Der ferne Spiegel - Barbara Tuchman - E-Book
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Barbara Tuchman

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Beschreibung

Ein moderner Klassiker der Geschichtsschreibung

Bestsellerautorin Barbara Tuchman schuf mit »Der ferne Spiegel« einen modernen Klassiker der Geschichtsschreibung. Mit sicherem und kundigem Blick für die »große« politische Geschichte und feinem Gespür für die Alltags- und Mentalitätsgeschichte gelingt es ihr, das pralle Leben im dramatischen 14. Jahrhundert und damit im Herbst des Mittelalters einzufangen.

Im Mittelpunkt von Barbara Tuchmans faszinierender Schilderung des 14. Jahrhunderts steht die Lebensgeschichte des französischen Adeligen Enguerrand de Coucy VII. Im zarten Alter von 15 Jahren zieht Coucy das erste Mal als Ritter in die Schlacht, erlebt den Hundertjährigen Krieg hautnah mit und wird schließlich vom englischen König als Geisel genommen. Coucy wird im Laufe seines Lebens Zeuge dramatischer, ja scheinbar apokalyptischer Ereignisse: Die Pest sucht Europa heim, religiöse Fanatiker hetzen die Menschen auf, Papst und Gegenpapst bekriegen sich, auf Frankreichs Thron sitzt ein Wahnsinniger, und im Osten rücken die Osmanen vor.

Gleichzeitig kannten die Kreativität und das Kunstschaffen der Menschen nun, gleichsam auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, keine Grenzen. Boccaccio schuf sein epochemachendes Werk Decamerone, Giotto bereitete in Italien den Weg für die Renaissance und in ganz Europa entstanden Kathedralen von ungekannter Größe und Pracht.

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Mit einem Nachwort von Johannes Saltzwedel

Copyright © 2010 by Pantheon Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 1978 Barbara Tuchman

Titel der amerikanischen Originalausgabe: A Distant Mirror – The Calamitous 14th CenturyAlfred A. Knopf Inc., New York 1978

Leicht gekürzte Ausgabe Nachbearbeitung der Karten: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-05207-2 V003

www.pantheon-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

VORWORT - Die Zeit, der Held, die RisikenKAPITEL 1 - »Ich bin der Sire de Coucy«: Das GeschlechtKAPITEL 2 - Zum Unglück geboren: Das JahrhundertKAPITEL 3 - Jugend und RittertumKAPITEL 4 - KriegKAPITEL 5 - »Das ist das Ende der Welt«: Der Schwarze TodKAPITEL 6 - Die Schlacht von PoitiersKAPITEL 7 - Das enthauptete Frankreich: Die Erhebung des Bürgers und die JacquerieKAPITEL 8 - Geisel in EnglandKAPITEL 9 - Enguerrand und IsabellaKAPITEL 10 - Die Söhne des FrevelsKAPITEL 11 - Das vergoldete LeichentuchKAPITEL 12 - DoppelallianzKAPITEL 13 - Coucys KriegKAPITEL 14 - England in AufruhrKAPITEL 15 - Der Kaiser in ParisKAPITEL 16 - Das päpstliche SchismaKAPITEL 17 - Coucys AufstiegKAPITEL 18 - Die Würmer der Erde gegen die LöwenKAPITEL 19 - Der Zauber ItaliensKAPITEL 20 - Eine zweite normannische EroberungKAPITEL 21 - Das Ideal zerbrichtKAPITEL 22 - Die Belagerung der BerbereiKAPITEL 23 - In einem dunklen WaldKAPITEL 24 - Danse MacabreKAPITEL 25 - Verpaßte GelegenheitKAPITEL 26 - NikopolKAPITEL 27 - Kleide den Himmel in DunkelEpilogAnmerkungenBibliographieRegisterNACHWORT - Finten und Fanale

»Denn der Mensch ist ewig der gleiche, und nichts verliert die Natur, obwohl alles sich ändert.«

 

John Dryden (»On the Characters in the Canterbury Tales«)

VORWORT

Die Zeit, der Held, die Risiken

Das Buch ist entstanden, weil ich herausfinden wollte, welche Einflüsse das verheerendste Ereignis der überlieferten Geschichte auf unsere Gesellschaft gehabt hat – ich meine den Schwarzen Tod, der in der Zeit von 1348 bis 1350 schätzungsweise ein Drittel der zwischen Island und Indien lebenden Bevölkerung hinweggerafft hat. Angesichts der Möglichkeiten unserer Zeit ist der Grund für mein Interesse offensichtlich. Das Ergebnis meiner Nachforschungen ist schwer zu fassen, denn das 14. Jahrhundert war so vielen »fremden und übermächtigen Gefahren und Widrigkeiten ausgesetzt« (in den Worten eines Zeitgenossen), daß sich seine Wirren nicht auf einen einheitlichen Ursprung zurückverfolgen lassen. Nicht nur die vier Reiter aus der Vision des heiligen Johannes haben ihre Spuren hinterlassen, es sind sieben geworden: Seuche, Krieg, Steuern, Räuberei, Mißwirtschaft, Aufruhr und Kirchenschisma haben das Jahrhundert geprägt. Bis auf die Seuche selbst entstammte all dies einer Zeit, die vor dem Schwarzen Tod lag, und es dauerte an, als die Seuche vorüber war. Obwohl meine eingangs gestellte Frage ihrer Antwort auswich, blieb das Interesse an dieser Zeit eine Herausforderung für mich: eine gewalttätige, gequälte, verwirrte, leidende und zerfallende Zeit, ein Zeitalter, in dem, wie viele glaubten, Satan triumphierte – aber auch, wie mir scheint, für uns, in einer Zeit ähnlicher Unordnung, eine trostreiche Zeit.

Wenn unser letztes Jahrzehnt oder die letzten beiden eine Zeit erlöschender Gewißheiten und ungewöhnlicher Unruhe war, dann ist es beruhigend zu wissen, daß die Menschheit schon Schlimmeres durchlebt hat.

Eigenartigerweise hat sich schon zu Anfang unseres Jahrhunderts ein anderer Historiker diesen »phänomenalen Parallelen« zugewandt. In den Nachwehen des Schwarzen Todes und des Ersten Weltkrieges fand er die gleichen Mißlichkeiten: wirtschaftliches Chaos, soziale Unruhe, steigende Preise, Profitsucht, Niedergang der Moral, geringe Produktivität, industrielle Trägheit, frenetischer Vergnügungswahn, Verschwendungssucht, Luxus, Ausschweifung, soziale und religiöse Hysterie, Habgier, Geiz und Mißwirtschaft. »Die Geschichte wiederholt sich nicht«, sagte Voltaire, »aber immer tut es der Mensch.« Für Thukydides war, wie wir wissen, dieses Prinzip die Grundlage seiner historischen Arbeiten.

In der schlichten Zusammenfassung des Schweizer Historikers J. C. L. S. de Sismondi [Ref 1] war das 14.Jahrhundert »keine Zeit für Menschlichkeit«. Bis vor kurzem weckte das 14. Jahrhundert bei den Historikern wenig Interesse. Sie ließen es außer acht, weil es nicht in ihr Bild vom beständigen Fortschritt der Menschengattung paßte. Aber nach den Erfahrungen des schrecklichen 20. Jahrhunderts empfinden wir ein größeres Mitgefühl für dieses zerrissene Zeitalter, dessen Ordnung unter dem Druck ungünstiger und gewalttätiger Verhältnisse zusammenbrach. Mit schmerzlichem Blick erkennen wir alle Anzeichen einer »Zeit der Qual, in der es kein Gefühl einer gesicherten Zukunft gibt«.

Der zeitliche Abstand von sechshundert Jahren läßt das Typische des menschlichen Charakters hervortreten. Im Mittelalter herrschten Lebensbedingungen, die von den unsrigen derartig verschieden sind, daß man fast von einer fremden Zivilisation sprechen kann. Infolgedessen erscheinen uns die Eigenschaften, die wir in dieser fremdartigen Umgebung als vertraut wiedererkennen, als unveränderliche menschliche Natur. Wenn man darauf besteht, Lehren aus der Geschichte ziehen zu wollen, dann sind sie hier zu finden. Während er sich den Fängen der Gestapo zu entziehen versuchte, schrieb der französische Mediävist Edouard Perroy in seinem Buch über den Hundertjährigen Krieg: »Bestimmte Reaktionen auf das Schicksal, bestimmte Verhaltensweisen erhellen sich wechselseitig.«

Die fünfzig Jahre nach dem Schwarzen Tod sind der Kern dessen, was ich einen zusammenhängenden historischen Zeitabschnitt nennen möchte. Er hat von 1350 bis 1400 gedauert, vielleicht einige Jahre länger. Um den Gegenstand einzuengen und mein Thema in den Griff zu bekommen, habe ich das Leben einer authentischen Person zum Medium meiner Untersuchung gemacht. Neben dem menschlichen Interesse hat dies den Vorteil, daß ich näher an der Realität bleibe. So bin ich nämlich gezwungen, den konkreten Umständen und Abschnitten einer mittelalterlichen Lebensgeschichte zu folgen, mag dies Leben führen, wohin es will, und es führt, so meine ich, zu einer getreuen Schilderung der Zeit, als wenn ich ihr meinen eigenen Plan aufgezwungen hätte.

Es handelt sich dabei weder um die Lebensgeschichte eines Königs noch einer Königin, weil alle solche Hoheiten in sich schon außergewöhnlich sind und, das sei nur nebenbei bemerkt, weil sie schon zu abgegriffen wirken. Es geht aber auch nicht um einen einfachen Zeitgenossen, weil diese alltäglichen Lebensgeschichten nicht so umfassend sein können, wie ich es wollte. Ich habe auch keinen Klerikalen oder Heiligen ausgewählt, weil sie sich außerhalb der Grenzen meines Verständnisses bewegen. Auch habe ich Frauen gemieden, da jede mittelalterliche Frauengestalt, deren Leben in einer angemessenen Form überliefert ist, atypisch wäre.

Die Wahl ist nun eingeschränkt auf die Gruppe der Männer des zweiten Standes – auf den Adel –, und sie ist schließlich auf Enguerrand de Coucy VII. gefallen, den letzten einer großen Dynastie und »den erfahrensten und klügsten aller Ritter Frankreichs«. Sein Leben (1340 bis 1397) deckt sich mit dem Zeitabschnitt, dem meine Untersuchung gilt. Außerdem scheint er wie für meinen Plan vorbestimmt, angefangen von dem Tod seiner Mutter in der Zeit während der Seuche bis hin zu seinem sehr passenden eigenen Tod in der kulminierenden Katastrophe des Jahrhunderts.

Durch seine Hochzeit mit der ältesten Tochter des Königs von England war er beiden kriegführenden Nationen verpflichtet. Das erweiterte den Spielraum und die Interessen seiner Karriere. Er spielte in jedem Drama der Welt seiner Zeit eine Rolle, durchweg eine Hauptrolle, und er hatte zudem den Weitblick, der Schutzherr des größten Geschichtsschreibers seiner Zeit zu werden: Jean Froissart, und so kommt es, daß mehr über ihn bekannt ist, als es sonst der Fall gewesen wäre. Allerdings existiert kein authentisches Porträt von Enguerrand de Coucy VII. Andererseits gibt es auch einen Vorteil, der diesen Mangel vielleicht auszugleichen vermag: Bis auf einen einzigen Artikel aus dem Jahre 1939 ist über Enguerrand in englischer Sprache nichts veröffentlicht worden, und es gibt auch keine verläßliche Biographie im Französischen außer einer Doktorarbeit von 1890, die jedoch nur im Manuskript existiert. Ich finde meinen Weg gern selbst. [Ref 2]

Ich muß den Leser bitten, Geduld aufzubringen, bis er die Bekanntschaft von de Coucy macht, weil dieser nur vor dem Hintergrund und den Geschehnissen seiner Zeit zu verstehen ist, und die füllen die ersten sechs Kapitel. Enguerrand hinterläßt erst im Alter von achtzehn Jahren seine erste Spur in der Geschichte, und das geschieht hier nicht vor Kapitel 7.

Ich komme nun zu den Risiken meiner Unternehmung. Zum ersten gibt es in bezug auf Zahlen, Daten und Fakten nur unsichere und widersprüchliche Informationen. Einigen mögen Daten überflüssig und pedantisch erscheinen, aber sie sind deshalb wesentlich, weil sie die Reihenfolge der Ereignisse bestimmen und so zu einem Verständnis von Ursache und Wirkung führen. Unglücklicherweise ist es aber sehr schwierig, eine mittelalterliche Chronologie festzulegen. Man ging nämlich davon aus, daß das Jahr Ostern beginnt, und da das irgendwann zwischen dem 22. März und dem 22. April sein konnte, bevorzugte man in der Regel als festes Datum den 25. März. Der Wechsel zur modernen Zeitrechnung wurde erst im 16. Jahrhundert vollzogen und nicht vor dem 18. Jahrhundert überall berücksichtigt. Im 14. Jahrhundert war es also einem fortlaufenden Entwirrspiel überlassen, in welches Jahr die Ereignisse von Januar, Februar und März fielen. Erschwert wurde die Zeitrechnung außerdem durch den Gebrauch des königlichen Jahres (beginnend mit der Thronbesteigung des regierenden Monarchen) in den offiziellen englischen Dokumenten und durch den Gebrauch des päpstlichen Jahres in bestimmten anderen Fällen. Zudem vermerkten die Chronisten ein bestimmtes Ereignis nicht unter dem Monatsdatum, sondern nach dem religiösen Kalender. Sie sprachen zum Beispiel von »Zwei Tage vor der Geburt der Jungfrau« oder vom »Montag nach Dreikönige« oder vom »Geburtstag des heiligen Johannes des Täufers« oder von »Der dritte Sonntag der Fastenzeit«. Dadurch wurden aber nicht nur die Historiker verwirrt, sondern auch die Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts selbst, die selten oder nie in einem Datum für ein bestimmtes Ereignis übereinstimmen.

Zahlen sind auch deshalb so bedeutungsvoll, weil sie anzeigen, in welchem Maß die Bevölkerung in ein bestimmtes Ereignis verwickelt war. Die ständigen Übertreibungen der mittelalterlichen Zahlenangaben – für Armeen z. B. – haben, wenn sie für bare Münze genommen wurden, in der Vergangenheit zu dem Mißverständnis geführt, den mittelalterlichen Krieg analog zum modernen Krieg zu sehen, der ihm in Mitteln, Zweck oder Methode sehr fern ist. Es muß vielmehr vorausgesetzt werden, daß mittelalterliche Zahlenangaben über Heerstärken, Gefallenenziffern, Seuchentote, revolutionäre Horden, Prozessionen und andere große Gruppen regelmäßig um mehrere hundert Prozent zu hoch liegen. Dies rührt daher, daß die mittelalterlichen Geschichtsschreiber die Zahlen nicht als Fakten, sondern als literarische Stilmittel auffaßten, die den Leser verblüffen oder erschrecken sollten. Der Gebrauch römischer Ziffern führte ebenso zu einem Mangel an Präzision wie die mittelalterliche Vorliebe für runde Zahlen. Die Angaben wurden späterhin unkritisch von einer Historikergeneration an die nächste weitergereicht. Erst seit dem letzten Jahrhundert haben Wissenschaftler begonnen, die alten Dokumente noch einmal zu überprüfen. So haben sie zum Beispiel die wahre Stärke eines Expeditionskorps erst anhand der Aufzeichnungen des Zahlmeisters feststellen können. Aber Meinungsverschiedenheiten gibt es immer noch. So setzt J. C. Russell die französische Bevölkerung vor der Pest mit 21 Millionen an, Ferdinand Lot mit 15 oder 16 Millionen und Edouard Perroy mit bescheidenen 10 bis 11 Millionen. Von der Größenordnung der Bevölkerungszahl hängt aber die Erforschung alles anderen ab: Steuern, Lebenserwartung, Handel und Landwirtschaft, Hungersnot oder Wohlstand, und da weichen die Zahlenangaben heutiger Autoritäten um bis zu hundert Prozent voneinander ab. Zahlenangaben von Chronisten, die offensichtlich verzerrt sind, erscheinen in meinem Text deshalb in Anführungszeichen.

Diskrepanzen bei scheinbar gesicherten Fakten stammen häufig aus Fehlern mündlicher Überlieferung oder sind der späteren Mißdeutung handschriftlicher Manuskripte zuzuschreiben. So zum Beispiel, als die Dame de Coucy von einem sonst sehr gewissenhaften Historiker des 19. Jahrhunderts fälschlicherweise für de Coucys zweite Frau gehalten wurde, was eine Zeitlang zu meiner heillosen Verwirrung beitrug. Der Graf von Auxerre wurde verschiedentlich von englischen Geschichtsschreibern als Aunser, Aussure, Soussiere, Usur, Waucerre und von den Grandes Chroniques Frankreichs als Sancerre, ein völlig anderer Zeitgenosse, vorgestellt. Da nimmt es nicht länger wunder, daß ich den Namen Canolles für eine Variante von Arnaut de Cercole, den berüchtigten Räuberhauptmann, hielt, aber nur um herauszufinden, daß es eine Variante von Knowles oder Knollys war, einem englischen, allerdings ebenso berüchtigten Hauptmann. Obwohl dies Kleinigkeiten sind, können solche Schwierigkeiten einen zur Verzweiflung bringen. [Ref 3]

Isabeau von Bayern, Königin von Frankreich, wird von einem Historiker als hochgewachsen und blond beschrieben und von einem anderen als »kleine, lebhafte, dunkelhaarige Frau«. Der türkische Sultan Bajasid, den seine Zeitgenossen kühn nannten, unternehmungslustig und kriegshungrig und der wegen seiner blitzartigen Überfälle »Donnerschlag« genannt wurde, wird von einem modernen ungarischen Autoren als »verweichlicht, sinnlich, zaudernd und unentschlossen« beschrieben.

Man kann also getrost davon ausgehen, daß jede Feststellung über das Mittelalter mit einer gegenteiligen oder zumindest andersartigen Behauptung einhergeht. Die Frauen waren in der Überzahl, weil die Männer im Krieg getötet wurden; die Männer waren in der Überzahl, weil die Frauen im Kindbett starben. Die einfachen Leute waren mit der Bibel vertraut, nein, sie waren es nicht. Die Adligen waren von der Besteuerung ausgenommen; sie zahlten Steuern wie jeder andere auch. Die französischen Bauern waren verdreckt und stanken und lebten von Brot und Zwiebeln; die französischen Bauern aßen Schweinefleisch, Wild und Geflügel und nahmen im dörflichen Badehaus gern regelmäßig ihr Bad. Diese Liste könnte ins Unendliche fortgesetzt werden.

Widersprüche aber sind ein Teil des Lebens und können nicht nur auf unterschiedliche Erkenntnisse zurückgeführt werden. Deshalb möchte ich den Leser bitten, Widersprüche zu erwarten und keine Einförmigkeit. Kein gesellschaftlicher Teilbereich, keine Gewohnheit, keine Bewegung und keine Entwicklung ist frei von Gegenströmungen. Hungernde Bauern in Hütten lebten neben wohlhabenden Bauern, die in Federbetten schliefen. Kinder wurden vernachlässigt und geliebt. Ritter sprachen von Ehre und wurden zu Räubern. Mitten im Massensterben und Elend existierten Extravaganz und Luxus. Kein Zeitalter ist ordentlich und einfarbig, und keines ist aus bunterem Stoff als das Mittelalter.

Es ist außerdem zu berücksichtigen, daß die Farben, in denen das Mittelalter geschildert wird, mit dem Betrachter wechseln. In den letzten sechshundert Jahren haben sich sowohl die Vorurteile als auch der Blickwinkel – und damit die Auswahl des Stoffes – der Historiker beträchtlich geändert. Nach dem 14. Jahrhundert war Geschichte in den nächsten dreihundert Jahren praktisch die Aufzeichnung von Stammbäumen der Adelshäuser, die Abbildung dynastischer Linien und verwandtschaftlicher Verflechtungen, getragen von der damaligen Überzeugung, daß Adlige auserwählte Menschen sind. Diese von einer enormen antiquarischen Forschung erfüllten Arbeiten geben uns aber weit mehr als nur familiengeschichtliche Informationen. Ein Beispiel ist Anselms Erwähnung eines Herzogs der Gascogne, der 100 Pfund für den Unterhalt der von ihm entjungferten Bauernmädchen hinterließ.

Erst die Französische Revolution bezeichnet die große Wende, nach der die Historiker den gemeinen Mann als den eigentlichen Helden der Weltgeschichte ansahen, den Armen als an sich gut, Adlige und Könige als Ungeheuer an Ungerechtigkeit. Simon de Luce war mit seiner Geschichte der Bauernaufstände einer von diesen Historikern, tendenziös in seinen Texten, aber einzigartig in seiner Forschungsarbeit und unschätzbar wegen seiner Dokumente. Die großen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Quellen ausgruben und veröffentlichten, die Chroniken ergänzten und herausgaben, die Mengen von Predigten, Abhandlungen, Briefen und anderen Primärquellen lasen und exzerpierten, haben dann den Boden bereitet, auf dem wir Nachgeborene stehen. Ihr Werk wird heute vervollständigt und ergänzt von den modernen Mediävisten der Ära nach Marc Bloch, die einen mehr soziologischen Zugang zum Mittelalter fanden und sich vorwiegend mit den nachweisbaren Fakten des täglichen Lebens beschäftigten. So wurde z. B. die Anzahl der an eine Diözese verkauften Hostien als Maßstab praktizierter Religiosität angesehen.

Ich stehe mit meinem Buch in der Schuld all dieser Gruppen, angefangen bei den ursprünglichen Geschichtsschreibern. Ich weiß, daß es heute unter den Mediävisten als unmodisch gilt, sich auf die alten Chroniken zu beziehen; um aber ein Gefühl für die Zeit und ihre Gewohnheiten zu bekommen, halte ich sie für unverzichtbar. Außerdem – sie erzählen Geschichte, und das will ich auch tun.

Trotz dieses Informationsüberflusses gibt es überall da noch Lücken, wo das Problem nicht in widersprüchlicher, sondern in gar keiner Information besteht. Um diese Lücken zu überbrücken, muß man auf Erklärungen zurückgreifen, die lediglich wahrscheinlich sind oder auch nur dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Das ist der Grund für die Anhäufung der Worte »wahrscheinlich« und »vermutlich« in meinem Text. Ärgerlich, aber aufgrund des Mangels an dokumentierter Gewißheit unvermeidlich.

Eine noch größere Gefahr stellt aber wohl die »Übermacht des Negativen« dar, die mir in der Natur der überlieferten Geschichte zu liegen scheint. Von jeher bleibt in der Überlieferung vor allem die Erinnerung an das Unglück lebendig, an den Schrecken, die Armut, den Kampf und den Schaden. Das ist in der Geschichte so ähnlich wie in der Zeitung. Das Normale macht keine Schlagzeilen. Geschichte besteht aus Dokumenten, die überleben, und die stützen sich extrem auf Krise und Unglück, auf Verbrechen und Verfehlung, denn diese Dinge sind das Thema des dokumentarischen Verfahrens, der Gerichtsakten, Verträge, Denunziationen, der literarischen Satiren und päpstlichen Bullen. Kein Papst hat je eine Bulle veröffentlicht, um seiner Zufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Eines der besten Beispiele für die »Übermacht des Negativen« ist der religiöse Reformer Nicolaus von Clamanges, der in seinen Klagen über unwürdige und verweltlichte Prälaten im Jahre 1401 schrieb, daß er in seinem Eifer für Reformen nicht über die guten Kleriker sprechen wolle, weil sie »neben den perversen Menschen nicht zählen«.

Das Unglück und der Schrecken können aber wohl kaum so weit verbreitet gewesen sein, wie es nach der Überlieferung scheinen mag. Nur die Tatsache ihrer Überlieferung läßt sie so allgegenwärtig erscheinen. Dabei ist anzunehmen, daß sie zeitlich und räumlich nur sporadisch auftraten. Die Beharrungskräfte des Normalen sind eben doch größer als die Wirkung von Störungen, wie wir aus unserer Zeit wissen. Nach der täglichen Zeitungslektüre erwartet man, sich in einer Welt von Streiks, Verbrechen, Machtmißbrauch, Stromausfällen, Wasserrohrbrüchen, entgleisten Zügen, geschlossenen Schulen, Straßenräubern, Drogenabhängigen, Neonazis und Sexualverbrechern wiederzufinden. Tatsächlich aber ist es so, daß man an glücklichen Tagen immer noch abends nach Hause kommen kann, ohne mehr als einem oder zweien solcher Dinge ausgesetzt gewesen zu sein. Das hat mich dazu gebracht, das »Tuchmansche Gesetz« zu formulieren: Allein die Tatsache der Berichterstattung vervielfältigt die äußerliche Bedeutung irgendeines bedauerlichen Ereignisses um das Fünf- bis Zehnfache (oder um irgendeine Zahl, die der Leser einsetzen mag).

Die Schwierigkeit, sich gänzlich in die Geistes- und Gefühlswelt des Mittelalters hineinzuversetzen, ist das letzte und größte Hindernis. Die entscheidende Barriere ist, wie ich glaube, die christliche Religion, wie sie damals war. Sie war zugleich Nährboden und Gesetz des Lebens, allgegenwärtig, wahrhaft zwingend. Ihr nachdrückliches Prinzip, daß das Leben der Seele im Jenseits dem Hier und Jetzt, dem materiellen Leben auf der Erde, überlegen sei, wird von der heutigen Welt nicht geteilt, egal wie fromm einige moderne Christen auch sein mögen. Der Zusammenbruch dieses Prinzips und seine Verdrängung durch den Glauben an den Wert des Individuums und ein tätiges Leben, in dessen Mittelpunkt nicht unbedingt ein Gott steht, schufen die moderne Welt und beendeten das Mittelalter.

Das Problem wird noch weiter verwirrt dadurch, daß die mittelalterliche Gesellschaft, ihrer Absage an das weltliche Leben zum Trotz, diesem nicht wirklich entsagte – und niemand weniger als die Kirche selbst. Viele versuchten es, einige schafften es, aber die Mehrheit der Menschheit ist für Entsagung nicht geschaffen. Es hat kaum eine Zeit gegeben, in der dem Geld und dem Besitz mehr Beachtung geschenkt worden wäre als im 14. Jahrhundert, und die Fleischeslust war dieselbe wie die anderer Zeiten. Der ökonomische und der sinnliche Mensch sind ununterdrückbar.

Die Kluft zwischen dem herrschenden Prinzip der christlichen Lehre und dem Alltagsleben ist das grundlegende Dilemma des Mittelalters. Es ist auch das Problem, das sich wie ein roter Faden durch Gibbons Geschichtsschreibung zieht und das er mit einer feinen, bösartigen Leichtigkeit behandelte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit spielte er genüßlich den Gegensatz zwischen dem, was ihm als die Heuchelei des christlichen Ideals erschien, und dem natürlichen Alltagsleben der Zeit aus. Ich glaube jedoch bei aller sonstigen Wertschätzung des Gelehrten, daß Gibbons Methode dem Problem nicht gerecht wird. Der Mensch selbst war der Schöpfer dieses unmöglichen Ideals und versuchte, es aufrechtzuerhalten, ja nach ihm zu leben – mehr als ein Jahrtausend lang. Darum muß es einem tiefen Bedürfnis entsprechen, jedenfalls einem fundamentaleren, als es Gibbons aufklärerisches Denken zulassen und seine elegante Ironie bewältigen konnte. Aber, obwohl ich die Gegenwärtigkeit dieses Ideals erkenne, erfordert es eine größere Religiosität als die meine, sich damit identifizieren zu können.

Das Rittertum, die grundlegende politische Idee der herrschenden Klasse, hinterließ eine ebenso große Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit wie die Religion. Das Ideal war die Vision einer Ordnung, die durch die Kriegerklasse aufrechterhalten wurde und in der Tafelrunde, der vollkommenen Form der Natur, ihr Sinnbild fand. Die Ritter König Artus’ zogen für das Recht gegen Drachen, Hexenmeister und Bösewichter, sie brachten Ordnung in eine verwirrte Welt. So sollten auch ihre lebenden Gegenstücke der Verteidigung des Glaubens dienen, der Gerechtigkeit, der Erlösung der Unterdrückten. In Wirklichkeit aber waren sie selbst die Unterdrücker, und im 14. Jahrhundert waren die Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit der »Männer des Schwertes« eine Hauptquelle der Unordnung. Wenn die Kluft zwischen dem Ideal und der Realität zu groß wird, bricht das System zusammen. Legenden und Geschichten spiegeln dieses Thema. Im Artusroman zerbricht die Tafelrunde von innen her. Das Schwert kehrt in den See zurück, die Geschichte beginnt von neuem. Der Mensch, gewalttätig, zerstörerisch, gierig und schwach, klammert sich an seine Vision der Ordnung und beginnt seine Suche von neuem.

Eine Anmerkung zum Geld

Die mittelalterlichen Währungen leiten sich ursprünglich von der libra (livre, pound oder Pfund) ab, einem Pfund reinen Silbers, aus dem 240 Silberpfennige geschlagen wurden. Später wurde der Schilling oder Sous (im Wert von zwölf Pfennigen) dem eingeordnet, wobei wiederum 20 Schillinge oder Sous ein Pfund ausmachten. Der Florin, Dukat, Franc (im Plural hier immer »Franken«, Anm. der Übers.), Livre, Écu, Mark und das englische Pfund waren alle theoretisch mehr oder minder soviel wert wie das ursprüngliche Pfund, obwohl im Laufe der Zeit ihr Gewicht und Goldanteil variierten. Dem Standard am nächsten kam eine Münze, die 3,5 Gramm Gold enthielt und in Florenz geschlagen wurde (der Florin). Dem entsprach der Dukat von Venedig. Wenn das Wort »Gold«- vor der Bezeichnung einer Münze auftaucht, wie in Goldfranc, Goldécu, Goldmouton etc., heißt das, daß es sich um Hartgeld handelte. Wenn die Währungsbezeichnung allein erscheint oder in Frankreich das Livre (hier immer Pfund, Anm. der Übers.) in einer seiner verschiedenen Formen – parisis, tournois, bordelaise , jeweils mit leichten Wertunterschieden –, handelt es sich bei der fraglichen Währung um Rechnungseinheiten, die nur auf dem Papier standen.

Nach diesem kurzen Blick auf die Komplikationen des Problems ist der Nichtspezialist, glaube ich, gut beraten, sich über diese Dinge keine Sorgen zu machen, denn die Bezeichnungen der Münzen und Währungen bedeuten ohnedies lediglich in Hinsicht auf ihre Kaufkraft etwas. Wenn ich die Bezahlung für den Unterhalt von Soldaten, die Löhne der Arbeiter, den Preis eines Pferdes oder eines Pflugs, die Lebenshaltungskosten einer bürgerlichen Familie erwähne, versuche ich ab und zu, die Zahlen auf reale Werte zu beziehen. Ich habe es nicht unternommen, verschiedene Währungen durch eine einzige auszudrücken, denn der Wert schwankte unablässig ebenso wie der Silber- und Goldanteil der Münzen. Darüber hinaus differierten Hartgeld und Geld als Rechnungseinheit auf dem Papier, auch wenn sie die gleiche Bezeichnung trugen. Ich habe deshalb in jedem Fall die Währung übernommen, die in den Dokumenten der Chronisten auftaucht, und möchte dem Leser nahelegen, diese Summenbezeichnungen ganz unproblematisch auf die grundlegende Einheit des Pfundes zu beziehen.

KAPITEL 1

»Ich bin der Sire de Coucy«: Das Geschlecht

Von der Spitze eines Hügels in der Picardie überragte die fünftürmige Burg von Coucy achtunggebietend den nördlichen Zugang nach Paris. Ob als Hüter oder Herausforderer der Monarchie, darüber war man sich in der Hauptstadt nicht im klaren. In der Mitte der Burg erhob sich ein mächtiger Rundturm auf die doppelte Höhe der vier Ecktürme. Das war der donjon. Der Turm war die zentrale Befestigung der Anlage, der größte in Europa, der stärkste, der je im Mittelalter oder danach erbaut wurde. Dreißig Meter im Durchmesser, sechzig Meter hoch, konnte er während einer Belagerung tausend Leute beherbergen. Der Bergfried überschattete und beschützte die Burg zu seinen Füßen, die zusammengedrängten Dächer der Stadt, den Glockenturm der Kirche und die dreißig Wachtürme der Wehrmauer, die den gesamten Komplex umschloß. Reisende aus allen Richtungen konnten diesen Beweis freiherrlicher Macht sehen, und sie empfanden schon Meilen entfernt die Ehrfurcht, die den Reisenden im Land der Ungläubigen beim ersten Anblick der Pyramiden ergriff. [Ref 4]

Von ihrer eigenen Größe überzeugt, hatten seine Bewohner das Innere des Bergfrieds in einem Maßstab ausgeführt, der den des normalen Sterblichen überstieg. Die Treppenstufen waren vierzig Zentimeter hoch, die Fenstersitze über einen Meter vom Boden, als ob sie für ein Geschlecht von Riesen bestimmt gewesen wären. Die Fensterstürze von zwei Kubikmetern Rauminhalt waren nicht weniger heroisch. Mehr als hundert Jahre hatte das Geschlecht, das sich in diesen Dimensionen widerspiegelte, seine Neigung zum Exzeß der Welt gezeigt. Ehrgeizig, gefährlich, häufig grausam, hatten sich die Coucys auf einem beherrschenden Hügelvorsprung niedergelassen. Von ihrer Burg aus kontrollierten sie den Durchgang vom Tal der Aillette zum größeren der Oise. Von hier aus hatten sie Könige herausgefordert und Kirchen geplündert, waren zu Kreuzzügen aufgebrochen, auf denen sie ihr Leben lassen mußten, hier hatten sie die Strafen für die Verbrechen, die sie begangen hatten, verbüßt. Sie wurden besiegt und exkommuniziert, aber sie vermehrten ihr Land, heirateten in die königliche Familie ein und nährten den Stolz, der »Coucy à la merveille!« [Ref 5] zu seinem Schlachtruf wählte. Sie zählten zu den vier großen Baronien Frankreichs, sie verachteten Adelstitel und gaben sich ein Motto von schlichter Arroganz:

Roi ne suis,Ne prince, ne duc, ne comte aussi;Je suis le sire de Coucy.(Nicht König bin ich, Nicht Prinz noch Herzog noch Graf, Der Herr von Coucy bin ich.)

1223 begonnen, stand die Burg in derselben architektonischen Tradition wie die großen Kathedralen, deren Ursprung ebenfalls in Frankreichs Norden zu finden ist. Vier der größten wurden in derselben Zeit wie die Burg der Coucys erbaut, in Laon, Reims, Amiens und Beauvais, allesamt im Umkreis von fünfzig Kilometern von Coucy. Dauerte es normalerweise fünfzig bis einhundertfünfzig Jahre, eine Kathedrale fertigzustellen, so wurden die umfangreichen Bauarbeiten in Coucy samt Bergfried, Befestigungsanlagen und unterirdischen Verbindungstunneln in dem erstaunlich kurzen Zeitraum von sieben Jahren unter dem unbeugsamen Willen eines einzigen Mannes, Enguerrand III. de Coucy, vollendet.

Die Fläche des Burgkomplexes betrug etwa zwei Morgen. Ihre vier Ecktürme, jeder von ihnen etwa dreißig Meter hoch und gut zwanzig Meter im Durchmesser, wurden zusammen mit den drei Außenmauern direkt an den Rand des Burghügels gebaut. Der einzige Zugang zu diesem Komplex war ein Wehrtor in der inneren Mauer. Es lag nahe dem Bergfried und wurde von zwei Wachtürmen geschützt, von Wassergraben und Fallgitter. Dieses Tor führte auf den »Place d’armes« hinaus, ein Gelände von etwa sechs Morgen, das Stallungen, Wirtschaftsgebäude, einen Turnierplatz und Weideflächen für die Pferde der Ritter beherbergte. Dahinter, wo sich der Hügel wie ein Schwalbenschwanz ausweitete, lag die Stadt mit ihren Häusern und der breittürmigen Kirche. Drei Wehrtore in der äußeren Befestigungsmauer, die den gesamten Hügel umgab, gaben den Weg in die Außenwelt frei. Auf der Südseite fiel der Hügel nach Soissons in einem steilen, leicht zu verteidigenden Abhang ab, auf der Nordseite, wo das Gelände in das Plateau von Laon auslief, versperrte ein breiter Wassergraben den Weg.

Innerhalb der sechs bis zehn Meter dicken Mauern verband ein spiralenförmiges Treppenhaus die drei Stockwerke des Bergfrieds. Ein offenes Loch oder »Auge« im Dach des Turms, das in jeder Etage sein Gegenstück hatte, spendete spärliche Beleuchtung, im Innern herrschte immer das Halbdunkel. Die Löcher in den Deckengewölben erlaubten es auch, Waffen und Verpflegung von Stockwerk zu Stockwerk zu hieven, ohne den beschwerlichen Weg über die Treppen machen zu müssen. Auf demselben Weg konnten mündliche Kommandos an die gesamte Besatzung erteilt werden. 1200 bis 1500 Bewaffnete konnten hören, was von der mittleren Plattform aus gerufen wurde. Der Bergfried hatte Küchen, die, wie ein beeindruckter Zeitgenosse sagte, »Kaiser Neros würdig« [Ref 6] waren. Auf dem Dach gab es einen Regenwasserfischteich, im Keller war eine Quelle; Backöfen, Lagerräume und große Feuerstellen mit Rauchabzug und Latrinen gab es in jedem Stockwerk. Unterirdische Gewölbegänge führten zu jedem Teil der Anlage, zum offenen Hof genauso wie zu den geheimen Ausgängen außerhalb der Befestigungsanlagen, durch die die belagerte Festung versorgt werden konnte. Von der Spitze des Turms konnte ein Beobachter die gesamte Gegend bis zum dreißig Kilometer entfernten Wald von Compiègne einsehen, wodurch Coucy auch gegen Überraschungsangriffe gesichert war. Diese Festung war sowohl in der Planung als auch in der Ausführung die perfekteste militärische Bastion des mittelalterlichen Europas, und sie hatte die kühnsten Ausmaße.

Ein durchgängiges Prinzip formte die Burg: Verteidigungsanlage statt Wohnsitz. Als Befestigung war sie ein Symbol mittelalterlichen Lebens, so beherrschend wie das Kreuz. In dem gewaltigen, alles andere als romantischen Bilderbogen des mittelalterlichen Lebens, dem Rosenroman, stellt die Burg der Rose die letzte Bastion dar, die genommen werden muß, um das Ziel der sexuellen Sehnsucht zu erreichen. In der Wirklichkeit zeugten die Befestigungsanlagen von der Gewalttätigkeit, die die mittelalterliche Geschichte prägte. Der architektonische Vorläufer der Burg, die römische Villa, war unbefestigt gewesen, vertraute dem römischen Recht und den Legionen, die ihr Schutzwall waren. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs entstand die mittelalterliche Gesellschaft als ein Komplex einander widerstreitender Teile, der keiner effektiven weltlichen Zentralmacht unterworfen war. Als organisatorisches Prinzip bot sich nur die Kirche an, und dies war der Grund ihres Erfolgs, denn die Gesellschaft kann die Anarchie nicht ertragen.

Aus dieser Turbulenz heraus begann sich eine zentrale weltliche Macht in Gestalt der Monarchie zu bilden, aber sie geriet, sobald sie wirksam wurde, auf der einen Seite mit der Kirche in Konflikt und auf der anderen Seite mit den Freiherren. Gleichzeitig entwickelte das Bürgertum der Städte seine eigene Ordnung und verkaufte seine Unterstützung an Barone, Bischöfe oder Könige als Gegenleistung für die Gewährung von Stadtrechten. Indem sie die Freiheit des Handels garantierten, kennzeichnen diese Bullen städtischer Rechte den Aufstieg des urbanen dritten Standes. Das politische Gleichgewicht zwischen den rivalisierenden Gruppen war instabil, weil der König keine bewaffneten Kräfte zu seiner ständigen Verfügung hatte. Er konnte lediglich auf die feudale Verpflichtung seiner Vasallen zurückgreifen, ihm begrenzte militärische Dienste zu leisten, die später durch bezahlte Söldner verstärkt wurden. Die Herrschaft war noch persönlich, leitete sich aus dem Lehen und dem Gefolgschaftsschwur her. Nicht die Beziehung zwischen Bürger und Staat, sondern die zwischen Lehnsmann und Herr war die geltende politische Verbindlichkeit. Der Staat lag noch in den Geburtswehen.

Durch seine günstige Lage im Mittelpunkt der Picardie war der Besitz Coucy, wie die Krone selbst anerkannte, »einer der Schlüssel zum Königreich« [Ref 7]. Von Flandern im Norden bis zum Ärmelkanal und den Grenzen der Normandie stellte die Picardie den Hauptzugang zum nördlichen Frankreich dar. Ihre Flüsse führten sowohl nach Süden in die Seine als auch nach Norden in den Ärmelkanal. Ihr fruchtbarer Boden machte sie zum wichtigsten Ackerbaugebiet Frankreichs mit Weiden und Weizenfeldern, mit Waldungen und schön gelegenen, wohlhabenden Dörfern. Die Rodung, der erste Schritt zur Zivilisation, hatte mit den Römern begonnen. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts bot die Picardie einer viertel Million Haushalten oder mehr als zwei Millionen Menschen Lebensraum, was sie neben Toulouse zur einzigen Provinz Frankreichs machte, die im Mittelalter bevölkerungsreicher war als heute. Die Bevölkerung war selbstbewußt und freiheitsliebend, ihre Städte waren die ersten, die Gemeinderechte erwarben. [Ref 8]

In der Grauzone zwischen Legende und überlieferter Geschichte war das Gut Coucy ursprünglich wohl ein Grundbesitz der Kirche, mit dem wahrscheinlich St. Remigius, der erste Bischof von Reims, von Chlodwig, dem ersten christlichen Frankenkönig, belehnt worden war. Das soll um das Jahr 500 geschehen sein. Nach seinem Übertritt zum Christentum hatte nämlich Chlodwig das Gebiet von Coucy seinem Täufer, dem Bischof der neuen Diözese von Reims, geschenkt. Er vollzog im kleinen, was Kaiser Konstantin mit seiner Schenkung getan hatte. Mit der Konstantinischen Schenkung war die Kirche sowohl staatlich etabliert als auch tödlich belastet. Wie William Langland schrieb:

Als die Großzügigkeit Konstantins der hl. Kirche Unterhalt gab, Durch Ländereien und Lehen, mit Herren und Dienern, Da hörten die Römer hoch im Himmel einen Engel weinen, »Dieser Tag der kirchlichen Schenkung hat Gift getrunken, und alle, die Petrus’ Macht gewinnen, sind vergiftet auf immer.«

Dieser Konflikt zwischen dem Streben nach göttlicher Gnade und der Versuchung der weltlichen Macht sollte zum zentralen Problem des Mittelalters werden. Der kirchliche Anspruch auf geistige Führung konnte niemals vor allen Gläubigen erfolgreich vertreten werden, wenn die kirchliche Macht auf weltliche Güter gegründet war. Je mehr Reichtümer die Kirche ansammelte, desto sichtbarer und störender wurde dieser Bruch, er konnte nie überbrückt werden, er weitete sich vielmehr aus und bestärkte Zweifel und Abweichung in jedem Jahrhundert.

In den frühesten lateinischen Dokumenten wurde Coucy »codicianum« oder »codiacum« genannt, was wahrscheinlich auf das Wort »codex, codicis« zurückzuführen ist, ein geschälter Baumstamm, wie er von den Galliern zum Bau von Palisaden benutzt wurde. Vier Jahrhunderte lang blieb dieser Ort im Schatten der geschichtlichen Ereignisse, bis dann im Jahre 910 oder 920 Hervé, Erzbischof von Reims, die erste primitive Befestigung auf dem Hügel erbaute, um die Invasion der Normannen in das Tal der Oise einzudämmen. Siedler, die hinter den bischöflichen Mauern Zuflucht suchten, gründeten die obere Stadt, die als Coucy-le-Château bekannt wurde, im Unterschied zu Coucy-la-Ville. In diesen wilden Zeiten war das Gebiet ein ständig umkämpftes Pfand zwischen Erzbischöfen, Baronen und Königen, die alle gleichermaßen kriegerisch waren. Der Kampf gegen die Invasoren, Mauren im Süden und Normannen im Norden, hatte ein Volk von hartgesottenen Kämpfern hervorgebracht, die untereinander ebenso streitlustig wie verteidigungsbereit gegen Außenseiter waren. 975 übergab Oderich, Erzbischof von Reims, das Lehen an einen Mann, der sich Graf von Eudes nannte und der erste Herr von Coucy wurde. Von dieser Person ist nichts bekannt, außer daß sie ihren Nachkommen einen Zug von ungewöhnlicher Stärke und Wildheit vererbte.

Die erste nennenswerte urkundliche Erwähnung des Geschlechts der Coucys war eher religiöser als kriegerischer Art. Es handelte sich um die Gründung der Benediktinerabtei von Nogent am Fuß des Hügels durch Aubry de Coucy im Jahre 1059. Diese Stiftung überschritt das übliche Maß des Dankes für geistliche Fürsprache bei weitem, sollte wohl die Bedeutung des Spenders unterstreichen und die Rettung seiner Seele erkaufen. Ob die anfänglichen Einkünfte der Abtei nun mager waren, wie der Abt Guibert klagte, oder nicht – das Kloster blühte auf und überlebte das aufstrebende Geschlecht der Coucys, das es durch ständige Spenden zunächst am Leben hielt.

Aubrys Nachfolger, Enguerrand I [Ref 9], war ein skandalumwitterter Mann, der nach Abt Guibert von einer Leidenschaft für Frauen besessen war (der Abt selbst war Opfer seiner unterdrückten Sexualität, wie er in den Confessiones enthüllte). Enguerrand erreichte mit Hilfe eines willfährigen Bischofs, der sein Vetter war, die Scheidung von seiner ersten Frau Adèle de Marle wegen Ehebruchs. Er war einer gewissen Sybil verfallen, der Frau eines Freiherrn aus Lothringen, die er heiratete, während deren Mann im Krieg war und sie selbst nach einer dritten Liaison schwanger war. Von Sybil de Marle sagte man, daß sie eine Frau von liederlicher Moral war.

In dieser unheiligen Familiensituation wuchs der »rasende Wolf«, Sohn der tugendhaften Adèle, auf (so wenigstens nannte ihn ein anderer berühmter Abt, Suger von St. Denis), Thomas de Marle, der berüchtigtste und wildeste der Coucys. Er haßte seinen Vater bitter, weil dieser die Vaterschaft in Zweifel gezogen hatte. Er nahm an dem endlosen Kampf teil, den der ehemalige Mann seiner Mutter Adèle gegen Enguerrand I. begonnen hatte. Diese Privatkriege wurden von den Rittern mit wilder Kampfeslust geführt, sie kannten nur eine einzige Strategie: den Feind dadurch zu bezwingen, daß man so viele Untertanen wie möglich entweder tötete oder verstümmelte, die Ernte vernichtete und Weinberge, Werkzeuge, Scheunen und anderen Besitz zerstörte, um die Einkünfte aus dem Lande zu reduzieren. Aus diesem Grund war die Bauernschaft das Hauptopfer der kriegführenden Parteien. Abt Guibert behauptete, daß in dem »unsinnigen Krieg« Enguerrands gegen den Lothringer den Gefangenen die Augen ausgestochen und die Füße abgeschlagen worden waren. Diese Privatfehden waren der Fluch Europas, und vielleicht sind die Kreuzzüge unbewußt auch deshalb erfunden worden, um ihnen ein Ende zu setzen und den Aggressionen ein anderes Ventil zu öffnen. Im Jahre 1095 folgten sowohl Enguerrand I. als auch sein Sohn Thomas dem großen Aufruf zum Ersten Kreuzzug zur Verteidigung des Heiligen Grabes und trugen ihren Haß aufeinander nach Jerusalem und zurück, ohne jede Verminderung. Das Familienwappen der Coucys leitet sich aus einem Heldenstück dieses Kreuzzugs ab, wobei unklar ist, ob der Ausführende Enguerrand oder Thomas war. Einer von ihnen wurde von Mohammedanern überfallen, als er und seine fünf Begleiter schon die Rüstung abgelegt hatten. Der Betreffende warf seinen Purpurmantel ab und zerriß ihn in sechs Streifen, die als Banner im Kampfgewühl dienten. So ausgerüstet, fielen die Männer über die Feinde her und vernichteten sie. Zum Gedenken an diese Tat wurde ein Wappenschild entworfen, das sechs horizontale Streifen trug, rot auf weißem Feld.

Im Jahre 1116 konnte Thomas [Ref 10] als Erbe seiner Mutter die Gebiete von Marle und La Fère dem Besitz der Coucys anschließen. Ungezähmt setzte er seine Fehden und Räubereien fort, bekämpfte Kirche, Stadt und König gleichermaßen, wobei ihm »der Teufel half«, wie Abt Suger klagte. Er raubte die Pfründe von Mönchsklöstern, folterte Gefangene (laut Überlieferung hängte er Männer an den Hoden auf, bis diese durch das Gewicht des Körpers abrissen), durchschnitt persönlich die Kehlen von dreißig aufständischen Stadtbürgern, verwandelte seine Burgen in »Drachennester und Räuberhöhlen« und wurde von der Kirche exkommuniziert, die ihm in Abwesenheit die Ritterwürde absprach und beschloß, daß dieser Bannspruch allwöchentlich in den Sonntagsgottesdiensten jeder Gemeinde der Picardie verlesen werden mußte. König Ludwig VI. stellte eine Streitmacht gegen Thomas zusammen, und es gelang ihm, geraubte Schlösser und Ländereien zurückzuerobern. Am Ende seines Lebens war auch Thomas gegen jene Hoffnung auf Erlösung und Furcht vor der Hölle nicht gefeit, die der Kirche durch die Jahrhunderte so viele reiche Erbschaften eingebracht hat. Er hinterließ der Abtei von Nogent eine großzügige Schenkung, gründete die nahe gelegene Abtei von Prémontré und starb 1130 im Bett. Er war dreimal verheiratet gewesen, und Abt Guibert hielt ihn für »den verderbtesten Menschen seiner Generation«.

Was einen Mann wie Thomas de Marle formte, war nicht unbedingt Veranlagung oder Vaterhaß, der in jeder Generation auftreten kann, sondern die Gewöhnung an eine Gewalttätigkeit, die sich ausbreiten konnte, weil es kein wirksames Organ der Kontrolle gab.

Erst im 12. und 13. Jahrhundert entwickelte sich eine solche Zentralgewalt, während sich die soziale Energie und die künstlerischen Talente Europas auf einen der größten Entwicklungsschübe der Zivilisationsgeschichte vorbereiteten. Ausgehend vom Handel, fand in den Künsten, der Wissenschaft, der Architektur, der Technik, den Banken und im Kreditwesen in den Städten und Universitäten ein Aufschwung statt, der neue Horizonte aufzeigte und das alltägliche Leben veränderte. Diese zweihundert Jahre waren das Hochmittelalter, das den Kompaß und das Uhrwerk einführte, das Spinnrad und den mechanischen Webstuhl, Wind- und Wassermühlen. Es war die Zeit, in der Marco Polo nach China reiste und Thomas von Aquin mit der scholastischen Ordnung der Wissenschaften begann, in der in Paris, Bologna, Padua und Neapel Universitäten gegründet wurden, in Oxford und Cambridge, in Salamanca und Valladolid, in Montpellier und Toulouse, in der Giotto menschliche Gefühle malte, Roger Bacon sich auf die experimentelle Wissenschaft warf und Dante seinen großen Entwurf menschlichen Schicksals in der Umgangssprache seiner Zeit schrieb. Es war die Zeit, in der die Religiosität sich sowohl in den Predigten des heiligen Franziskus wie auch in der Grausamkeit der Inquisition ausdrückte, in der der Kreuzzug gegen die Albigenser im Namen des rechten Glaubens den Süden Frankreichs in Blut tränkte, während die Kathedralen Bogen um Bogen gegen den Himmel strebten, Triumphe von Kreativität, Technologie und Glauben.

Sie wurden nicht mit Sklavenarbeit erbaut. Obwohl eine begrenzte Leibeigenschaft bestand, waren die Rechte und Pflichten der Leibeigenen durch Gewohnheitsrecht und Tradition geschützt, und die Arbeit der mittelalterlichen Gesellschaft wurde, anders als in der Antike, von ihren eigenen Mitgliedern ausgeführt.

 

In Coucy folgte nach dem Tod von Thomas eine sechzigjährige Periode respektablerer Herrschaft unter seinem Sohn Enguerrand II. und seinem Enkel Raoul I., die zu ihrem Vorteil mit der Krone zusammenarbeiteten. Beide folgten den Aufrufen zu den Kreuzzügen des 12. Jahrhunderts und verloren jeweils im Heiligen Land ihr Leben. Vielleicht aus finanziellen Schwierigkeiten heraus verkaufte die Witwe Raouls I. 1197 Coucy-le-Château die Gemeinderechte [Ref 11] für 140 Pfund.

Eine solche Demokratisierung war weniger ein Schritt auf dem Weg einer ständigen Liberalisierung, wie es die Historiker des 19. Jahrhunderts gerne gesehen hätten, als vielmehr ein zufälliges Nebenprodukt der adligen Leidenschaft, Krieg zu führen. Da er sich selbst und seine Gefolgschaft mit teuren Waffen, Rüstungen und Pferden ausstatten mußte, kam der Kreuzritter, wenn er überlebte, gewöhnlich ärmer nach Hause, als er aufbrach. Kam er nicht zurück, hinterließ er nicht selten ein geschmälertes Besitztum, da die Kreuzzüge außer dem ersten weder siegreich noch gewinnbringend waren. Die einzige Möglichkeit, das auszugleichen – da Landverkauf undenkbar war –, war der Verkauf von städtischen Rechten oder die Verwandlung von Dienstverpflichtungen und Frondiensten in Pacht. In der aufblühenden Wirtschaft des 12. und 13. Jahrhunderts brachten die Profite aus Handel und Ackerbau den Bürgern und Bauern die Mittel, um Freiheiten und Rechte durch Kauf zu erwerben.

In Enguerrand III.[Ref 12], genannt der Große, Erbauer der neuen Burg und des Hauptturms, tauchte die Maßlosigkeit der Coucys wieder auf. Von 1191 bis 1242 ließ er Burgen und Befestigungsanlagen auf sechs seiner Güter neben Coucy erbauen, einschließlich dem von St. Gobain, das fast so groß wie Coucy war. Er nahm an dem Gemetzel des Albigenserkreuzzugs teil und an jedem anderen Feldzug, der ihm nur irgendwie erreichbar war. Wie sein Großvater Thomas kämpfte er auch gegen die Diözese von Reims, eine Auseinandersetzung, die aus einem Streit über feudale Rechte erwuchs. Er wurde angeklagt, die Ländereien der Diözese geplündert, die Bäume gefällt, ihre Dörfer besetzt, sich gewaltsam Zugang zur Kathedrale verschafft, den Dekan in Ketten gelegt und die Geistlichkeit an den Bettelstab gebracht zu haben.

Als der Erzbischof von Reims 1216 Beistand beim Papst erflehte, wurde Enguerrand III. ebenfalls exkommuniziert, und den Priestern wurde befohlen, die Gottesdienste abzubrechen, wenn Enguerrand auftauchte. Eine Person unter dem Bann war von den Sakramenten ausgeschlossen und zur Hölle verdammt, bis sie ihre Taten bereute und von ihnen losgesprochen wurde. In schwerwiegenden Fällen konnte nur der Bischof und in einigen Fällen sogar nur der Papst den Bann aufheben. Während er in Kraft war, mußte der örtliche Priester den Fluch zwei- oder dreimal jährlich vor der Gemeinde im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes, aller Apostel und im Namen aller Heiligen aussprechen; dabei sollte die Totenglocke ertönen, die Kerzen mußten gelöscht werden, Kreuz und Meßbuch auf dem Boden liegen. Eigentlich sollte der Schuldige von allen sozialen Beziehungen isoliert werden, aber die Unannehmlichkeiten für alle Beteiligten waren so groß, daß sich die Nachbarn entweder darauf verlegten, sein Haus mit Steinen zu bewerfen, um ihn zur Reue zu bewegen, oder den Bann zu ignorieren. Im Falle Enguerrands III. war die Einstellung der Gottesdienste ein schrecklicher Urteilsspruch für die Gemeinden. Schließlich machte Enguerrand 1219 seinen Frieden mit der Kirche, nachdem er Buße getan hatte. Das aber milderte nicht seinen weltlichen Machtanspruch; er baute weiter seine mächtige Burg aus, die ihren Schatten bis nach Paris warf.

Die Eile, mit der er den Bau vorantrieb, ging auf die Erwartung zurück, einen Feldzug gegen den minderjährigen König Ludwig IX. zu führen, den späteren Ludwig den Heiligen. Enguerrand führte eine Liga von Baronen gegen die Krone und hegte nicht zuletzt, wie einige sagten, eigene Ambitionen auf den Thron. Durch seine Mutter, Alix de Dreux, die von Philipp I. abstammte, hatte er königliches Blut in den Adern. Der Hauptturm seiner Burg sollte den königlichen Turm des Louvre überragen als Zeichen seines Trotzes und seines Anspruchs. Aber die Mutter des Infanten widerstand der Bedrohung, obwohl der Herr von Coucy eine Kraft blieb, mit der gerechnet werden mußte. Durch Heiraten häufte dieser weiterhin Reichtümer und internationales Ansehen an. Seine erste und seine dritte Frau stammten aus benachbarten Adelsfamilien und brachten zusätzliches Eigentum in der Picardie in die Ehe. Seine zweite Frau war Mathilde von Sachsen, Tochter von Heinrich dem Löwen, Herzog von Sachsen, sie war Enkelin Heinrichs II. von England und Eleonores von Aquitanien, Nichte von Richard Löwenherz und Schwester Ottos von Sachsen, des späteren Kaisers des Heiligen Römischen Reiches. Enguerrands Tochter aus einer dieser Ehen heiratete Alexander II., König von Schottland.

Bei der Erbauung von Coucy beschäftigte Enguerrand etwa achthundert Steinmetzen, unzählige Ochsengespanne, um die Steine vom Steinbruch zum Bauplatz zu ziehen, und ungefähr achthundert weitere Handwerker, so z. B. Schreiner, Dachdecker, Schmiede, Anstreicher und Tischler. Über dem Tor zum Hauptturm wurde eine Reliefskulptur von einem mit einem Löwen kämpfenden Ritter ohne Rüstung angebracht, ein Symbol ritterlichen Muts. Eingelassene Kamine in den Wänden der Burg gehörten überall zur Ausstattung. Im Gegensatz zu einem einfachen Rauchabzug im Dach stellten diese Kamine einen technischen Fortschritt des 11. Jahrhunderts dar, der es durch die Beheizung einzelner Zimmer ermöglichte, daß sich die Herrschaften aus der Gemeinschaft zurückzogen, die sich in der Haupthalle um das offene Feuer versammelte, sie trennten die Herren von der Gefolgschaft. Die Erfindung erhöhte die Bequemlichkeit, allerdings auf Kosten der sozialen Gemeinschaft. In einem versteckten Winkel des zweiten Stockwerks lag ein kleiner Raum mit einem eigenen Kamin, vielleicht ein Boudoir für die Dame des Hauses. Von hier aus hatte sie einen weiten Blick über das Tal mit seinen Glockentürmen, die die Dörfer und ihre Baumgruppen überragten, und sie konnte die Leute auf der aufsteigenden Straße kommen und gehen sehen. Abgesehen von diesem winzigen Zimmer lagen alle Räume der Familie Coucy in dem Teil der Burg, der von außen am schwierigsten zu erreichen war.

Im Jahre 1206 erwarben die Bürger von Amiens, [Ref 13] der stolzen und florierenden Hauptstadt der Picardie, die schon auf eine hundertjährige Stadtgeschichte zurückblicken konnte, einen Teil des Kopfes von Johannes dem Täufer. Um dieser Reliquie einen würdigen Aufbewahrungsort zu geben, beschlossen sie, die mächtigste Kirche Frankreichs zu bauen, »höher als alle Heiligen, höher als alle Könige«. Um 1220 waren die Mittel gesammelt, und das erhabene Gewölbe der Kathedrale strebte gen Himmel. In derselben Zeit erbaute Enguerrand III. neben dem Hauptturm auch eine Kapelle, die größer war als die Heilige Kapelle, die Ludwig der Heilige ein paar Jahre später in Paris bauen sollte. Sie war reich geschmückt mit Malereien und Schnitzwerk, mit prachtvollen Gewölben und goldenen Verzierungen. Ihr Prunkstück aber waren die Glasmalereien der Fenster, die so schön waren, daß der größte Sammler des folgenden Jahrhunderts, Johann, Herzog von Berry, sie für 12 000 Goldécus zu erwerben trachtete.

Enguerrand war jetzt Feudalherr von St. Gobain, von Assis, von Marle, von La Fère, von Folembray, von Montmirail, von Oisy, von Crevecœur, von La Ferté-Aucoul und La Ferté-Gauche, Großherzog von Meaux und Burgvogt von Cambrai. Vor langer Zeit schon, 1095, hatte die Krone die Lehenshoheit über Coucy von der Kirche übernommen, und nur dem König schuldete der Burgherr Treue. Während des 12. und 13. Jahrhunderts prägten der Burgherr von Coucy und der Bischof von Laon ihre eigenen Münzen. Nach der Zahl der Ritter, die die königlichen Vasallen im Kriegsfall dem König stellen mußten, war Coucy zu dieser Zeit die größte Baronie Frankreichs und rangierte unmittelbar nach den großen Herzogtümern und Grafschaften, die bis auf die Gefolgschaft, die sie dem französischen König leisten mußten, praktisch unabhängige Fürstentümer waren. Nach einem Dokument von 1216 mußte Coucy 30 Ritter stellen im Vergleich zu 34, die das Herzogtum Anjou aufbringen mußte, und den 36 bzw. 47 Rittern des Herzogs der Bretagne und des Grafen von Flandern. [Ref 14]

Enguerrand III. starb 1242 ungefähr sechzigjährig, als sein eigenes Schwert ihn bei einem schweren Sturz vom Pferd durchbohrte. Sein ältester Sohn und Nachfolger, Raoul II., starb kurz darauf während jenes unglücklichen Kreuzzugs des heiligen Ludwig in Ägypten. An seine Stelle trat sein Bruder Enguerrand IV., eine Art mittelalterlicher Caligula, der durch eines seiner Verbrechen zum Veranlasser eines großen Fortschritts in der Sozialgesetzgebung seiner Zeit wurde.

Als er in seinen Wäldern einmal drei junge Edelleute aus Laon aufgriff, die zwar mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren, aber keine Hunde hatten, um größerem Wild nachzustellen, ließ Enguerrand sie ohne weiteres Verhör und ohne Prozeß sofort aufhängen. Da aber König Ludwig IX. ein Herrscher war, dessen Amtsführung seiner Frömmigkeit entsprach, war es nicht länger selbstverständlich, daß solche Delikte ungesühnt blieben. Der König ließ Enguerrand festnehmen, nicht standesgemäß von Adligen, sondern von den »Sergeanten« des Gerichts wie einen gewöhnlichen Verbrecher. Er wurde im Louvre eingekerkert, allerdings aufgrund seines hohen Rangs nicht in Ketten gelegt.

Bei seiner Verhandlung wurde Enguerrand von den größten Fürsten des Reiches begleitet, dem König von Navarra, dem Herzog von Burgund, den Grafen von Bar und Soissons und vielen anderen, die in dem Vorgang einen Angriff auf ihre Vorrechte sahen. Enguerrand weigerte sich, sich der Untersuchung zu unterwerfen, da sie seine Ehre, seinen Stand und seine adlige Abstammung verletze. Er forderte einen Urteilsspruch durch die Fürsten seines Ranges und verlangte ein Gottesurteil durch Zweikampf. Ludwig IX. wies diesen Anspruch fest zurück und bestand darauf, daß der Zweikampf in Fällen, die Arme, Kirchenleute oder »Personen, die unser Mitleid verdienen«, betreffen, nicht die richtige Verfahrensweise sei. Enguerrand wurde verurteilt, und obwohl der König ursprünglich das Todesurteil anstrebte, ließ er sich von den Fürsten überreden, darauf zu verzichten. Enguerrand wurde schließlich dazu verurteilt, eine Strafe von 12 000 Pfund zu bezahlen, die teils dazu diente, Messen für die ewige Seligkeit der Gehängten lesen zu lassen und teils nach Akkon geschickt wurde, um der Verteidigung des Heiligen Landes förderlich zu sein. Damit war ein Kapitel Rechtsgeschichte geschrieben worden, das später bei der Heiligsprechung Ludwigs IX. als Begründung herangezogen werden sollte.

Der Reichtum der Coucys versetzte Enguerrand IV. in den Stand königlicher Gnade zurück, als er König Ludwig 1265 15000 Pfund lieh, um zu kaufen, was man für das wahre Kreuz hielt. Abgesehen davon setzte er seinen gewalttätigen Lebenswandel in das 14. Jahrhundert hinein fort und starb im hohen Alter von 75 Jahren im Jahre 1311, ohne Nachkommen, aber nicht ohne eine fromme Stiftung. Er hinterließ dem Leprosarium von Coucy-la-Ville »in alle Ewigkeit« jährlich 20 Sous (ein Pfund), damit die Insassen »jedes Jahr für uns und unsere Sünden beten«. Zwanzig Sous [Ref 15] waren zu der damaligen Zeit die tägliche Entlohnung für einen Ritter oder vier Bogenschützen oder die zwanzigtägige Miete für einen Ochsenkarren oder ein doppeltes Jahresentgelt für einen bezahlten Bauern. So darf angenommen werden, daß es auch eine stattliche Anzahl von Gebeten bedeutete, wenn auch vielleicht nicht genug für eine Seele wie die Enguerrands IV. Als dieser unbetrauerte Fürst starb, hinterließ er, obwohl zweimal verheiratet, keine Erben, und der Titel ging an die Nachkommen seiner Schwester Alix, die mit dem Grafen von Guînes verheiratet war. Ihr ältester Sohn erbte Land und Titel der Guînes, während ihr zweiter Sohn Enguerrand V. der Herr von Coucy wurde. Am Hof von Alexander von Schottland, seinem Großonkel, aufgezogen, heiratete er Catherine Lindsay von Baliol, eine Nichte des Königs, und herrschte zehn Jahre. In schneller Folge kamen nach ihm sein Sohn Guillaume und sein Enkel Enguerrand VI., der den Besitz 1335 erbte und fünf Jahre später Vater von Enguerrand VII. werden sollte, dem letzten der Coucys und dem Helden dieses Buches. Durch weitere Heiraten mit mächtigen Familien aus Nordfrankreich und Flandern schufen die Coucys sich weitere starke und einflußreiche Verbindungen und erwarben Ländereien, Geldquellen und einen Wald von Bannern. Sie konnten zwölf Wappen vorweisen Boisgency, Hainault, Dreux, Sachsen, Montmirail, Roucy, Baliol, Ponthieu, Châtillon, St. Pol, Geldern und Flandern.

Die Coucys hielten in ihrem Stolz hof wie große Fürsten. Sie hielten Gericht nach Art des Königs und unterhielten ihr Haus mit denselben Bediensteten wie der König: ein Waffenmeister, ein Hofmarschall, ein Jagdaufseher und Falkner, ein Stallmeister, ein Förster, ein Küchenchef oder Oberkoch, ein Bäckermeister, ein Meister der Vorratskeller, der Fruchtlagerung (einschließlich Gewürze, Fackeln und Kerzen für die Beleuchtung) und ein Meister des Mobiliars (außerdem verantwortlich für die Teppiche und das Hoflager auf Reisen). Ein Feudalherr dieses Ranges beschäftigte gewöhnlich auch noch einen oder mehrere Ärzte, Friseure, Priester, Maler, Musiker, Sänger, Sekretäre und Schreiber, einen Astrologen, einen Hofnarren und einen Zwerg, daneben Pagen und Edelleute. Ein verdienter Lehnsmann arbeitete als Haushofmeister, als Châtelain oder Garde de Château, er leitete das gesamte Anwesen. Fünfzig Ritter, ihre Knappen, Begleiter und Diener bildeten in Coucy zusammen eine ständige Besatzung von fünfhundert Leuten.

Äußere Pracht war als Statuszeichen unentbehrlich, und das bedeutete eine große Gefolgschaft in der Livree des Fürsten, aufwendige Feste, Turniere, Jagden, Lustbarkeiten und vor allem großzügige Geschenke und eine verschwenderische Hofhaltung, die, weil das Gefolge davon lebte, als die meistbewunderten Attribute eines Adligen galten.

Der Adelsstand war den Rittern von Geburt und Abstammung zu eigen, aber er mußte durch ein »edles Leben« bestätigt werden, und das hieß ein Leben für das Schwert. Ein Adliger stammte von adligen Eltern, Großeltern und Vorfahren ab, die sich bis zu den ersten Rittersleuten zurückverfolgen ließen. In Wirklichkeit waren die Abstammungslinien aber nicht so deutlich und die Standeszugehörigkeit weniger gesichert und eher fließend. Das eine sichere Kriterium war die Funktion – und das war der Gebrauch von Waffen. Das war die dem zweiten der drei von Gott geschaffenen Stände zukommende Funktion. Alle drei Stände hatten eine feste Aufgabe zum Wohle des Ganzen. Der Kirchenmann sollte für alle Menschen beten, der Ritter für sie kämpfen, und die einfachen Menschen sollten arbeiten, damit sie alle zu essen hatten.

Da sie Gott am nächsten standen, rangierten die Geistlichen auf der obersten Stufe. Sie waren in zwei Hierarchien geteilt, die klösterliche und die weltliche, was für die letzteren bedeutete, daß sie ihre Aufgaben unter den Laien wahrzunehmen hatte. An der Spitze beider Hierarchien standen die Prälaten – Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe, das geistliche Gegenstück zu den weltlichen Fürsten. Ein Prälat und ein armer, ungebildeter Priester, der von Almosen lebte, hatten nur wenig gemeinsam. Der dritte Stand war noch weniger homogen, da er sowohl Dienstleistende und Arbeiter als auch die Gesamtheit der städtischen Würdenträger umfaßte, die Rechtsanwälte und Ärzte, die Zunfthandwerker, die Tagelöhner und Bauern. Nichtsdestoweniger bestand der Adel darauf, alle Nichtadligen als Gemeine zusammenzuwerfen. Ein Adliger vom Hofe des letzten Herzogs von Burgund schrieb, daß »die Städte, Handelsleute und Handwerker« nicht lange beschrieben werden müßten, da »ihnen wegen ihres dienenden Rangs keine großen Attribute zukommen«.

Die Aufgabe des Adelsstandes war theoretisch nicht das Kämpfen um des Kämpfens willen, sondern die Verteidigung der anderen beiden Stände und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Der Adlige sollte das Volk vor Unterdrückung schützen, die Tyrannei bekämpfen und der Tugend huldigen, das hieß, die höheren Ideale der Menschheit verwirklichen, zu denen die schmutzigen, unwissenden Bauern von ihren christlichen Zeitgenossen – im Gegensatz zum Begründer des Christentums – nicht für befähigt gehalten wurden.

Ein Mann von Adel liebte sein Schwert als Symbol seiner Identität. »Keiner von uns hat einen Vater, der zu Hause starb«, deklamierte ein Ritter des 13. Jahrhunderts in seinem chanson de geste, »alle starben sie in der Schlacht des kalten Stahls.«

Der Pferderücken war der Platz des Ritters, ein erhöhter Sitz, der ihn über die übrigen Menschen stellte. In jeder Sprache außer der englischen (»knight«) bedeutet das Wort Ritter einen Mann auf dem Pferderücken. »Ein tapferer Mann auf einem guten Pferd«, so hieß es, »erreicht in einem einstündigen Kampf mehr, als zehn oder hundert Fußsoldaten könnten.« Der »Destrier«, das Schlachtroß, wurde gezüchtet, »schnell, wild, stark und treu« zu sein, und wurde nur im Kampf geritten. Während der Reise ritt der Ritter sein Reitpferd, auch mit großer Sorgfalt gezüchtet, aber von ruhigerem Temperament, während der Knappe das Schlachtroß mit der rechten Hand führte; daher stammt auch sein Name, »Destrier« von dexter, rechts. Im Militärdienst wurden der Ritter und sein Pferd als untrennbar angesehen, denn ohne Pferd war der Ritter nur ein Mann. [Ref 16]

Die Schlacht war sein Entzücken. »Wenn ich schon einen Fuß im Paradies hätte«, verkündete Lohengrin, der Held eines chanson de geste, »zöge ich ihn zurück, um zu kämpfen.« Der fahrende Sänger Bertrand de Born, selbst adlig, wird noch deutlicher:

Mein Herz ist glückerfüllt, wenn ich sehe, Wie stolze Burgen belagert werden, Palisaden fallen und überwunden werden, Wenn Vasallen erschlagen auf dem Boden liegen, Wenn die Pferde der Toten ziellos kreisen. Und wenn dann der Kampf beginnt, darf jeder edle Mann Nur an das eine denken, an splitternde Arme und Schädel. Es ist besser zu sterben als besiegt zu leben. Ich sag euch, es gibt keine größere Lust, als von beiden Seiten den Ruf »Voran! Voran!« zu hören und das Wiehern der reiterlosen Hengste. Und das Stöhnen »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Und wenn ich sie dann fallen sehe , Große und Kleine in Gräben und in das Gras, Und die Toten, von Speeren durchbohrt! Ihr Herren, verpfändet Haus und Hof, eure Burgen und Städte, Aber laßt nicht ab vom Kampf!

Dante schildert Bertrand in der Hölle, [Ref 17] wie er seinen abgetrennten Kopf als Laterne vor sich herträgt.

Aus seinem Grundbesitz und seiner Zinsherrschaft leitete der Adlige sein Recht ab, über alle Gemeinen seines Gebiets mit Ausnahme der Geistlichkeit und der Kaufleute freier Städte zu herrschen. Die Autorität der »großen Herren« reichte bis zur höchsten Gerichtsbarkeit über Leben und Tod, während die Macht der einfachen Ritter nur bis zu Gefängnis-, Prügel- und Geldstrafen ging. Die Grundlage und Rechtfertigung dieser Verhältnisse bestand in der Schutzherrschaft, die sich in dem Schwur des Herrn an seine Untertanen ausdrückte. Dieser war theoretisch ebenso bindend wie der Treueschwur der Untertanen selbst, ihr Schwur galt »nur, solange der Fürst den seinen hielt«. Die politischen Verhältnisse des Mittelalters waren im Idealfall ein Vertrag wechselseitiger Abhängigkeit, der für Dienst und Treue Schutz, Gerechtigkeit und Ordnung vorsah. Und wie der Bauer Naturalien und Arbeitskraft schuldete, so war der Fürst zu Hofdiensten bei seinem Oberherrn verpflichtet, als Berater im Frieden und als Kämpfer im Krieg. In allen Fällen war der Landbesitz der Bezugspunkt, und der Treueschwur war für beide Seiten verbindlich, Könige eingeschlossen.

Nicht alle Adligen waren große Herren wie die Coucys. Aber ein armer Ritter, der nur ein kleines Lehen und ein knochiges Pferd besaß, pflegte denselben Kult, wenn auch nicht dieselben Interessen wie ein Landesherr. Der gesamte Adel Frankreichs umfaßte an die 200 000 Personen in 40 000 bis 50 000 Familien, die ungefähr ein Prozent der Bevölkerung ausmachten. Die Abstufung reichte von den großen Herzogtümern mit einem Ertrag von mehr als 10 000 Pfund jährlich über die kleineren Burgherren mit ein oder zwei Vasallen und einem Einkommen von unter 500 Pfund bis zu den armen Rittern, die niemandes Herr waren und nur ein Haus und ein paar Felder hatten wie ein Kleinbauer.

Ein Knappe gehörte zwar von Geburt an dem Adelsstand an, ob er nun Ritter wurde oder nicht, aber dennoch wurden die Gerichte des öfteren angerufen, um festzustellen, welche Aufgaben ein Edelmann versehen konnte, ohne seinen Adelsstand zu verlieren. Konnte er zum Beispiel Wein von seinem Weinberg verkaufen? Das war eine delikate Frage, da die Könige den ihren regelmäßig verkauften. In einem 1393 zur Entscheidung dieser Frage vorgebrachten Fall bestimmte die königliche Verordnung höchst zweideutig, daß es »für einen Adligen nicht standesgemäß sei, eine Weinstube zu betreiben«. Einem anderen Urteil zufolge konnte ein Adliger Handel treiben, ohne seinen Stand zu verlieren. Söhne von adligen Vätern waren bekannt, »die davon leben und gelebt haben, Stoffe, Getreide, Wein und andere Handelswaren zu vertreiben, oder als Krämer, Kürschner, Schuhmacher oder Schneider ihr Auskommen gefunden haben«, aber dergleichen Aktivitäten wird sie zweifellos ihre Privilegien als Adlige gekostet haben. [Ref 18]

Der Kern dieses Problems wurde von Honoré Bonet verdeutlicht, einem Geistlichen des 14. Jahrhunderts, der in seinem Baum der Schlachten den tapferen Versuch unternahm, den Sittenkodex militärischen Verhaltens festzulegen. Der Grund für die Beschränkung kaufmännischer Unternehmungen liege darin, so schrieb er, daß »der Ritter durch das Streben nach Reichtum keinen Grund finden soll, seinen Waffendienst zu vernachlässigen«.

Solche Definitionsfragen wurden dem Geburtsadel in dem Maße wichtiger, wie ihr Status durch die Erhebung von Außenseitern in den Adel verwässert wurde. Die Krone hatte nämlich in der Gewährung von Stadtrechten und in der Belehnung von Gemeinen mit Ländereien eine lukrative Einnahmequelle entdeckt. Die Geadelten waren zumeist erfolgreiche Männer, die die Geldbedürfnisse des Königs befriedigten, oder sie waren Rechtsanwälte oder Notare, die dem König zunächst bei seinen zahlreichen Finanz-und Regierungsgeschäften auf den unterschiedlichsten Ebenen geholfen hatten.

Als die Regierungsgeschäfte immer komplexer wurden, entstand so nach und nach eine Gruppe von Berufsbeamten und Ministern der Krone. Männer dieser Gruppe wurden in den Dienstadel erhoben im Unterschied zum Schwertadel und wurden von den alten Adelsfamilien als Emporkömmlinge verachtet.