Der Fluß der Zeit - Georg Eberle - E-Book

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Georg Eberle

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Beschreibung

Janica, die Tochter eines jüdischen Arztes, lebt zur Zeit des 30jährigen Krieges in Magdeburg. Sie er- und überlebt die Grausamkeiten des Sturmes der kaiserlichen Truppen auf die Hansestadt. In den Tagen des Krieges lernt sie einen jungen Hauptmann kennen, der die Liebe ihres Lebens wird. Wird diese Liebe die Stürme der Zeit überstehen? Welches Schicksal werden die jungen Menschen teilen?

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Georg Eberle

Der Fluß der Zeit

Historicl

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Prolog

PROLOG

 

Das Hochwasser war zum Glück vorbei. Die Schäden hatten nicht die Ausmaße wie in anderen Städten. Die Magdeburger sind mit einem blauen Auge davongekommen! Die Elbe 'verhielt' sich hier einigermaßen gnädig.Im Café 'Alt Magdeburg' saß Arnold und wartete auf Lisa.Es hatte eine Weile gedauert, bis die Kollegin auf seine Werbungen einging und seine Einladung annahm. Sie war sehr hübsch und er wird alles versuchen, sie für sich zu gewinnen. Vor einem halben Jahr, nach Abschluss ihres Studiums in Münster, kam sie aus Nordrhein-Westfalen in das Landeskriminalamt nach Magdeburg. Heute, am Sonntag treffen sie sich endlich. Er wird einen schönen Tag mit ihr haben.Das Handy klingelte:

“ Hallo Arnold! Ich bin es, Lisa. Du musst ins LKA kommen. Wir beide haben einen Auftrag bekommen. Es tut mir leid, wir können uns nun doch nicht treffen.“

„Warum, wir treffen uns doch! Wohl nicht am vorgesehenen Ort, aber immerhin! Kannst du sagen worum es geht?“ wollte Arnold wissen.

„Fund zweier skelettierter Leichen auf den Elbwiesen. Aber komm in die Dienststelle.“Nach einer Stunde waren Luise und Arnold am Ort des Geschehens. Das Hochwasser hatte zwei vollständige menschliche Skelette nahezu freigelegt. Am Kopfende eines Skelettes lag ein großer Stein.

„Es können keine Wasserleichen sein,“stellte Lisa fest. Sie war die Pathologin.

„Es sieht eher aus, als wären sie hier begraben worden,“ ergänzte Arnold mit seiner Erfahrung.

„Begraben? Hier am Elbufer?“ fragte Lisa erstaunt. „Dann kommt wohl nur ein Verbrechen in Frage!“

„Nicht unbedingt! Magdeburg wurde im Krieg bombardiert. Beide Skelette liegen fast in Bestattungshaltung. Welcher Verbrecher macht sich die Mühe und ordnet seine Opfer wie zur Bestattung. Sieh, die Hände sind auf dem Körper gekreuzt.“

„Aber, wenn sie Bombenopfer wären, müssten sie Verletzungen aufweisen, von Splitterwirkungen oder Brandverletzungen und ähnlichem.“

„Das ist dein Metier. Du bist Pathologin.“Arnold, der das Sagen vor Ort hatte, wies an, dass beide Skelette geborgen werden und in die Pathologie des LKA geschafft werden. „Vorher bitte noch gründliche Absuche nach Indizien, fotografische Aufnahmen vom Fund und vom Fundort meine Herren!“ befahl er noch, dann wurde sein Blick auf etwas Grünes im Erdreich unmittelbar bei einem Skelett gelenkt. Er beugte sich nieder. Es war ein geschliffener Edelstein. Er lag auf Höhe des Brustwirbels. 'Es ist wahrscheinlich das Skelett einer Frau,' dachte Arnold, 'aber das wird seine Kollegin herausfinden. Nur, wo hatte er so einen Stein schon einmal gesehen?'Nach zwei Stunden waren die Untersuchungen vor Ort, die ihre Anwesenheit erforderten, beendet. Den Rest, sowie die Überführung der Skelette und die Spurensicherung konnten die Kameraden übernehmen. „Dann können wir uns ja doch noch treffen!“ bemerkte Arnold linkisch. Lisa lachte. Sie verabschiedeten sich von den Anderen und schlenderten der Elbpromenade entgegen.

„Frau Lisa Groß, ich gebe mir die Ehre sagte Arnold gespielt galant und reichte Lisa hilfreich die Hand. Langsam gingen sie in Richtung Stadt, Hand in Hand.

 

Das Inferno einer Stadt

Das Inferno einer Stadt

 

Der Sitzungssaal des Rathauses brodelte. Die Diskussion nahm kein Ende. Ständig wiederholten sich Argumente und Gegenargumente und es drohte Gefahr, dass wieder einmal keine bindenden Beschlüsse durch den Magdeburger Rat gefasst werden. Plötzlich donnerte die Stimme des Ratsvorsitzenden:

“Herr Gericke, könnt Ihr die Garantie geben, dass Magdeburg ausreichend vorbereitet ist, um den zu erwartenden Ansturm der Kaiserlichen tapfer zu widerstehen? Und Ihr Eure Exzellenz Herr von Falckenberg, könnt Ihr garantieren, dass uns König Adolf von Schweden rechtzeitig mit Truppen zur Unterstützung eilen wird ?“ Stille trat ein ! Es war so still, dass man das Geschehen auf den Straßen Magdeburgs vernehmen konnte.

Nach kurzer Weile antwort die kräftige Stimme Gerickes:„Eure Magnifizenz, wir haben durch unsere beauftragten Agenten in Suhl die neuesten Schlangen kaufen lassen. Es ist uns gelungen sie mittels Pferdefuhrwerke und letztlich per Schiff über die Elbe, vom Feinde unbemerkt in die Stadt zu verfrachten. Wenn die Schreiner unserer Stadt demnächst die Protzen verfertigt haben und die Kanonen fertigt montiert sind, werden derer 30 Stück über die Stadt verteilt zusätzlich in die Mauern eingegliedert.“

„Das ist eine horrende Fehlinvestition die der Beauftragte Gericke da gemacht hat !“ schrie plötzlich Ratsmitglied Uhlemann dazwischen.“Er kaufte Schlangen mit wesentlich kleinerem Kaliber. Wie sollen die unsere Abwehr stärken, wenn sie den Feind wegen der Kürze ihrer Reichweite viel näher an die Mauern heranlassen? Wir wären besser dran, wenn wir dem Kaiser und Wallenstein gleich die geforderte Summe gegeben! Unsere Taler sind so oder so weg.“

„Ihr irrt Uhlemann!“ konterte nun von Falckenberg. „Die Geschütze haben durchaus gleiche Reichweite wie großkalibrige, im Gegenteil, bei gleichgroßer Ladung ist der Schuss wegen der kleineren Kugel sogar länger. Der Vorteil dieser Kanon's ist ihre höhere Manövrierfähigkeit. Werden sie an anderer Stelle gebraucht, können sie mit geringerer Kraft verfrachtet werden. Die kleineren Geschosskugeln lassen die Kanoniers nicht so schnell erlahmen. Diese Vorteile haben im Übrigen auch die Kaiserlichen erkannt, die ebenfalls solche Geschütze immer mehr in ihr Heer eingliedern. Was Eure Taler anbelangt, so müsst selbstverständlich Ihr entscheiden. Sind Euch Ehre und Religion wichtig, müsst Ihr kämpfen, wollt Ihr einen Frieden, der keiner sein wird, müsst Ihr zahlen.“

„Und wie sieht es aus mit den Kanoniers?“ fuhr Uhlemann erneut dazwischen. „Wie viele habt Ihr bisher ausgebildet, Ihr benötigt mindestens 100 Leuth für diese Aufgabe.“

Gericke meldete sich an den Ratsvorsitzenden gewandt zu Wort.„Eure Magnifizenz, wir haben 120 geeignete Männer gemustert, mit deren Belehrung wir demnächst beginnen. Im Weiteren lehren wir auch Männern der Bürgerwehren mit Unterstützung der in der Stadt weilenden schwedischen Soldaten die Handhabung von Piquet, Degen, Pistolet's und Musketen. Euer Ehren, ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass sich auch viele Weibsbilder für die Bürgerwehren meldeten.“

„Die Weiber lassen wir dann doch mal außen vor!“ kam die Antwort vom Ratsvorsitzenden mehr schmollend als aus Überzeugung, „sie sollen die Kinder in Sicherheit bringen und unsere Kämpfer bekochen und versorgen. Ich wende mich nochmals an Euch, Herr Oberst von Falkenberg, wann und mit wie viel Mann wird uns Gustav Adolf von Schweden unterstützen?“

„Es wird schwierig, Eure Magnifizenz, das Heer des Königs von Schweden war bei Frankfurt an der Oder in schwere Kämpfe gegen die Kaiserlichen verwickelt, wohl siegreich, aber doch stark geschwächt. Ein sofortiger Marsch gen Magdeburg, um Hilfe zu leisten, ist daher unwahrscheinlich.Mein König,Gustav Adolf, gab mir jedoch die Aufgabe, bei Willen der Stadt sich zu verteidigen, meine Gesandtenmission in die eines Feldherren umzuwandeln, der die Mannen in der Verteidigung der Stadt anführet. Vertrauend auf Gerickes Vorbereitungen und der Entschlossenheit von Rat und den Bürgern der Stadt wird uns das trefflich gelingen, dafür gebe ich mein Wort.“

Mit Häme wandte sich Uhlemann nun an den Ratsvorsitzenden:“Ha, da sendet uns der König der Schweden stattliche Verstärkung, e i n Mann! Nein, nein Eure Magnifizenz, wir tun am Bürger das Beste, wenn wir die Stadt den Kaiserlichen öffnen und den geforderten Tribut zahlen!“ brüllte er regelrecht heraus.

Tumult erhob sich nun bis zum Äußersten. Ob Fürsprache oder Gegenwehr war nicht mehr feststellbar. Es wurde nun nicht mehr diskutiert, sondern regelrecht gestritten, und es bestand Gefahr, dass dieser Streit auch mit Gewalt fortgesetzt wird. Der Ratsvorsitzende fühlte sich genötigt, die Ordnung wieder herzustellen. Vehement schlug er sein Symbol der Macht, den Sitzungshammer auf den Tisch. Indes,es gelang ihm wenig und so nahmen Für und Wieder lautstarke Fortsetzung ohne in eine geordnete Diskussion einzufließen.

„Meine Herren Ratsmitglieder, meine Herren!“ wiederholte er lautstark und mit gehobener Stimme,“ich vertage die Sitzung bis in die heutigen Abendstunden. Die Stadtdiener werden Sie rechtzeitig rufen, erholen Sie sich bei einem Humpen guten Bieres oder einem Wein!“ sprach's, schlug nochmals mit seinem Hammer kräftig auf den Tisch und verließ eilig den Sitzungssaal.

Allmählich verließen auch alle anderen Anwesenden den Saal, auch Bürger ohne Stimmrecht, die aus geschäftlichen oder anderen Gründen die Sitzung verfolgten, um möglichst schnell informiert zu sein.Unter Ihnen weilte auch Doktor Stein. Während die anderen Bürger jedoch enttäuscht allmählich auch die Gänge des Rathauses nach draußen verließen, suchte er zielgerichtet den Kontakt zu Gericke. Dieser war noch im Gespräch mit dem Gesandten des schwedischen Königs. Das Ende des Gespräches abwartend und die Leerung des Rathauses erwartend, sprach Doktor Stein an Gericke gewandt:

“Haben der Beauftragte für die Verteidigung der Stadt eine kurze Weile Gehör für einen Medikus?“

„Ihr Doktor Stein?“ antwortete Gericke mit Erstaunen, „Eure Kühnheit setzt mich in Verwunderung! Als Jude ist Euch der Aufenthalt in dieser Stadt verboten. Das Ihr Euch daran nicht haltet ist mir ja bekannt. Aber jetzt erkühnt Ihr Euch sogar zum Aufenthalt im Rathaus?“

„Als den Älteren lasst mich diese Erfahrung aussprechen, manchmal erfordert die Bereitschaft zur Hilfe auch Kühnheit.“

„Hilfe!, welcher Art Hilfe können wir von Euch erwarten Doktor Stein? Nun ja, Ihr seid mit Verlaub ein betagter Mann. Säbel, Pistolet oder gar Muskete oder Piquet sind nicht gerade Werkzeug, das Euch locker in Händen liegen dürfte.“

„Daran dachte ich auch nicht Herr Gericke. Ich wollte Euch meine Dienste als Medikus anbieten. In den Scharmützeln wird es viele Getötete aber auch Verwundete geben. Verbrennungen, Knochenbrüche, Schusswunden Hieb- und Stichverletzungen wird es zuhauf bei den Kämpfern geben. Wir sollten danach trachten, diese Leuth gut zu versorgen und deren Leiden so gut es geht zu lindern.“

„Warum sollten wir das tun? Diese Leuth können doch ohnehin nicht mehr am Kampfe teilnehmen. Es ist Ihr Schicksal, vielleicht sogar sehr grausam zu leiden. Für die anderen Kämpfer sind sie nutzlos, ja sogar hinderlich!“

„Sie bleiben aber immer noch Menschen. Menschen, die einer Sache dienten, die der Stadt genehm war. Sich Ihnen zu widmen ist nicht nur eine Frage der Barmherzigkeit sondern auch der Gerechtigkeit. Außerdem lassen Sie den Laien eine Frage stellen. Mit welcher Entschlossenheit und Tapferkeit kämpfen diejenigen Männer, die wissen, dass ihnen bei geschehenem Leid Hilfe und Zuwendung zuteil wird? Dieses menschliche Mitgefühl, das sie im Falle der persönlichen Not erfahren, spornt es nicht ihren Kampfeseifer an? Glaubt mir Gericke, die Gewissheit in höchster Not nicht allein gelassen zu werden verleiht den Kämpfern zusätzliche Kraft.“

Otto Gericke wurde nachdenklich. Wie recht hat doch der alte Mann und wie logisch schienen ihm, dem gelehrten Wissenschaftler, die Worte des Doktors. Aber da war nicht nur der Doktor, da war auch der Jude! Wie konnte ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft, die Christus verriet und tötete so denken? Oder hat der Glaube mit der Menschlichkeit nichts zu tun? Das kann nicht sein, aber vielleicht hat die Menschlichkeit ältere Rechte? Gericke philosophierte gern, aber er zwang sich nunmehr wieder an das Praktische zu denken und den Zwängen der Zeit gerecht zu werden. „Doktor Stein, ich möchte Euch Recht geben, aber welche Männer soll ich für diese Aufgabe nehmen? Ihr könnt das unmöglich allein bewältigen!“

„Männer?“ fragte Stein, „Ihr hattet erwähnt, dass sich auch Weibsbilder zu den Bürgerwehren meldeten, diese wären die geeignetste Klientel für so eine Aufgabe,“ und mit einem gewissen Schalk in den Augen setzte er fort: “und sicher auch nicht ohne gewisse Wirkung auf die Männer der Bürgerwehr.“

„Doktor Stein, ich staune immer mehr. Eure Worte sprechen nicht nur von Erfahrung sondern sie zeugen auch von exzellentem Wissen! Oder muss ich annehmen dass wieder aller Meinungen und Behauptungen Eure Religion Quelle Dessen sind?“

„Religion lieber junger Freund - wenn ich Euch so nennen darf - befördert unser Wissen und unsere Erfahrungen nicht. Wissen erwerben wir, indem wir lernen, forschen, ausprobieren, irren und korrigieren. Erfahrungen sammeln wir, indem wir leben. Religion hilft uns, zu ertragen, dass dieses Leben einmal ein Ende hat.“

„Wie recht Ihr habt. Euer Vorschlag ist Goldes wert. Ihr erweist Euch als würdiger Bürger dieser Stadt. Würdiger als so manch höher gestellte Person.“ Bei diesen Worten dachte Gericke an Uhlemann.

„Bedenkt junger Freund, sie werden lernen. Zur Zeit irren Sie, später werden sie sich korrigieren.“

„Nun, sei es wie es sei!“ antwortete Gericke „Euer Vorschlag ist für die Stadt ein Geschenk des Himmels. Ich werde den Rat davon berichten und die Willigen zu überzeugen wissen. Euch werde ich dazu vorschlagen,“ diese Worte sagte er mit einem zweideutigen Grinsen im Gesichtsausdruck, “die Weibsbilder im Führen einer zarten Hand bei der Tröstung einer verletzten Männerseele zu unterrichten. Kommt alter Jude! Das ist mir ein Humpen reinsten Bieres wert!“

„Junger Freund, gern gönne ich mir an Eurer Seite einen gut gebrauten Tropfen, aber tut mir einen Gefallen!“

„Der wäre?“ warf Gericke ein.

„Erwähnt niemanden gegenüber meinen Glauben. Es wäre nicht nur mein Ende, es würde auch Euer Ansehen verderben und unser Vorhaben wäre tot noch ehe es geboren.“

„Eure Warnung ist berechtigt Doktor,“ erwiderte Gericke“ich werde mich daran halten! Nun aber lasst uns saufen.“

Sie gingen in den 'Magdeburger Posthof '. Der Ausschank befand sich unweit des Domes und war Ankunftsort oder Rasthof vieler Reisender. Sein Reiz war nicht so sehr das Angebot an Speisen und Getränken, sondern eher die Tatsache, dass die Reisenden natürlich die aktuellsten Neuigkeiten aus allen Himmelsrichtungen mitbrachten und verbreiteten. In der Schenke suchten die beiden sich einen abgelegenen Tisch für zwei Gäste. Die Stelle war auch nur mäßig beleuchtet, so dass sie einigermaßen sicher waren sich nicht dem Gebrüll und den Belästigungen bereits angetrunkener Gäste erwehren zu müssen. Sie bestellten sich bei der drallen Wirtin jeder einen Humpen Starkbier. Die folgenden Gespräche rankten hauptsächlich um persönliche Belange. Gericke erzählte von seinen Studium in Leipzig, Stuttgart und seinem Werdegang in der Stadt Magdeburg bis zum Verteidigungsbeauftragten. Der wesentlich ältere Dr. Stein hatte natürlich zu seinem Leben wesentlich mehr zu berichten. Und so erfuhr Gericke, dass die Heilerei bereits seit Generationen in der Steinschen Familie Tradition ist. Schon der Urgroßvater Steins erlernte die Medizin. Seine Schule lag in Granada. Hier wirkten exzellente arabische Ärzte, die an Universitäten lehrten und ein Wissen vermittelten, das teilweise schon wieder verloren ging, weil auf diesem Gebiet durch das Praktizieren der Bader und Barbiere, die teilweise keine grundlegende Ausbildung hatten, bestenfalls mit Interesse den menschlichen Körper ergründeten, doch mehr Pfuscherei betrieben wurde. Das Beste an den Badern war deren Kenntnis zu vielen Heilkräutern. Dieses Wissen nutzte auch Dr. Stein.

„Wenn aber Eure Familie jüdischen Glaubens ist,“fragte Gericke mit gedämpfter Stimme,“wie konnte sich Euer Urgroßvater da bei arabischen Ärzten medizinisches Wissen aneignen?“

„Juden und Moslems lebten in Granada Jahrzehnte lang in Eintracht. Sie unterhielten Geschäftsbeziehungen und tauschten auch Wissen aus. Diese Periode war für Juden äußerst lehrreich. Sie durften nach wie vor keine gesellschaftlichen Entscheidungen treffen, waren aber keinen Repressalien ausgesetzt. Für talentierte und interessierte Juden war durchaus auch ein Studium an muslimischen Universitäten möglich. Meinem Urgroßvater war dies gelungen. Mit der Eroberung Granadas durch die Christen, wurden die Araber weitestgehend vertrieben und die Juden gezwungen, entweder zu konvertieren oder ebenfalls das Land zu verlassen. Zunächst zog es mein Urgroßvater vor, zu konvertieren. Als jedoch klar wurde, dass Juden auf diese Weise nur zu Christen niederen Ranges wurden, wuchs der Entschluss auszuwandern. Nur, wohin war nicht klar. Erst als mein Großvater geboren war wurde der Entschluss in die Tat umgesetzt. Urgroßvater zog mit der ganzen Familie nach Italien. In Mailand wütete zu dieser Zeit gerade die Pest. Als Medikus konnte er sich in dieser Zeit nützlich machen. Mein Großvater, ein heranwachsender Knabe, hatte keine Scheu, ihm dabei zu helfen. Sie hatten Ihr Wissen als Ärzte, als solcher wuchs auch immer mehr mein Großvater heran, sehr erweitern können. Dabei machten sie einige wichtige Entdeckungen, die für ihr weiteres Handeln und sogar für das Überleben der meisten unserer Familienmitglieder von Bedeutung waren.“

„Ihr behauptet, Euer Urgroßvater und Großvater haben Mittel gegen die Pest entdeckt?“ warf Gericke voller erstaunen ein.

„Ja und nein mein Herr,“ setzte Doktor Stein fort. „Es gibt bis jetzt keine Mittel um die Pest zu heilen, aber es gibt Möglichkeiten sie zu verhindern! Urgroßvater und Großvater haben festgestellt, dass die Ausbreitung der Pest, unmittelbar mit der Lebensweise der Menschen zusammenhängt. So war die Verbreitung der Pest in den Judenvierteln der Städte viel geringer als in anderen Stadtteilen. Die Ursache sahen sie darin, dass in unseren Häusern kein Vieh gehalten wurde. Nach unserem Glauben dürfen auch Abfall und Exkremente nicht gesammelt werden. Ungeziefer wie Ratten und Mäuse gelten als unrein und sind aus den Häusern zu vertreiben. Außerdem gibt es in unserer Religion das Ritual, dass sich jeder Jude mehrmals im Monat in lebenden Wasser waschen soll.“

„Lebendes Wasser?....“

„Damit ist nach Eurem Sprachgebrauch fließendes Wasser aus sauberen Bächen, Quellen oder Flüssen gemeint. Dabei ist genau festgelegt an welcher Stelle Trinkwasser, wo das Bade- und Waschwasser entnommen werden dürfen, wo die Weiber die Wäsche waschen können und letztlich wo Unrat entsorgt werden darf. All diese Maßnahmen zeigten bei den Juden doch beachtlichen Erfolg um die Pesterkrankungen unter ihnen gering zu halten. Erkrankten doch Gemeindemitglieder, wurden sie konsequent in sogenannten Siechenhäusern isoliert. Es wurde ein letztes Gebet mit Ihnen gesprochen, und dann kamen sie in Räume, die sie nicht mehr verlassen durften und die von Gesunden nicht betreten wurden. Essen und Getränke wurden über einen Zwischenraum gereicht. Die meisten verstarben natürlich, nur sehr wenige überlebten. Warum dies so war und auch heute noch teilweise ist, wissen wir nicht. Aber eines Tages wird die Medizinerei wieder eine solide Wissenschaft, so wie Euer Studium als Physikus Herr Gericke, dann werden s t u d i e r t e Ärzte die Ursachen hierfür erkennen. Das wird der Zeitpunkt sein, die Pest auch zu heilen.“

Sinnierend und beinahe bewundernd sagte Otto Gericke: “Vielleicht kann man die Pest nicht heilen, aber sie zu verhindern wäre für eine Stadt wie Magdeburg ein Segen.“ Und mit kräftiger und entschlossener Stimme setzte er fort:“ Es ist Euch wohl nicht verborgen geblieben, dass ich eine Karriere als Stadtrat anstrebe. All diese Gedanken würden mein Protegé für dieses Amt wohl feste untermauern. Und seid gewiss, Doktor Stein, Ihr werdet mein Mentor sein!“ er hob seinen Humpen um anzustoßen.

Nach einem kräftigen Schluck erwiderte Doktor Stein mit linkischem Augenzwinkern: “Zuerst Herr Gericke, müsstet Ihr aber den Juden den Zugang zur Stadt erlauben.“

„Auch das wird kommen.“ sagte Gericke nunmehr eher gedämpft.“Aber nun erzählt die Geschichte Eurer Familie weiter.“

„Ja, wie gesagt, es gab gute Erfolge bei der Pestbekämpfung unter den Juden. Und so war guter Anlass, diese Methoden auch unter den christlichen Mitbürgern anzuwenden. Vielen dieser Bürger, die sich darauf einließen, konnten in der Tat die Seuche in Ihren Familien verhindern. Aber je mehr das Handeln meines Urgroßvaters und meines Großvaters zur weltlichen und kirchlichen Obrigkeit vordrang, je mehr nahm das Unheil seinen Lauf. Statt die Hilfe offen anzunehmen, wurden beide verdächtigt, den Versuch zu unternehmen, ehrbare Christen zum Judentum zu bekehren. Sie wurden beschuldigt, mit dem Teufel im Bunde zu stehen und Brunnenvergifter zu sein. Entschuldigt Herr Gericke, dass ich es so offen sage, offensichtlich sahen die Herren in diesen schweren Zeiten, in denen selbst die einfachsten Bürger erkannten, das durch das Aufstechen der Pestbeulen die Seuche nicht besiegt werden kann und sie nach hoffnungsvollerer Hilfe suchten, ihre Macht schwinden. Nach ertragenen Schmähungen, Repressalien und körperlichen Züchtigungen gelang nur mit größter Mühe und unter Verzicht aller Habe die Flucht. Eine lange Odyssee begann über die Alpen und den Balkan. Hier war es besonders gefährlich für Juden. Den Lebensunterhalt hielt man recht und schlecht aufrecht, indem man Knochenbrüche, Verbrennungen, Verstauchungen und andere Verletzungen und weniger schwere Krankheiten der Leute auf dem Fluchtweg verarztete. Für Großvater war das die Schule seines Lebens. Urgroßvater und auch Uhrgroßmutter aber waren von den Strapazen so geschwächt, dass sie bald darauf starben. Mein Großvater musste sich allein durchschlagen. Nun machte er etwas, was für uns nachfolgende Generationen von entscheidender Bedeutung war. Alles Wissen, welches er durch Urgroßvater und seine eigenen Erfahrungen erlangte begann er akribisch aufzuzeichnen. Bis ins Detail beschrieb er Behandlungsmethoden verschiedenster Verletzungen, Krankheiten, chirurgische Hilfe, Geburtshilfe, die Entfernung fauler Zähne, Behandlung von Verbrennungen, bis zur Wirkung von Kräutern verschiedenster Art, der Heilwirkung von Extrakten und Erden. Er bezog auch die Aufzeichnungen des Uhrgroßvaters mit ein, die dieser während seines Studiums machte. Dies Kompendium, lasst Euch das sagen, ist ein stattlicher Wälzer geworden. Es befindet sich in meinem Besitz und dient mir noch heute bei meiner Heilerei.“

Der Doktor zog Gericke mit dieser spannenden Geschichte immer mehr in seinen Bann und so spürte er förmlich, dass dieser auf die Fortsetzung heischte.

„Zunächst wandte sich Großvater in den Süden des Balkan, musste aber bald erkennen, dass er sich dorthin immer mehr in den Machtbereich der Osmanen begab. Obwohl Juden hier durchaus einigermaßen sicher leben konnten, sah er für sich als Mediziner keine beruflichen Chancen. So wandte er sich wieder gen Norden und kam zu den Magyaren. Hier war es für Ihn ruhiger, hier konnte er längere Zeit als Medikus wirken, aber auch weil er es vorzog, seine jüdische Herkunft nicht aller Welt kundzutun. Über die Zeit lernte er meine Großmutter kennen, eine ehemalige Novizin, die den Schritt zur Nonne nicht gehen wollte. Deshalb verstoßen, lebte sie abseits der Städte und Dörfer und verdingte ihren Lebensunterhalt als Kräuterweib. Die Kenntnis der Wirkung dieser Heilmittel und das Brauen verschiedenster Mixturen erlernte sie im Kloster. Selbst exotische Pflanzen konnte sie verarbeiten. Diese erhielten die Klosterfrauen von osmanischen Händlern, deren Handelsbereich sich von den Westgrenzen Indiens über Nordafrika bis nach Europa erstreckte. Es war wohl der Wille Gottes, dass sich zwei so gleiche Seelen, wie mein Großvater und diese Frau begegneten, kennenlernten und später auch liebten. Aus dieser Verbindung wurde mein Vater geboren. Es gab da jedoch ein Problem das entstand, weil eben junge Menschen nicht immer alle Dinge des Lebens mit der Gründlichkeit durchdenken, die notwendig wäre. Natürlich war das Kind Anlass über die Hochzeit nachzudenken. Da beide keine Eltern oder Geschwister mehr hatten, konnten sie diese Entscheidung selbst und mit größter Freiheit treffen. Mein Großvater verschwieg aber dieser guten Frau, dass er jüdischer Herkunft war. Wie sollte sie als Christin, die einmal eine Zeit ihres Lebens im Kloster verbrachte damit umgehen? Und so zog sie es vor, im Vertrauen darauf, dass der Vater ihres Kindes sich um dieses mit Herz und Seele um dessen Wohl kümmerte, sich in Gottes Hände zu begeben und schied freiwillig aus dem Leben. Das war ein sehr schwerer Schlag für meinen Großvater. Ewig litt er unter diesem Verlust und machte sich bittere Vorwürfe. Seine Bindung zum Glauben wurde dadurch nachhaltig erschüttert. Nur noch selten betrat mein Großvater eine Synagoge. Um so mehr widmete er sich der Heilerei. Die Erweiterung der Kenntnisse zu pflanzlichen Heilmitteln und Tinkturen, die er durch die gemeinsame Zeit mit der geliebten Frau erfuhr, arbeitete er in das besagte Kompendium ein, welches dadurch immer umfangreicher aber auch immer wertvoller wurde. Mit zunehmender Zeit nahm der Einfluss der Osmanen auch im Magyarengebiet zu. Andererseits wurde bekannt, dass in Prag Juden unter besonderem Schutz des böhmischen Königs stehen. Erneut wagte er den Exodus und zog mit dem Knaben in die schöne Stadt. Hier lebten sie die wahrscheinlich besten und erfolgreichsten Jahre ihres Lebens. Sie praktizierten die Medizin und erlangten nicht nur unter den Juden hohes Ansehen. Mein Vater, der Jugendjahre entwachsen, lernte eine wunderschöne Jüdin kennen, heiratete und bald darauf wurde ich geboren. Ich hatte eine glückliche Kindheit. In der Jugend vom Großvater und Vater in der Medizin unterrichtet, fiel mir ein Studium an der Prager Universität nicht schwer. Es gelang mir sogar, den Doktortitel zu erwerben. Aber bald schwebten erneut dunkle Wolken über unsere Häupter. Es kam wegen der Streitigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten zu heftigen Unruhen und Auseinandersetzungen in der Stadt, die letztlich, wie Ihnen auch bekannt ist, zu den Kämpfen zwischen den kaiserlichen und den Protestanten am Weißen Berge führten. Ich weiß nicht warum, obwohl wir Juden nie der Anlass für derartige Auseinandersetzungen waren, wir waren meistens die ersten Opfer. Vater, Mutter und Großvater wurden schrecklich massakriert. Ob von Protestanten oder Katholiken wurde mir nie bekannt. Mit dem Bild der Geschändeten vor Augen hatte ich nur noch Angst, ich versteckte mich tagelang. Nach einer Zeit des Umherirrens begab nunmehr ich mich auf Exodus. Das scheint das Schicksal unserer Familie zu sein. Ich begab mich nach Norden und gelangte schließlich hierher in das schöne Magdeburg. Zuvor weilte ich, meine Herkunftsreligion verheimlichend, in verschiedenen Klöstern, in denen mein medizinisches Wissen sehr willkommen war. Dann aber fasste ich den Mut und begab mich in die Stadt. Hier fand ich Obdach bei einer wohlhabenden Witwe, die mir freundschaftlich gesonnen ist. Bei ihr bin ich seit Jahren in Logis.“

„Von ihr habe ich auch Kenntnis, dass ihr Jude seid. Aber nur, weil auch ich mit der Witwe sehr Vertraut bin. Ich versichere Euch aber, dass sie solche Internas nicht in die Welt hinaus posaunt. Man spricht, Ihr hättet eine sehr schöne Tochter. Sie wäre sogar im heiratsfähigen Alter“, forschte Gericke mit sichtlichem Interesse.

„Ja, sie ist ein sehr liebes Geschöpf, aber sie ist nicht meine leibliche Tochter. Ich habe sie nach den Kämpfen bei den Weißen Bergen den Händen einer toten Frau, vermutlich Ihrer Mutter, entnommen. Da ein Vater oder andere Verwandte nicht ausfindig zu machen waren und ich das Mädchen nicht seinem Schicksal überlassen wollte, nahm ich es mit auf meine Flucht. Da ich ihren wahren Namen nicht kannte, nannte ich sie Janica. Wir gewöhnten uns bald aneinander und so nahm sie mich an Vater statt an. In den Klöstern, besonders in den Nonnenklöstern auf unserem Weg, war sie stets etwas Besonderes. Mit zunehmendem Alter interessierte sie sich auch für meine Berufung. In unserem Familienkompendium, dass ich nie aufgab und stets mitführte, lernte sie lesen und auch das Fach der Medizin. Sie wird sicher die Tradition unserer Familie fortführen.“

„Seid ehrlich Doktor Stein, habt Ihr die gute Seele zum Judentum verführt?“ forschte Gericke.

„Nein mein Freund, sie soll selber einmal entscheiden welcher Glaube ihr der richtige scheint.“

„Nun, lieber Stein, dieses Alter hat sie aber wahrlich schon längst erreicht. Glaubt Ihr nicht auch?“

„Ich werde sie nicht drängen lieber Gericke.“

Das Gespräch der beiden Männer zog sich noch eine Weile dahin. Plötzlich betrat ein Mann den Ausschank, der sich als Stadtdiener zu erkennen gab und zielgerichtet Gericke ansprach. Die Fortsetzung der Ratssitzung sollte erfolgen.Gericke verabschiedete sich von Dr. Stein. In aller Eile vereinbarten sie für den nächsten Tag einen Treff zu früher Morgenstunde vor dem Rathaus.

 

Dr. Stein kam zum Abend in seiner Bleibe, die sich am elbseitigen Stadtrand befand an und wurde von der Witwe Grün begrüßt.

„Ist meine Tochter zu Hause?“ fragte er.

„Aber natürlich Doktor Stein!“ antwortete sie, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Janica kam eilig zu den beiden gerannt und begrüßte den Vater durch stürmische Umarmungen und Küsse. „He junges Fräulein, das solltest du dir für deine späteren Lieben aufheben!“ sagte Stein lachend zu seiner Tochter.

„L i e b e n ?“ fragt die Tochter betont. „Ich werde nur eine haben und das wird die Heilerei sein!“ trumpfte sie auf.

„Glaub mir Töchterchen, du bist so schön, die Herren werden Schlange stehen und um deine Gunst betteln. Und bei deinem Alter wird das nicht mehr lange dauern. “Diese Worte kamen von Stein voller Stolz. Die Witwe Grün, die das kurze Gespräch der beiden verfolgte, lächelte. Seit Doktor Stein mit der Tochter bei ihr in Logis ist, beobachtet sie, wie liebevoll beide miteinander umgehen. Es war schon erstaunlich, war doch der Doktor nicht ihr leiblicher Vater. Dieser Umgang der beiden miteinander berührte ihr Herz und entfachte Sympathie für sie. Und so stellte sich mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis ein, welches Stein veranlasste, ihr zu offenbaren, dass er Jude ist und Janica seine angenommene Tochter. Er erzählte ihr auch, dass er in den Klöstern oft daran dachte Janica dort zu lassen. Aber welchen Schmerz hätte er dem geliebten Wesen zugefügt und außerdem sollte sie ihren Glauben frei, ohne Zwang und äußere Einflüsse wählen. Da sie sich ohnehin schon seit Kindheit für die Medizin interessierte, wäre ein Leben als Nonne keine Erfüllung für sie geworden. Die Witwe wusste um die 'Geheimnisse' der beiden und wusste sie noch besser zu wahren. Nur Otto Gericke, den ihr verstorbener Mann finanziell und politisch unterstützte, offenbarte sie einmal, wen sie da unter Ihrem Dach beherbergte. Sie tat dies, da sie unsicher war und andererseits zu Gerickes Urteil vertrauen hatte. Gericke riet ihr, ihr christliches Gewissen einzusetzen und den beiden Menschen Hilfe zukommen zu lassen. Selbst wenn sie den jüdischen Glauben verurteile, solle sie bedenken, das Christus allen Menschenliebe angemahnt hat. Erstaunlich, dass dieser Mann solch einen Rat gab, obwohl er die beiden Menschen zum Zeitpunkt, als er die Witwe beraten hatte, noch gar nicht genau kannte. Jedoch machte er den Zusatz, sie solle derer beider Tun und Handel beurteilen und immer wieder neu entscheiden. Dabei würde er ihr aus alter Verbundenheit mit ihrem verstorbenen Mann mit Rat weiterhin zur Seite stehen.

Was das Tun und Handeln Steins und seiner Tochter anbelangte, fand die Witwe sehr schnell Vertrauen. Ihre Tätigkeit als Mediziner brachte den beiden bei vielen Bürgern der Stadt nicht nur Ansehen, sondern sorgte auch für ein ansehnliches Einkommen. Sein gutes Herz bewiesen Stein und seine Tochter dadurch, dass sie arme und ältere Menschen ohne Zahlung behandelten. Dieser Großmut und die fachliche Kompetenz, die Doktor Stein über jedem Bader oder Barbier der Stadt erhob, sorgten für einen reich gefüllten Arbeitstag. Ohne die Hilfe seiner Tochter würde der Doktor all die Bedürftigen gar nicht behandeln können.Für die Witwe hatte das den Vorteil, dass der Doktor ein verlässlicher Quartiergast war, der den Monatszins rechtzeitig und vollständig zahlte. Aber das war mit zunehmender Zeit nicht mehr das Wichtigste in ihren Beziehungen. Janica gewann bei ihr beinahe den Status einer Tochter und Stein gegenüber brachte sie mehr Gefühle entgegen als man einem Mann aus Höflichkeit oder gar Freundschaft zubilligen mag und sie bemerkte, das der Doktor durchaus geneigt war, diese zu erwidern. Es nahm deshalb nicht Wunder, dass gemeinsame Mahlzeiten der Drei nicht selten waren. So auch an diesen Abend. Doktor Stein berichtete über das Erlebte am Tag und besonders über seine Vereinbarungen mit Gericke. Allen dreien war klar, dass man in Kürze mit einem entschlossenen Angriff der Kaiserlichen zur Einnahme der Stadt rechnen musste. Der Doktor erläuterte, dass man darauf umfassend vorbereitet sein müsse, um diesen erfolgreich abzuwehren.

„Du wirst doch nicht etwa kämpfen?“ fragte Janica erschrocken.

„Kämpfen schon,“ kam als Erwiderung, „aber auf meine Weise.“ Und Stein erläuterte seine Vorstellungen, die er bereits Gericke dargelegt hatte.„Und du meine Tochter bekommst von mir einen besonderen Auftrag. Du weißt, dass die Nonne Clementine von Barleben unweit der Gemarkung Wanzleben einen Kräutergarten unterhält. Du musst heute Nacht die Stadt verlassen und sie aufsuchen. Ich gebe dir eine Liste mit, auf der ich alles vermerke was wir benötigen. Es sind hauptsächlich Kräuter zur Schmerzlinderung, zur Wundbehandlung und zur Heilung von Brand und Stichwunden. Eben die typischen Kriegsverletzungen. Sie wird die Kräuter jetzt im Mai noch nicht alle frisch vorrätig haben, aber keiner kann diese so wie sie aufbereiten, ohne dass ihre Wirksamkeit verloren geht. Du musst alles daran setzen, dass du morgen Abend zurück bist. Morgen wäre der 10. Mai.“

„Ja, um genau zu sein, der 10.Mai 1631“ kam eine vorlaute Antwort der Tochter.

„Muss das wirklich sein, dass Janica in der Nacht diese Reise unternimmt?“ fragte die Witwe Grün sorgenvoll. „Sie wissen, dass der Marschall der Kaiserlichen, Tilly, in der Burg zu Wanzleben sein Quartier hatte und wir wissen nicht, ob er dort noch hausiert.“

„Wir müssen das Wagnis eingehen,“ kam als Erwiderung vom Doktor. „Ich benötige die Mittel dringend, und das sogar in größeren Mengen als üblich. Man muss mit vielen Verletzten rechnen !“

„Wird es auch Tote geben Vater?“ fragte die Tochter sorgenvoll. „Sehr viele Janica. Ich habe das bei der Schlacht an den Weißen Bergen erlebt. Dort war man gar nicht darauf vorbereitet Hilfe zu leisten, so dass auch noch lange nach der Schlacht Menschen an ihren Verletzungen starben.“An die Witwe gewandt sagte er: “Wenn Janica Gefahr droht, dann eher von den Mannsbildern allgemein, sie ist sehr hübsch und daher eine Versuchung für die Kerle. Aber das kann ihr auch hier in der Stadt geschehen.“

Janica errötete bei den Worten des Vaters und schwieg verlegen. Die Witwe Grün machte den Vorschlag, dass Janica trotzdem noch ein paar Stunden schlafen solle, um ausgeruht die Nacht zu überstehen. Um die Gemarkung Wanzleben zu erreichen sollte die Zeit eine Stunde vor Mitternacht bis zum Morgengrauen reichen. Der Vorschlag wurde angenommen. Dann gab der Vater der Tochter nochmals Hinweise, wie sie sich beim Überschreiten der kaiserlichen Linienverhalten solle. In der Nacht werden sich die Landsknechte in ihren Lagern aufhalten und zum größten Teil schlafen oder Zechen. Diese Lager muss sie möglichst umgehen. Als Kleidung solle sie altes zerlumptes anziehen. Auch ihre Haare sollte sie unordentlich tragen und das Gesicht mit Schmutz einreiben. Nach verlassen der Stadt darf Janica möglichst keinen Menschen begegnen.

Janica begab sich alsbald zu Bett. Der Vater würde sie zur vereinbarte Zeit wecken. Der Doktor und die Witwe unterhielten sich noch angeregt. Ahnungsvoll sprach man davon, was geschähe, wenn die Truppen Tillys und Pappenheims die Stadt Magdeburg angreifen werden. Noch wähnte man, dass bis dahin etwas Zeit für die Vorbereitung zur Abwehr wäre. Vielleicht kommen ja auch die Schweden rechtzeitig zur Verteidigung Magdeburgs. Die bisherigen Bombardements durch die Kaiserlichen hatten schon allzu großen Schaden angerichtet. Zwar gelang es den Truppen Tillys und Pappenheims einige Schanzen einzunehmen, aber die Bürgerwehren schafften es bisher, alle Bemühungen des Gegners, die ganze Stadt zu erobern, abzuwehren. Vielleicht waren die Angriffe noch nicht energisch genug vorgetragen und hatten nur die Absicht, Druck auf die Bürger der Stadt auszuüben um den geforderten Zins abzupressen.

 

Die Zeit zum Wecken der Tochter war gekommen. Wie der Vater riet, machte sich Janica für die Reise bereit. Herzlichst wurde sie von den beiden alten verabschiedet. Die Witwe Grün konnte ihre Tränen nicht verbergen und auch der Vater hatte Gewissensbisse. Aber er vertraute seiner Tochter, bisher handelte sie überlegt und besonnen, so dass er sich voll auf sie verlassen konnte. In einem knappen Jahr wird sie 18 Jahre und dann sicher bald den Vater verlassen, wenn ein Mann an ihre Seite tritt.

Janica verließ das Haus und begab sich auf den vom Vater nochmals auf das Genaueste beschriebenen Weg. Den Stadtwachen wich sie aus und konnte so ungehindert Magdeburg verlassen. Die Feldlager der tillyschen Truppen konnte sie am Widerschein der Lagerfeuer erkennen, die sie weit umging. Sie musste trotzdem aufpassen, den die Stellungen der Kanonen und Feldschlangen waren in der Nacht nicht befeuert, aber es waren Wachen ringsherum aufgestellt. Beinahe wäre sie in solch eine Stellung hineingelaufen. Zum Glück waren die zur Wache eingeteilten Landsknechte nicht besonders aufmerksam, so dass sie unerkannt ausweichen konnte.

Wie geplant erreichte Janica zum Morgengrauen die Gemarkung Wanzleben. Sie konnte sich noch erinnern, dass sie den links am Weg befindlichen Friedhof hinter sich lassen musste. Am Ortseingang waren die Türme der Kirche zu sehen. Nach kurzer Zeit querte sie die Brücke des kleinen Flüsschens Sarre. Von hier aus war bereits die Burg zu sehen. Hinter der Burg war ein unscheinbares Gehöft, das zum Garten der Nonne von Barleben gehörte. Als sie die Burg passierte, kam unerwartet eine größere Gruppe Landsknechte heraus. Sie versuchte sich so zu verhalten, dass sie keine Aufmerksamkeit erregte, aber die Herren hatten sie schon längst wahrgenommen. Sichtlich aufgekratzt und durch irgendetwas freudig erregt lachten und scherzten sie.

„Wer hat denn die schöne Maid vor Sonnenaufgang aus dem Bett geworfen“ rief einer der Knechte.

An der gebrochenen Aussprache erkannte sie, dass er kein hiesiger, vielleicht sogar Ausländer war. Es war ohnehin bekannt, dass viele Söldner bei den Kaiserlichen aus anderen Ländern stammten. Einer der Söldner näherte sich Janica umarmte sie von hinten, griff ihr an die Brust und sprach süffisant: „Kommt mit mir teure Magd, heute werde ich reich. Seid Ihr mir willig, lass ich Euch an meiner Beute teilhaben...“

„Halt er sein Maul!“ donnerte eine Stimme dazwischen.

Janica erkannte, dass sie von einem großen, kräftigen und zudem, wie sie meinte, sehr schönen jungen Landsknecht stammte. Seine Kleidung verhieß, dass seine Stellung über der der anderen lag.

„Herr Hauptmann, lasst uns rechtzeitig für unser Vergnügen sorgen. Wenn wir die Stadt eingenommen haben, werden wir unsere Beute feiern wollen....“

„Nochmal, halt er das Maul!“ herrschte der schöne Hauptmann und wandte sich an Janica,: „Junge Magd, wenn Ihr auf Euren Weg Begleitung benötigt sagt es mir,“ bei diesen Worten sah er Janica genau an und erkannte hinter ihrer Verkleidung und der offenbar absichtlichen Verunstaltung ihres Aussehens eine sehr schöne junge Frau. Verdacht keimte in ihm auf. 'Wenn sie nun eine Spionin ist' dachte er.

„Nein, nein!“ stammelte Janica, „ich begebe mich in den Klostergarten, soll der Nonne Clementine von Barleben zur Hand gehen. Der Garten befindet sich gleich neben der Burg. Habt vielen Dank für Euer Angebot Herr Hauptmann!“

„So geht dann unbehelligt junge Magd.“

Als sich Janica entfernt hatte wunderte sich der Hauptmann, dass eine Magd sich so gewählt auszudrücken weiß, er schenkte seinen von Verdacht geprägten Gedanken aber keine weitere Bedeutung. So entfernten sich Janica und die Gruppe Landsknechte voneinander.

Janica war voller Sorgen. Das Gehörte ließ darauf schließen, dass der Sturm der Kaiserlichen am heutigen Tag erfolgen wird. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten solle. Geht sie zur Nonne, kann sie den Vater nicht rechtzeitig warnen, kehrt sie um, kann sie den Auftrag des Vaters nicht ausführen. Sie musste entscheiden, was richtig war. Sie entschloss sich, so kurz vor dem Ziel, den Auftrag des Vaters auszuführen und schnellstmöglich in die Stadt zurückzukehren. Am Ziel angekommen klopfte sie an der Tür des kleinen Gartenhauses. Die Nonne öffnete nach geraumer Zeit. Als sie erkannte wer vor ihr stand, war sie heller Freude. 

„Janica Stein, wie lange haben wir uns nicht gesehen, wie geht es dir, was macht der Vater, ist er gesund? Und überhaupt, wo seid ihr jetzt?“

Janica war bange. Sie befürchtete das sie mit der Nonne in ein längeres Gespräch fallen würde, wollte allerdings nicht unhöflich sein. „Frau von Barleben,“ sprach sie deshalb, “für die Bürger von Magdeburg besteht große Gefahr, Vater befürchtet, dass es viele Opfer geben wird. Er hat sich entschlossen, möglichst vielen zu helfen und benötigt diese Kräuter und Ingredienzien.“ sie reichte der Nonne die Liste, die ihr der Vater mitgab und auf der er auch ein paar persönliche Worte an die Nonne gerichtet hatte. Gern hätte sie sich mit der Nonne länger unterhalten, obwohl sie wusste, dass sie in vielen Ansichten anderer Meinung war als der Vater. Aber irgendwie ergänzten sich diese Ansichten immer. Wie das kam konnte sie nicht erklären. Vielleicht ist die Welt ja doch mehr als nur ein paar Ansichten, vielleicht liegt in allem ein Fünkchen Wahrheit.

„Ich schätze die Absichten deines Vaters, obwohl ich der Meinung bin, das die Bürger Magdeburgs nicht Recht damit taten uns Kirchen und Klöster zu entreißen. Beten sie wenigstens zu Gott? Sie können ja die Güter behalten, aber es wäre doch nur zu gerecht, wenn sie dann den vom Kaiser geforderten Zins als Abfindung zahlen würden. Aber, wenn ich dich richtig verstehe, ist wohl nicht Zeit genug, um darüber zu reden. Ruhe dich ein wenig aus, ich stelle das Gewünschte zusammen. Da im Krug ist ein guter Most, er wird deinen Durst und Hunger etwas stillen. Ich fülle dir auch noch eine Flasche mit dem Most als Wegzehrung ab,“ sprach und verschwand in einer Kammer.Janica trank ein paar Schluck und verfiel in einen Wachschlaf. Sie schreckte auf, als die Nonne zurückkam. Sie hatte einen großen Beutel mit den Kräutern und Fläschchen der Ingredienzien gefüllt, die der Vater anforderte.

"Ich habe hier noch ein Mittel, das noch nicht so bekannt ist, aber sehr hilfreich bei der Unterdrückung von Schmerzen angewendet werden kann. Man muss dabei jedoch genauestens auf die Dosierung achten. Es nennt sich Cannabis. Ich verwerte hauptsächlich die Blüten dieser Pflanze, die ich trockne und für Teeaufgüsse verwende. Wie gesagt, man muss damit etwas sparsam umgehen. Bei den Männern wird zur Zeit das Inhalieren von glimmenden Kräutern zur Mode. Dazu benutzen sie Pfeifen aus edlen Hölzern, die mit Horn oder Silber verziert sind. Eine Sitte, die von den Holländern auch zu uns herüberschwappt. Ich habe einmal gesehen, wie einige Mannsbilder sich das Cannabis in solche Pfeifen stopften und das Kraut entzündeten. Einige versanken in einen Dämmerzustand, der wohl auch allen Schmerz vergessen ließ, andere benahmen sich wie tolle Hengste. Es ist also angebracht dieses Mittel sparsam zu verwenden. Kannst du das deinem Vater vermitteln ?“

„Ja, Frau von Barleben, Vater und auch ich, wir werden die damit Behandelten genau beobachten und eine gute Dosierung ermitteln. Auf jeden Fall bedanke ich mich für ihre Güte. Nun muss ich aber eiligst zurück in die Stadt, und es ist ein gut Stück des Weges.“

„Pass auf dich auf mein liebes Kind,“ sagte die Nonne sorgenvoll, „du musst durch die Linien der kaiserlichen Truppen, das wird sicher nicht leicht werden.“

„Ich habe heute Nacht bereits nach einem guten Weg für das Tageslicht Ausschau gehalten. Es scheint nicht so schwer zu werden, wie gestern noch vermutet.“

„Gut liebes Kind, dann grüße auch deinen Vater von mir, ich hoffe, dass ich ihn bald wieder hier begrüßen kann. Es gibt vieles zu erzählen, und sage ihm, ich hätte eine Reihe neuer interessanter Mixturen die ich ihm anbieten kann.“

Herzlichst verabschiedete die Nonne Janica mit einem Kuss auf die Stirn. Janica wandte sich und schritt schnell und entschlossen, den Beutel mit den Kräutern und Heilsäften auf den Rücken gebunden dem Heimweg zu. Das letzte was sie von der Nonne hörte, waren die Worte: “Der Allmächtige beschütze dich!“

Hinter der Gemarkung, nachdem sie den Friedhof passierte, erreichte sie eine Senke, die sich fast bis an die Mauern Magdeburgs hinzog. Sie erinnerte sich, das die Einheimischen diese Senke 'Faule See' nannten. Es war ein Rinnsal, das je nach Jahreszeit mal mehr, mal weniger Wasser führte. Dadurch war die Senke und die unmittelbare Umgebung um sie stark morastig. Es war unwahrscheinlich, dass sich in dieser Senke Truppen aufhielten oder gar Feldschlangen und Kanonen aufgestellt waren. Unter Aufbietung aller Kräfte gelangte Janica gedeckt in dieser Senke unerkannt bis kurz vor die Stadt.

 

Wie abgesprochen begab sich Doktor Stein zur vereinbarten Zeit zum Treff mit Gericke zum Rathaus.

Die Witwe verabschiedete ihn und fragte: „Doktor, soll ich Euer Zimmer aufräumen?“

„Das wäre nett,“ erwiderte dieser,“ aber lasst bitte die Tinkturen auf meinem Arbeitstisch stehen, und bitte nicht das Buch zuschlagen, ich habe die Seite mühselig raussuchen müssen.“ Dann entfernte sich Stein eilig, um zu seinem Ziel zu gelangen.

Vor dem Rathaus wartete er auf Gericke. Nach kurzer Zeit erfuhr er von Bürgern, die das Rathaus verließen, dass die Debatte vom gestrigen Abend ohne Unterbrechung immer noch lief. Einige wussten, dass der Rat eine Verhandlung mit Tilly zur Zahlung des Tributes anstrebte und das er gar in kürze selbst zu den Verhandlungen eintreffen wird. Wiederum andere sprachen davon, dass vor allem der schwedische Gesandte darauf dränge, die Stadt mit allen Mitteln zu verteidigen, und sie bis zum Eintreffen des schwedischen Königs und seiner Truppen zu halten. Offenbar ist keine Einigung erfolgt und noch kein Beschluss gefasst.

Der Morgen war an diesem Maitag warm, das Dämmerlicht des beginnenden Tages wurde bereits von der aufgehenden Sonne überstrahlt. Plötzlich ließ grollender Donner die Luft erzittern. 'Ein Frühlingsgewitter' dachte der Doktor. Aber gleich darauf hörte er fauchen und zischen. Es folgten die Blitze und erneutes Krachen detonierender Kanonenkugeln. Nach kurzer Zeit wurde klar, das dieses Bombardement nicht so wie an den anderen Tagen ein kurzes Geplänkel andeutete, sonder offensichtlich sehr massiv geführt wurde.Schlagartig wurde der Platz vor dem Rathaus menschenleer. Nur noch Boten, Diener und einige Soldaten der kleinen schwedischen Besatzung sowie Kämpfer der Bürgerwehr eilten in das Rathaus um es kurz darauf wieder zu verlassen. Sie mussten wichtige Botschaften gebracht haben. Doktor Stein überlegte, ob er noch weiter auf Gericke warten sollte. Er ahnte, dass die kaiserlichen Truppen die Stadt attackierten um sie zu erstürmen. Damit wusste er auch, die Idee und den Plan, den er mit Gericke am gestrigen Tag geschmiedet hatte, konnten nicht mehr verwirklicht werden. Was konnte er jetzt noch tun? Das Bombardement nahm an Heftigkeit immer mehr zu, und wie es schien, kam es von allen Seiten. Angstvoll dachte Doktor Stein an seine Tochter, wo wird sie jetzt sein, schwebt sie in Gefahr? Er machte sich Vorwürfe, das er das liebe Wesen solch einer Gefährdung aussetzte. Aber wie konnte er wissen, welches Schicksal auf sie wartete. Er konnte nur hoffen, dass sie aus irgend einem Grunde noch bei der Nonne von Barleben weilte.

So in seinen Gedanken versunken stürmten plötzlich die Ratsmitglieder aus dem Ratshaustor. Allen voran der Gesandte des Schwedischen Königs. Während er mit gezücktem Säbel in Richtung Elbe stürmte, nahmen alle anderen verschiedene Richtungen. Offensichtlich waren einige bereit Befestigungen aufzusuchen um die Verteidigung zu organisieren, andere wollten wohl nur zu ihren Häusern und Familien, um dem Kampf zu entgehen und sich in Sicherheit zu bringen.

Fast als Letzter kam Gericke aus dem Rathaus. Sogleich erkannten sich die beiden Männer und gingen aufeinander zu. Von weitem schon rief Gericke „Sie stürmen die Stadt, Tilly bricht die Zusage über den Tribut zu verhandeln!“ Als beide Männer aneinander standen sagte Gericke voller Trauer in der Stimme, “Doktor, es wird Opfer geben, sehr viele Opfer, und wir konnten nichts vorbereiten.“

„Ich werde trotzdem etwas tun,“ sprach Stein, verabschiedete sich kurz von Gericke und begab sich eilig zum Haus der Witwe Grün.

Gericke rief ihm noch hinterher, „Doktor, lasst von euch hören...“, dann wandte auch er sich ab und verschwand.

Die Glocken des Magdeburger Domes begannen plötzlich zu läuten und gaben der Situation eine unheimliche Dramatik. Im Haus der Witwe riss Stein eiligst Laken und Bezüge von all den Betten die er erreichen konnte. Als die Witwe das mitbekam, zeterte sie zunächst,:

“Was macht Ihr denn da Doktor!“

„Frau Grün, Ihr müsst mir helfen, ich brauche alles Material, das zum Verbinden geeignet ist.“

Die Witwe, die längst die Situation erfasst hatte, und um das Schicksal der Stadt bangte, begab sich in Ihre Kammer und holte einen Stapel Wäsche, den sie kaum tragen konnte.

„Das ist trefflich genug,“ sagte Stein, als er das Opfer der Witwe sah,“damit kann vielen geholfen werden. Ich nehme noch Salben und Tinkturen mit. Wir bräuchten aber noch etwas zum tragen und vielleicht etwas Wein oder Branntwein.“

Die Witwe gehorchte wie ein kleines Kind, lief eiligst in den Keller und brachte dem Doktor die gewünschten Sachen. Schnell wurde alles in einen sauberen Sack verpackt, der allerdings für alle Utensilien nicht reichte. Flugs und diesmal ohne Aufforderung holte die Witwe noch einen großen Weidenkorb. Nun konnte alles verstaut werden.

„Gut!“ sinnierte Stein, „beides kann ich aber nicht tragen, ich muss mich für eines entscheiden.“

„Ihr dachtet wohl, ich lasse Euch allein gehen mit meinem Hab und Gut Herr Doktor , das wäre ja noch schöner. Die Wäsche muss in Streifen gerissen werden, sonst ist sie zum Verbinden überhaupt nicht geeignet. Wollt Ihr das alles machen?“

Stein war gerührt. Er nahm die Witwe in seine Arme und küsste sie. Sie genoss es sichtlich und legte ihre Arme um seinen Hals. Alle Gefahren waren in diesem Augenblick vergessen. Die zwei Seelen, die ohnehin schon Sympathie füreinander empfanden, hatten sich gefunden...

Nach einer weile nahmen beide wieder die Wirklichkeit war. „Wo wollen wir überhaupt hin?“ fragte die Witwe.

„Ich weiß nicht recht,“ kam die Antwort. „Vielleicht sollten wir zur Zollschanze, da sind viele der Unsrigen. Die Kaiserlichen werden hier alles aufbieten um durchzubrechen. Es wird wohl sehr opferreiche Kämpfe geben.“

Sie rannten, soweit es ihre Lasten zuließen, aus dem Haus auf die Gasse.

„Halt!“ rief da plötzlich die Witwe, stellte den Korb, den sie trug ab und verschwand nochmals im Haus. Nach kurzer Zeit öffnete sich ein Seitentor und sie kam mit einem Karren heraus. Schnell waren die Lasten verladen und die beiden eilten zu ihrem Ziel. Es war nicht einfach die Zollschanze zu erreichen. Das ganze Terrain lag immer noch unter heftigstem Mörserfeuer. Es war sofort zu sehen, dass es bereits erste Opfer gab.

Viele Verteidiger hatten Schussverletzungen, lagen lethargisch und stark blutend in der Schanze. Doktor Stein begab sich zu Ihnen und begann, nachdem die Witwe die ersten Stoffbänder gerissen und ihm zugereicht hatte, diese zu verbinden. Einigen konnte er nicht mehr helfen. Sie starben unter unsäglichen Schmerzen während er sie verband. Auch war seine Anwesenheit so weit vorn in der Linie eine große Gefahr für Ihn, die Verletzten und auch für die Witwe. In einer geeigneten Deckung der Schanze rief er die Witwe zu sich und vereinbarte mit ihr, dass sie zunächst die Verwundeten hierher transportieren müssten um sie in Sicherheit behandeln zu können. Dabei muss eine schwere Entscheidung getroffen werden. Es müssen diejenigen zuerst bedacht werden, deren Verwundungen nicht so schwer sind und die mit Erfolg behandelt werden können.

„Wie soll ich das entscheiden?“ fragte die Witwe fast voller Empörung.

„Sprechen sie mit den Tapferen, geben sie noch sinnvolle Antworten auf ihre Fragen, kann ihnen eventuell noch geholfen werden. Lallen sie nur noch oder phantasieren sie gar, geben sie ihnen tröstende Worte und begeben sich zum Nächsten.“

So handelten sie in der folgenden Stunde und sie hatten guten Erfolg. Nicht wenige konnten sie so in der Deckung sammeln und behandeln. Alle so Geborgenen überlebten diese Stunde. Der Wein und der Branntwein taten ihr übriges. Mit fortschreitender Zeit jedoch entwickelte sich die Situation für die Verteidiger der Schanze immer prekärer. Schon waren die ersten Kämpfe Mann gegen Mann in der Schanze zwischen den Kontrahenten ausgebrochen. Es waren nun Verletzte beider Seiten in der Schanze. Das Feuer aus Hakenbüchsen und Schlangen ebbte ab. Dafür nahmen Schussverletzungen aus Pistolet's und Stichverletzungen zu. Erstere hatten furchtbare Wirkungen. Aus nächster nähe beigebracht drangen die Kugeln in den Körper ein, irrten in ihm herum um letztendlich an beliebiger Stelle wieder auszutreten. Diese Verletzungen waren meistens so groß, dass sie den Tod des betroffenen Kämpfers in kürzester Zeit herbeiführten. Die Stichverletzungen hingegen konnten gut behandelt und versorgt werden. Von den Kämpfen in Prag jedoch wusste Doktor Stein, dass diese Verletzungen ihre Tücke erst später offenbarten. Werden solche Wunden nicht gereinigt, können auch sie den Tod des Verletzten bewirken. Dieses Wissen anwendend, behandelte der Doktor die Gepeinigten. Noch eine Gewissensentscheidung war zu fällen. Wen sollte man versorgen? Nur die eigenen Kämpfer oder alle geschundenen Seelen? Die Witwe wusste Antwort:“

Wir sind Christenmenschen und vor Gott alle gleich, also behandeln wir auch alle gleich.“

„Nun, das mit dem Christenmenschen ist nicht ganz so, aber vor Gott sind wir wahrlich alle gleich und Sie haben recht,“ rief der Doktor daraufhin. Und so kam es, dass nach einer weiteren Stunde der Kämpfer der Bürgerwehr neben dem Spanier, der neben dem Schweden und dieser wiederum neben dem Kroaten lagen. 'Ein Bild des Elends aber auch des Friedens' dachte der Doktor.

Der Druck auf die Zollschanze wurde immer stärker, immer mehr Landsknechte der kaiserlichen Seite drangen auf sie ein. Die hinteren drängten die vorderen Reihen immer noch mehr vor. Viele verletzte, getötete und auch unverletzte Kämpfer beider Seiten fielen in die Elbe und wurden vom Strom mitgerissen. Plötzlich erscholl der Ruf: 'Der Gesandte des schwedischen Königs ist gefallen!' Erst jetzt war dem Doktor klar, das der schwedische Gesandte offenbar die Verteidigung der Zollschanze geführt hatte. Was wird nun passieren? Eine Antwort kam schnell. Die Verteidiger gaben einer nach dem anderen den Widerstand auf. Viele von ihnen wurden niedergemetzelt, obwohl sie sich offensichtlich ergeben hatten. Deren Leichen wurden ebenfalls in den Strom geworfen, so dass sich schon eine sichtbare Blutspur im Fluss bildete.

Der Kampflärm in der Schanze ebbte ab. In der Ferne hörte man noch den Donner von Geschützen und das Knallen von Hakenbüchsen, die in Salven abgeschossen wurden. An anderen Stellen der Stadt wurde offenbar noch gekämpft. Auf der Zollschanze jedoch war das Schlagen der Domuhr zu hören. Zehn Schläge kündigten die neue Stunde an. Doktor Stein und die Witwe Grün kümmerten sich weiter um die Verletzten. Auf der Schanze sammelten sich die Landsknechte der Angreifer. Als sie in Richtung Stadt marschierten kamen sie an dem Platz vorbei, auf welchem der Doktor und die Witwe die Verletzten versorgten. Der Doktor wollte einem Kroaten gerade einen Schluck Branntwein verabreichen, als aus dem Trupp ein Landsknecht ausbrach, seinen Säbel zog und ihn dem Doktor von hinten in den Rücken stieß. Er fiel sofort nach vorn auf sein Gesicht und rührte sich nicht mehr.

Ein gellender Schrei der Witwe Grün ließ den Trupp halten. Voller Wut stürzte sich die Witwe auf den Kroaten kratzte und biss ihn und schlug ihn alle Gegenstände, die sie zu greifen bekam auf den Kopf und ins Gesicht. Überrascht, verwirrt und erschrocken über so heftige, unerwartete Attacken stürzte der Kroate zu Boden und bedeckte seinen Kopf mit den Armen. Dabei entglitt der Säbel seiner Hand. Die Witwe hob ihn blitzschnell auf und holte, den Säbel in beiden Händen haltend, zum Hieb auf den Übeltäter aus. Die Männer des Trupps zogen alle ihre Waffen und zielten oder holten zum Schlag gegen die Witwe aus. Ein Hauptmann kam ihnen aber zuvor. Er stoppte den Hieb der Witwe indem er ihren Schlag mit seinem Schwert parierte. Blitzschnell wand er ihr die Waffe aus den Händen. Ergriff sie von Hinten und hielt ihr die Klinge an den Hals.      „Noch eine falsche Bewegung und Ihr seid im Himmel!“ zischte er.

„Mörder, du elender Mörder!“ rief die Witwe an den zu Boden liegenden gewandt. „Selbst eure Leute hat er verbunden und getröstet, und Ihr schlachtet ihn einfach hin!“ rief sie unter Tränen aus.

Der Hauptmann und seine Leute sahen betroffen zu dem am Boden liegenden getötetenDoktor und entdeckten ihre eigenen Kameraden. Einer von ihnen stürzte plötzlich auf einen von den Verletzten zu und rief:

“Bruder, du lebst! Ich habe dich im Kampf stürzen sehen und dachte der Feind hätte dich zum Lieben Gott geschickt!“

„Ach was“, antwortete dieser weinselig. Offenbar hatte er vom Doktor einen besonders großen Schluck des Branntweines erhalten. „Ein Floh zertritt doch keine Katze. Aber in einem hat das Weib recht. Wäre der, den sie Doktor nennt nicht gewesen, dann wäre ich bestimmt schon leblos im Fluss auf dem Weg nach Hause.“

Verlegenheit breitete sich unter den Landsknechten aus. Sie wussten nicht mit dieser Situation umzugehen. Da erobern sie eine Stadt und finden ihre verletzten Kameraden vom Feinde betreut vor.

Die Witwe Grün hatte inzwischen den Doktor auf den Rücken gewendet und seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. So sitzend, beweinte sie ihr kurzes Glück. Der Hauptmann fasste sich als erster und sprach zur Witwe:

“Weib, wir bedauern dieses Missgeschick, aber das kommt im Krieg schon einmal vor.“

„Ihr wisst gar nicht, was für einen edlen guten und klugen Menschen ihr vernichtet habt!“ schluchzte sie. Der von der Witwe zu Boden gestoßene Landsknecht war inzwischen wieder aufgestanden. Nun hatte er offensichtlich Oberwasser. Um seine Untat zu rechtfertigen, brüllte er los:

“Ha, ein edler und guter Mensch? Ein Hundsfott war er! Ich hab genau gesehen, wie er unseren hilflosen Kameraden ihre Habe abnehmen wollte.“

„Er halte sein Maul!“ schrie nun der Hauptmann. Als dieser der Aufforderung jedoch nicht nachkam, holte er aus und versetzte dem Ungehorsamen einen Fausthieb, so das dieser unter dem Gelächter der anderen erneut rittlings zu Boden ging. Zu den anderen gerichtet: “Nehmt die Kameraden, diejenigen die laufen können stützt, die anderen tragt!“

Ein Bote der kaiserlichen Truppen erschien.

„Eine Meldung für Hauptmann de Groot!“ rief er, übergab ein Schreiben und entfernte sich wieder.