschließlich das arme Opfer. Darüber hinaus fühlte sich jeder Ausführender sowieso schuldig, weil er aus objektiven Gründen seine Pflichten ohne Störungen kaum erfüllen konnte. Diese Umstände gaben dem Kontrolleur eine deutliche Vorrangstellung, die er jetzt hundertprozentig ausnutzen sollte, zum Beispiel, in der Form des gemeinen Bestechungsgelds. In diesem Sinne war die Stelle des Kontrollbeamten ertragreich und absolut risikofrei. Auch Andrej war neidisch darauf. Solcher Beruf konnte er wohl nur in schönen Träumen sehen. Obwohl es keine Hochschule gab, die unmittelbar die Aufseher ausbildete, konnte man dieses Ziel durch Jurastudium erreichen. Solche Fakultäten waren in allen Uni vorhanden. Es handelte dabei nur darum, dass nicht er allein solche guten Vorsätze haben konnte, sondern tausende andere junge Leute. Auf diesen Grund war der Wettbewerb für dieses erhabene Jurastudium extrem hart gewesen. Man sollte bei den Eintrittsexamina sehr hohe Noten bekommen, um Student zu werden. Mit anderen Worten gab es keine Chance, diese Maße der begabten Abiturienten zu überholen. Aber nun war auch Andrej keiner von den Zaghaften. „Hör mal zu“, sagte er sich, „es gibt keine ausweglosen Umstände. Es müssen Menschen oder Handlungen irgendwo vorhanden sein, die dir effizient zu helfen vermögen“. Im Augenblick erinnerte er sich an Stas Schelkowskij, der ihm beim Kampfsport begleitete. Er habe mit ihm vor einigen Monaten unterhalten und Stas hatte anscheinend nebenbei bemerkt, dass sein Vater im Justizbereich eine ansehnliche Persönlichkeit war. Damals ließ Andrej sein Geschwätz außer Acht, denn viele erzählten über ihre Eltern alles Unmögliches. Momentan sah er einen gewissen Sinn in dieser Sache. Das Problem bestand nun aber darin, welche Gegenleistung er ihm tatsächlich anbieten könnte. Mit einer nächsten Gedächtnisanstrengung erinnerte sich Andrej an einen flüchtigen Satz Stas, dass er Briefmarke sammelte. Es war schon etwas, was er erfinden sollte. Unter seinen Klassen Kameraden waren einige Jungs, die das gleiche Hobby besaßen. Sie könnten ihm unbedingt helfen, die wertvollsten Stückchen für Stas zu besorgen. In seinen Augen wurde Andrej allmählich kluger geworden. So erschien er nächste Woche im Trainingssaal mit dem Satz seltenen Briefmarken, die er vermeintlich zufällig gekauft hatte. Stas kuckte begeistert, als ob er gerade davon geträumt habe. „Es darf nicht wahr sein“, äußerte er kaum hörbar und dann ganz laut, „kannst Du mir vielleicht alle diese verkaufen?“ Andrej war es froh zumute: „Du kannst sie für Deine halten“. Solch Angebot ließ sich Stas aber gar nicht aufnehmen. Er schlug einen hohen Preis vor, den Andrej doppelt herabsetzte. Mit solchem plötzlichen Glück konnte der Kunde nicht rechnen: „Nun bin ich, Andrej, Dein Schuldner“. „Keine Ursache“. Diesmal wollte der stolze Verkäufer nichts zufügen. Für eine wichtige Unterhaltung war es noch zu früh. Noch drei Wochen waren vorbei als Stas wieder etwas Besonderes über seinen Vater meldete. Für Andrej war es ein gutes Signal, die schon längst vorbereitete Rede in Gang zu bringen. „Übrigens“, sagte er eher etwas gleichgültig, „ich habe letzte Zeit viel über den Beruf nachgedacht, den ich zu bekommen wünschte. Mir blieb leider nicht viel übrig. Alle diese Sache, davon viele meine Freunde träumen, scheinen mir kaum attraktiv zu sein. Außerdem beschäftigt sich mein Kopf immer öfter mit den schweren Fragen der Gerechtigkeit. Du weißt selbst, wieviel ungerechte Handlungen es bei uns gibt, die eine richtige Bekämpfung brauchen. Warum soll irgendjemand sonst diese schmutzigen Dinge auf sich übernehmen? Wohin soll ich mit der riesigen Energie, die ich hier im Sportsaal getankt habe?“ Fragende Augen Stas äußerten aufrichtig, zu welcher Idee sein Freund ihn zu zwingen versuchte. Andrej kapierte es doch tiefsinnig und beeilte sich, eine Erklärung abzugeben. Kapierst Du, Stas, auf diesen Grund fasste ich den kühnen Entschluss, auf einem Jurastudium anzuhalten, das allen meinen Ansprüchen entsprechen sollte. Also stimmt es meinerseits alles überall. Das Problem ist aber, ob ich diesem Studium passen dürfte, ich zweifle mich daran“. Nun begriff auch Stas, was dieser Kerl durch seine Rede meinte: „Das heißt, es gibt einen grausamen Wettbewerb für das Jurastudium, das bei Dir eine echte Furcht einflößen sollte“.

„Gelinde gesagt, soll ich eingestehen“, erwiderte Andrej, „ich bin einfach fassungslos damit“.

„Gut, ich versuche, mit meinem Vater darüber zu sprechen. Ihm sind alle solchen feinsinnigen Angelegenheiten viel näher als uns“. Es war eine vielversprechende Vollendung des Gespräches, auf die Andrej sich noch vor wenigen Minuten nicht hoffen ließ. Es verlangt ihn plötzlich nach einer Chance, gleich den Menschen wie dem Vater Stas zu werden. Nicht allein die Weltreligionen behaupteten, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Ähnlicher Auffassung war auch die sozialistische Ideologie, die die regierende Partei über fünf Jahrzehnt propagierte. So konnte man ihm erzählen, dass seine Eltern aus allen Gesichtspunkten der Parteielite gleich waren. Tatsächlich stimmte es aber gar nicht, denn sie bekamen für deren qualvolle Arbeit nichts mehr als klägliches Almosen. Nun sollten neue Zeiten kommen, die dieser Unverschämtheit ein Ende machen lassen. Vielleich vermöge auch er, Andrej, dazu seinen bescheidenen Beitrag leisten.

Allerdings dauerte das Schweigen Stas fast ein Monat, so dass Andrej zu vermuten anfing, sein Freund nichts über ihn seinem Vater erzählte. Die Situation war aber ziemlich heikel, denn Andrej wollte auf keinen Fall, ihm etwas daran erinnern. Nach seiner Sicht wäre es unangebracht. Andererseits war er nicht sicher, ob Stas (oder sein Papa) seine Ausdauer zu probieren suchten. Auf jeden Fall sollte er zeigen, dass bei ihm mit der Geduld alles in Ordnung war. Die richtige Reaktion Stas kam so unerwartet, als ob inzwischen gar nichts passieren sollte. Er sagte irgendwie nebenbei: „Apropos, mein Vater möchte zu Dir sprechen, kannst Du bei uns vorbeikommen?“ Es war in solcher Art geäußert worden, die eher zu einem häufigen Besucher dessen Haus bezogen sollte. Trotzdem empfand er sich geschmeichelt davon.

Eine beachtenswerte Unterhaltung

Fristgemäß klang Andrej vor der Tür der Stas Wohnung. Ehrlich gesagt war er schon vor einer Halbestunde in der Nähe gewesen. Denn es war ein Ruhetag und er dachte schon am frühen Morgen darüber nach, wie er sich beim Besuch benehmen sollte, um den guten Eindruck auf Stas Vater zu schinden. Einigermaßen war es für ihn ein Einbruch in die Ungewissheit. Er kannte diesen Mann nicht, wusste aber, dass der hoch intellektuell und ausgebildet war. Das heißt, Andrej musste seinen ärmlichen Wortschatz so anstrengen lassen, dass der Herr nichts von seiner bescheidenen Abstammung erraten könnte. Außerdem sollte der große Altersunterschied ihn in Verlegenheit bringen. Solche düsteren Gedanken drängten sich eng aneinander und könnten kaum seine Stimmung heitern. Deswegen beeilte er sich den ganzen Vormittag und war zu früh gekommen. Er dürfte aber nicht unpünktlich sein. Stas öffnete ihm die Tür, ließ ihm die Jacke ausziehen und brachte ihn ins Arbeitszimmer des Vaters. Andrej war sicher ungewohnt, Umstände zu machen. Doch die Wohnung Stas sah nach seinem eigenen einzelnen Zimmer für drei Menschen wie einem Königspalasten aus. Allein das Stas Vaters Arbeitszimmer machte den Eindruck der Achtbarkeit und Würde. Neben den vollbesetzten Bücherregalen gab es einen großen alten Schreibtisch mit der vergoldeten Tisch-Uhr sowie eine Menge von Statuetten aus massiven Messing, was den erstaunten Verstand Andrejs momentan durchdringen sollte. Dieser fast blitzartige, unwillkürliche Gedanke ermöglichte Andrej vorzustellen, wie langsam und aufmerksam er jedes diese Stück betrachten mochte, wenn es ihm je gehörte. Die fließende Redeweise dieses Lew Wassiljewitschs jagte aber diesen Gedanken gleich weg. Er war wahrscheinlich sehr beschäftigt oder sollte seine Zeit hochschätzen. Nach der kurzen Bekanntmachung erzählte Lew Wassiljewitsch, dass er von Stas viel Gutes über Andrej gehört habe und freute sich, ihn persönlich kennenzulernen. Er fragte den Jüngling über seine Neigungen und die Bücher, die er las. Glücklicherweise sollte es gerade das sein, was Andrej vollkommen bereit war, zu beantworten. Als eine nützliche Ergänzung verriet er seine Traumpläne vom Jurastudium, die er wieder als einem Kampf mit der Ungerechtigkeit zu motivieren suchte. Wenn einem zufälligen Außenseiten diese Argumentation überflüssig zu sein schien, war es in der Tat ganz umgekehrt gewesen. Da eine solche Ausbildung eine wolkenlose Karriere zu öffnen versprach, streben sich tausende junge Leute nach dieser sonnigen Aussicht für die Zukunft. Während sich die absolute Mehrheit der Bevölkerung unter scharfer Überwachung empfand, gab das Jurastudium eine Chance, sich auf anderer Seite dieses zwiespältigen Systems zu befinden. Auf diesen Grund war es nicht Selbstverständlich, diese Auswahl recht zu fertigen. Bestimmt war auch Lew Wassiljewitsch selbst nicht völlig überzeugt, ob die erhabenen himmlischen Aufwallungen für Andrej in der Tat eine entscheidende Rolle spielen sollten. Allerdings glaubte er nach diesem Besuch an die echte Offenherzigkeit von Andrejs Absichten. Oder, genauer gesagt, wollte er daran glauben, denn der Gast war ein sehr guter Freund seines Sohnes, dem der bekannte Jurafachmann vertraute. Andererseits fühlte sich der Gastgeber wie ein verdienter Vertreter des offiziellen sowjetischen Rechtsystems, der für dessen Beständigkeit verantwortlich sein sollte. Er war sicher imstande, diesem netten Burschen den Anfang zu machen. Darüber hinaus saßen im Eintrittsexamina Ausschuss mehrere seine Kollege-Professoren, mit einigen von denen er seit Uni-Zeit bekannt war. Obwohl Herr Schelkowskij kein Verfechter der Protegé-Praxis war, sollte er mit dieser Aktion keinen eigenen Vorteil verfolgen: Andrej war für ihn ein Fremder, von dem er keine Dankbarkeit erwartete. Also sollte man jene Unterstützung ihm gegenüber als eine Art Wohltätigkeit aufnehmen.

Diese Überlegung Lew Wassiljewitsch war Andrej sicher unbekannt, obwohl er indirekt beharrlich darüber Bescheid wissen wollte. Stas verhielt sich ganz neutral, als ob der Besuch Andrejs nicht stattfand. Allerdings war Stas die einzige Person, die imstande war, diese Situation aufzuklären. So verblieb Andrej in voller Ungewissheit noch ein Monat lang. Tatsächlich war es sicher keine Probe seiner Ausdauer oder irgendwelcher seinen anderen Charakterzügen. Herr Schelkowskij hatte immer viel zu tun und sollte nicht nur seine schweren dienstlichen Verpflichtungen ausfüllen, sondern auch bei mehreren öffentlichen Ausschüssen teilnehmen, was seinen Alltag überreich an Inhalt machte. Stas habe bestimmt keine Ahnung über alle Probleme, mit denen sein Vater beschäftigt war. Für ihn war er ein gediegener Rechtsanwalt, der von allen gefragt war. Nach einem Training, als Andrej und Stas zufällig zusammen nach Hause gingen, kam ihr Gespräch über die Gerechtigkeit auf. Andrej konnte nicht daran erinnern, wer von beiden das Thema berühren wollte. In seinem Geiste wurden aber längst die Details der Unterhaltung bewahren. Stas sagte damals:

„Du, Andrej, sprichst von einer abstrakten Gerechtigkeit, die Du anscheinend in diesem Land in die Tat umsetzen möchtest“.

„Ich meinte damit, dass alle Menschen unabhängig von deren Abstammung und Verdienste gleichbehandelt werden sollten“.

„Es klingt aber vage. Wie kannst Du diese Gleichheit messen? Wenn die Rede von Arbeitsbezahlung wird, entscheidet die Gesellschaft, wieviel man für seine Leistung bekommen sollte. Willst Du alle Löhne und Gehälter gleichmachen, verliert man jeden Anlass, etwas wirklich Wertvolles herzustellen, denn es gibt ohne Antrieb keine gute Produktion. Über den Fortschritt soll man total vergessen“.

„Nein, Stas, ich sehe Ungerechtigkeit darin, dass diejenige, die unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und nur Kleingeld für ihre harten Bemühungen bekommen, während andere für ihr Nichtstun hundertmal größere Gehälter kriegen. Wenn man mit einer Familie ein kleines Zimmer teilen muss. Wenn ein luxuriöses Leben ein Vorrecht der kleinsten Schicht der Bevölkerung sein musste“.

„Mir scheint Deine Vorstellung, Andrej, zu flach. Darüber hinaus bietet sie eine einfache Auflösung des Problems an. Man kann den Überfluss von Reichen entziehen und unter Armen gerecht verteilen lassen. Es gab diese Art der sogenannten Gerechtigkeit schon nach der Oktoberrevolution, wenn die Kapital- und Landgutbesitzer brutal geraubt worden waren und deren Reichtum dem Volk abgegeben wurde. Konnte diese großartige Erschütterung das Volk glücklich machen? Aßen danach alle satt oder bekam jedes Mitglied der Gesellschaft einen fetten Anteil, der ihm eine sorgenlose Existenz gewährleisten konnte? Im Gegenteil, lebte die Bevölkerung noch ärmer als zuvor. Trotzdem sagen wir, dass unsere Staatsordnung die gerechteste unter allen anderen ist“.

„Dem kann ich leider nicht zustimmen. Unser Regime ist tatsächlich das Gerechteste. Wir alle schätzen aber nicht besonders unser kostenfreies Gesundheitswesen, unsere ausgezeichnete Ausbildung, die uns nichts kostet und die alle als etwas Selbstverständliches annehmen. Unser soziales System lässt uns viele gute Sachen genießen, die wir uns sonst kaum zu leisten fähig wären. Gewiss besitzt jede Münze ihre Kehrseite, deswegen fehlt unserem Staat noch viel. Doch man kann hoffentlich in der Zukunft diesen Mangel erfolgreich ausgleichen“.

„Verstehst Du, Andrej, ich habe nichts dagegen. Unser Vaterland habe schon in der Tat nicht wenig erreicht und wir müssen es hochschätzen. Momentan sprechen wir aber über die Gerechtigkeit, wie man sie ohne Enteignen und andere Grausamkeiten einrichten kann“.

„Gerade das ist die Aufgabe der Rechtspflege, in der ich zu arbeiten bereit bin. Ich sehe ihre Funktion in zwei ganz unentbehrlichen Richtungen: Vervollkommnung der Gesetze und Bestrafung für ihre Verletzung. Der Löwenanteil der Verbrechen ist augenscheinlich, denn alle wissen, dass der Diebstahl ein schweres Verbrechen ist und bestraft wird. Trotzdem wagen sich viele unsere Mitbürger, diese Übeltat zu verüben. Die Situation scheint völlig klar zu sein: man hat gestohlen, man muss ins Gefängnis. Realistisch gesehen sieht es aber viel komplizierter aus. Besonders, wenn wir nicht von einer Person sprechen, die wegen des Hungers einen Teller Suppe gestohlen habe. Eher spricht man von einem Individuum, das mehrere tausende aneignete. Was soll man machen, wenn dieses Dreckstück schon um seine Unzuständigkeit kümmerte, indem er einflussreiche Beamten besticht. Und kannst Du einen guten Richter vorstellen, dessen Urteil unmittelbar seinen direkten Vorgesetzten schädigen sollte, der in die Machenschaften verwickelt worden war. Was solltest Du selbst auf seine Stelle machen?“

„Ich hätte keine Ahnung, was ich in dieser Situation machen sollte. Deshalb bevorzuge ich, diesen Lebensweg zu vermeiden. Viel ruhiger scheint mir einen technischen Beruf, wo ich mich von diesen heimtückischen Fragen befreit fühlen könnte. Nun wollte ich aber, die gleiche Frage an Dich zurückrichten. Welche Schritte konntest Du unternehmen, wenn Dein Vorgesetzte betroffen wird?“

„Man muss sich nach meiner Auffassung so benehmen, dass man später keine Gewissensbisse erleiden musste. Dafür braucht man eine Menge geistiger Kraft. Ob ich diese in fünf oder zehn Jahre bekomme, weiß ich im Augenblick nicht, möchte aber haben“.

„Apropos über Dein Gespräch mit meinem Vater. Er hielt es fest im Gedächtnis. Ich weiß es, weil er mich vor einigen Tagen über Dich gefragt habe“.

„Da hört doch alles auf!“ dachte sich Andrej. „Solch wichtige für mich Mitteilung ließ sich Stas zu guter Letzt. Wartete er vielleicht, wenn ich mich plötzlich selbst danach zu erkundigen probiere“. Und nichtsdestoweniger freute sich Andrej über diese Tatsache, als ob jemand Mächtiger auf seiner Seite stand.

Neben diesem Stas besuchten den gleichen Zweikampfunterricht mehrere anderen Jugendlichen, die aus mehr oder weniger einfachen Umständen vorkamen. Die meisten von ihnen waren physisch von Natur aus nicht besonders stark, was unter Jungen, die sich zu raufen gewöhnt hatten, nicht hochgeschätzt werden sollte. Manche Trainer nannten den Zweikampf „Kunst“, was in der Tat so war. Denn man war damit imstande, sich in jeder Gemeinschaft wohl zu fühlen. Man durfte natürlich diese erworbene Fähigkeit nicht missbrauchen. Zugleich war sie wie einen Schutzschein, den man ständig in seinen Händen trug. Der Unterschied mit dem Schein bestand aber darin, dass die Kraft nicht aus dem Papier, sondern aus den Händen selbst ausging. Die folgenden Ereignisse zeigten, dass diese Sportart nicht allein für die Selbstverteidigung, aber auch für die Rettung fremdes Lebens oder Würde von großer Bedeutung werden könnte. So war es einmal, als Andrej mit seinem Freund Mark Rotberg aus dem Training spätabends unterwegs nach Hause waren. Zufällig wurden die beiden Zeugen des Überfalls: zwei junge Mädchen wurden von vier großen Männer bedroht. Die Jünglinge versuchten, die Männer davon abzuraten, was von den Angreifern grob gekommen worden war. Sie versuchten, die Jünglinge mit Faustschlägen zu attackieren. In diesem Augenblick erinnerten sich die beiden an die Empfehlung deren Coaches, wie man sich in solcher Situation benehmen sollte. Sie entgingen die Schläge, indem sie bald zur Seite traten und mit einem Handgriff zwei Männer kräftig zu Boden warfen. Dann wurde etwas Ähnliches mit den zwei anderen Männern wiederholt. Diese Würfe gelangen die beiden Zweikämpfer so passend, dass alle vier Angreifer sich auf dem Boden befanden, wo sie nun ruhig lagen. Die befreiten Mädchen beeilten sich, wegzulaufen und schlichen sich davon. Deren Retter gingen zufrieden in einer anderen Richtung.

Der Anfang der großen Freundschaft

Nach zwei Jahren des harten Trainings entwickelte sich eine Gruppe um Andrej Lusin, die in Sommerferien nach verschiedenen Stadtumgebungen reiste. Die Teenager wählten sich einen einsamen Platz auf dem Ufer eines Sees oder Flusses, schlugen ein Zelt auf, angelten und grillten den Fisch auf dem Lagerfeuer. Sie erörterten dabei alle möglichen Themen, die für ihr Alter wichtig und aktuell schienen. Manchmal war die Rede von allgemeinen menschlichen Einstellungen, z.B. vom Glück. Jeder von ihnen besaß seine eigene Meinung, wie man diese komplizierte Empfindung beschreiben könnte. Der Gegenstand war von Jurij Gromow vorgestellt, einem hochgewachsenen und hageren Kerl mit langen braunen Haaren:

„Mir scheint es, dass man das Glück kaum verallgemeinern kann. So fühlen sich mehrere Individuen absolut glücklich, die von außen gar nicht solche zu sein vermögen. Der arme Bauer, der sein Leben durch die Ackerfelder säet und pflügt, nimmt sein Schicksal an, und das macht ihn fast glücklich. Das Ähnliche passiert mit einem Kranken, der über seinen wirklichen Zustand keine Ahnung habe. Er freut sich einfach über die umgehende Natur, die wie bei uns jetzt gedeihe und Wohlgerüche ausströmt“.

Sascha Jerschow war der anderen Auffassung:

„Ich bin überzeugt, dass jeder von uns ohne Ausnahme von einer erfolgreichen Karriere träumt. Denn ein vernünftiger Mensch weißt ein tief denkendes Wesen auf. Wenn die Träume nicht verwirklicht werden, soll uns das Leben leer und nichtig scheinen. Doch Herrgott schenkt diese glückliche Karriere weit nicht allen. Das bedeuten, man muss stets für sein Glück kämpfen. Sonst wird man ein Verlierer“.

Pjotr Lewtschenko war aufrichtig dagegen:

„Das kann ich Dir, Sascha, nicht zustimmen. Nach meiner Ansicht sollte sich eine Person, die Hals über Kopf eine schwindelerregende Karriere macht, die andere Mitmenschen schädigen könnte, nicht besonders glücklich empfinden. Im Gegenteil muss sie pausenlos Gewissenbisse erleiden“.

Oleg Merkulow ergänzte den Gedanken Pjotrs:

„Ich bin der Meinung, dass viele menschliche Übel eher von einem übermäßig erhöhten Ziel vorkommen, das häufig eine noch größere Enttäuschung mitbringen kann. Mir gefällt eine Vorstellung, dass man mit kleinen Errungenschaften zufrieden sein sollte. Dann wird man im Falle eines großen Erfolges wirklich glücklich“.

Die Brüder Beljawskijs vertraten unterschiedliche Gesichtspunkte, indem einer von beiden, Pawel, meinte, dass das Glück mit dem Verständnis der Umgebung verbunden war. Sonst sollte man sich alleinstehend empfinden. Sein Bruder Semjon glaubte daran, dass ein glücklicher Mensch kein Augenmerk darauf richtet, wie schnell die Zeit läuft. Solcher Prüfstein des Glücks charakterisierte nach seiner Auffassung diesen Zustand am besten.

Als der Nächste äußerte sich nun Nikolai Grigorjew, ein ziemlich beleibter Bursche mit kurzem blonden Haar und ausdrücklichen Gesichtszügen:

„Alle meine Freunde sagen kein Wort über das Geld, als ob man gar ohne ihn glücklich sein kann. Allerdings sind auch viele reichen Individuen sehr glücklich, sogar solche von ihnen, die besonders habgierig zu sein scheinen. Leider sind wir nicht imstande, das Geld als Allzweckmittel allen in gleicher Weise verschaffen zu können, damit jeder sich ihm benötigte bekomme. Eher müssen wir darüber sprechen, dass der Bedarf einzelnen Personen sehr unterschiedlich ist, die eine braucht eine Menge Pommes Frites, der andere – eine elegante Villa. Wenn wir aber auf diesen Grund die Verteilung der materiellen Schätze recht zu fertigen versuchen, hätten wir sicher kein Gewissen. Denn wir verallgemeinern dummerweise einerseits ein augenblickliches Bedürfnis des armen hungrigen Menschen und andererseits eine verschwenderische Begierde einer extrem reichen Person“.

Nun war die Reihe an Stas Schelkowskij, der sehr aufmerksam zu Rede seiner Mitreisenden zuhörte:

„Wenn wir über die Rolle des Geldes in der Glückfrage sprechen, müssen wir feststellen, dass dabei mehrere Einzelheiten wie Alter, Geschlecht, Begabung, Gesundheit usw. von Bedeutung sein sollten, die menschliche Bedürfnisse bestimmen. Darüber hinaus haben zwei beliebigen Personen, die einen gleichen Gehalt bekommen ganz unterschiedliche Chancen, glücklich zu sein. Stellen wir uns vor, dass eine von beiden schwerbehindert ist. Das heißt, sie braucht viel mehr, um die ähnliche Lebensbedingungen zu erlangen. Und die „gerechte“ Verteilung aller Wertsachen auf dem Gleichheitsprinzip macht man kaum besonders glücklich. Jeder Mensch benötigt vielleicht sogar objektiv gesehen eine persönliche Einkunft, um sich wohl zu fühlen und vielleicht keine Gesellschaft kann solche Vorsorge leisten“.

Historische Erfahrungen

Auf jeden Fall waren diese zwei Jahre harten Trainings nicht allein für die bekräftigte Körpermuskulatur und Kampfgewandtheit der Jünglinge verantwortlich. Jeder von ihnen stellte sich ein Ziel, zu dem er sich nun zu streben pflegte. So haben zwei von ihnen, Sascha Jerschow und Pjotr Lewtschenko, den Wunsch, die Geschichte zu studieren, um gewisse „weiße Flecke“ der Vergangenheit mit der Wahrheit zu erfüllen probieren. Diese beiden interessierten sich enorm schon für die bestimmten Zeitabschnitte der vaterländischen Geschichte, die sie in der Fachliteratur finden könnten. Ihre große Leidenschaft war so unverhohlen, dass sie bereit waren, bei der nächsten Zusammenkunft etwas davon zu erzählen. Die anderen wussten schon Bescheid und hetzten sie dazu auf. Diesmal war die Rede von der Entstehung der ersten russischen Staatlichkeit. Pawel Beljawskij äußerte damals die Vermutung, dass dieses Altertum in zahlreichen wissenschaftlichen Werken ganz vollständig beschrieben worden war. Pjotr fand seine Aussage laienhaft und zeigte die offene Freude, etwas Neues zu erzählen:

„Wenn wir das Thema zu berühren suchen, stellt es sich heraus, dass die Mehrheit der Schriftstücke auf der volkstümlichen Mythologie begründet ist. Einige verehrten Fachleute nennen als anscheinend zuverlässige Quelle die Namen zweier alten Chronikschreiber Askold und Dir, die, nach deren Auffassung, den Waräger Fürsten Rurik begleiteten. Tatsächlich waren die beiden erdachten Personen, denen die späteren Forscher viele Auskünfte zuschreiben wollten. Nicht weniger bekannt war auch der Mann namens Óskyldr, was auf der altnordischen Sprache irgendwie „Fremder“ bedeuten sollte. Diesem schrieb man auch die echte Autorschaft mehrerer späteren Annalen zu, die man aber mit der Überschrift „Nestor-Chronik“ bezeichnete. Viel glaubwürdiger scheint die Originalhandschrift von gewissem Silvester, dem Abt in Widubizkij-Kloster in Kiew, dessen Kenntnisse mit den überall anerkannten byzantinischen Schriften übereinstimmten. So wurden diese handschriftlichen Werke zum eigenartigen Prüfstein für die historischen Dokumente, an die man zweifeln konnte. Eine typische Besonderheit der späteren russischen Texte bestand darin, dass sie als die Grundlage die entsprechenden Daten der alten byzantinischen Chronisten auswählten, die darauf mit den bekannten russischen völkischen Überlieferungen zu ergänzen vermochten. Wenn man von dieser Vorstellung ausgeht, scheint die wohl verbreitete in russischen Quellen Meinung, dass der Fürst Oleg, der angeblich gar selbst nach Konstantinopel eingeladen worden war, um ihn für die großmütige Verschonung der Hauptstadt zu bedanken, als zweifelhaft. Diese Würdigung war anscheinend mit den vielen beneidenswerten Vorrechten für die russischen Kaufleute bestätigt worden. Die klare Abwesenheit solcher Auskunft in den byzantinischen Annalen zeugt davon, dass dieses Ereignis eher nie stattfand. Ganz anders passierte es, z.B. mit der Christianisierung Russlands, was ganz ausführlich in Byzantinischen Reiche berichtet wurde. Dagegen anders bezog man sich in Russland darauf, ob das Ereignis tatsächlich gewesen war. Viel einfacher wäre, die Nestor-Chronik vollständig anzuerkennen. Dann entstand anscheinend das Beweismaterial ihrer künftigen Eroberungspolitik, die das Ziel verfolgte, ein großes Land zu gründen. Kurz vor seinem Tod im Jahre 879 ernannte Rurik seinen Schwager Oleg als Regent zu seinem minderjährigen Sohn Igor. Oleg strebte sich nach Süden, wo schon den belebten Handel zwischen vielen Völkern vonstattenging. In diesem Sinne eroberte er Kiew und verlegte dorthin von Nowgorod seine Hauptstadt. Oleg war eine berühmte Person, was in einer skandinavischen Saga widerspiegelt wurde. Für Oleg war die Ehrerbietung der Nachbarländer ein Zeichen der Furcht, was seinen Appetit nur zu vergrößern vermochte. Er wusste Bescheid über die Nachteile des nordischen Klimas und über die Kärglichkeit dessen Bodens. Deswegen lockte ihn enorm die fruchtbaren Schwarzerden südlichen Gebiete an. Der Großfürst Kiews ergänzte stets mithilfe zahlreichen Truppen seinen Staat so erfolgreich, dass Russland bald sein Territorium vervielfachen sollte. Die Neigung Olegs, fremde Länder anzueignen, wies sich wie eine ansteckende Erkrankung auf, indem seine Nachfolger diese „Tradition“ wohlwollend fortzusetzen pflegten. Die erst von den russischen Herrschern selbst verkündigte vermeintliche Gewährleistung der Grenzen-Sicherheit war schon längst überwunden. Doch sie wurde aus Gewohnheit weiter genannt, wenn die neuen Länder für die Zaren attraktiv aussehen könnten. Das Volk, das die Last des neuen Krieges übernehmen sollte, bekam davon keine Vorteile. In Gegenteil sollte es noch harter arbeiten, um alle Verluste der Kriegszeit möglichst schnell auszugleichen. Das Elend des russischen Volkes bestand darin, dass es kaum imstande war, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Gerade deswegen wendete es sich an Waräger, das heißt, aus den Skandinavien stammende Krieger, deren Anwesenheit seit dem 8. Jh. im Gebiet von Dnjepr, Dnister, Wolga und Don bis ins Kaspische und Schwarze Meer nachgewiesen worden war. Die Russen baten diese Waräger darum, ihr Land gleich zu übernehmen und das Volk zu regieren. Für die skandinavischen Mörder und Räuber war diese Bitte mehr als schmeichelhaft, sie durften sie sicher nicht ablehnen. Von armen Russen verlangte diese unüberlegte Entscheidung ihre tausendjährige Armseligkeit und Rechtslosigkeit, die die einsichtigen mit der erfundenen Tugend des Gedeihens des Vaterlandes glücklich zu vertuschen suchten. Solch falsche Einstellung, die den Wohlstand des Volks durch das Heil des Staates ersetzen sollte, musste das Volk als Binsenwahrheit annehmen. Für den Zaren und Adel war diese Tatsache ungeheuer günstig, denn sie ermöglichte, die höchsten Erträge von schwerer und unentgeltlicher Arbeit und dem Kriegsdienst des recht- und anspruchslosen Volks für die Staatskasse und deren eigenen Nutzen zu ziehen. Eine wichtige Bedingung der beständigen Macht der Zarenfamilie war die Ungebildetheit der Bevölkerung, die solche Macht als Gottesgnade verstehen musste. Gleichzeitig verzögerte diese Unwissenheit der völkischen Massen den Fortschritt, der in westlichen Staaten ungehindert in Gang gebracht worden war. Zugunsten ihrer vorherrschenden Position war die russische Elite bereit, auf die technischen Errungenschaften zu verzichten. Obwohl Rurik und seine Nachfahren dem russischen Wesen verschiedene bösen Sünden wie Lüge- oder Diebstahlneigung zuschrieben, litten eher sie selbst daran. So entzogen sie das Volk den ehrlich verdienten Anteil des staatlichen Reichtums. Außerdem erfunden sie ständig die ausschließlich märchenhaften Geschichten, die ihre kaiserliche Abstammung schon von großen römischen Imperatoren bestätigen sollten. War es nicht die reinste Lüge, die die Persönlichkeiten solchen erhabenen Niveaus unzulässig sein sollte? Dafür nutzten sie ausreichend die vollständige Unterstützung der russischen orthodoxen Kirche, die vielleicht immer bereit war, ihren bescheidenen Dienst dem Zaren, also dem Vertreter des Gottes auf der Erde zu leisten. Man konnte aber diese Bereitschaft auf keinen Fall als uneigennützig bezeichnen, denn die Geistlichen bekamen dafür eine ausgiebige Belohnung. In gewissem Sinne fühlten sich die Priester wie die Schuldner des Zaren, was sie immer beharrlich büßen sollten. Es war nicht besonders schwer zu erfüllen, z.B. durch die Einstellung des „Dritten Rom“, wie von ihnen das Moskowiter Fürstentum später genannt worden war. Solch ziemlich seltsamer Begriff wurde vom Metropoliten Zosima Ende des 15. Jh. in Umlauf gesetzt, der eine besondere Gedankenweise einsichtig erfand. Aus dem Alltagssatz, dass Herrgott Dreieinigkeit lobt, und der Existenz zweier Imperien in der Weltgeschichte, von christlichen Rom und Konstantinopel, die schon untergegangen waren, fasste er die Schlussfolgerung, dass es vom Himmel nur ein drittes Imperium (Dritten Rom) entstehen sollte. Es soll um Moskau aufgebaut werden und wird ewig leben. Diese christliche Lehre wurde im 16. Jh. von einem Mönch namens Filofei aus Pskow weiter gepredigt worden. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Lehre keine Zustimmung im Westen genoss, wurde sie hoch vom russischen Zaren und Adel geschätzt, die angeblich überhaupt keine westliche Anerkennung brauchten. Die unvergleichbare Überzeugungskraft dieser von Anfang an eingebildeten Idee war so enorm, dass sie bis zum Ende des 19. Jh. an ihre Bedeutung nicht verloren hatte. Auch die großen russischen Denker wie die Dichter Puschkin und Tjuttschew waren stark davon betroffen. Und die orthodoxe Kirche war die einzige Vorrichtung zum Befestigung den besonderen kaiserlichen Geist, dass das ständig wachsende Reich zusammenhalten sollte. Der Zweck heiligt die Mittel. Deswegen wurde das Haupt der Kirche ungehindert in seinem Schaffen, das in Gottes Hand lag. Mit diesem Gedanken erfand der moskauische Metropolit Makarios sogar einen genealogischen Baum, der die Abstammung der russischen Zaren lügenweise bis auf den römischen Kaiser Augustus zurückführte. Auch darin steckte sich eine Bestätigung der Berechtigung der berüchtigten Bezeichnung „Dritte Rom“, was eine unerschöpfliche Lebenskraft der russischen staatlichen Ideologie und Außenpolitik für die ganze Ewigkeit verleihen sollte. Mit solchem typischen selbsternannten „Schutzbrief“ gelang es der russischen Regierung, ihre Angriffslust und auf Propaganda begründete Beeinflussung des Volkes vor den neuen Kriegen recht zu fertigen. Außerdem bot die Zarenmacht Militär- und geistige Unterstützung allen orthodoxen Gläubigen der Welt, vor allem aber den slawischen Brüdern und Schwester, die unter der fremden Herrschaft litten. Wie die folgende Geschichte aufschlussreich zu zeigen vermag, gab diese zweifelhafte Gelegenheit den Anlass, die militärischen Handlungen in Gang zu bringen“.

Um ehrlich zu sein, rechnete Pjotr nicht darauf, dass seine Mitteilung ein solch großes Interesse unter seinen Kumpanen erwecken könnte. Doch es war der Fall. Zuerst meldete sich gleich Nikolai Grigorjew zum Wort:

„Pjotr, alles, was Du uns gerade erzählt hast, scheint mir großartig zu sein. Ich habe darüber nie gehört. Kannst Du aber erläutern, welchen wirklichen Sinn und Zweck dieses Altertum für uns, den Kinder der Sozialistischen Oktoberrevolution und überzeugenden Leninisten haben sollte?“

Pjotr erwiderte ihm fast momentan, als ob er die Antwort im Voraus vorbereitet habe:

„Natürlich muss ich Dir, Nik, nicht erklären, dass jeder Gebildete die alte Geschichte seines Landes beherrschen sollte. Sonst soll ich betonen, dass die tausendjährige Geschichte unseres Vaterlandes eine Menge von sehr ähnlichen Ereignisse einschließt, die man mit den guten Kenntnissen sicher zu vermeiden fähig wäre. Darüber hinaus zweifle ich mich daran, dass die historische Entwicklung unseres Jahrhunderts absolut frei von der Wiederholung der alten Fehlschläge war, was uns davon auch in Zukunft nicht gewährleisten lässt“.

Dann fragte Mark Rotberg darüber, ob die Kirche irgendwann noch eine entscheidende Rolle spielen könnte.

„Unser aktuelles System der Weltanschauung“, antwortete Pjotr, ist auf atheistischen und wissenschaftlichen Prinzipien gegründet. Die jüngste Zeit sind wir alle die Zeugen der massenhaften Zuneigung, alten religiösen Feste und Bräuche zu beachten. Historisch gesehen passierte diese Erscheinung dann, wann die Lebensbedingungen sich stark verschlechtern sollten, das heißt, wenn man irgendwelche äußere Befestigung für seine Seele brauchte. Es ließ uns vermuten, dass auch in der Zukunft die Religiosität wiederhergestellt werden könnte“.

Dann ergriff Semjon Beljawskij das Wort:

„Nach Deiner Schilderung, Pjotr, stellt es sich heraus, dass Russland sich ständig gegen seine Nachbarn boshaft und aggressiv benehmen sollte. Solche Verhaltensweise musste einen kräftigen Widerstand von außen auslösen. Wir wissen aber gut, dass die unversöhnlichen Kämpfe nicht immer vonstattengingen. Wie könnte es passieren?“

„Du, Semjon, hast doch Recht. Es gab die Zeit, wenn es Russland gelang, sich ans kräftige europäische Staatensystem anzuschließen. Wir sollen dafür zuerst dem großen Zaren Peter I. dankbar sein, denn gerade er unternahm ein sehr umfassendes Programm, Verhältnisse mit den europäischen Monarchen enorm zu verbessern. Dafür nutzte er erfolgreich alle möglichen Mittel aus, inklusiv alle Formen der engen Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten, gemeinsame militärische Aktionen oder ihm vorteilhafte Eheschließungen. Seine unaufhörliche Tätigkeit sorgte ja dafür, dass sein riesiges Reich zu einem gleichwertigen Mitglied der führenden europäischen Kräfte geworden war. Alle mächtigen Herrscher Europas sollten die hohe Position Russlands anerkennen. Dann ergriffen den russischen Thron die großen schönen Damen, die nicht selten ihre eigennützigen Ziele verfolgten. Trotzdem erreichte z.B. Katharina II. eine allgemeine europäische Anerkennung durch ihre privaten Beziehungen mit den berühmten Denkern, Politiker und Künstler des 18. Jh.“.

Oleg Merkulow hätte gern wissen, ob die patriotische Erziehung in Russland eine besondere Aufgabe bezwecken sollte. Pjotr fand diese Frage einsichtig und versuchte, darauf eine nicht banale Antwort herauszusuchen:

„Oleg, Deine Frage ist sicher nicht so einfach wie sie auf den ersten Blick aussehen könnte. Denn der russische Patriotismus sollte neben dem orthodoxen Glauben die Aufgabe des zweiten Standbeines erfüllen. Allerdings war er kein Patriotismus im wohlwollenden Sinne, den man mit der Zugehörigkeit zu seinem kleinen Geburtsort verbinden konnte. Seine hohe kaiserliche Abart, die man richtiger Nationalismus oder Chauvinismus nannte, sollte die Selbstsucht und Eigenliebe übermäßig vergrößern, dass alle anderen Völker und Nationen sich als nichtsnutzig aufgewiesen werden. So konnte der russische Nationalismus jede bescheidene Seele bis ins Ausmaß der großen Persönlichkeiten wachsen lassen, so dass man stolz auf sich selbst sein konnte. Eine ausschweifende Form der Nationalismus militaristischer Prägung heißt üblich Chauvinismus. In zaristischen Russland wurden viele Intellektuelle vom Panslawismus begeistert, im Prinzip einer typischen Offenbarung des reinen Chauvinismus, der allerdings gewisse eigenartigen positiven Merkmale bei Slawen herauszufinden suchte. Die Überlegenheit einer Nation gab ihr sicher das Recht, auch politisch eine beherrschende Position zu verlangen. Für Russland, dessen herkömmlich aggressive Ideologie ständig eine neue Ernährung brauchte, war der Panslavismus gerade die richtige Quelle der geistigen Kraft. Manchmal war sie ausreichend, um den imperialen Schwung so stark zu erregen, dass die russische Armee ruhmreich große Schlachte zu gewinnen fähig war. Vielleich darauf verließ sich der Zar Nikolaus I. als er einen neuen Krieg gegen Osmanisches Reich plante. Ein großer Sieg versprach ihm die gute Chance, nicht nur den erheblichen Territorien zu erobern, sondern dem orthodoxen Glauben wichtige Gebiete zu eröffnen. Diese frommen Gedanken sollten aber auf eine verfeinerte Diplomatie stützen, die im Voraus alle Unterwasserströme aufklären musste. Es war aber nicht der Fall, denn die einsichtige britische Königin Viktoria betrachtete alle russische Handlungen sehr eifrig. Sie sah in Russland einen gefährlichen Gegner für die Weltherrschaft. Nicht weniger kampfbereit fühlte sich auch der französischen Präsident Napoleon III., der nach der Revolution 1848 in der Spitze der katholischen Welt samt deren Heiligtümer anzusteigen beabsichtigte. Gleichzeitig zweifelte Nikolaus nicht daran, dass sowohl England als auch Frankreich in dem Krieg gegen Osmanen auf seiner Seite stehen sollten. Der Zar versuchte schon längst, alles in Gang zu bringen, um seine Aufsicht über den orthodoxen Glauben zu übernehmen. Es war aber eine übermäßige Herausforderung des Zaren, der seine Kräfte stark überschätzte. Viktoria fühlte sich als die führende europäische Macht offenkundig beleidigt. Sie versuchte alles Mögliches zu unternehmen, um Nikolaus aus dem Nah Osten zu vertreiben. Die politische Lage eskalierte sich dadurch, dass alle Betroffenen den einzelnen Ausweg im Krieg sahen. Obwohl der gesunde Menschenverstand im Krieg etwas Verantwortungsloses und Leichtsinniges sah, war die damalige Diplomatie der anderen Auffassung: sie hatte keine Angst vor dem riskanten militärischen Unterfangen. Wir alle wissen, dass die Kunst der Diplomatie im Vermeiden der Kriege besteht. Doch der Wunsch, die eigene Überlegenheit mit aller Kraft zu beweisen, zeigte sich manchmal unüberwindlich zu sein. Nicht besonders tiefsinnig äußerte der zaristischen Gesandte, Fürst Alexandr Menschikow, die Bereitschaft seines Reiches, ein Bündnis mit den Osmanen zu schließen, mit dem die Verbündeten gegen beide europäischen Großmächte kämpfen könnten. Der Russe forderte dafür aber einen hohen Preis, den der osmanische Herrscher gar nicht vollständig ausfüllen konnte. Sein britischer Kollege, der spätere Vicomte de Redcliffe wurde ganz anders gestimmt: er wollte den Sultan so aufhetzen, dass der eher die britische Seite bevorzugte. Eine offene Auseinandersetzung mit den westlichen Riesen sprach seine Absichten unbedingt wider. Viel günstiger schien dem Osmanen die Gelegenheit, zusammen mit dem Westen gegen den Zaren zu kämpfen. In dieser Heikel Situation fand Nikolaus nichts Besseres als dem Sultan ein hartes Ultimatum zu verfassen, das die Beziehungen zwischen beiden großen Reichen zum höchsten Grad erhitzen sollte. Nach dessen klarer Ablehnung veröffentlichte der Zar ein provokatives Propagandamanifest über die Verteidigung der orthodoxen Kirche und richtete seine Truppen in die Moldau und Walachei. Mit dieser riskanten Aktion wollte er dem Sultan überzeugen, wie ernst seine Absichten wirklich waren. Dass dieses Ereignis zu einer starken Aufregung im Westen führen könnte, konnte er kaum vermuten. Die Regierung Ihrer Majestät sah es ganz anders: sie erklärte, dass das unstabile Gleichgewicht im Nah Osten durch dieses aggressive Verhalten des Zaren hart bedroht wurde. Aber nicht allein das Britische Reich war empört, auch in anderen westeuropäischen Ländern beschimpfte man Nikolaus wie einem „Gendarm Europas“. Darin steckte sich wirklich ein großer Teil der Wahrheit, weil der Zar mitleidlos die völkischen Aufstände in Polen und Ungarn unterdrückte. Außerdem vernichtete sein Militär grausam die türkische Flotte in der Bucht von Sinope in November 1853, was in allen europäischen Metropolen zur offenkundigen Empörung führte. Kurz gesagt empfand sich die Britische Krone auch im Mittelmeer in Gefahr, denn die Zarenansprüche konnte man kaum richtig abschätzen. Auf diesen Grund begab sich in der Ägäis kreuzende viktorianische Flotte auf den Weg ins Schwarze Meer. Diese Handlung sollte zuerst als eine Vorwarnung wirken. Napoleon III. war ähnlicher Weise gestimmt und befahl seine Kriegsmarine, die britischen Kollegen zu begleiten. Im Grunde unternahm Nikolaus in dieser schwierigen Angelegenheit nichts Wesentliches, um den drohenden Krieg abzuwenden. Im Gegenteil versuchte er, seine Truppen nach Krim zu schicken. In Februar 1854 brachen die beiden westlichen Großmächte ihre diplomatischen Beziehungen zum Russland. Schon Ende März erklärten sie dem Zaren den Krieg. Nur diese gramvolle Botschaft ließ dem russischen Monarchen deutlich kapieren, wie einsam und unglücklich er tatsächlich war. Der mächtigsten militärischen Koalition der Welt wurde allein sein Land gar ohne Verbündeten entgegengesetzt. Die Kraft seiner Feinde war gegen den bösen Geist gerichtet, der mit dem Namen Nikolaus im Westen verbindet wurde. So sah man die mögliche Niederlage Russland wie einem Sieg der Gute gegen den Böse. Die Landung der Bündnisflotte in Eupatoria bestimmte eindeutig die Halbinsel Krim wie dem Platz der heftigen militärischen Aktionen. Und die Kämpfe um kleine Siedlungen wie Balaklava, Alma oder Inkerman sollten doch nur als gewisse Vorläufer der größten Kriegsereignisse um die stolzen Seefestung Sewastopol dienen, den Hauptgegenstand gegenseitigen Interesses. Neben ihrer unanfechtbaren militärischen Bedeutung, war diese Festung ein echtes Symbol der langen russischen Ansprüche auf Konstantinopel und Vorderen Nahost. Das heißt, mit seinem Untergang wurden die Hoffnungen der Koalition und vor allen des Osmanischen Reiches auf die befestigte Sicherheit seitens Russlands verbunden. Im Angesicht von echt tödlicher Gefahr machten die russischen Soldaten alles Mögliches, um ihr Bollwerk zu schützen. Diese dringende Maßnahme sorgte später dafür, dass Sewastopol sich fast ein Jahr lang gegen die wütenden Attacken der überlegenen Gegner abzuwehren fähig war. Der Krieg zeigte aber das ganze Niveau der Rückständigkeit Russlands, die alle Bereiche des Lebens zu verschlingen schien. Die Versorgung der Armee mit Lebensmittel und Materialien sowie den Truppentransport von Norden nach Süden waren sehr schlecht organisiert. Schon südlich von Moskau gab es keine Eisenbahn und die allgemeinen Straßen waren in kläglichen Zustand. Der einfache Vergleich zeigte, dass der Truppentransport russischer Soldaten von Moskau zur Krim dreifach so lange dauerte wie die Seefahrt der westlichen Alliierten von deren Heimathäfen ins Schwarze Meer. Viele tausende Fuhren mit notwendigen Nahrung, Kleidung und Technik, für die private und kommunale Verwaltung verantwortlich war, verschwanden damals spurlos unterwegs, was die Auskunft über das Ausmaß der Korruption in Nikolausrussland geben konnte. Nicht besser ging es dem Sanitätswesen in der russischen Armee. Unfähigkeit, effizient Wunden zu heilen, brachte zahlreiche tödlichen Seuchen hervor, die man sonst sicher vermeiden sollte. Durch die verheerenden Folgen dieses Mangels starben erheblich mehr Soldaten als bei den Kampfhandlungen. Insgesamt verlor die russische Armee mehr als eine Halbemillion Mann. Im September 1855 gelang es schließlich den Alliierten, Sewastopol vollständig zu erobern, obwohl die Kämpfe noch lange nicht zu Ende waren. Bei den folgenden heißen Friedensverhandlungen zeigte sich Napoleon III. von seinen besten Seiten. Ungeachtet der Forderung Ihrer Majestät, das Zarenreich aufschlussreich zu bestrafen, führte er beharrlich Gespräche mit allen Beteiligten. Als ein extrem wichtiges Ergebnis für Russland war die Tatsache, dass es das Minimum seiner Territorien verloren hatte. Vielleicht spielte dabei der Tod Nikolaus I., der am 2. März 1855 stattfand eine wesentliche Rolle, denn sein Sohn und Nachfolger Alexander II. zeigte kein Interesse für weitere Ausdehnung seiner Gebiete und Einflüsse.