Der gehemmte Rebell - Hermann Lang - E-Book

Der gehemmte Rebell E-Book

Hermann Lang

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Beschreibung

Der Zwangsneurotiker ist ein gehemmter Rebell, der in ständigem Konflikt zwischen Autonomie und Fügsamkeit lebt. Triebhafte Bedürfnisse und Emotionen kann er nie ausleben; er hat gelernt, seine Gefühle zu kaschieren und sie in zwanghaften Ritualen auszudrücken. Das Buch zeigt auf der Grundlage der psychodynamischen Therapie Möglichkeiten der Diagnose und Behandlung für alle therapeutischen Schulen auf. Zwänge gehören zu den verbreitetsten psychischen Störungen überhaupt. Typische Symptome von Menschen mit einer Zwangsstörung sind Grübeln, Zählen, Wasch- oder Kontrollzwang. Viele verlieren an Vitalität und Flexibilität, stellen sich selbst häufig in Frage und zögern ständig. Das vorliegende Buch erläutert - Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie, - Psychodynamik, Pathogenese und Ätiologie, - Bezug zur Depression, Schizophrenie und zum Messie- Syndrom, - tiefenpsychologische Therapiemaßnahmen, - Möglichkeiten der Paar- und Familientherapie, - Möglichkeiten der Gruppentherapie und - die Kombination von psychodynamischer Psychotherapie, Pharmakotherapie und Verhaltenstherapie. - Zwangsstörungen sind die vierthäufigste psychische Erkrankung, ca. 3% der Gesamtbevölkerung sind betroffen - Häufige Störung, die meist ein Leben lang anhält Dieses Buch richtet sich an: - Alle Psychologischen und Ärztlichen PsychotherapeutInnen - PsychoanalytikerInnen

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Seitenzahl: 258

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Für Alice

Hermann Lang

Der gehemmte Rebell

Struktur, Psychodynamik und Therapie von Menschen mit Zwangsstörungen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland Sazinger, Stuttgart

Umschlagabbildung: Elsbeth Bienert, Weikersheim

Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94880-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10785-2

PDF-E-Book-ISBN 978-3-608-20265-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung

1Historischer Rückblick

2Zwangsstörung (Zwangsneurose): Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie

2.1 Zwangsgedanken

2.2 Zwangsimpulse

2.3 Zwangshandlungen

2.4 Weitere Merkmale

2.5 Epidemiologie

2.6 Differenzialdiagnose

3Psychodynamik, Pathogenese undÄtiologie der Zwangsstörung (Zwangsneurose)

3.1 Das klassische Konzept

3.2 »Der gehemmte Rebell«

4Die anankastische Persönlichkeitsstörung (zwanghafte Charakterneurose)

5Zwang in frühen Störungen

5.1 Zwang und Schizophrenie

5.2 Zwang und Depression

6Das Messie-Syndrom

7Therapie der Zwangsstörung (Zwangsneurose)

Einleitende Überlegungen

7.1 Herstellung und Aufrechterhaltung eines Arbeitsbündnisses

7.2 Bildung einer positiven bzw. idealisierenden Übertragung

7.3 Einsicht in psychodynamische Zusammenhänge zwischen Symptomatik, Auslösesituationen und Grundkonflikten bzw. vulnerabler Persönlichkeitsstruktur

7.4 Verbalisierung von bislang tabuisierten Vorstellungen, Wünschen, Ängsten, verbunden mit Überich-Entlastung bzw. Reduktion von Schuldgefühlen

7.5 Intensivierung des therapeutischen Prozesses im Übertragungsgeschehenund Korrektur problematischer primärer Beziehungserfahrungen

7.6 Paar- und Familientherapie

7.7 Gruppentherapie

7.8 Notwendige Behandlungsmodifikation bei der Therapie von Zwangssyndromen im Rahmen »früher Störungen«

7.9 Kombination von psychodynamischer Psychotherapie, Pharmakotherapieund Verhaltenstherapie

8Therapie der zwanghaften Persönlichkeitsstörung

Literatur

Personenregister

Sachregister

Der Autor

Einführung

Eine Frau wäscht sich hundertmal am Tage und kann wie Jack Nicholson in »Besser geht’s nicht« Türklinken nur noch mit dem Ellbogen berühren. Ein 29-jähriger Patient fürchtet einmal, er könne sich mit Keimen infizieren, und zum anderen, er selbst könne Frauen schwängern, weil Samen an seinen Händen klebe. Mehr und mehr gerät er in einen massiven Waschzwang hinein. Eine 32-jährige Frau wie auch ein 38-jähriger Patient müssen sich beim Autofahren ständig umschauen und auch umkehren, weil sie befürchten, einen Menschen überfahren zu haben. Der 38-Jährige kommt an keinem Lichtschalter vorbei, ohne ihn abwischen zu müssen, da er befürchtet, ein Feuchtigkeitsfilm könnte todbringenden Strom überleiten. Auch müsse er ständig die Wasserhähne im Haus kontrollieren – wären sie nicht dicht, könnte es zu einer Überschwemmung kommen, worin dann Familienangehörige elendig zu Grunde gingen. Die 32-jährige junge Frau muss ständig kontrollieren, ob der Telefonhörer aufliegt, muss sie doch ständig daran denken, der Vater könnte im Sterben liegen und ein Hilferuf käme (obwohl er ganz gesund ist). Eine 52-jährige Patientin ist permanent damit beschäftigt, die Gegenstände des Raumes zu zählen, die Bleistifte auf dem Schreibtisch, die Blätter der Zimmerpflanzen, die Gäste im Restaurant, die Speisen auf der Speisekarte undso weiter. Während des Erstinterviews zählt sie die Aktenordner und Bücher an den Wänden und das jeweils dreimal, da aller guten Dinge drei sind. Hinzu kommt noch ein Wiegezwang (»alles wird gewogen, sogar die Post, die ich bekomme«). Schließlich entwickelt sie ein ausgesprochenes Messie-Syndrom, das so weit geht, dass sie in der eigenen Wohnung nur noch zusammengekrümmt auf einer Couch schlafen, geschweige baden oder kochen kann. Ein ausgesprochener Fotografierzwang kommt noch hinzu. Eine 38-jährige Frau muss unbedingt die Zahl Sieben vermeiden – z.B. beim Lesen eines Buches abdecken –, weil die Wahrnehmung der Zahl Sieben den Tod der Mutter bedeuten könnte. Ein anderer hatte die Zahl Vier zu vermeiden, weil sie mit dem möglichen Tod des Vaters verbunden war – die Familie bestand aus fünf Mitgliedern, die Zahl Vier hätte dessen »Ausschluss« bedeutet. Bei einer anderen, heute über 50-jährigen Patientin setzten bereits im elften Lebensjahr Zwänge dergestalt ein, dass sie über Stunden immer wieder auch kontrollieren musste, ob Haustüren und Fenster abgeschlossen waren. Bei einem 14-jährigen Patienten traten erstmals Zwangsvorstellungen in Form von Zwangsgrübeln nach dem Tod der Großmutter mütterlicherseits auf, könne er doch an deren Tod schuld sein. Parallel dazu setzte ein Waschzwang dergestalt ein, dass er seine Hände so lange waschen musste, bis sie rot und wund waren. Kontrollzwänge hinsichtlich peinlichster Ordnung in seinem Zimmer kamen noch hinzu.

Was diese Patienten, so unterschiedlich ihre Symptome auch sein mögen, gemeinsam haben, ist eine Zwangserkrankung, die quälenden Leidensdruck verursacht und nicht selten die Angst, als verrückt zu gelten, aufkommen lässt und deshalb nach Möglichkeit kaschiert wird. So begleitet die Messie-Patientin ständig die Furcht, sie käme »rüber zum Riecher«. Erst nach genauerem Nachfragen war zu erfahren, dass es sich hier um Prof. Rieger handelt, einen früheren Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik, in psychoanalytischen Kreisen übrigens als radikaler Gegner Freuds bekannt. Diese Angst mag zuweilen nicht unbegründet sein, begegnen Zwangssymptome zweifelsohne auch in Schizophrenien und Melancholien. Eigene Kapitel werden auf diese Zusammenhänge zurückkommen.

Andererseits findet sich zwanghaftes Verhalten zweifellos auch beim Gesunden. Alltägliche Abläufe sind autonomisiert, ritualisiert und ersparen auf diese Weise Aufwand an zusätzlicher Energie. Ein zwanghafter Ordnungssinn mag für unser Verlangen (bspw.) nach Ordnung, nach einem festen Tagesablauf, für unser Verlangen nach Garantie, nach Sicherheit, nach richtiger Führung mitverantwortlich sein, »für das Verlangen, Beamter zu werden oder in seinen Kindern Beamte sehen zu wollen« (Israel 1984, S. 111). Bei Kindern, und das schon im Kleinkindalter, begegnet hartnäckiges Insistieren auf bestimmten Gewohnheiten, sei es beim Essen, Waschen, An- und Ausziehen oder was das Schlafritual oder auch viele Spiele angeht. Wehe dem vorlesenden Elternteil, änderte es die Gutenachtgeschichte. Wiederholung in den kleinsten Details ist gefordert, »das Wiederholen stellt offensichtlich einen basalen Lebensvorgang dar, der dem Bewahren, dem Erhalten des einmal in Erscheinung getretenen Lebens dient« (Quint 1988, S. 2). Ein magisches Moment spielt hier quasi »physiologisch« mit. Das tut es natürlich auch beim Aberglauben, der beispielsweise Sportler zu bestimmten Ritualisierungen zwingt. Sehr schön lässt sich dies bei Tennisspielern und -spielerinnen beobachten. So konnte ich bei den letztjährigen French Open bei dem wohl besten Sandplatzspieler der Geschichte, Rafael Nadal, ein neunteiliges Ritual vor dem Aufschlag beobachten. Nadal wischte zunächst mit dem Fuß die Grundlinie ab, klopfte dann mit dem Schläger an den linken, dann an den rechten Tennisschuh, fasste an den hinteren Teil der Hose, zog danach das Shirt links, dann rechts hoch, berührte die Nase, streifte sich schließlich die Haare links und dann rechts über die Ohren nach hinten. Beim Wechsel vermied er, die Linien zu betreten, auf der Bank trank er zunächst aus einer kleinen, dann aus einer großen Flasche und stellte sie exakt wieder auf die Stelle zurück, wo sie zuvor gestanden hatten. Schließlich noch: »Wer rasiert, verliert«. Also ließ er sich während des ganzen Turniers einen Bart wachsen. Viele andere versuchen die Sportwäsche anzuziehen, worin sie schon einmal gewonnen haben. Was uns hier begegnet, sind sozusagen »physiologische, nicht krankheitswertige Zwangsphänomene«.

Zu den häufigsten Fragen, die in einer Vorlesung über Zwänge gestellt werden, gehört die, ab wann beispielsweise ein Kontrollverhalten als pathologisch zu werten ist. Beispielsweise die Kontrolle, ob das Auto abgeschlossen ist. In einer fremden Straße oder erst recht in einer fremden Stadt wird es anders sein als vor dem eigenen Haus. Was das eigene Haus betrifft, dem hat Eugen Roth aus dem Urlaub quasi unsterbliche Verse gewidmet:

Der Urlaub

Ein Mensch, vorm Urlaub, wahrt sein Haus,

Dreht überall die Lichter aus.

In Zimmern, Küche, Bad, Abort –

Dann sperrt er ab, fährt heiter fort.

Doch jäh, zu hinterst in Tirol,

Denkt er voll Schrecken: »Hab ich wohl?«

Und steigert wild sich in den Wahn,

Er habe dieses nicht getan.

Der Mensch sieht, schaudervoll, im Geiste,

Wie man gestohlen schon das meiste,

Sieht Türen offen, angelweit.

Das Licht entflammt die ganze Zeit!

Zu klären solchen Sinnestrug,

Fährt heim er mit dem nächsten Zug

Und ist schon dankbar, bloß zu sehn:

Das Haus blieb wenigstens noch stehn!

Wie er hinauf die Treppe keucht:

Kommt aus der Wohnung kein Geleucht?

Und plötzlich ist’s dem armen Manne,

Es plätschert in der Badewanne!

Die Ängste werden unermessen:

Hat er nicht auch das Gas vergessen?

Doch nein! Er schnuppert, horcht und äugt

Und ist mit Freuden überzeugt,

Dass er – hat er’s nicht gleich gedacht? –

Zu Unrecht Sorgen sich gemacht.

Er fährt zurück und ist nicht bang. –

Jetzt brennt das Licht vier Wochen lang.

Dank

Danken möchte ich den Patientinnen und Patienten, denn erst durch ihre Mitarbeit wurden die hier zu thematisierenden therapeutischen Erfahrungen und ihre Reflexion möglich. Zu danken habe ich meiner Frau und meinen psychotherapeutisch tätigen Töchtern Dres. Katja und Saskia Lang, die immer wieder im Gespräch die Entstehung dieses Buches begleitet haben.

Danken darf ich Frau Anna Blöcher, die wertvolle Schreibhilfe bei der Erstellung dieses Buches geleistet hat. Ebenso herzlichen Dank an Frau Elsbeth Bienert, Weikersheim, für die Überlassung der Umschlagabbildung. Dank Herrn Dr. Beyer vom Verlag Klett-Cotta für die ausgezeichnete Kooperation und Sorgfalt bei der Veröffentlichung des Manuskripts, ebenso Herrn Eller für seine sorgfältige redaktionelle Betreuung.

KAPITEL 1Historischer Rückblick

Wenn der amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker Richard Chessick (2000) – vor allem bekannt durch seine Arbeiten über Persönlichkeitsstörungen – darüber Klage führt, dass sich heute die Psychoanalyse zu wenig um Zwangsstörungen kümmere, trifft dies sicherlich nicht auf deren Begründer zu. Denn die Psychoanalyse verdankt ihre Entstehung nicht nur dem Studium der Hysterie, sondern gerade auch der Erforschung der Zwangsneurose. Freud gibt hier der Zwangsneurose sogar den Vorzug, gehe doch der Zwangsneurose »jener rätselhafte Sprung aus dem Seelischen ins Körperliche« (1917, S. 265) ab und sei dadurch durchsichtiger als die Hysterie. »Die Zwangsneurose ist wohl das interessanteste und dankbarste Objekt der analytischen Untersuchung« (Freud 1926, S. 142). So verwunderte es nicht, dass schon in den ersten nicht mehr rein neurologischen oder neuroanatomisch orientierten Arbeiten auf Zwangsstörungen fokussiert wird, so in den »Abwehr-Neuropsychosen« von 1894 (GW I) und 1895in einem in der »Revue Neurologique« erschienenen Artikel »Obsessions et Phobies« (GW I), der eine Reihe zwangsneurotischer Fälle versammelt. So war es gewissermaßen konsequent, dass gerade in der Anfangszeit der Psychoanalyse und auch in den folgenden Jahrzehnten viel über die Zwangsneurose publiziert wurde, u.a. die ausführliche Monographie von Otto Fenichel (1931). Trotz dieser »inherent fascination« (Esman 1989) finden sich in den letzten Jahrzehnten psychoanalytische Publikationen eher reduziert. Stattdessen gerieten Untersuchungen zu Persönlichkeitsstörungen, insbesondere zur Narzisstischen und Borderline-Störung in den Vordergrund. Hinzu kommt, dass manche Psychoanalytiker wie auch Kritiker der Psychoanalyse der Ansicht sind, dass sich seit Freuds klassischem Konzept kaum weitere Fortschritte ergeben haben. Richtig ist sicherlich, dass Freuds »geniale« Konzeption nach wie vor ihre Berechtigung hat, falsch indessen ist, dass es seitdem keine entscheidenden Weiterungen gegeben habe.

Dass Freuds erste Arbeiten über die Zwangsneurose gerade auf Französisch erschienen sind, ist sicherlich nicht zufällig, sie mögen noch an den Studienaufenthalt bei Jean-Martin Charcot anschließen; wichtiger ist indessen wohl, dass sie gerade im französischen Sprachraum auf Interesse hoffen konnten, sofern sich zunächst vor allem die französische Psychiatrie mit dem Bereich der »Zwangsvorstellungen« beschäftigt hatte. So berichtet bereits Jean-Etienne Esquirol 1839 im zweiten Band seiner »Maladies mentales« über eine Kranke mit Zwangsvorstellungen der Art, dass sie fürchtete, bei Berührung mit irgendwelchen Dingen sich diese anzueignen, sie zu entwenden. Um die gefürchteten Berührungen zu vermeiden, habe sie dann so lange auf einem Bein gestanden, wie sie es aushalten konnte. Dabei war sich die Patientin, deren Intelligenz völlig intakt war, der Absurdität der sich ihr aufdrängenden Zwangsvorstellungen bewusst.

Ein entscheidendes Kriterium, das bis heute die Zwangsneurose bzw. Zwangsstörung kennzeichnet, das »Unsinnigkeitskriterium«, ist hier schon formuliert. Es sei an die heute maßgebliche Definition Kurt Schneiders (1967) erinnert: »Zwang ist, wenn jemand Bewusstseinsinhalte nicht loswerden kann, obschon er sie gleichzeitig als inhaltlich unsinnig oder wenigstens als ohne angemessenen Grund beherrschend und beharrend beurteilt.« Doch zurück zur französischen Psychiatrie. Einen weiteren wichtigen Schritt bildete dann eine Abhandlung Bénédict Augustin Morels aus dem Jahre 1866 (Übersicht bei Loewenfeld 1904). Morel arbeitete eine Reihe zentraler Merkmale heraus, um dann den Schluss zu ziehen, dass es sich hier nicht um eine eigentliche Geisteskrankheit, sondern um eine Neurose handelt. Die von ihm geschilderten Zwangsphänomene beschränken sich jetzt nicht mehr auf die auch von ihm untersuchte Berührungsfurcht:

»Die Kranken gestehen dem Arzte, dass sie nach einem langen Kampfe gegen Ideen, deren Grundlosigkeit und Lächerlichkeit sie erkennen, allmählich doch dahin gelangten, dass sie es nicht wagen, gewisse Gegenstände zu berühren, eine Türe oder ein Fenster zu öffnen, in einen Wagen zu steigen, eine Treppe hinaufzugehen, eine Straße oder einen Fluss zu überschreiten, dieses oder jenes Schauspiel zu sehen, ihre Frauen und ihre Kinder zu umarmen, ihnen selbst nur die Hand zu geben, eine Hiebwaffe zu ergreifen« (zit. n. Loewenfeld 1904).

Im gleichen Jahr 1866 fand in Paris eine Sitzung der »Société médico-psychologique« statt, die dem Bereich der Zwangsvorstellungen gewidmet war. Neben Begriffen wie »Monomanie avec conscience« und »Folie raisonnante« wurde der heute noch für diese Störung charakteristische Begriff der »Maladie du doute« (»Zweifelskrankheit«) geprägt.

Die Bezeichnung »Zwangsvorstellung« wurde im deutschen Sprachraum erstmals 1867 von dem Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing gebraucht. Er betont dabei interessanterweise – was übrigens auch schon Morel tat –, dass Zwangsvorstellungen nicht selten durch äußere Ereignisse angeregt würden und sich auch bei Gesunden im üblichen Empfinden und Vorstellen ganz fremde, ungeheuerliche Vorstellungen einfinden könnten. Im Falle der Kranken sieht er solche Vorstellungen auf dem Boden depressiver Verfassungen entstanden. Wilhelm Griesinger, der heute noch durch sein Schlagwort »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« bekannt ist, machte ein Jahr später auf diesen eigentümlichen psychopathischen Gemütszustand aufmerksam, der nur bei Kranken außerhalb der »Irrenanstalt« zu beobachten sei. Er beschreibt dabei drei Patienten, die dem französischen Begriff der »maladie du doute« entsprachen.

Innerhalb der deutschsprachigen Psychiatrie wurde zweifellos die 1877 in einem Vortrag »Über Zwangsvorstellungen« vor der Berliner Medizinisch-Psychologischen Gesellschaft vorgebrachte Definition Carl Westphals wegweisend:

»Unter Zwangsvorstellungen verstehe ich solche, welche bei übrigens intacter Intelligenz und ohne durch einen Gefühls- oder affectartigen Zustand bedingt zu sein, gegen und wider den Willen des betreffenden Menschen in den Vordergrund des Bewusstseins treten, sich nicht verscheuchen lassen, den normalen Ablauf der Vorstellungen hindern und durchkreuzen, welche der Befallene stets als abnorm, ihm fremdartig anerkennt und denen er mit seinem gesunden Bewusstsein gegenübersteht.«

Die Schneidersche Definition schließt sich hier an, wenn sie auch, wie Bürgy (2005) betont, sprachlich einfacher und von größerer Schärfe sei.

Wie weit reicht ein Zwangssymptom? Hier ist die merkwürdige Beobachtung zu machen, dass dessen Umfang am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht minder umstritten war als heute. Wenn wir an den Begriff des »Obsessive-compulsive spectrum« (Übersicht bei Rasmussen und Eisen 1997; Hollander 1993; DSM-5, S. 235ff.) denken, der beispielsweise Essstörungen, Impulskontrollstörungen, Dysmorphophobie, Hypochondrie einschließt, verwundert es nicht, dass bereits eine Übersicht der »Zwangszustände« bei Friedmann von 1920 26 Einzelformen dieser Zwangszustände enthält, wobei Phobien aller Schattierungen, Hypochondrien, überwertige Ideen mit eingeschlossen sind.

Auf der anderen Seite ist in der psychiatrischen Tradition eine Endogenisierung der Zwangsstörung zu registrieren. Der Tendenz nach lässt sich die Literatur auf zwei Pole hin gruppieren. Für die Auffassung der ersten Gruppe steht vor allem die Züricher Schule. Im Bleulerschen Lehrbuch von 1943 heißt es beispielsweise: Sie (die Zwangsneurose) gehört grundsätzlich in den schizophrenen Kreis und ist, soweit es sich nicht um ein Syndrom innerhalb und meist zu Beginn schizophrener Psychosen handelt, eine besondere Form der schizothymen Verhaltensweisen …«. In gewissem Sinne seien Zwangsneurosen als larvierte Schizophrenien anzusehen und ihre Symptome, wie schon die Schizophrenie-Monographie von 1911 dargelegt hatte, als akzessorische Schizophreniesymptome zu werten. Wilhelm Mayer-Gross hebt auf die »Analogie der Verschlossenheit des Zwangsneurotikers zu dem schizophrenen Autismus« (1977) ab. Unter Bezugnahme auf Falldarstellungen Kurt Schneiders und Walter Jahrreiss’ (1926) sieht auch er in Zwangsneurosen, die unbeeinflussbar über Jahrzehnte fortbestehen und zu einer in höchstem Maß autistischen Haltung führen, schizophrene Prozesse. Ähnlich bewertet dies Weitbrecht (1968). Süllwold fand bei einer Studie zur Verhaltenstherapie von Zwangsgedanken, dass zwei Drittel der Patienten Störungen dergestalt boten, dass an das »Vorhandensein eines schizophrenen Achsensyndroms« gedacht werden konnte (1977).

Wenn sich noch in der Auflage des Bleulerschen Lehrbuches von 1979 die Bemerkung findet, dass Zwänge häufig bei Schizophrenen vorkommen, so ist nun die Gruppe, die sich auf den entgegengesetzten Pol zubewegt, ganz anderer Ansicht. Sie, und sie hatte in der Vergangenheit wohl das Übergewicht, ist sich darüber einig, dass Zwangssymptome im Verlauf einer Schizophrenie eine Seltenheit sind oder überhaupt nicht auftreten. Unabhängig von der entsprechenden Gruppenzuordnung zunächst einige Zahlen: Jahrreiss fand 1926 bei der Durchsicht der Krankengeschichten von 1000 Schizophrenen nur 11 Krankenblätter, in denen auch Zwangsvorstellungen festgehalten worden waren. Rosen (1957) konnte unter 848 Schizophrenen nur 30 (= 3,5%) Patienten mit Zwangssymptomen entdecken. Die katamnestischen Untersuchungen Christian Müllers am Burghölzli zeigten bei einer durchschnittlichen Katamnesedauer von 25 Jahren, dass von 57 Zwangskranken immerhin 7 schizophren geworden waren (1953). Ebenfalls bei einer katamnestischen Untersuchung mit einer Frist von 13–20 Jahren konnte Kringlen feststellen, dass von 91 Patienten mit Zwangsneurose 6 später als psychotisch oder grenzpsychotisch imponierten (1965).

Nicht zuletzt aufgrund von Zahlen, die Jahrreiss vorgelegt hatte, kam Carl Schneider zu dem Schluss, dass »ein engerer Wesenszusammenhang von Zwangsdenken und Schizophrenie nicht zu erwarten« sei. Da die Zwangserscheinungen meist im Beginn des Prozesses gefunden würden, könnte »höchstens eine Auslösungswirkung des schizophrenen Prozesses angenommen werden« (1930). In der 7. Auflage seines Lehrbuchs betont Emil Kraepelin, dass ein Übergang des »Zwangsirreseins« in andere Geistesstörungen, wie ihn die Kranken immer befürchten, nicht vorkomme (1904). Ähnlich äußerte sich 1912 Heilbronner. Weniger strittig erschien dieser Gruppe der Zusammenhang von Zwang und Melancholie. Stöcker machte schließlich den Versuch, den Zwang als Symptom dem manisch-depressiven Formenkreis einzugliedern (1914). Wenn, wie seltene Fälle zeigen, tatsächlich Zwang und Schizophrenie zusammen aufträten, dann könne es sich, wie noch einmal Pilcz (1922) und Legewie (1923) hervorhoben, nur um eine zufällige Kombination handeln.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die nosologische Einordnung des sogenannten »Wolfsmanns«, von Freud (1918) bekanntlich als (infantile) Zwangsneurose beschrieben. Der Name für diesen jungen Russen rührt daher, dass Freud in das Zentrum seiner Interpretation einen Wolfstraum des 4-Jährigen rückte.

Für Ludwig Binswanger (1945) hingegen gibt es im Hinblick auf diesen Patienten, der sechs Jahre nach Beendigung seiner zweiten Analyse bei Freud einen hypochondrischen Wahn entwickelte, keinen Zweifel, dass es sich hier um eine »polymorphe Form der Schizophrenia simplex« handelt. Ähnlich urteilt Mayer-Gross (1977). Ehe dieser Patient zu Freud nach Wien kam, war er bereits stationär in München behandelt worden. Kraepelin, der schon den Vater des Patienten wegen »manisch-depressiven Irreseins« betreut hatte, stellte beim Sohn die gleiche Diagnose. Das erstaunt nicht weiter, da Kraepelin, wie oben erwähnt, dahin tendierte, das sogenannte »Zwangsirresein« dem manisch-depressiven Formenkreis selbst einzugliedern. Langer (1928) sprach beispielsweise von der »Verankerung der Zwangssymptome im Anlageganzen der zyklothymen Depression«.

Für Freud selbst unterliegt es keinem Zweifel, dass es sich bei diesen Zwangsstörungen um eine »Neurose« handelt. Es sei daran erinnert, dass wichtige Beiträge Freuds zum Zwang bereits 1894 und 1895 vorlagen.

In seiner umfassenden Übersicht von 1904 geht Loewenfeld »wohlwollend« auf Freud ein, gibt beispielsweise ausführlich im abschließenden Therapiekapitel »Die Psychoanalytische Methode Freuds« wieder. Keine Frage andererseits, dass diese »eigenartige Theorie«, wie Friedmann (1920) sich ausdrückt, sich von allem abhob, was bislang über das Phänomen »Zwang« vorgelegt worden war. Wenn, wie wir angedeutet haben, in der psychiatrischen Tradition auch die Möglichkeit »psychogener« Einflüsse erwogen wurde, auch hier schon Zwangsvorstellungen von Wahnideen unterschieden wurden, blieb man doch weitgehend im Deskriptiven und war sich über eine organische Verursachung, eine »originäre neuropsychopathische Konstitution« einig, sah man hier eine hereditäre »Degeneration« am Werke, wenn auch auf einer höheren Stufe (»Dégénérés superieurs«).

KAPITEL 2Zwangsstörung (Zwangsneurose): Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie

Der traditionelle Name der Zwangsneurose ist heute durch den Begriff der Zwangsstörung ersetzt. Im DSM-IV wird diese Störung (»obsessive-compulsive disorder«, »OCD«, 300.3) den Angststörungen subsumiert, da Zwänge vorrangig der Angstregulierung dienten. Im DSM-5 ist der Zwangsstörung unter dem Titel »Obsessive-Compulsive and Related Disorders« wieder ein eigenes Kapitel gewidmet. Parallel dazu wird auf Achse II die »zwanghafte Persönlichkeitsstörung« (301.4) als eigenständige Kategorie geführt. In der ICD-10 lauten die Synonymbezeichnungen »anankastische Syndrome, Zwangsstörungen« (F 42) bzw. »anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung« (F 60.5).

Wie schon im vorherigen Kapitel erwähnt, lässt sich mit K. Schneider (1967, S. 105) generell Zwang so definieren: »Zwang ist, wenn jemand Bewusstseinsinhalte nicht loswerden kann, obschon er sie gleichzeitig als inhaltlich unsinnig oder wenigstens als ohne angemessenen Grund beherrschend und beharrend beurteilt.« Das »ich-dystone Erleben« ist also für eine Zwangsstörung im Sinne einer Symptomneurose bezeichnend. »Störend, pathologisch und damit behandlungsbedürftig werden Denk- und Verhaltensmuster dann, wenn sie ein zumeist sehr variables und subjektives Intensitäts- und Häufigkeitskriterium überschreiten und dadurch eine deutliche Beeinträchtigung des Lebensvollzugs einer Person mit sich bringen« (Reinecker 2005).

Im Beschwerdebild lassen sich drei große Bereiche unterscheiden:

2.1 Zwangsgedanken

Bestimmte Zwangsvorstellungen oder Zwangsbefürchtungen behaupten sich anhaltend und gegen den Willen des Betroffenen im Bewusstsein. Dabei werden diese Zwangsgedanken als aufdringlich und unangemessen wahrgenommen. Inhaltlich handelt es sich oft um aggressive und sexuelle Themen bzw. um die damit verbundenen Schuldvorstellungen.

So hatten sich beim »berühmtesten Fall« Freuds (1918), dem schon genannten »Wolfsmann«, gotteslästerliche Gedanken dergestalt eingestellt, dass er immer wieder denken musste: »Gott – Schwein« oder »Gott – Kot«. Auch war er von dem Zwang gequält, an die Heilige Dreieinigkeit zu denken, wenn er drei Häufchen Pferdemist oder anderen Kot liegen sah. Erinnert sei hier an die mannigfachen Zwangsbefürchtungen der in der Einleitung erwähnten Patienten. Der Zwangsgedanke, einen Menschen überfahren zu haben oder zumindest einem möglicherweise Verunglückten nicht entsprechenden Beistand geleistet zu haben, scheint heute fast inflationär. Neben anderen Symptomen bietet diese Befürchtung ein 28-jähriger Betriebswirt, Herr E. Besonders eindrucksvoll die Selbstschilderung von Dr. S., einem Psychologen, unter dem bezeichnenden Titel »Der Autounfall, der nie stattgefunden hat« in »Der Junge, der sich immer waschen musste« (Rapoport 1989). Herr E. litt des Weiteren an der Furcht, sich mit Tollwut und AIDS infiziert zu haben und andere entsprechend anzustecken, beispielsweise den behandelnden Zahnarzt. Bezeichnend für einen Zwangsneurotiker hier das »Unsinnigkeitskriterium« seiner ich-dystonen Aussage: »Ich habe Angst Sie anzustecken, obwohl ich eigentlich weiß, dass ich kein AIDS habe«. Einem 38-jährigen Bürgermeister, Herrn R., der zugleich das Standesamt versah, drängte sich die Zwangsvorstellung auf, Heilige hätten Sex mit Tieren, sobald er den Namen eines oder einer Heiligen zu schreiben hatte – was ja bei seiner Tätigkeit häufig vorkommt. Oder es müssen bestimmte Gedankenreihen immer wieder zu Ende gedacht werden (z.B. in einem Zählzwang), dabei oft verbunden mit Befürchtungen der Fremd- oder Selbstschädigung (»wenn nicht entsprechend gedacht, gezählt oder vermieden wird, geschieht einer fremden Person oder dem Subjekt selbst etwas Schlimmes«). So musste, wie eingangs erwähnt, eine 38-jährige Frau unbedingt die Zahl Sieben vermeiden – z.B. beim Lesen eines Buches abdecken –, weil die Wahrnehmung der Zahl Sieben den Tod der Mutter bedeuten könnte. Ähnlich rigoros hatte Felix Leps (s. seine Autobiographie) die Zahl Vier zu vermeiden, weil sie mit dem möglichen Tod des Vaters verbunden war – die Familie bestand aus fünf Mitgliedern, die Zahl Vier hätte dessen »Ausschluss« bedeutet. In den Zwangsbefürchtungen der 32-jährigen Bibliothekarin Sylvia O. stand ebenfalls der Vater im Zentrum, sofern sie ständig denken musste, er sei alkoholkrank, könnte sterben, obwohl er gesund war. Oder ihr schoss sofort der Gedanke durch den Kopf, dass sie einen Menschen überfahren habe, sobald sie beim Autofahren eine Unebenheit spürte. Oder es stellte sich die Zwangsbefürchtung ein, ein Obdachloser sei am Sterben, sobald sie seiner gewahr wurde oder ihn unter einem größeren Stück Papier vermutete, das auf der Straße lag.

Charakteristisch überhaupt sind »Veränderungen des Denkens«: Die Patienten müssen unablässig grübeln, bestimmte Gedanken unterdrücken, andere wiederholen. Alles im Leben muss sorgfältig überprüft, bedacht, überlegt werden, oft ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. Zentral ist bei der Zwangsstörung, wie in der Einleitung erwähnt, die alles dominierende Bedeutung des Zweifels (»maladie du doute«). Entsprechend schreibt Wyss (1973, S. 480):

»Ob die Beziehung des (Zwangs-)Kranken zur Ordnung, seine Genauigkeit (Kontrollzwänge), Skrupulosität, Pedanterie oder die seiner Abwehr gegen Verschmutzung, Staub und Bakterien, ob die Zwangsrituale oder Zwangsimpulse in den Vordergrund gestellt werden – sie alle folgen aus dem Zweifel: ob eine Handlung in bestimmter Weise durchgeführt worden sei, ob eine Verschmutzung vermieden werden konnte, ob sie stattgefunden hat, ob der Eintritt der möglichen Katastrophe, der Bedrohung durch entsprechende Rituale verhindert werden konnte.«

In der Phantasie des Patienten werden Gedanken oft wie Taten behandelt, ihnen wird eine magische Bedeutung zugesprochen: Gedanken können töten, schuldig machen, Unheil bringen, wieder gutmachen, verzaubern. Ein bekannter Patient Freuds, der sogenannte »Rattenmann«, sprach deshalb von der »Allmacht der Gedanken« (Freud 1909, S. 450). Der ungewöhnliche Name rührt daher, dass in den Zwangsvorstellungen des jungen Juristen Ernst Lanzer die Befürchtung stand, am Vater oder an der Geliebten würde eine im Orient übliche Strafe – Ratten bohren sich in den After – vollzogen.

2.2 Zwangsimpulse

Bei Zwangsantrieben kommt es zum massiven Drang, bestimmte Handlungen durchzuführen, die als »trivial, sozial beschämend, störend oder bedrohlich« (Kapfhammer 1996) imponieren. Es sind Impulse meist aggressiven Charakters, z.B. den eigenen Säugling fallen zu lassen oder, wie bei einer 30-jährigen Frau, die Heigl (1972) beschrieben hat, mit einem spitzen Gegenstand zu verletzen.

Der schon erwähnte 38-jährige Mann, von Beruf Filialleiter einer Lebensmittelkette, wird von dem Impuls geplagt, seine Frau zu erwürgen, wenn er nach intimem Beisammensein den Arm um sie legt. Erschrocken über diesen Antrieb, geht er dann schnell auf Distanz. Ein unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidender 24-jähriger Kunststudent gerät immer wieder in dumpf gespürte Episoden von Wut, die sich schließlich in Zwangsimpulsen dergestalt ausdrücken, dass es ihn drängt, der aktuellen Freundin, wenn er sie im Arm hält, »das Genick zu brechen« oder auch andere zu erstechen oder vor einen Zug zu stoßen. Er wisse, dass diese Vorstellungen unsinnig seien, könne sie aber nicht verhindern.

Hier drängen Zwangsvorstellungen zur Handlung, die mit ganzer Kraft abgewehrt werden und in der Regel, falls es sich nicht um Borderline- oder psychotische Störungen handelt, nicht zur Handlung führen.

2.3 Zwangshandlungen

Zwangshandlungen sind krankhaft erlebte Handlungen, deren Unterlassung heftige Angst auslösen kann. Magische Rituale dienen oft der Abwehr phantasierter Gefahren, Ordnungszwänge sollen »das Chaos der Impulse steuern« (Hoffmann 1986). Auch Kontrollzwänge sind häufig mit Angst und Schuldvorstellungen verbunden. Bei Vermeidungsritualen sind bestimmte Handlungen verboten oder müssen durch Gegenhandlungen wieder gutgemacht werden.

So musste der Wolfsmann – wohl als Reaktion auf seine aggressiv-gotteslästerlichen Gedanken – vor dem Einschlafen eine unendliche Reihe von Kreuzen schlagen und pflegte darüber hinaus des Abends Runden vor allen Heiligenbildern zu machen, die im Zimmer hingen, um jedes einzelne andächtig zu küssen.

So musste der Bürgermeister sofort den Namen des Heiligen am PC löschen, hatte ihn dann neu zu schreiben, löschte ihn wieder, musste ihn erneut bringen und wieder löschen – so ging es ständig hin und her. Da der Name indessen auf der Geburts- oder Sterbeurkunde zu stehen hatte, kam er in seiner verzweifelten Situation zu einer Lösung in Form einer weiteren Zwangshandlung derart, dass er– um sich von seinem schlechten Gewissen zu entlasten – mit dem Wort »Entschuldigung« auf den Lippen zu Kollegen ging, beispielsweise sagte: »Entschuldigung, hast du mal einen Radiergummi?« Dann konnte der Name bleiben.

So musste Sylvia O. ständig kontrollieren, ob der Telefonhörer aufliegt, denn es könnte ja ein Hilferuf der Eltern kommen; ständig musste sie selbst nachschauen, ob jemand auf der Straße am Sterben wäre, musste beim Fahren »sich umschauen« oder umkehren, um sich zu vergewissern, dass sie keinen Menschen überfahren habe. Oft musste sie das mehrmals wiederholen, weil sie zweifelte, ob sie richtig gesehen habe. Dann kamen bei jeder Wiederholung Skrupel, ob nicht durch diese Rückkehr der Verkehr sich anders darstelle als sonst, deshalb gerade durch sie ein Unfall eintreten könnte. Das sei fürchterlich: Was sie auch mache, es sei falsch, das versetze sie in Panik und mache große Schuldgefühle. Ganz analog müssen Dr. S., Herr E. und der 38-jährige Filialleiter verfahren. Er kommt zudem an keinem Lichtschalter vorbei, ohne ihn abwischen zu müssen. Er befürchte, ein Feuchtigkeitsfilm könne todbringenden Strom überleiten. Ständig müsse er die Wasserhähne im Haus kontrollieren: Wären sie nicht dicht, könne es zu einer Überschwemmung kommen, in der die Familienangehörigen elendiglich zugrunde gehen. Felix Leps musste alle Gegenstände, Begebenheiten meiden, wo die Zahl Vier auftauchen könnte (z.B. bei Müsli mit vier Getreidesorten, oder beim Schwimmen vier Bahnen unterlassen, aber auch die Zahlen 8 oder 16, weil in ihnen die 4 enthalten ist).

Reinigungszwänge, wie beispielsweise ein Waschzwang, dienen der Vermeidung bzw. Beseitigung von Verschmutzung, Krankheit oder Schuld. Isolierte Zwangshandlungen kommen relativ selten vor. Bei etwa 75% der Patienten liegt eine Kombination von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen vor. Mit den Begriffen Binders (1936) haben wir es bei Zwangshandlungen mit einem »Abwehrmechanismus« zu tun, der auf den »Störungsmechanismus« der Zwangsgedanken reagiert.

2.4 Weitere Merkmale

Neben den typischen Zwangsphänomenen finden sich bei Zwangsstörungen häufig Ängste und depressive Symptome. Ängste finden sich entweder begleitend oder häufig auch schon vor der eigentlichen Zwangssymptomatik. Nicht selten kommt es über eine frei flottierende Angst und Phobien zur Entwicklung von Zwangssymptomen, die offensichtlich Angst in gewisser Weise binden. Es beruht wohl auf diesem Zusammenhang, dass die Zwangsstörung im DSM-IV-TR den Angststörungen zugeordnet wurde. Gegen diese Gleichsetzung spricht allerdings einiges. Während per definitionem bei Angstpatienten die Angst als emotionale Reaktion eindeutig immer im Vordergrund steht, »beschreiben Zwangspatienten häufig auch Ekel, Unruhe, Anspannung oder ein diffuses Gefühl von Unvollständigkeit als vorherrschend« (Reed 1985, Bader und Hänny 2005). So musste aufgrund eines massiven Ekelgefühls Sylvia O. nach dem Besuch einer öffentlichen Toilette oder gar, wenn sie auf der Straße mit Erbrochenem, Urin oder Kot in Kontakt gekommen war, sich einem massiven Reinigungs- und Waschzwang unterziehen. Depressive Symptome sind ebenfalls häufig, können sekundär als Folge der quälenden Zwangssymptomatik entstehen, sie können dieser aber auch vorausgehen, wobei dann der Zwang, wie unten dargestellt (S. 72ff.), als autoprotektive Reaktion verstanden werden kann. Da es sich hier um einen sehr bedeutenden Zusammenhang handelt, affektive Störungen am häufigsten »komorbid« mit Zwangsstörungen auftreten, ist dieser Frage ein eigenes Kapitel gewidmet. Zwänge können schließlich in einem Restriktionsprozess des »self-perpetuating circle« den Lebensraum des Betreffenden immer mehr einschränken und »zu dem gefürchteten Endausgang der Willenslähmung« (Freud 1926, S. 148) der malignen Zwangsneurose führen.

2.5 Epidemiologie

War man früher der Ansicht, dass Zwangsstörungen eher selten auftreten, zeigen neuere Forschungen eine lebenslange Prävalenz von zwei bis drei Prozent. So gilt heute, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, dieses Krankheitsbild als vierthäufigste psychiatrische Störung überhaupt (Rasmussen und Eisen 1997). Diese Diskrepanz hat sehr wahrscheinlich damit zu tun, dass Patienten mit Zwängen dazu neigen, diese zu verschweigen – was schon Freud 1909 (S. 383) festgestellt hatte: »Die Zwangsneurotiker (…) dissimulieren auch im Leben ihre Zustände, solange es angeht, und kommen zum Arzt häufig erst in so fortgeschrittenen Stadien des Leidens, wie sie bei der Lungentuberkulose z.B. die Aufnahme in eine Heilstätte ausschließen würden.« Viele Zwangsinhalte sind aggressiver, blasphemischer undobszöner Natur. Die Betroffenen schämen sich dieser Vorstellungen und Impulse, fürchten, als geisteskrank zu gelten. Man denke z.B. daran, dass der schon genannte »Rattenmann« fürchtete, den Vater könnte die »Rattenstrafe« treffen, obwohl er längst verstorben war. Häufigkeitsangaben für Zwangssymptome hängen deshalb auch vom Modus der Befunderhebung ab. So zeigte sich in unserer Basisdokumentation (Faller et al. 1997), dass der von der Gesamtklientel unserer Patienten selbst ausgefüllte Fragebogen sechs bis zwölf Prozent Zwangssymptomeenthält, während sich im Fragebogen, den der Untersucher nach einem Interview ausgefüllt hat, nur drei bis fünf Prozent Zwangssymptome finden. Das heißt, dass Zwangssymptome im unstrukturierten Gespräch weniger erwähnt werden als im anonymen, strukturierten Fragebogen. Zwangssymptome gehen häufig mit anderen, v.