Der Flug der Wildgänse - Nicole Erler - E-Book

Der Flug der Wildgänse E-Book

Nicole Erler

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Beschreibung

Das Leben: Ein dynamischer Strom, in dessen Fluss nichts beständig und jedes Atom mit allen anderen verbunden ist, um zu einem einzigen großen Schicksal zu verschmelzen. Eine junge Frau, die nackt in einem Hotelzimmer aufwacht, weil ihr Kleid mit Tränen durchtränkt war. Ein junger Mann, der während einer Zugfahrt in einem 6er-Abteil die tragische Liebesgeschichte zur Frau seines Lebens aufrollt und eine junge Journalistin, die einem Traum nachjagt, an den sie bis zuletzt selbst nicht mehr glaubt. Drei Kurzgeschichten über das Leben.

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EPUB

Seitenzahl: 37

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Der Flug der Wildgänse

Der Flug der WildgänseAlles ChemieHeimatlosDie dunkle StundeImpressum

Der Flug der Wildgänse

Wildgänse leben in großen Kolonien und zeigen eine außerordentliche Partnertreue. Gemeinsam wechseln sie im Langstreckenflug im Verlauf des Jahres zwischen Brut- und Überwinterungsrevier.

Wenn sie sich auf dem Zug befinden, bilden sie in ihrem Gemeinschaftsflug ein charakteristisches V am Himmel, das sich stetig verändert, weil einzelne Gänse ihre Plätze innerhalb der Formation immer wieder wechseln.

Ein dynamischer Strom, in dessen Fluss nichts beständig und jedes Atom mit allen anderen verbunden ist, um zu einem einzigen großen Schicksal zu verschmelzen.

Alles Chemie

Ich bin nackt. Das ist das Erste, was ich bemerke. Obwohl diese Tatsache mich verwundert – schließlich schlafe ich niemals nackt – denke ich zunächst nicht weiter darüber nach.

Eine dünne Daunendecke liegt auf meinem Körper. Der Bezug ist glatt und weich. Wenn ich mich bewege, weichen die von meiner Haut angewärmten Stoffstellen, kühlen neuen Stoffecken, die sich mit mir anfreunden. Das gefällt mir.

Ich halte meine Augen geschlossen, sauge die trockene Luft ein, die mich umgibt und erinnere mich an den Traum, den ich vor dem Aufwachen träumte: Ich lief einen Berg hinauf, einen geteerten Weg, mitten in der Stadt. Oben auf der Anhöhe verlief eine Allee, starke Eichen reihten sich aneinander. Die Baumkronen standen voll im Grün, das von Laternenlicht beleuchtet war. Es war Sommer. Ein Mann in einem schwarzen Anzug kam mir entgegen - ich kann mich an sein Gesicht nicht erinnern. Ich lachte. Er sah glücklich aus.

Er steuerte direkt auf mich zu und umarmte mich. Lang. Eine Ewigkeit. Zuerst konnte ich mich nicht bewegen. Dann wollte ich mich nicht bewegen. Er hielt mich fest und ein Gefühl von Frieden breitete sich in mir aus. Ich wollte nun für immer so stehen. Meine Beine wurden nicht schwer. Er stütze mich, und wir schwebten fast über dem Erdboden. Ich wollte nur noch diese Umarmung.

Doch dann bin ich aufgewacht. Ich weiß, dass bald die Erinnerung an dieses Gefühl schwinden wird. Ich lächele und beschließe, freiwillig die Augen zu öffnen. Meine Lider sind schwer. Die Haut um meine Wimpern spannt. Erst jetzt bemerkt ich, wie meine Augen brennen.

Ich erschrecke. Nicht wegen dem Brennen, sondern weil ich unerwartet in zwei dunkelbraune Augen blicke, die mich direkt anschauen.

Ich weiche zurück und falle fast aus dem Bett. Zwei Hände ergreifen die meinen, um mich oben zu halten.

Er lässt mich sofort wieder los, als keine Gefahr mehr besteht zu fallen. Jetzt denke ich wieder daran, dass ich nackt bin. Und, dass eine Daunendecke auf mir liegt, obwohl ich nie eine besessen habe.

„Wieso bin ich nackt?“ frage ich den Mann, der mir gegenüber sitzt.

„Ich musste dir dein Kleid ausziehen, es war durch und durch nass. Du hättest dich vielleicht erkältet.“ Er lächelt. Ich glaube ihm.

„Wieso war mein Kleid nass?“

„Deine ganzen Tränen, es war nass geweint. Wir könnten heute sicher ein halbes Kilo Salz daraus gewinnen. Es liegt dort hinten über der Stuhllehne.“ Er zeigt auf einen Holzstuhl, der neben einem kleinen Tisch steht. Mein Kleid hängt bis knapp über dem Boden. Ich stelle mir einen kleinen Haufen von Salz vor, der sich neben dem Stuhlbein gebildet hat.

„Wieso habe ich geweint?“ Ich kann mich nicht erinnern.

Er fängt an zu erzählen.

„Ich fuhr in der Straßenbahn. Ich war auf dem Weg nach Hause, es war zwei Uhr nachts ungefähr. Ich kam von einer Hochzeit, eine Cousine zweiten Grades. Das Fest war langatmig, ich hatte zwar ein paar Verwandte getroffen, die ich seit der Beerdigung meiner Mutter nicht mehr gesehen hatte, aber irgendwann wurde mir langweilig. Ich beschloss, nach Hause zu laufen. Die Nacht war angenehm. Ich nahm mir vor, die Stadt bis zu meiner Wohnung zu Fuß zu durchqueren, aber irgendwann merkte ich, dass ich mir eine Blase gelaufen hatte. Meine neuen Schuhe, extra für die Hochzeit, der Anzug ist auch neu.“

Er zeigt auf seine Hose. Erst jetzt wird mir klar, dass ich die einzige bin, die nichts an hat. Er trägt neben der schwarzen Hose, die sich fließend an seine Beine anschmiegt, ein schrecklich zerknittertes rotes Hemd. Auf dem roten Stoff zeichnen sich unregelmäßig verteilt, lauter weiße Kreise ab. Ich erkenne sie sofort als Salzkreise. Ich sehe ihm in die Augen und nicke mit dem Kopf, um zu signalisieren, dass ich verstehe. Er fährt fort.