Ein steiles Aufgteigen - Boris Revout - E-Book

Ein steiles Aufgteigen E-Book

Boris Revout

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Beschreibung

Eine ungewöhnliche Geschichte, die in der DDR begann und von deren Lebensstil geprägt werden sollte, zeigt unterschiedliche Seiten des sogenannten sozialistischen Vaterlandes. Der alternde Protagonist namens Bastian Peschel ist jetzt imstande, sein ganzes Leben in einem anderen Lichte anzuschauen sowie mehreren Begebenheiten eine neue Erklärung zu geben. Er, der Mann, der einen hochtrabenden Werdegang hinter sich besitzt, kann nun alle Etappen seines Aufsteigens wie etwas Unentbehrliches und Notwendiges darstellen lassen. Sogar seine Kindheit und Jugend. Nein, die Mehrheit der Ereignisse, die mit ihm passieren konnten, sollten bestimmt nicht zufällig sein. Besonders die Bekanntschaften mit den Menschen, die seit den Schuljahren einen bedeutenden Einfluss auf ihn ausüben sollten. Sonst konnte er als ein Grundschüler nie ohne Geld, Fahrkarte und Essen seine Ferien in weiten Reisen durch die DDR verbringen. Gerade dank seinem Schulfreund erwarb er die Neigung zum Abenteuer, die ihn auch als Erwachsenen begleitete. Das Können, sich schweren Umständen anzupassen, wurde allmählich zu seinem zweiten Wesen geworden. Sonst wäre es unmöglich, alle seinen Heldentaten im Westen zu verwirklichen.

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Seitenzahl: 718

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Auf dem Umschlag das Gemälde von Natalie Revout

Inhalt

Aus der Erinnerung

Feiern eines Festes

Eine verwickelte Beziehung

Auf dem Fahrtweg

Alltägliche Sorgen

Der neue Wohnsitz

Wieder zuhause

Die erste Aufgabe im Westen

Das süße Geschmack der Heimkehr

Eine neue Aufgabe

Eine unerwartete Bekanntschaft

Das neue Geheimprojekt

Die Abreise

Die Anstrengung steigert sich an

Eine neue Arbeitsrichtung

Der Brief

Noch eine Frau

Ein unerwarteter Besuch

Eine Umgestaltungsära

Ein Märchen verwandelt sich in eine Wahrheit

Eine Unterhaltung unter vier Augen

Aus der Erinnerung

Bastian Peschel saß in seinem Arbeitszimmer vor dem großen Monitor seines PCs, auf dem seine perfekt retuschierten Lichtbilder einen schönen Anblick boten. Er konnte sich bestimmt nicht zu unansehnlichen Männern zählen. Doch das Alter ließ immer irgendwelche unangenehmen Spüre im Gesicht hinter: Die kleinen dunklen Flecken, ein veraltetes Muttermal, die winzigen Runzeln usw. zeugten davon, dass die Person nicht mehr so jung und liebreizend war wie zuvor. Einem Fotoportrait die Empfindung der Vollkommenheit zu verleih-en war eine Meisterschaft wie die große Malerei. Jetzt als sich sein sechzigjähriges Jubiläum näherte, konnte er sich eingestehen, dass vielleicht nicht alles so perfekt aussah, wie diese Fotos, die lieber zu einem Illustrierten passten. Der menschliche Werdegang war aber individuell und unverbesserlich, was man wie eine Gegebenheit aufnehmen sollte. Jetzt aus der Höhe seines Alters könnte er sich als einem kleinen Jungen angemessen abschätzen gleichsam er irgendwer fremder war. Dieser Unbefugter sollte leichtgläubig und naiv sein, indem er genau wusste, dass alles, was ihm Menschen sagten vollkommen der Wahrheit entsprach. Aber war es wirklich immer so? Erzieherisch gesehen begann eine heldenmütige Arbeit aufs Heil des sozialistischen Vaterlandes in der DDR schon von Grundschule an. Diese ehrenvolle Tätigkeit von Mädchen und Jungen ging in diesen Zeiten vonstatten, wenn ein junges Wesen alle Worte von Lehrer sowie die, die aus den Bildschirmen des Fernsehers vorkamen wie eine heilige Verkündung oder anders ausgedrückt entsprachen diese Redeweisen der Stimmung des Kleinen, um sich glücklich zu empfinden. Fernerhin wurde es ihm auch klargeworden, dass die guten menschlichen Eigenschaften ausschließlich den besonderen Menschen gehörten, die in Ländern des sozialistischen Lagers lebten, alle anderen, die sich in kapitalistischen Staaten befanden, waren böse und gierig, obwohl vielleicht sehr reich und satt. Es gab auch eine Menge von armen Ländern im Schwarzafrika, Asien und Lateinamerika, die von bösen Kapitalisten tierisch ausgebeutet worden waren. Solch aufschlussreiches Bild ließ keinen Zweifel daran übrig, dass die Bewohner des Vaterlandes und anderen sozialistischen Staaten unter den besten Lebensbedingungen auf der Welt zu lernen, studieren und arbeiten könnten. Dafür sollten sie der weisen regierenden Partei (bzw. Blockparteien) lebenslang vollkommen dankbar sein. Denn es gab etwas Ähnliches nirgendwo sonst auf der Erde. Diese einfachen Einstellungen klangen leichtverständlich und überzeugend für einen kleinen Jungen und forderten keine weiteren Erklärungen. Mit Jahren wurde es dem Jungen noch angenehmer, auch die zu Herzen gehende Worte über die Parteiwürde anzuhören. Die Leitung dieser großen vereinigten Organisation sollte ausschließlich aus kristallklaren Menschen bestehen. In der Tat war ein Leben ohne jenen Argwohn und Zweifel beneidenswert und erinnerte eher an eine Idylle, die kaum irdisch möglich war. Ein Land der allgemeinen Gerechtigkeit und Gleichheit konnte unbedingt auf einer machtvollen Propaganda aufgebaut werden. Und es war auch der Fall. Der größte Feind dieser ideologischen Tätigkeit der führenden politischen Elite war die Offenheit, die gewöhnlich durch die Verbindung mit den Staaten westlicher Demokratie vonstatten gehen sollte. Mit anderen Worten hing der Erfolg des Gedeihens des diktatorischen Regimes der kommunistischen Abart davon ab, ob die Mauer der verbotenen Öffentlichkeit beständig geschafft worden war. Man kann unter bestimmten Bedingungen unterschiedliche Sicherheitssysteme entwickeln, die für die Zuverlässigkeit der Regierungsform sorgen könnte. Man kann aber auf keinen Fall das Zeitalter nach seinem eigenen Ermessen auswählen. Denn die Gestalt einer Epoche sollte von einer erhabenen Instanz geschafft werden, die keinen Einfluss zu dulden vermochte. Man könnte natürlich erwidern, dass es angeblich die Rolle der Volksmassen in der Geschichte herabsetzen sollte. Das Argument wird kaum stichhaltig, weil es nicht völlig klar ist, ob das kollektive Bewusstsein des Volkes nicht von der gleichen Instanz bedingt wurde. Gerade dieser Umstand ist der Knackpunkt der ganzen Darstellung. Ein langer Wechsel der unterschiedlichen Regierungsformen ermöglicht durch Beobachtungen eine mehr oder weniger richtige Gesichtspunkt zu bilden. Der Vergleich aller diesen Formen zeigt Vor- und Nachteile jeder von ihnen, was man nur viel später zu kapieren weiß. Der Grund dafür ist wahrscheinlich die Tatsache, dass eine gut gedachte Absicht sich im Laufe ihrer Verwirklichung so stark zu verändern vermöge, dass sie eine Unkenntlichkeit erweisen kann. Die Macht allein stellt dem regierenden solche unbeschränkten Güter des Lebens zur Verfügung, dass der Betroffene (oder dessen Verwandten und Verbündeten) nicht mehr darauf zu verzichten fähig sind. Der „wertvolle“ Beitrag dieses Faktors ist realistisch gesehen so groß, dass die folgende Verhaltensweise der Führung erheblich davon beeinflusst wird. Im Großen und Ganzen unterschieden die Bedingungen in den höchsten Regierungskreisen von den Verhältnissen in einer Schulklasse, wo fast vom Beginn des Lehrgangs ein verborgener Kampf zwischen einzelnen Personen für die führende Position stattfindet. Bastian erinnerte sich an die Situation in seiner Klasse, wo seine entschlossenen Schulkameraden eine aktive Beteiligung nahmen. Doch waren auch unter denen die kräftigsten Personen. So zeigte sich Karsten Schreiber wie ein körperlich entwickelter Kerl, der eher auf einen Kopf großer als die anderen war. Außerdem war er breitschultrig und sympathisch, um alle Mädchen in sich verknallen zu lassen. Üblicherweise führt solche Begleiterscheinung dazu, dass die männlichen Einzelwesen deren Mitschüler beneiden und deswegen nicht mögen. Diesmal war es aber nicht der Fall, denn Karsten gefiel auch den Jungen. Nun fand Bastian eine andere Erklärung als er früher geben konnte. Der Bursche war ein urwüchsiger Anführer. Bastian konnte sogar nicht ausschließen, dass dessen Vorfahren wilde Eroberer sein sollten. Welche Gefühle dabei die wichtigsten waren, war es nicht einfach zu vermuten. Sicher sollte die Angst ihre schützende Funktion erfüllen, wenn ein offener Widerspruch dein Leben kosten konnte. Aber auch ein schwacher Hoffnungsstrahl musste jeder haben, dass mit diesem Rädelsführer auch mir etwas zuteilt wird. Es gab irgendwas Niedriges, Verbrecherisches in dieser Hoffnung, doch ein menschliches Wesen verbarg bestimmt auch solche unwürdige Komonente. Als ein Beweisstück der „adeligen“ Herkunft Schreibers nutzte Peschel die Neigung Karstens, seinen Mitspieler bisweilen eine scharfe Heimsuchung vorzubereiten. Alle von ihnen waren einsichtig ausgewählt, indem der Prüfende nicht nur seine Beherztheit und Schlagfertigkeit zur Schau tragen sollte, sondern auch ein Zeichen, dass er diesen harten Schritt zugunsten Karsten zu untergangen wagte. Als eine angemessene Belohnung bekam der Mutige eine vorübergehende Sympathie des „Anführers“. Die „ehrenhafte Stelle“ wurde nicht lange gesichert werden, was nach dem Prinzip der Gerechtigkeit jedem eine Chance geben sollte. Zu edler Gesinnung Schreibers gehörte auch die Beschaffenheit, den gesamten Lernprozess auf keinen Fall ins Spiel einzumischen. Denn die Ausbildung war nach seiner Auffassung eine obligatorische Pflicht jenes klugen Menschen. Sonst war sein guter Ruf imstande, jeden „Schuldner“ durch die schlimmen Noten zu be-strafen. Nein so widerlich durfte sich ein „Adeliger“ nicht benehmen. Seine Großmütigkeit konnte sich auch dadurch gekennzeichnet, dass er keine Nachsicht seinen provisorischen Günstlingen übte, die jemanden anderen schaden könnten. „Mein Freund zu sein“, äußerte häufig der Starke, „bedeutet nicht von selbst, mir durch Gefälligkeiten oder andere Scheußlichkeiten zufriedenzustellen. Das brauche ich überhaupt nicht. Umgekehrt schätze ich in menschlichen Verhältnissen vor allem die Ehrlichkeit und Würde. Sonst riskieren wir, unsere edelhafte Freundschaft in eine Banditenverein umzuwandeln“. Nun zweifelte Peschel daran, dass alles, was Karsten sagte, offenherzig war. Nein, es gab eine Menge Heuchelei in seiner Natur, die er sich einzugestehen bereit war. Besonders deutlich trat es in seinen Umgang mit den Mädchen hervor. Die erste Schöne in der Klasse war sicher Margot Waldburg. Neben ihrem langen blonden Haar, großen mandelförmigen grauen Augen, kleiner Nase und aufgedunsen Lippen, war sie groß, schlank und imposant. Mit einem Wort besaß sie alle Sachen, damit jedes männliche Wesen von ihr in Entzücken geraten wurde. Selbstverständlich gab sich auch Karsten mit Behagen die Hoffnung hin, deren Herz zu erobern. Möglicherweise nutzte er dabei gerade solche Mittel der Verführung, die gegen seine hohen sittlichen Stützen gerichtet waren. Was aber offensichtlich passierte, zeugte eher davon, dass der Herzensbrecher keine Gnade vor ihr zu finden vermochte. Denn das Mädchen war selbst stolz genug auf sich, um die Arroganz Karstens zu ertragen. Einigermaßen erteilte die Natur Margot die ähnlichen Qualitäten wie den Starken. Solche ungünstige Begebenheit sorgte bestimmt dafür, dass die beiden sich zu einigen fähig waren. Die absolute Mehrheit der Klassen Jungs, einschließlich Bastian, war so schüchtern, dass sie keinen Versuch unterfangen konnte, mit dieser Waldburg einfach zu sprechen anfangen. Dieser Mehrheit war es viel lieber, verstohlen auf sie zu kucken. Peschel war es jetzt kompliziert zu urteilen, ob Margot bei Mädchen beliebt war. Seine Lebenserfahrung ließ ihm doch vermuten, dass die sonstigen Mädchen, die unbedingt keine gleichen äußeren Vorteile wie Margot haben konnten, eine Abneigung ihr gegenüber empfinden sollten. Die Kinder und Jugendlichen in der DDR Schule waren grundsätzlich verlegen und bescheiden. Diese Tatsache kam wegen einer sozialistischen Erziehung vor, die die jüngere Generation vor allen unzüchtigen Handlungen warnte. Die Schuldigen waren nicht selten schwer bestraft. Die Gefahr allein, bestraft zu wirden, forderte von den Kindern, lieber zu schweigen als etwas Unerlaubtes zu machen oder auszusagen. Dieses strenge Erziehungsinstrument zeigte seine klare Effizienz, indem die Kriminalität unter Jugendlichen auf einem niedrigen Niveau erhalten worden war. Andererseits wurden die Kleinen von der Kindheit an, zur Unehrlichkeit und Heuchelei angewöhnt. Allerdings dauerte solche unweigerliche Macht Karstens nicht unendlich. Nach zwei Jahren tauchte sich ein neuer Schüler, namens Bernd Wiebe, dessen Vorrang ganz anderer Art war. Bernd war ein begabter Mathematiker und ein Mensch mit klaren Ansichten auf verschiedene Seite des Lebens. Seinen Klassenkameraden wurde es vom Moment seiner Erscheinung klargeworden, dass es gerade der Kerl war, dessen Hin-weis teuer sein sollte. Die Art und Weise, mit der er das machte, war ganz eigentümlich, indem er zuerst aufmerk-sam in die Augen des Freundes schaute, gleichsam er dort herauslesen wollte, was für eine Person der Betroffene war. Darauf sprach er als ob das Problem ihn selbst berührte. Er legte seine Auffassung laut logisch begründet dar bis es ihm simpel war, einen Schluss zu ziehen. Erstaunlicherweise war sein Urteil der richtige für die Situation. Er machte kein Hehl aus seiner „Methode“. „Es gibt nichts Schwieriges“, erklärte er seinem begeisterten Mitschüler, „denn es gibt neben der Sache selbst auch die menschliche Seite der Gelegenheit, die mit dem Geiste und der Seele verbunden wird. Man kann ein und denselben Gegenstand unter verschiedenen Gesichtswinkel ansehen und deswegen viele Lösungen herausfinden. Ich versuche, die beste von ihnen auszuwählen. Natürlich mache ich auch Fehler, aber sie sind häufig kleiner als bei den anderen Menschen. Im Prinzip kann man aus jener Verlegenheit einen Ausweg finden. Die Frage heißt, was es ihn oder ihr kosten sollte, ich meine intellektuell oder finanziell. Für manche Menschen ist es einfacher, eine Menge Geld zu investieren, um eine Aufgabe zu erfüllen. Die anderen vorziehen, das Problem mit eigener Kraft zu lösen. Und noch andere gehen zum Hellseher. Was besser ist bleibt aber eine Geschmacksache“. Ehrlich gesagt war Bastian sowohl von Karsten als auch von Bernd begeistert. Und gleichzeitig war es ein unterschiedliches Entzücken. In Falle Karsten gab es eine gezwungene Verehrung vor der groben Kraft, die ihn ständig zu zerschlagen oder zu erniedrigen drohte. Er konnte sich an ihr anpassen, was eine ständige Vorsicht forderte, aber das Gefühl der eigenen Nichtigkeit drückte unangenehm auf die Nerven. Bastian konnte vielleicht den Mut in sich sammeln und sich dagegen empören. Leider hatte der schwächliche Bastian keinen Mut dafür. Deshalb schien es ihm viel einfacher, sich unterzuwerfen und alle Befehle des Starken zu erfüllen. Er tröstete sich dabei mit dem Satz, dass alle anderen das Gleiche machten. Es war aber ein ärgerlicher Trost. Die Ehrfurcht vor Bernd war anderer Art: Sie ähnelte eher an die Andacht vor einem Geistlichen, der über eine Vielfalt der Geheimnisse verfügte, die für die Mehrheit der Bevölkerung unbewusst blieben. Bastian wendete sich schon zwei-drei Mal an Wiebe, der ihm so hilfreiche Ratschläge leistete, dass alle seine aktuellen Schwierigkeiten auf zu lösen pflegten. Bernd verband in sich die großen Kenntnisse mit der Gewandtheit des Umgangs. Man sollte sich kaum mit der Frage quälen, ob er an ihn wenden durfte oder nicht. Darüber hinaus bemerkte Wiebe nicht selten selbst, dass mit jemandem etwas nicht in Ordnung war und fragte, was los sein sollte. Selbstverständlich beschränkten sich nicht die Verhältnisse mit den Klassenkameraden auf die Unterordnung oder Verehrung. Viele Jungs waren unkompliziert und belanglos, damit man mit ihnen alle möglichen Absichten zu verwirklichen vermochte. Ein von Peschel Freunden hieß Henning Jüch. Er war einige Centimeter größer als Bastian aber mit stämmigerem Körperbau. Peschel wusste schon längst Bescheid, dass er Henning jede Zeit dafür nutzen konnte, um jemanden, der ihm das Leben verdarb, stark zu verprügeln. Jüch hatte keine Angst auch vor einer Gruppe aus drei oder vier Kerlen, die auf Bastian selbst einen erschreckenden Eindruck schinden sollten. Manchmal endeten solche Raufereien mit den blutigen Gesichtern oder zerbrochenen Knochen. Solche gramvolle Begleiterscheinung hielt Henning nicht an, ein nächstes Mal den Faustkampf zu wiederholen. Diesmal zog er aber die notwendigen Schlussfolgerungen, damit seinen Vorrang überzeugender aussehen konnte. Für Peschel selbst war es auch eine gute Lehre der Kühnheit, die er später auch allein und ohne Unterstützung von viel stärkeren Freunden auszuüben bereit war. Die Besonderheit Hennings war nicht nur mit den blutigen Schlägereien verbunden. Umgekehrt interessierte ihn sehr auch andere gefährlichen Unterfangen, hätten sie etwas mit dem Raubzug oder mit einer „unentgeltlichen“ Eisenbahnreise zu tun. Dessen Erwägungen klangen damals gut be-gründet. „Unsere Eltern“, sagte er, „sind einfältige Arbeiter, die uns schwerlich helfen könnten, etwas Notwendiges einzukaufen oder irgendwohin zu fahren. Es ist Grund dafür, dass wir um uns selbst kümmern sollten. Wenn wir einen Reichen auf zwanzig-dreißig Mark ärmer machen, wird er bestimmt nicht vom Hunger sterben. Nichts Schlimmes passiert, auch wenn wir uns ein kleines Abenteuer ohne Fahrkarte vornehmen lassen. Sonst haben wir keine Chance, etwas Schönes zu sehen“. Bemerkenswert war die Rede Jüchs nicht unmotiviert. Die beiden Freunde unterfingen in der Tat drei Reisen nach Ferne, die fast ohne Verluste zu gelingen schienen. Sie fanden zweimal in Sommer- und einmal im Winterferien statt. So besuchten sie einmal Fichtelberg, den höchsten Berg des Landes. Sonst besichtigten sie schöne Städte wie Leipzig, Dresden und Frankfurt (Oder). Für Jungen, die noch nie aus der Heimatstadt rauskamen, waren diese ungewöhnlichen Begebenheiten wie eine märchenhafte Offenbarung, die man nur mit einem Traum vergleichen konnte. Das große Risiko, das sie auf sich während dieser Reisen übernahmen, konnte man auf jeden Fall rechtfertigen. Die Erinnerung an diesen besten Tagen seiner Jugend begleitete Bastian noch mehrere Jahre seines erwachsenen Lebens. Weil sie neben den bunten Bildern der schönen Schlossen und Landschaften die Fähigkeit besaßen, ein unvergleichbares Gefühl der Freiheit zu genießen. Es war gerade das, was den Bewohnern des sozialistischen Staates am meisten fehlte. Man konnte diese Empfindung kaum vorstellen, denn sie tauchte auf den Hintergrund der allgemeinen Unfreiheit auf, wo man sie keineswegs erwarten konnte. Sie beiden befreiten sich von den Fesseln der Schulregeln und Familien Aufsicht und schwebten auf Wolke sieben. Allerdings sollten sie jedes Mal, in ihren langweiligen und düsteren Alltag zurückkehren und weiter alle „Liebreizen“ der östlichen Demokratie erfahren. Der erwachsene Peschel legte sich aber Rechenschaft darüber ab, dass das Bewusstsein des Volkes gewisse Änderungen erduldete, indem der Mythos der Unfehlbarkeit der Staatsregierung immer an Wert verlor. Nur wenige Vertreter der älteren Generation setzten ihre vorigen Überzeugungen fort über die Richtigkeit der ausgewählten Linie der regierenden Partei aufrichtig zu verbreiten. Sie hatten keine Kraft und keinen Mut mehr, auf die Sache ihres ganzen Lebens zu verzichten sowie ihre verhängnisvollen Fehler einzugestehen. Peschels Gedächtnis bewahrte alle Änderungen der Denkweise auf, die seine Mitschüler im Laufe des letzten Jahrzehnts erfahren sollten. Sie alle waren mit dem Austausch der Meinungen verbunden, die die „Kommunikationsrevolution“ seit langem allmählich vorzubereiten wusste. Die alte Führung DDR war kaum imstande, die „Seuche“ des Freidenkertums aus den Köpfen der jungen Generation auszurotten. Und die Altersgenossen Bastians merkten schon wohl, dass die parteiischen Väter in der Tat sündenhafte Verfechter des verdorbenen politischen Systems waren, die überwiegend ihre habsüchtigen Ziele verfolgten. Sie klammerten sich an das noch existierende Regime und versuchten zu beweisen, dass es noch das beste in der Welt war. Der Vergleich mit den westlichen Ländern zeigte immer deutlicher, dass ihre lügnerische Propaganda die Verbindung mit der Realität schon verloren hatte. Auch das Mythos von ihrer Bescheidenheit und Selbstlosigkeit konnte nichts mit der Wahrheit haben. Es sah eher so aus, dass das führende Land des sozialistischen Lagers, die UdSSR, alles Mögliches machte, um die deutschen Brüder glücklich zu machen. Doch der in Länge ziehende Krieg in Afghanistan brachte auch die mächtigste Sowjet Union in tiefe Krise. Zuerst verschwanden alle luxuriösen Gegenstände und dann fast allen Lebensmittelerzeugnisse aus den Läden. Der Hunger zeigte erneut seine räuberische Schnauze. Es wurde schon unmöglich, das hohe Niveau in der DDR aufrechtzuerhalten, wenn die eigene Bevölkerung arm wie eine Kirchenmaus war. Und das östliche deutsche Volk bekam am eigenen Leib zu spüren, wie „groß“ alle Vorteile des Sozialismus sein sollten. Mehrere junge Leute (und auch die aus dem Kreis der vorigen Klassenkameraden Bastians) waren bereit, jene Hintertür herauszufinden, um nach Westen zu flüchten. Es bedeutet, dass die Aufgabe der Stasi immer komplizierter werden sollte, damit allem Schlupfloche an der Staatsgrenze dicht gemacht wurden. Die Mauer erfüllte nun nicht nur die Abwehrfunktion gegen feindlichen Westen, sondern eine Schutzfunktion gegen eigene Mitbürger, die daraus wegzulaufen träumten. Natürlich waren diese Versuche mit einer riesigen Gefahr verbunden, denn die Grenzpolizei bekam den Befehl, auf die Verbrecher ohne Warnung zu schießen. In der Tat gelang es nur wenigen, das Hindernis zu über-winden. Bemerkenswert war auch der Schulfreund Peschels Henning Jüch unter solchen Glückspilzen, die sich auf der anderen Seite der Mauer zu befinden vermochten. Bastian erkannte zufällig davon von einem gemeinsamen Bekannten, der anscheinend die geheime Liste der Überläufer in seinen Händen hielte. Wie es Henning gelang, blieb aber unklar. Doch der Kerl war, nach der Bastian Auffassung so furchtlos, dass wahrscheinlich der Tod ihn um zu gehen vorzog. Diese Zeitspanne gab es auch keine Möglichkeit, irgendwelche Auskunft über die Lebensumstände Jüchs im Westen zu bekommen. Was anderen Bewohner des Landes betraf, konnte man gewisse Beobachtungen machen. Die Mehrheit von ihnen wurde argwöhnisch und nicht redselig. Es sah so aus, als hätte Leute ihr Vertrauen nicht nur zur Regierung, sondern zu Nachbarn und Kollegen verloren hatten. Etwas Ähnliches passierte mit Peschels Mitschüler, obwohl einige von ihnen schon gute Positionen im sozialistischen Vaterland zu erreichen vermochten. Z.B. war Karsten Schreiber ein Parteivorsitzender in einem großen Bezirk, wo man seinen Namen mit dem Zittern aussprach. Merkwürdigerweise war sein willenskräftiger Führungsstil volkstümlich bei seiner Umgebung. Deshalb setzte er seine schon in Schuljahren erworbene Methode der Unterdrückung aller nicht dienstfertigen oder kriecherischen fort. Als ein Jugendlicher kapierte Bastian solche Angeberei Karstens wie ein kindisches Benehmen, das mit Jahren vertrieben werden sollte. Doch das Leben zeigte, dass die Selbstbefreiung von gefährlichen Gewohnheiten nicht mehr nötig war. Dessen scharfe oder sogar unverschämte Verhaltensweise konnten bei vielen Leuten beifällig aufnehmen werden. Denn es gab neben diesem frechen Benehmen eine ständige Bereitschaft des Bezirksparteivorsitzenden, die Verantwortung für wichtige Sachen auf sich zu nehmen. Und solche Verpflichtung gefiel unbedingt nicht vielen. Außerdem musste nun Genosse Schreiber vor der großen Obrigkeit für alle Fehlschläge und -tritte Rechenschaft ablegen. Und den Vor-gesetzten interessierten überhaupt nicht die Ursachen des Nichterfüllens des Staatplans. Sie brauchten seine streckte Erfüllung. Im Großen und Ganzen konnte man sagen, dass Karsten realisierte dessen Prädestination, was seinem Eigendünkel schmeicheln sollte. Bastian zweifelte nicht daran, dass die sozialistische Staatsordnung dabei eine wichtige Rolle spielte. Dieser selbstbewusste Kerl konnte problemlos auf ideologische Überzeugungen verzichten, um sich jenem anderen politischen System zu ergeben. Er war selbstgenügend, so dass die Umgebung sich zu ihm anpassen musste. Wie früher in der Schulzeit stellte Peschel ihn jetzt Bernd Wiebe gegenüber, der auch nicht wenig in seiner wissenschaftlichen Karriere erreichte. Doch der Unterschied zwischen beiden bestand darin, dass Bernd sich kaum zu einer hohen amtlichen Position strebte. Im Gegenteil war er bereit, eine bescheidene Stelle zu bekleiden, die ihm aber eine Chance lassen konnte, sich mit dem interessanten Thema zu beschäftigen. Trotzdem gelang es ihm zu beweisen, dass eine geistige Begabung unter allen Bedingungen die kreative Person zu deren Ziel führen sollte. So wählte Bernd ein kompliziertes Gebiet der Geometrie, die so genannte Topologie, die die Lage und Anordnung der geometrischen Gebilde im Raum untersuchte. Es stellte sich dabei heraus, dass man in dieser Lehre große weißen Flecke entdecken konnte. Der Bereich, aus dem auch den berühmten Möbiusband stammte, erwies seine große Bedeutung auch für das letzte Jahrzehnt des 20. Jh. Als ein Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Humboldt Universität zu Berlin fand Bernd eine aussichtsreiche Richtung der Forschung war. Es fand schon nach dem Fall der Berliner Mauer statt. Peschel traf ihn mitunter in einem Lokal in der Nähe von Uni, wo sie nun ohne Ausflucht über alle Sachen sprechen konnten. Bastian war froh auch darüber, dass Bernd als ein Erwachsener eine kindische Wahrnehmung der Welt nicht verloren hatte. Er schaute wie zuvor sehr aufmerksam in die Augen seines Gesprächspartners und las dort viel mehr als sein Visavis über sich selbst wusste. Er gab die Ratschläge aus und antwortete gerne auf heimtückische Fragen, die ihngar nicht als sol-che erschienen. Peschel ertappte sich dabei, dass es nichts im Kopf von Schreiber stark änderte. In der Tat konnte es mit solchen Menschen passieren, die übermäßig leichtgläubig waren. Sie ließen sich allen Halunken trauen und wurden nach mehreren Jahren erstaunt, wie dumm sie früher waren. Ungeachtet dessen machten sie statt alten neuen Fehlers und stürzten auf einer ebenen Stelle hinein. Bernd war sicher anders aufgebaut worden, indem er die menschliche Natur unmittelbar aus der „Matrix“ erkannte, ohne die Worte anzuhören. Es gab bei jeder Person ein verborgenes Kunststück, das nur ihr eigentümlich war. Und die Kenntnis solchen Geheimnisses eröffnete dem Beobachter nicht nur die inneren Eigenschaften des Individuums, sondern auch die Leistungen, auf die es fähig war, zu schaffen. Bastian konnte seit der Jugend nichts Besonderes in seinem Geist und Körper aufdecken. Eine aufmerksame Betrachtung seitens Bernds brachte Bastian unbekannte Auskunft über ihn selbst. So sagte der Mathematiker: „Du, Bastian, besitz eine deutliche Beschaffenheit, die dich von mehreren Menschen unterscheidet. Du kannst an dich menschliche Menge anziehen. Ich weiß nicht ob es für dich interessant klingen könnte, doch wenn es der Fall wäre, hättest du große Chance, einen erfolgreichen Politiker zu werden. Denn dieses Fach fordert, die Wunschträume vielen Menschen zu verwirklichen. Und genau gesagt ändert sich stark das individuelle Bewusstsein eines einzelnen, wenn man in einer Ansammlung steht. Du warst schon viel-mal an den Konzerten der Rockbände gewesen. So hast du unbedingt bemerkt, dass dort alle Besucher einen gemeinsamen Eindruck be-kommen konnten. Etwas Ähnliches passiert auch beim Auftritt eines Politikers, der den Haufen, um sich zu sammeln beabsichtigt. Ich beschäftige mich seit Jahren mit der Topologie, einem abstrakten Gebiet der Geometrie, das uns allerdings zu ziemlich einfachen Schlussfolgerungen führen konnte. Nun wissen wir wie man am liebsten von einem Punkt des Raums nach dem anderen gelangen sollte. In einer menschlichen Gesellschaft erfüllt der Politiker eine ähnliche Aufgabe, indem er die Lebensbedingungen des Volkes in einen besseren Zustand zu bringen versucht. Außerdem schaffen auch die Mathematiker mit ihrer IT-Technologie etwas Besseres für die ganze Menschheit. Ich erzähle dir alle diese Sache aber nicht um zu zeigen, dass Forschung und Politik gleiche Ziele verfolgen sollten. Ich bin dabei eher der Meinung, dir deine innere Kraft auf zu klären, mit der du dein Leben zugunsten des Landes und des Volkes verbringen könnte“. Möglicherweise zählte die Begegnung mit den Menschen wie Bernd zu glücklichsten Begebenheiten des Lebens. So dachte sich Peschel nach der Offenbarung des Mathematikers am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Faktisch drang Mensch in die großen Geheimnisse des Universums und der Erde ein, wusste aber fast nichts über seine eigenen Fähigkeiten und seine Vorbestimmung. Mehr davon wusste er nicht, ob diese Prädestination überhaupt existieren konnte. Eher lebte die Mehrheit der Menschheit wie es gerade kommt, ohne lange zu überlegen. Wäre es für ein vernünftiges Wesen auf dem Planeten richtig? Unbedingt nicht, besonders deswegen, weil es Individuen wie Bernd gab, die auf mehrere gleichen Fragen eine einsichtige Antwort zu finden wussten. Zugleich gab es eine Vielfalt der verunstalteten Schicksale, die keine eigene Lebensnische zu bekommen vermochten. Im sozialistischen Vaterland wurden die Bewohner durch staatliche Erziehung und Ausbildung zur Gemeinschaft und Solidarität angewöhnt. Das niedrige im Vergleich mit der Bundesrepublik Niveau des Wohlstands war von herrschender Partei dadurch erklärt worden, dass jedoch der Gesundheitsschutz und die Ausbildung kostenfrei waren. Außerdem gab es keine Arbeitslosigkeit sowie keine starke Polarisierung der Bevölkerung nach dem Einkommen. Diese deutlichen Vorrangen vor dem Kapitalismus ließen angeblich jedem Bürger des Landes, keine Sorge um die Zukunft und um die jüngere Generation zu machen. Auf diesen Grund störte keine die Tatsache, dass die parteiische und wirtschaftliche Führung über das große Kapital verfügen konnte. Solche Begleiterscheinung konnte unter stabilen und unveränderten Bedingungen noch mehrere Jahrzehnte dauern. Doch die Sache hatte einen Haken, der mit der strengen Zusammenarbeit der sozialistischen Staaten verbunden war. Mit anderen Worten waren die Wirtschaft und Finanzen jedes Landes des sozialistischen Blocks scharf voneinander abhängig. Die ungenügende Maße des Handels mit den industriellen Staaten verlangte von den ärmeren Ländern des östlichen Blocks, alle Bedürfnisse im Rahmen der eigenen Kameradschaft zu befriedigen. Es war aber weit nicht immer der Fall. Außerdem mussten sie ständig ihre Handlungen mit der Umsicht auf die führende Großmacht ausführen, denn ohne Sowjetunion wäre jeder Partner des Blocks kaum stichhaltig. Diese Besonderheit der Beziehung hatte zwei Seiten. Der Vorteil bestand darin, dass das Land sich bei allen schwierigen Situationen an „großen Bruder“ wenden konnte. Der Nachteil zeigte sich aber dadurch, dass in manchen Fällen auch der Beschützer leistungsunfähig sein konnte. Eine sozialistische Ordnung konnte man nur mittelbar zu demokratischen Regierungsformen zählen. Denn der Wille des Volkes war gewöhnlich weit nicht ausschlaggebend für die Volksführer, die an Macht durch einen bewaffneten Aufstand kamen. Solche militärische Form des Machtergreifens ließ der Bevölkerung nichts übrig als sich zu unterwerfen. Eine widerrechtliche Machtbesetzung fand meistens mittels einer umsichtigen Politik statt, indem die neue Regierung dem Volk alle dringend nötigten Träumer zu verwirklichen versprach. Fernerhin nach dem Machtergreifen wäre es möglich, entweder diese Versprechungen anders auszulegen oder vollkommen darauf zu verzichten. Die harten Kraftmethoden, mit denen es ge-schafft worden war, forderte von den Bewohnern eine unweigerliche Erfüllung der Weisungen sowie eine vollständige Übereinstimmung. Ein typisches Umgangsmittel der Macht mit der Bevölkerung wurde eine offensichtliche Propaganda geworden, die eher weit entfernt der Wahrheit entsprach. Sogar der Satz: „Das Volk muss seine Regierung anvertrauen“ beinhaltete etwas Heuchlerisches und Unehrliches. Das neue sozialistische Regime musste sich absolut von Verdacht befreien sowie jedes sein Vorgehen (sei es richtig oder falsch) rechtfertigen lassen. Die Bürger sollten schließlich überzeugt werden, dass der Führer und seine Umgebung unfähig sind, irgend-welchen Fehler zu machen. In der Tat war es die wichtigste Bedingung der Einheit der Partei und des Volkes. Jener Zweifel daran sollte sehr gefährlich für das ganze System werden. Deswegen muss-te man jede andersdenkende Person, deren Ansichten außerhalb der herrschenden Ideologie stehen, streng verfolgen oder (noch besser) isolieren (verbannen) lassen. Diese Begleiterscheinung macht es verständlich, dass die Aufgabe der Propaganda bei den sogenannten sozialistischen Regierungsformen viel bedeutsamer sein sollte, weil sie alle das Volk mit allen Mitteln auf ihrer Seite bewahren mussten. Andererseits wäre auch eine richtige Demokratie für diese Formen schädlich gewesen, indem sie ihre eigentümlichen Werte wie Meinungs- oder Redefreiheit in Mittelpunkt der Politik setzt. So scheint der wahren Demokratie ein nachdenkender und zweifelnder Bürger sehr wichtig und nützlich zu sein. Dagegen versteht eine sozialistische Demokratie einen Versöhner und Kompromissler als der beste Bürgertypus, das Musterbeispiel des Parteimitgliedes und vaterländisch Gesinntes. Im Augenblick konnte Peschel eher schwerlich danach ur-teilen, ob die gefährliche Tätigkeit der Menschenrechtler irgendwas in einem totalitären Staat zu verbessern vermochte. Die Bevölkerung gewöhnte sich schön längst daran, dass man nichts in diesem Land ändert konnte. Seltsamerweise konnte dieser düstere Gedanke den inneren Zustand der Bürger ein Bisschen aufmuntern oder mindestens beruhigen lassen, was auch nicht schlecht war. Ein klares Begreifen, dass ein Mensch oder sogar eine kleine Organisation der Gleichgesinnten keine Chance haben könnten, sich des mächtigen staatlichen System gegenüber etwas Ähnliches zu setzten, sollte das Bewusstsein stark erhellen. Bastian konnte auch nicht ausschließen, dass es unter solchen Umständen vernünftig wäre, sich freiwillig um die Partei herum zu vereinigen, um zu versuchen, die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Weil auch das Zusammenwirken zweien oder dreien Pechvögeln einen Ausweg aus der Krise zu find-en helfen kann. Umgekehrt vergrößerte eine aktive Opposition die Lage beider Seiten, ohne etwas Konstruktives vor zu stellen. Gewisse destruktiven Kräfte wäre vielleicht imstande, ein großes Gebäude zu erschüttern. Sie konnten aber keineswegs etwas Schöneres aufbauen. Ein gut ausgeglichenes System, das jahrzehntelang alle möglichen Volksangelegenheiten wohl oder übel aufzulösen fähig war, hatte eine viel größere Chance, auch den nächsten Schicksalsschlag abzuwehren. Nach Peschels Auffassung handelte es sich nicht um einen konkreten Fall, sondern um allgemeine Regeln der menschlichen Gesellschaft, die seit langem hunderte Mal schon wiederholt worden waren. Jede soziale Katastrophe forderte eine gigantische Opfermenge sowie materielle Verluste, die man sehr selten vollständig auszugleichen pflegte. Darüber hinaus war eine humane Gesellschaft kein Versuchsfeld für große Experimente, die allerdings die tollkühnen Köpfe manchmal zu wagen suchten. Diese verantwortungsvollen Handlungen brachte die zwei letzten verheerenden Weltkriege hervor, die das Leben fast hundert Millionen kostete.

Feiern eines Festes

Wenn Bastian in die später Vergangenheit rückschaute, sollte er wahrscheinlich an solche ersten Versammlungen erinnern, wo man sich etwas Unzulässiges sprechen ließ. Früher gab es unbedingt nicht, solche Dreistigkeit während eines Festmahls. Die unheildrohende Gestalt der Stasi wohnte verborgen in jedem Einwohner des Landes bei. Denn man konnte nie sicher sein, dass schon beim Treffen drei-vier Menschen keinen Spitzel vorhanden war. Auf diesen Grund bevorzugten Menschen, lieber nicht zu viel zu trinken. Der Alkohol raubte auf jeden Fall die Wachsamkeit, indem der Betroffene seine Rede nicht mehr zu kontrollieren fähig war. Diese Binsenwahrheit kannte wohl jener Dummkopf. Wann konnte es beginnen? Das erste Mal merkte Peschel ein aufgeregtes Kennzeichen am Maifeiertag bei der Abendgesellschaft seines Hochschulkameraden Uwe Enke. Uwe lud ihn ziemlich oft zu sich ein. Manchmal fand er dort andere Jungs oder Mädchen vor. Sie schwatzten miteinander stundelang, unabhängig davon, ob dabei den Wein oder Schnaps getrunken worden war oder nicht. Sie diskutierten alle möglichen Themen, sei es Studiums Nachrichten, Sport oder Filmindustrie und waren ganz aufrichtig. Trotzdem gab es eine ungeschriebene Regel: Alle Fragen, die mit dem Regime und der Staatsführung verbunden waren, sollte man lieber vermeiden. Sonst war Uwe ein sympathischer Kerl, nicht hoch, sportlich aufgebaut, mit roten blond Haaren, runden Gesicht, großen ausdrucksvollen braunen Augen und ziemlich großen Lippen. Außer dem Studium trieb er gemeinsam mit Bastian Sport bei einem Verein, wo die beiden den Ringen Kampf ausgewählt hatten. Kurz gesagt benahmen sie sich miteinander gleichsam sie nichts zu verhehlen hatten. Auf diesen Grund schien Peschel die genannte Festversammlung etwas merkwürdig zu sein. Es gab insgesamt acht Personen, vier Jungs und vier Mädchen, unter denen Bastian zuvor nur drei kannte. Alle tranken viel und waren schon nach einer Stunde bezecht. Ob die jungen Menschen sich Rechenschaft ablegen sollten, was sie überhaupt plauderten, zweifelte Bastian sehr. Er konnte nun eher die einzelnen Bruchteile ins Gedächtnis zurückrufen, sie waren aber ganz bezeichnend gewesen. Bemerkenswert begann das Festmahl mit den gewöhnlichen Trinksprüchen auf dem Wohl des sozialistischen Vaterlandes, der Volksregierung usw. Ungefähr in einer Stunde sagte Uwe: „Ich bin der Meinung, dass alles, was wir heute in unserem Land beobachten, davon zeugen sollte, dass irgendwas mit unseren Parteivätern nicht in Ordnung ist. Sonst musste ich vermuten, dass sie letzte Zeit zusammen dumm geworden waren“. Sein unerwarteter Ton wurde momentan von dem Burschen namens Olaf Ampler (einer von drei Gästen, die Bastien kannte) übernommen:

„Was du, Uwe, sagst, stimmt zweifellos überein. Was mir aber noch nicht klar ist, bezieht es sich darauf, ob es ihre Schuld war oder ob ihre großen Fehler schon im Voraus prädestiniert worden waren. Ich meine das ganze System des sozialistischen Lagers. Wer sagte eigentlich, dass dieses System besser sein sollte als das kapitalistische?“

Er wurde auf dieser Stelle von gewissen Hans Recknagel unterbrochen:

„Ich weiß die Antwort auf deine Frage, Olaf. Ungeachtet dessen, dass es bei dem Sozialismus bestimmte positive Seiten gibt, verliert er im Großen und Ganzen dem „verfaulten“ Westen auf allen Posten.

Allein die höchsten Errungenschaften der Wissenschaft und Technik finden im Westen statt“. Peschel empfand es als etwas Notwendiges, diese scharfen Erwägungen ein Bisschen zu mildern:

„Genossen, ihr seid zu streng zu unserer Regierungsform. In der Tat genießen wir alle die unumstrittenen Vorteile sozialistisches Systems, nicht wahr. Die Ausbildung, das Gesundheitswesen sind nur zwei hervorragende Beispiele davon. Es gibt aber viel mehr, was wir heute nicht diskutieren wollen, obwohl sie auch nicht schlecht sind“.

Peschels Erwiderung wurde sofort von mehreren Beteiligten bestritten worden. So sagte Olaf entschlossen:

„Wenn diese Diskussion vor zehn Jahren passierte, würde ich, Bastian, wahrscheinlich vollkommen seiner Auffassung. Das letzte Jahrzehnt zeigte uns aber solchen wesentlichen Mangel unseres Regimes, der alle seine Vorränge zu übertreffen vermöge. Das Schlimmste dabei ist, dass man diesen Mangel nicht beseitigen kann, ohne das gesamte System zu erschüttern oder sogar zu zerstören“. Hans war der gleichen Ansicht:

„Eben, Olaf, wir nähern nach meiner Auffassung den Knackpunkt, nachdem unsere gesellschaftliche Ordnung nicht mehr reparabel sein könnte. Die Hauptursache dieser Regimekrise besteht aber darin, dass die Führung des Landes nicht imstande wird, den vorigen lobenswerten Eindruck auf die Bevölkerung zu schinden. Die Mehrheit unserer Einwohner glaubt nicht daran, dass die Partei sich wiederherzustellen befähige, dass sie etwas Realistisches zu unternehmen vermöge, damit das Land sich erneut auf die vergangenen Positionen aufsteigen lasse“. Die letzte Äußerung Hans klang offensichtlich zu grammvoll, um dem feierlichen Ereignis zu entsprechen. Die Mädels waren eindeutig dagegen. Sie legten ihre gemeinsame Verwahrung ein, was Heike Otto im Namen der anderen aussprach:

„Hi, Jungs, kapiert ihr wirklich nicht, dass die scheiße Politik dem Frühlingsfest kaum passt. Ihr alle seid so hoffnungslos in Rage gebracht worden, dass ihr eure Hauptpflicht vergisst, die Mädchen zu amüsieren. Nun müsst ihr die versäumte Gelegenheit einholen“. Wenn der Satz von einem absolut nüchternen Mädel gesagt worden wäre, konnte man es für einen scharfsinnigen Witz aufnehmen. Aller-dings war es weit nicht der Fall. Mit anderen Worten mussten jetzt die Jungs, den Aufruf Heike ganz ernst entgegennehmen. Nach einer kurzen Erörterung verteilten sie die Mädchen unter sich und machten sich an die Sache. Was darauf passierte, konnte Bastian nach vielen Jahren wie eine heutige Begebenheit darstellen. Damals wurde ihm Karin Krieger zugeteilt worden. Karin war eine zwanzigjährige Schöne, die ihm auf den ersten Blick in die Augen einfiel. Sie war klein, schlank, doch mit schon dem gut geformten Körper. Die Frage des Körperbaus war unbedingt eine reizvolle Angelegenheit. Doch diese Karin war ganz anders gestimmt, indem ihr Anbeter zuerst ihr Herz zu erobern versuchen sollte. Wie er das machen konnte, war aber vollständig seine Sache. „Du, Bastian, bist ein Ritter“, sagte sie, „der die Zuneigung einer schönen Dame verdienen sollte. Dafür musst du sicher, eine Menge Erfindungsgabe mitbringen“. So war er nun dring-end gezwungen, ungeachtet der Schwere des konsumierten Alkohols, alle geistigen Kräfte zu konzentrieren und solche erhabenen Worte herauszusuchen, die wie einen heiligen Spruch auf die Seele seiner Dame wirken konnte. Ihm als einem Verfechter des dialektischen Materialismus kamen seltsamerweise in diese Minuten in den Sinn absolut gegensätzliche Gedanken. Es war eher wie eine himmlische Vorsehung, die ihm eine Redeweise bescherte. Vielleicht las er vor Jahren etwas Ähnliches bei Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“. Er konnte es momentan aber nicht behaupten. Was er doch fest zu stellen fähig war, betraf die Reaktion des Mädchens, das wahrscheinlich etwas Gleiches zu erleben vermochte. Wörtlich äußerte sie nur einen Satz: „Jetzt hast du wirklich dein Ziel erreicht!“ Und dann kam der Traum im wachen Zustand. Karin war weit nicht die erste bei ihm, aber im Vergleich mit allen vorigen war sie unnachahmlich gewesen. Ihre zarte Haut, spannkräftige Brust sowie der berauschende Wohlgeruch ihres Leibes waren tatsächlich lobenswert. Seine Begeisterung erregte eine neue Welle des Wortschwalls, der bei ihm noch nie vorhanden war. Welche Geheimnisse der weiblichen Biologie dabei die größte Rolle spielen konnten, wusste er damals und auch Jahre danach nicht mehr. Vielleicht gab es ein nicht enthülltes Rätsel der Geschlechtsbeziehungen, der wie eine heilige Ausstrahlung der biblischen Apostel außerhalb des menschlichen Verstandes bleiben sollte. Wie lange konnte diese „extraterrestrische“ Erscheinung dauern? Der junge Mann konnte es nicht wissen oder genauer gesagt sie ereignete sich in einem zeitlosen Raum, der sich anderen Gesetzen untergeordnet worden war. Sollte diese fantastische Lovestory wie alle andere einfach zu Ende gehen? Peschel legte sich Rechenschaft darüber ab, dass er sich solche prosaische Finale nicht wünschte. Doch es hing nicht alles von ihm allein ab. Für eine Fortsetzung brauchte man noch den Wunsch der Schönheit.

Mit dem beschriebenen Ereignis wurde aber die Feierlichkeit nicht beendet. Die Gemeinschaft kehrte allmählich zum Tisch zurück, um erneut die lebendigen Gesichtspunkte des Lebens zu besprechen. Nun war doch die weibliche Hälfte tonangebend. Der erste Vorschlag kam von Ute Pöhland. Ute war ein großes Mädchen vor Zwanzig in einem olivenfarbigen Kleid mit tiefem Ausschnitt, der ihre hervorragende Brust betonen sollte. Utes nachdenkende grünen Augen waren mit der Kosmetik und Wimperverlängerung noch vielsagender gemacht. Die feinen Gesichtszüge sowie die vollen Lippen verliehen ihr etwas Theatralisches. Diesen Feiertag lernte Ute unter anderen auch Olaf Ampler kennen, mit dem sie später sehr gerne unterhielte. Der laute Aufruf Utes sollte nach ihrer Ansicht aufschlussreich klingen:

„Jungs, lassen wir uns künftig friedlich feiern, ohne diese skandalöse Politik und belanglose Streitigkeit. Kuckt ihr mal rund herum, es gibt Mannigfaltigkeit der Sehenswürdigkeiten, die unsere gemeinsame Aufmerksamkeit anlocken sollte. Zahlreiche Kinofilme, Theaterstücke, musikalische Aufführungen geben uns ein unbegrenztes Gespräch- und entzückendes Material, das für alle folgende Feiertage überflüssig wird. Außerdem gibt es eine märchenhafte Welt der Literatur, die für jeden Geschmack einen Zufluchtsort bereitet könnte“.

Der letzte Hinweis ermunterte Kristin Nordwig, die Grundlage eines Romans, den sie vor kurzem las, zu erzählen. Kristin war ein hübsches Mädel Mittel Zwanziger mit einem berückenden Lächeln. Ihre Umgebung zählte sie zu Buchwurmen. Diese Beschaffenheit bestimmte ihre frühere Anwendung der Brille, die aber ihr Gesicht kaum schaden konnte. An diesem Tag fühlte Kristin eine besondere Gemütslage wegen der Bekanntschaft mit Hans, der ihr von Anfang an gefiel. Sie sah in ihm eine für sich einnehmende Schüchternheit, die sie seit langen in einer männlichen Gestalt zu finden träumte. Außerdem schien ihr Hans hochintelligent zu sein. Also nun erzählte Kristin die knappe Zusammenfassung des Romans:

„In einem Dorf entstand einen Zwist zwischen Einwohnern, der schon seit Jahren herangereift worden war. Der Grund dafür war eine alte Geschichte der Liebe eines armen Burschen zur schönen Tochter des reichen Nachbarn. Selbstverständlich eroberte ihre Schönheit das Herz nicht allein des armen, sondern einer Menge der Verehrer. Unter anderen gab es einen reisenden Ingenieur aus der Stadt, der mit der entsprechenden technischen Umänderung des Orts beschäftigt war. Der junge und gebildete Mann wirkte aufs schöne Mädchen so an-ziehend, dass es völlig verwirrt worden war. Die Männer im Dorf konnten sympathisch sein, einige von ihnen waren auch wohlhabend. Doch ihnen allen fehlte irgendwelche Beschaffenheit, die bei diesem fremden vorhanden war. Das Mädel war allerdings stolz auf sich, denn seine eigene Schönheit schien ihm eine wertvolle Tugend zu werden. Der Ingenieur konnte auch nicht gleichgültig auf diese junge Dame anschauen. Er war aber stark um seine Arbeit besorgt, damit er viel Zeit mit einem Dorfmädchen vergeuden konnte. Die Gerüchte verbreiteten sich im Dorf sehr bald. In wenigen Wochen wurde es schon dem Vater des Mädels bekannt geworden, dass seine Tochter in den Fremden verknallt war. Solche günstige Partie konnte der vermögende Vater für sein Sprössling gut vorstellen. Deswegen lud er den jungen Mann auf ein Abendbrot ein. Der Ältere sparte keine Köstlichkeit und keine teuren Getränke, um einen angenehmen Eindruck auf den Gast zu schinden. Diese Absicht gelang ihm ausgezeichnet, so dass der junge Kerl davon von Anfang an entzückt worden war. Außerdem versuchte der Vater, den fremden allerseits zu schmeicheln. Schließlich war der Gast von solchem Empfang so bewundert, dass er gerne seine Bereitschaft zeigte, die Tochter des Gastgebers zu heiraten. Es wurde den Entschluss gefasst, die Hochzeit in der Stadt zu feiern, wohin der Bräutigam seine Braut mit zu nehmen vermochte. Alle Hochzeitvorbereitungen und -vorgänge sollten den höchsten Ansprüchen entsprechen. Nach dieser großen Feierlichkeit lebte das junge Ehepaar im Hause des Ingenieurs einige Jahre, währenddessen es zwei Kinder bekam. Darauf sollte das Leben der jungen Familie schiefgehen, indem die Eheleute die Entscheidung trafen, sich zu trennen. Die Frau wurde gezwungen, in das Dorf nach Hause zurück zu kehren. Für den selbstbewussten Vater der jungen Frau war es eine schwere Erschütterung. Der Alte konnte aber nicht damit versöhnen, dass seine Lieblingstochter allein gelassen worden war. Er musste etwas dringlich unternehmen, um ihre Lage zu bessern. So wurde es Dorf weit bekannt geworden, dass der Reichmann nach einem geeigneten Bewerber für die Hand seiner Tochter suchte. Nun änderte sich aber die Situation drastisch: Alle vorigen Verehrer waren entweder schon verheiratet oder sie interessierten sich nicht mehr für seine Tochter. Der einzige, der sie noch liebte, war der arme Bursche, der ihr vor Jahren eine Liebeserklärung machte. Unter solchen Umständen war auch der alte Vater gezwungen, den armen als seinen Schwiegersohn anzuerkennen“. Mit diesen Worten beendete Kristin ihre Erzählung. Wer bei den Anwesenden der Meinung war, dass die Geschichte für sie nicht mehr existierte, irrte sich. Im Gegen teil wollte nun die begabte Erzählerin, ein psychologisches Experiment durchführen, damit jeder Teilnehmer durch die Äußerung seiner (ihrer) Einstellung die seelischen Neigungen eröffnen konnte. Der Gastgeber empfand seine Verpflichtung, mit gutem Beispiel voran zu gehen. So sagte Uwe: „Ich glaube, dass der Verfasser des Romans uns eine Weisheit übermitteln wollte, dass der Reichtum, nach dem Millionen Menschen weltweit bestrebt sind, gar nicht die wichtigste Sache des Lebens sein sollte. Natürlich verfügt ein Geldsack über viel größere Möglichkeiten, sein Leben oder das seiner Kinder besser ein zu richten als ein Mittellose. Jedoch zeigt uns der Roman, dass die Wohlhabenheit keine Garantie des Glücks sein sollte. Das Gleiche kann man über die Schönheit sagen. So war die Tochter des Reichen davon überzeugt, dass ihr Äußere nur etwas Gutes mitbringen kann. In der Tat stellte es sich heraus, dass sie die unglücklichste Ehefrau und ein hilfloser Mensch werden sollte, dem wir ehrlich mitleiden müssen“. Uwes Äußerung konnte anscheinend Hans fortsetzen:

„Mir schien es bezeichnend zu sein, dass eine Vielfalt der Verehrer, die auf die Hand und das Herz der schönen Protagonistin beanspruchten, nach wenigen Jahren verschwand. Diese Begebenheit zeugt deutlich davon, dass alle diesen einsichtigen Männern ausschließlich von großen Geldern des Vaters, aber sogar nicht von der Schönheit des Mädchens begeistert waren. Ich zweifle mich nicht daran, dass eine arme Schöne keinen Erfolg bei diesen Kerlen haben konnte“. Heike begriff die Erzählung etwas anders: „Ich konnte, meine Damen und Herren, den Roman aus dem weiblichen Gesichtswinkel beurteilen. Ein schönes Mädchen besitzt unabhängig davon, reich oder arm sein Vater ist, die einzelne wertvolle Sache, die Schönheit heißt. Herrgott oder die Mutternatur geben jedem von uns nicht besonders viel. Es bedeutete, dass jeder Mensch solche Gabe am meisten sich zugunsten auszunutzen sucht. Leider war und bleibt bis heute die Schönheit eine Ware, die mehr oder weniger teuer sein könnte. Dass sie einen Misserfolg erteilen bekommen sollte, ist nach meiner Ansicht nicht ihre Schuld, sondern ihr Elend, was alle Leser kapieren müssen. Euch ist es hoffentlich klar geworden, dass ich vollkommen auf der Seite dieser Frau stehe und ihr meinen Kameradschaftsgeist ausdrücke“. Nun war Karin an der Reihe:

„Ich bilde mir nach der wunderbaren Erzählung Kristin die einzelnen Ereignisse des Buches ein. Üblicherweise nehmen wir die Dorfverhältnisse wie etwas Einfaches oder sogar Primitives. Was uns gerade geschildert wurde, dementiert scharf solche Denkweise. Die Verhältnisse zwischen den Protagonisten sind so angeregt und kompliziert, dass man etwas Entsprechendes nicht in jeder Stadt zu finden vermöge. Außerdem habe ich darin eine typische männliche Gemüts-verfassung gesehen. Die Vertreter des starken Geschlechts glauben fest, dass sie alle ihren Problemen mit einem Faustkampf oder durch eine Schlauheit auflösen können. Wenn ihnen die erste und die letzte nicht geling, verlieren sie erheblich an ihre Überlegenheit. Eine weibliche Schönheit übt einen erregenden Einfluss auf sie aus, was ihre Verhaltensweise enorm umgestalten kann. In einigen Fällen ähneln sie an wilde Stiere, die immer kampfbereit sind, ohne ein richtiges Niveau ihrer Kraft vorzustellen. Eine geschiedene Frau mit zwei Kindern, sei sie wunderschön oder nicht, kann auf sie bestimmt gleicherregend auswirken. Denn nun erinnern sie momentan daran, was ein gesunder Menschenverstand besitzt.

Die Frage ist, wo befand sich dieser Verstand vor einigen Jahren“. Diese unerwartete Reaktion Karin rief sofort eine Erwiderung Bastian hervor:

„Ich würde lieber, die handelnden Personen des Romans nicht so hart beurteilen. Wenigstens hat jener von ihnen das Recht, einen Fehler zu machen. Die Einwohner des Dorfes sind, aller Wahrscheinlichkeit nach, praktisch nachdenkende Menschen, die sich daran gewöhnten, ohne Umschweife zu sprechen. Für einen kultivierten Stadtbürger ist es vielleicht grob oder taktlos, unmittelbar das zu sagen, was du denkst. Infolgedessen kann man auch die Handlungen von Dorf-männer in einem anderen Lichte sehen. Sie erörtern ihre aktuellen Sachen vor allem im Sinne des Nutzens. Die Schönheit passt angeblich dieser Kategorie nicht. Doch die Sache sieht aussichtsvoll aus zusammen mit dem Reichtum des Vaters. Diese Begleiterscheinung sorgte erst für die große Zahl der Bewerber auf die Hand der wohlhabenden Tochter. Wenn sie aber als eine geschiedene Frau mit zwei Kindern zurück nach Hause kehrte, war solche Komplikation zu schwerwiegend sogar im Vergleich mit ihrem vererbten Reichtum. Nach der Logik der Geschäftsleute klingt alles sinnvoll. Aber es gibt eine andere Lebenseinstellung, die mit der Kleinkrämerei nicht zu tun hat. Nach dieser Einstellung lebt der arme Bursche, der auf seine hohen Prinzipien nicht preiszugeben wusste. Das ist die Moralpredigt der Geschichte“. Das Schlusswort gehörte logischerweise der Urheberin der Diskussion. Kristin fasste die ausgesagte zusammen:

„Ich danke euch, meine lieben Damen und Herren. Ich bin völlig zufrieden mit euren Äußerungen, die mir klarmachen, dass ihr ungeachtet der Mannigfaltigkeit eurer Ansichten hohe sittlichen Eigenschaften bewahrt und die Prüfung gut bestandet. Daraus kann ich einen Schluss ziehen, dass euch auch in Wirklichkeit nach solchen Prüf-steinen handeln werdet“. Möglicherweise entsprach dieses ernste Thema nicht dem Geist des Festes. Es war aber sehr aufschlussreich für alle jungen Menschen, die am Feiertag zusammenkamen. Nun konnten sie sich wieder dem Vergnügen widmen. Und es dauerte weit über die Mitternacht.

Eine verwickelte Beziehung

Obwohl das Maifest eine Meinungsverschiedenheit in einigen Sachen bei Karin und Bastian gezeigt habe, wollte er auf keinen Fall auf diese Bekanntschaft verzichten. So bat er sie nachdrücklich um ein Stelldichein und fühlte sich zufrieden, als sie ihre Zustimmung gab. Er mietete damals ein Zimmer in einer Mehrzimmerwohnung und sah es unangebracht, sie dorthin einzuladen. Auf diesen Grund gingen sie erstmal ins Kino, wo einen alten Hitchcock Film namens „Ich kämpfe um dich“ gezeigt worden war. In Hauptdarstelle waren unvergleichbare Ingrid Bergman, Gregory Peck und Michael Chekhov. Die kurze Zusammenfassung des Films klingt folgendermaßen: Dr. Murchison, leitete seit Jahren Green Manors, ein Heim für Geisteskranke in Vermont. Eine schwere seelische Belastung führte dazu, dass er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt. Diese Begebenheit zwang ihn, in den Ruhestand zu gehen. Als sein Nachfolger wurde Dr. Anthony Edwards (Peck) vorgestellt, ein renommierter Psychiater und Autor. Der am Anfang seiner Karriere stehende junge Arzt Edwards empfindet sofort eine anziehende Kraft seiner bezaubernden Kollegin Dr. Constance Petersen (Bergmann). In der Tat verschärft sich die Situation dadurch, dass die Verhaltensweise Anthonys für die Umgebung äußerlich merkwürdig scheint. Darüber hinaus wurden um ihn Anzeichen bemerkt, die einen Verdacht zu erregen vermögen, dass er überhaupt kein Psychiater, sondern selbst ein paranoider und an Gedächtnisstörungen leidender Gauner ist. Frau Dr. Petersen ist die erste, die seinem Benehmen ein sachkundiges Gutachten gibt. Unglücklicherweise verliebt sie sich in ihn. Der Pseudoarzt enthüllt ihr, dass er ein Gefühl bekommt, als ob er den echten Edwards umgebracht habe. Nun sieht er seine Befreiung von dem Schuldwahn darin, dessen Wesen vollständig zu übernehmen. Aufgrund seiner Amnesie kann er sich aber an seine wahre Identität nicht erinnern. Gleichzeitig verhindert ihm die schwere Amnesie, an seine eigene Persönlichkeit zu erinnern. Ihn verfolgt die Angst, entlarvt zu werden. Deswegen setzt er sich ab, lässt einen Brief an Constance mit seiner neuen Adresse und fährt nach New York. Die mitleidvolle Ärztin reist auch nach New York, um ihm zu helfen. Sie ist bestürmt auch von dem Wunsch aufzuklären, was tatsächlich mit dem echten Dr. Edwards passierte, der nach einer Ski Reise spurlos verschwand. Mittlerweile sucht die Polizei den Betrüger. Nun unternimmt Constance zusammen mit dem Flüchtling, der sich unter dem Namen John Brown versteckt, eine Reise nach Rochester zu ihrem alten Lehrer und Mentor, berühmten Psychiater Dr. Brulov (Chekhov). Der alte Arzt untersucht durch die Psychoanalyse einen Traum von „Brown“ und stellt sich heraus, dass der Patient zusammen mit Edwards beim Ski Reise war. Jetzt versucht der Alte, aus den Details des Traums den Skiort zu erkennen. Nach einem Indiz fahren Dr. Petersen und „Brown“ nach einem Skigebiet, denn Dr. Brulov vermutete, dass eine Wiederholung der Geschehnisse das Gedächtnis des Kranken wiederherstellen lassen könnte. Dafür brauchen sie, erneut Ski zu fahren. Und es passierte in der Tat. Nach der Rückerstattung des Gedächtnisses erinnert sich „Brown“ an alle Ereignisse der Vergangenheit: An den Absturz von Dr. Edwards, an seinen wirklichen Namen, John Ballantyne, an seinen Bruder, den er als Kind zufälligerweise getötet hatte, was bei ihm den Schuldwahn auslöste. Später wurde er als Arzt ausgebildet und als ein Militärarzt im Zweiten Weltkrieg diente. Dort war er stark traumatisiert geworden und ließ sich, bei Dr. Edwards behandeln zu werden. Seine Erinnerung gab den Anlass, eine neue Suche nach der Leiche von Dr. Edwards zu beginnen. Als sie geborgen war, stellte es sich heraus, dass der Arzt erschossen war. Eine dauerhafte Unterhaltung von Constance mit dem Sanatoriums Leiter Dr. Murchison, dessen Stellvertreter Dr. Edwards war, ließ ihr vermuten, dass der sich in die Ermordung Dr. Edwards verwickelt worden war. Als Murchison diesen Verdacht bekannt wurde, gestand er Frau Dr. Petersen, dass er Dr. Edwards getötet hatte. Denn der Verschiedene war ein gefährlicher Bewerber auf dessen Amt. Eine Weile darauf erschießt sich Dr. Murchison. Und Constance mit John Ballantyne träumen von ihrer gemeinsamen Zukunft.

Dies spannendes Psychodrama schindete einen großen Eindruck auf beiden, obwohl ihre Einstellungen auch diesmal stark voneinander unterschieden. Karin sah im Benehmen des Hauptprotagonisten eigentümlich männliche Manieren, indem er für alles bereit war, um sich aus der Verlegenheit zu retten. „Diese maskulinische Überlegenheit“, sagte sie, „kann man mit bloßen Augen sehen. Sie haben immer Recht, sogar wenn ihre Fehler offensichtlich sind. Sie nutzen meister-haft ihre Listigkeit oder Behändigkeit, wenn es hart auf hart kommt. Kuck man auf diesen Betrüger, den Gregory Peck so brillant spielt, er kann sich Rechenschaft ablegen, dass seine sachlichen Unsinnigkeiten einen Verdacht erregen konnten, dass er eine falsche Person ist. Ungeachtet dessen versucht er, jeder Situation an zu passen“.

Bastian wollte widersprechen: „Ich finde, Karin, deine Behauptung unbedacht, weil dieser junge Kerl psychisch krank ist. Er leidet an Amnesie, was kann ein Mensch ohne Gedächtnis machen, wenn er sich nicht daran erinnern kann, was er gesagt oder empfohlen habe“. Diese Erwiderung wirkte aber auf junge Dame nicht überzeugend: „Vielleicht hast du Recht, er leidet in der Tat an Gedächtnisverlust, trotzdem fällt sein selbstsüchtiges Benehmen den armen Patienten gegenüber in die Augen. Außerdem versucht er, seine falschen Handlungen mit allen Mitteln zu verbergen. Weil er innerlich alles richtig kapiert, z.B., dass auf seiner Stelle jemand andere arbeiten sollte, der viel maßgebender als er selbst werden konnte“.

Nun wollte Bastian die Diskussion in eine neue Richtung versetzen: „Aber wie verstehst du den Umstand, dass Frau Dr. Petersen ihm unbestreitbar sympathisiert, trotz aller seinen Schrulle?“

„Sie zeigt sich bestimmt wie eine anständige und barmherzige Frau und Ärztin. Als eine Psychiaterin versteht sie, dass er schwer krank ist. Sie wollte ihm helfen, doch die Tatsache, dass er zu-gleich selbst als Arzt anderen Menschen behandeln sollte, erschwert stark seine Lage. Mir scheint auf, dass Hitchcock durch die Gestalt dieser Frau typische weiblichen Eigenschaften betonen wollte. Ich meine die Fähigkeit nachgebend und selbstlos zu sein“. Bastian sah es etwas anders: „Nach dem Anschauen dieses Films kann ich ver-muten, dass Frau Petersen ein Vorgefühl bekam, dass er gar kein Gau-ner oder Verbrecher war. Nicht zufällig ist sie eine begabte Anhängerin der Psychoanalyse. Sie hört aufmerksam seine Äußerungen und Erwägungen hin und zieht daraus wichtige für sie Schlusse. Sonst wäre es sinnlos, gemeinsam mit ihm zu ihrem Lehrer, Dr. Brulov zu reisen. Ich glaube, sie beabsichtigte im Voraus, mithilfe dieses Fachmanns ihre Annahme prüfen zu lassen. Und ich bin deiner Meinung, dass Hitchcock zweifellos auf der Seite dieser Ärztin ist. Nicht zufällig begeht er ungewöhnliche Vorgänge mit seinen handelnden Person-en, schickt sie an die Ski-Reise, unternimmt unterschiedliche psychoanalytischen Experimente und zieht unglaubliche Schlussfolgerungen, die erstaunlicherweise bestätigt werden sollten. Eine Rückkehr nach einem zweifelhaften Ort, wo angeblich ein Ereignis stattfand, bringt dem Mann mit einer schweren Amnesie eine vollständige Wiederherstellung des Gedächtnisses, so dass der Betroffene an alle Begebenheiten von seiner Kindheit bis zur Gegenwart erinnert. Alle solche Mittel können der Wissenschaft widersprechen. Solche Tatsache stört den Regisseur gar nicht, weil er dadurch fähig wird, seine sittlichen und künstlerischen Aufgaben zu lösen. Und welches Kunst-stück noch konnte die handelnde Person ausnutzen, um alle Geheim-nisse mit einem Schlag aufzuklären. Nun wissen wir ausführlich, dass der Mann, der sich unter dem Decknamen John Brown vor der Polizei verduften musste, tatsächlich eine Verehrung verdiente. Denn er nahm an scheußlichen und blutgießenden Kämpfen des Zweiten Weltkrieges als Militärarzt teil und wurde selbst hart traumatisiert. Uns als Zuschauer freut die Auskunft, dass er mit dem Tod Dr. Ed-wards nichts zu tun hatte sowie dass er sich selbst irrtümlich verleumdete. Und der entlarvte wirkliche Töter von Dr. Edwards bekennt unter der Schwere der Beweise Frau Dr. Petersen seine Übeltat und wurde moralisch gezwungen, Selbstmord zu begehen. So zeigt sich Frau Petersen neben ihrer Herzlichkeit und Empathie als eine Verfechterin der Gerechtigkeit“. Jetzt konnte Karin ihr endgültiges Urteil über den Film aussprechen:

„Eine der bedeutenden Ideen dieses Streifens sei nach meiner Meinung die Behauptung, dass unter allen schweren Bedingungen das Gute siegt, das Böse scheitert. Und ungeachtet dessen, dass es im Leben weit nicht immer stattfindet, scheint es eine lebensfreudige Einstellung zu sein“.

Wenn Peschel über Karin nachdachte, konnte er sie bestimmt wie eine nicht alltägliche Persönlichkeit vorstellen. So war es praktisch unmöglich, ihre Reaktion auf diese oder jene Sache vorzustellen. Eher versetzte sie ihn in Erstaunen mit ihrer Erwiderung. Manchmal konnte er jene beliebige Meinung von ihr anhören, nur nicht die, die sie aussprach. Es war außergewöhnlich überraschend, doch es war ihre Natur, mit der er rechnen musste, wenn er die Verhältnisse nicht abbrechen wollte. Er sollte aber zustimmen, dass ihn mit diesem Mädchen nie langweilig war. War es eine unerlässliche Bedingung der Verliebtheit? Bastian selbst musste diese Frage bejahen. Jedenfalls war es so mit ihm. Die Bekanntschaft mit Karin stellte ihm gleichzeitig andere aktuellen Fragen hin, zuerst, ob er zusammen mit ihr leben wollte. Die gelegentlichen Begegnungen mit ihr hatten ihre Vorteile, waren aber mit gewissen Unbequemlichkeiten verbunden. So war es ihm unangenehm, sie in sein Zimmer vor den Augen der Nachbarn mitzubringen, was zu einer Menge von Gerede führen konnte. Viel lieber wäre es, eine Wohnung zu mieten, obwohl es für einen Studenten mit größeren Kosten verbunden war. Als er das Thema in einem Gespräch mit Karin berührte, zeigte sie ganz unerwartet nicht nur ihre Zustimmung, sondern auch ihre deutliche Bereitschaft, die Hälfte der Mietkosten zu übernehmen. Solche offene Nachgiebigkeit gefiel dem jungen Mann sosehr, dass er diese Absicht gleich zu verwirklichen vermochte. Ein gemeinsamer Haushalt war unbedingt eine nächste echte Prüfung für die beiden. Denn das junge Paar habe bis dahin keine Ahnung, wie man nicht allein um sich, sondern um jemand anderen kümmern sollte. Es gab aber einen neuen wichtigen Schritt des menschlichen Schicksals, der eine wesentliche Ergänzung dem entwickelten Gemüt erteilen konnte. Mehrere Jahre darauf erinnerte Peschel an diese Tage und Wochen, die ihm, dem reifen und erfahrenen Mann wie die beste Zeit seines Lebens zu scheinen seien. Als ein junger Bursche konnte er gewiss alle solchen „Zauber“ nicht bewerten. Vor allem deswegen, weil er auf sie überwiegend einseitig zu kucken fähig war. In der Tat konzentrierte er sich voreingenommen auf die negativen Erscheinungen des Alltags und besaß noch nicht die Fähigkeit, darin etwas Vielversprechendes zu bemerken. Karin war sicher eine einsichtsvolle und intelligente junge Frau. Noch stärker zogen ihn ihre schönen äußeren Eigenschaften an. Manchmal war es ihm ausreichend, flüchtig auf sie anzublicken, damit alle ihre Untugend in den Hintergrund traten. „Bei diesen berückenden Frauen“, dachte sich der junge Kerl, „spielt das Äußere eine besonders selbstständige Rolle. Es wird imstande sein, die weibliche Gestalt bis zur Unkenntlichkeit zu beseelen. Dieser „Kniff“ der Natur bringt uns Männer so stark in Verwirrung, dass wir die Fehlschläge aller Art zu begehen vermögen. Und das schöne Geschlecht nutzt geschickt diese unsere Schwäche, indem es uns praktisch widerstandsunfähig macht. Im Prinzip ist es eine offensichtliche Unbesonnenheit, wenn ein vernünftiger Kerl momentan alles vergisst und sich als ein kleines Kind zu benehmen pflegt. Diese lächerliche Erscheinung konnte man nur von außen angemessen betrachten. Und wenn es mit dir selbst passiert, wirst du blind und taub gewesen. Doch diese seltsame Gegebenheit wurde dem starken Geschlecht wahrscheinlich vom Himmel niedergestiegen und der Betroffene selbst konnte nichts dagegen unterfangen. Trotzdem gab es darin irgendwas Kränkendes und Demütigendes, was das stolze maskulin Wesen verachten sollte“. Peschels Verstand ließ aber nicht, solche absurde Sache ohne Erklärung wegschaffen. Deswegen suchte er nun eine rettende Aufklärung in der ursprünglichen Geschichte der Menschheit, wann eine grobe körperliche Kraft die Verlegenheit eines Individuums vor dem anderen bestimmen sollte. In dieser grausamen Urgesellschaft musste eine Frau völlig rechtlos bleiben. Und ein menschenähnliches Ungeheuer mit den bullenartigen Muskeln durfte gewaltsam über die schwächen herrschen. Jetzt war Bastian in der Lage, das obengenannte Rätsel zu entziffern. Zweifelsohne verübte das männliche Ungeheuer solche Menge der Übeltaten, dass die höchste Vernunft diese Ungerechtigkeit nicht mehr ertragen wollte. Die dummen Recken mussten so aufschlussreich bestraft werden, dass auch alle ihre Nachfahren davon leiden mussten. Zugleich sollte diese Bestrafung so heimtückisch werden, dass man kein Gegengift heraussuchen konnte. Solche einfache Erläuterung brachte dem jungen Verliebten eine erwünschte Zufriedenstellung mit. Nach seiner Gemütsart war Bastian eine