Der Gesprungene Kristall - R.A. Salvatore - E-Book

Der Gesprungene Kristall E-Book

R.A. Salvatore

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Beschreibung

Auf der Suche nach Frieden erreicht der Dunkelelf Drizzt Do’Urden das Eiswindtal, und tatsächlich findet er hier Freunde und ein Zuhause. Doch die Ruhe währt nicht lange. Denn Der Gesprungene Kristall, eines der mächtigsten magischen Artefakte der Welt, wurde gefunden. Jetzt überschwemmt sein Besitzer, ein von Dämonen verführter Zauberlehrling, das Eiswindtal mit seinen dunklen Horden. Nur Drizzt und seine Gefährten können sie noch aufhalten. Aber zuerst muss der Dunkelelf die Bewohner des Tals davon überzeugen, dass nicht er es ist, der sie bedroht ...

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Seitenzahl: 548

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R. A. Salvatore

Der GesprungeneKristall

Die Legende von Drizzt

Roman

Aus dem Englischenvon Marita Böhm

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Crystal Shard / Forgotten Realms, Vol. 1« bei Wizards of the Coast, Renton, USA. Zur ursprünglichen deutschen Ausgabe siehe Seite 2.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© März 2012 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Original title: The Crystal Shard / Forgotten Realms, Vol. 1 © 1991 Wizards of the Coast LLC.FORGOTTEN REALMS, WIZARDS OF THE COAST, and their respective logos are trademarks of Wizards of the Coast LLC in the U. S. A. and other countries. © 2010 Wizards of the Coast LLC. Licensed by Hasbro.Published in the Federal Republic of Germanyby Blanvalet Verlag, MünchenDeutschsprachige Rechte bei der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: büro süd, MünchenDas Cover wurde erstellt von Todd Lockwood © Wizards of the Coast, LLCHK · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-07492-0V002www.blanvalet.de

Der vorliegende Roman ist bereits bei Blanvalet erschienen unter dem Titel »Die vergessenen Welten 1: Der gesprungene Kristall« und »Die vergessenen Welten 2: Die verschlungenen Pfade«. Der Blanvalet Verlag veröffentlicht mit dieser Ausgabe eine überarbeitete Fassung. Erstmals wurde die amerikanische Originalausgabe für die deutsche Ausgabe nicht in zwei Teile aufgesplittet

Autor

R. A. Salvatore wurde 1959 in Massachusetts geboren, wo er auch heute noch lebt. Bereits sein erster Roman »Der gesprungene Kristall« machte ihn bekannt und legte den Grundstein zu seiner weltweit beliebten Reihe von Romanen um den Dunkelelf Drizzt Do’Urden. Die Fans lieben Salvatores Bücher vor allem wegen seiner plastischen Schilderungen von Kampfhandlungen und seiner farbigen Erzählweise.

Informationen über den Autor auch unter: www.rasalvatore.com.

Als Blanvalet Taschenbuch von R. A. Salvatore lieferbar:

Die Dunkelelfen (26754), Die Rache der Dunkelelfen (26755), Der Fluch der Dunkelelfen (26756)

Die Legende von Drizzt: 1. Der gesprungene Kristall (26861)

Die Vergessenen Welten: 1. Der gesprungene Kristall (24549), 2. Die verschlungenen Pfade (24550), 3. Die silbernen Ströme (24551), 4. Das Tal der Dunkelheit (24552), 5. Der magische Stein (24553), 6. Der ewige Traum (24554)

Die Saga vom Dunkelelf: 1. Der dritte Sohn (24562), 2. Im Reich der Spinne (24564), 3. Der Wächter im Dunkel (24565), 4. Im Zeichen des Panthers (24566), 5. In Acht und Bann (24567), 6. Der Hüter des Waldes (24568)

Die Vergessenen Welten, weitere Bände: 1. Das Vermächtnis (24663) [= 7. Band], 2. Nacht ohne Sterne (24664) [= 8. Band], 3. Brüder des Dunkels (24706) [= 9. Band], 4. Die Küste der Schwerter (24741) [= 10. Band], 5. Kristall der Finsternis (24931) [= 11. Band], 6. Schattenzeit (24973) [= 12. Band], 7. Der schwarze Zauber (24168) [= 13. Band], 8. Die Rückkehr der Hoffnung (24227) [= 14. Band], 9. Der Hexenkönig (24402) [= 15. Band], 10. Die Drachen der Blutsteinlande (24458) [= 16. Band]

Die Rückkehr des Dunkelelf: 1. Die Invasion der Orks (24284), 2. Kampf der Kreaturen (24299), 3. Die zwei Schwerter (24369)

Die Legende vom Dunkelelf: 1. Der König der Orks (26580), 2. Der Piratenkönig (26618)

Die Drachenwelt-Saga: Der Speer des Kriegers/Der Dolch des Drachen/Die Rückkehr des Drachenjägers. Drei Romane in einem Band! (24314)

Außerdem von R. A. Salvatore:

Star Wars: Episode II. Angriff der Klonkrieger (35761), Das Erbe der Jedi-Ritter 1. Die Abtrünnigen (35414)

Meiner Frau Dianeund Bryan, Geno und Caitlin gewidmetfür ihre Unterstützung und Geduldbei dieser Erfahrung.Und meinen Eltern Geno und Irene,die selbst dann an mich glaubten,als ich es nicht mehr konnte.

Kommt her und versammelt euch,Ihr kühnen Männer der Steppen,Und lauscht meiner GeschichteVon mutigen Helden und Freundschaften, ganz fest,Und dem Tyrannen von Eiswindtal,Von jener Gruppe von Freunden auch,Die mit List und TatenDen Barden mit dem Stoff für Legenden versorgt,Von dem Schwachen,Dessen Stolz Verderben nur brachte,Und dann von dem SchreckenDes Gesprungenen Kristalls.

Einleitung

Der Tanar-Ri lehnte sich auf seinen Sitz zurück, den er sich in den Fuß eines Riesenchampignons gegraben hatte. Um ihn herum wälzte sich der Schlamm schlürfend über die Steininsel; das ewige Sickern veränderte unaufhörlich diese Ebene der Hölle.

Errtu trommelte ungeduldig mit seinen Klauenfingern und ließ den gehörnten, affenähnlichen Kopf schlaff von den Schultern herabhängen, während er in die Düsternis spähte. »Wo bist du, Telshazz?«, zischte er. Er wartete voller Spannung auf Neuigkeiten über das Relikt. Ohne Unterlass dachte er an Crenshinibon. Wenn sich der Kristall doch nur in seiner Gewalt befände, dann würde er sich über eine, vielleicht sogar über mehrere Ebenen emporheben können.

Und er war so dicht davor gewesen, ihn zu besitzen!

Der Tanar-Ri kannte die Macht des Artefakts. Er hatte einst jenen sieben Leichnamen gedient, die ihre böse Magie vereint und den Gesprungenen Kristall geschaffen hatten. Sie waren die Geister von mächtigen Zauberern gewesen, die sich nach ihrem Tod geweigert hatten zu ruhen, und sich stattdessen zusammenschlossen, um den verruchtesten Gegenstand herzustellen, der je geschaffen worden war, einen unheilvollen Gegenstand, der sich von dem nährte und jenem aufblühte, was die Anhänger des Guten als das Kostbarste priesen – dem Licht der Sonne.

Doch obwohl ihre Kräfte gewaltig waren, hatten sie sie überschätzt. Während ihrer Arbeit gingen die Sieben zugrunde, denn Crenshinibon raubte ihnen die magische Kraft, um daraus sein aufflackerndes Leben zu nähren. So verloren sie den Halt für ihr untotes Sein. Schwere Explosionen folgten ihrem Untergang, und Errtu wurde zurück in die Hölle geschleudert. Lange nahm er an, dass der Kristall zerstört worden wäre.

Doch Crenshinibon war nicht so leicht zu zerstören. Und Errtu war jetzt, Jahrhunderte später, zufällig wieder auf die Spur des Gesprungenen Kristalls gestoßen. Es war ein Kristallturm, Cryshal-Tirith, der mit seinem pulsierenden Herz das genaue Ebenbild von Crenshinibon darstellte.

Errtu wusste, dass die Magie ganz in der Nähe war, denn er konnte die kraftvolle Gegenwart des Relikts spüren. Hätte er es doch nur eher gefunden …

Aber dann war Al Dimeneira erschienen, ein Engelswesen mit ungeheurer Kraft. Al Dimeneira hatte Errtu mit einem einzigen Wort zurück in die Hölle verbannt.

Errtu spähte durch den Rauch, der sich vor ihm empor- kräuselte, und durch die Düsternis, als er endlich das Schmatzen von Schritten hörte.

»Telshazz?«, brüllte er.

»Ja, Meister«, antwortete ein kleinerer Tanar-Ri und duckte sich, als er den Champignonthron erreichte.

»Hat er ihn bekommen?«, schrie Errtu. »Hat Al Dimeneira den Gesprungenen Kristall?«

Telshazz zitterte und wimmerte: »Ja, mein Herr, das heißt, nein, mein Herr.«

Errtu kniff seine roten Augen zusammen und funkelte Telshazz böse an.

»Er konnte ihn nicht zerstören«, erklärte der kleine Tanar-Ri schnell. »Crenshinibon hat ihm die Hände verbrannt!«

»Pah!«, schnaubte Errtu höhnisch. »Dann hat Al Dimeneira also auch seine Macht überschätzt. Und wo ist Crenshinibon jetzt? Hast du ihn mitgebracht, oder ist er in dem zweiten Kristallturm geblieben?«

Telshazz wimmerte wieder. Es behagte ihm nicht, seinem grausamen Meister die Wahrheit sagen zu müssen, aber er wagte auch nicht, ungehorsam zu sein. »Nein, Meister, er ist nicht im Turm«, flüsterte der kleine Tanar-Ri.

»Nicht?«, schrie Errtu. »Wo ist er denn?«

»Al Dimeneira hat ihn weggeworfen.«

»Ihn weggeworfen?«

»Über die Ebenen hinaus, gnädiger Meister!«, jammerte Telshazz. »Mit seiner ganzen Kraft!«

»Über die Existenzebenen hinaus?«, knurrte Errtu.

»Ich habe versucht ihn aufzuhalten, aber …«

Der gehörnte Kopf schoss nach vorne. Telshazz gurgelte noch wenige unverständliche Worte, während Errtu ihm mit seinen Hundefängen die Kehle zerriss.

Fern von der Düsternis der Hölle kam Crenshinibon auf der Welt zur Ruhe. Weit oben im nördlichen Gebirge der Vergessenen Reiche ließ sich der Gesprungene Kristall, dessen Verderbtheit von nichts und niemandem übertroffen wurde, im Schnee eines schalenförmigen Tals nieder.

Und er wartete.

BUCH 1

Zehnstädte

Der Handlanger

Als die Karawane der Zauberer vom Hauptturm des Geheimwissens den schneebedeckten Gipfel von Kelvins Steinhügel am flachen Horizont erblickte, war ihre Erleichterung deutlich spürbar. Die anstrengende Reise von Luskan zu dieser entlegenen Grenzsiedlung, die Zehnstädte genannt wurde, hatte mehr als drei Wochen gedauert.

Die erste Woche war nicht sehr beschwerlich gewesen. Die Karawane hatte sich dicht an der Schwertküste gehalten, und obwohl sie sich in der nördlichsten Region der Reiche aufhielt, war die sommerliche Brise, die fast ständig von der Spurenlosen See herüberwehte, recht wohltuend gewesen.

Aber als sie dann die westlichsten Ausläufer des Grats der Welt umrundet hatten, jener Gebirgskette, die von vielen die nördliche Grenze der Zivilisation genannt wurde, und als sie schließlich in das Eiswindtal eingebogen waren, war den Zauberern schnell klargeworden, warum man ihnen von dieser Reise abgeraten hatte. Eiswindtal war eine öde, zerklüftete Tundra, die sich über tausend Quadratmeilen erstreckte. Sie war ihnen als die unwirtlichste Gegend der Reiche beschrieben worden, und nach nur einem einzigen Reisetag auf der nördlichen Seite des Grats der Welt fanden Eldeluc, Dendybar der Bunte und die anderen Zauberer aus Luskan, dass dieser Ruf wohlverdient war. Eingegrenzt von unpassierbaren Gebirgszügen im Süden, von einem gewaltigen Gletscher im Osten und einem unzugänglichen Meer mit zahllosen Eisbergen vom Norden bis in den Osten war Eiswindtal nur durch den einen Pass zwischen dem Grat der Welt und der Küste erreichbar, über einen Weg, der selten benutzt wurde, und dann auch nur von den robustesten Händlern.

Für den Rest ihres Lebens würden den Zauberern zwei Erinnerungen bleiben, wann immer sie über diese Reise nachdenken würden. Es waren zwei Erfahrungen vom Leben in Eiswindtal, die kein Reisender jemals vergaß. Das war zum einen der Wind, der unaufhörlich stöhnte, so als stöhnte das Land selbst unter ständigen Qualen, und außerdem war da die unendliche Leere im Tal, die meilenweit nur von dem graubraunen Horizont begrenzt wurde.

Das Ziel der Karawane waren zehn kleine Städte, die die einzige Abwechslung in dieser Landschaft boten. Sie lagen an den drei Seen der Region an der Flanke des einzigen Berges, im Schatten von Kelvins Steinhügel. Wie alle anderen auch, die durch dieses raue Land nach Zehnstädte reisten, stand den Zauberern der Sinn nach den feinen Schnitzereien aus den Schädelknochen der Knöchelkopfforelle, die in den Seen lebte.

Doch einige der Zauberer hatten noch anderes im Sinn, und diese Ziele waren hinterhältig genug.

Der Mann wunderte sich, wie leicht die schmale Schneide die Robe des älteren Mannes durchschnitt und immer tiefer in das runzelige Fleisch eindrang.

Morkai der Rote wandte sich zu seinem Lehrling um und starrte ihn mit großen Augen an, voller Erstaunen über den Verrat. Denn er hatte jenen Mann seit fünfundzwanzig Jahren wie seinen eigenen Sohn aufgezogen.

Akar Kessell ließ den Dolch los und trat von seinem Meister zurück. Er war entsetzt, dass der Alte trotz seiner tödlichen Wunde immer noch dastand. Er hatte keine Ausweichmöglichkeit mehr und stolperte gegen die Rückwand der kleinen Gästehütte, die die Stadt Osthafen den Zauberern aus Luskan vorübergehend als Unterkunft zur Verfügung gestellt hatte. Kessell zitterte plötzlich heftig, als er darüber nachdachte, welch schwerwiegende Folgen es für ihn haben würde, sollte der alte Magier mit seinem großen Wissen tatsächlich einen Weg gefunden haben, sogar dem Tod zu widerstehen. Möglich schien es ihm auf einmal.

Welch schreckliches Schicksal würde sein mächtiger Mentor ihm für seinen Verrat auferlegen? Welche Foltermethoden konnte ein wahrhaft mächtiger Zauberer wie Morkai beschwören, welche Methoden der Magie, die alle sonst gebräuchlichen, qualvollen Verfahren in den Schatten stellen würden?

Selbst als das letzte Licht in seinen Augen erlosch, hielt der sterbende alte Mann den Blick unentwegt auf Akar Kessell gerichtet. Er suchte nach möglichen Beweggründen, er fragte ihn nicht einmal direkt nach dem Grund. Das Streben nach Macht hatte etwas damit zu tun, denn es spielte immer mit bei einem solchen Verrat. Was ihn verwirrte, war, wen es befallen hatte, aber nicht dessen Beweggrund. Kessell? Wie konnte Kessell, der stotternde Lehrling, der kaum den einfachsten Zauberspruch aufrufen konnte, denn je hoffen, von dem Tod des einzigen Menschen zu profitieren, der ihm mehr als nur höfliche Rücksicht geschenkt hatte?

Morkai der Rote stürzte tot zu Boden. Von den wenigen Fragen war eine geblieben, auf die er keine Antwort gefunden hatte.

Kessell musste sich noch lange an die Wand stützen, und so blieb er dort zitternd stehen. Allmählich begann die Zuversicht, die ihn zu dieser gefährlichen Tat getrieben hatte, wieder in ihm zu keimen. Jetzt war er der Meister – Eldeluc, Dendybar der Bunte und die anderen Zauberer, mit denen er die Reise unternommen hatte, hatten ihm das doch gesagt. Sobald sein Meister tot sei, würden ihm, Akar Kessell, eine Meditationskammer und ein Laboratorium im Hauptturm des Geheimwissens in Luskan rechtmäßig zustehen.

Genau das hatten Eldeluc, Dendybar der Bunte und die anderen schließlich gesagt.

»Ist es erledigt?«, fragte der stämmige Mann, kaum dass Kessell die dunkle Gasse betreten hatte, die als Treffpunkt ausgemacht worden war.

Kessell nickte eifrig. »Der rotgekleidete Zauberer aus Luskan wird nicht mehr zaubern können!«, verkündete er. Zu laut für den Geschmack seiner Mitverschwörer.

»Sprich leise, du Narr!«, verlangte Dendybar der Bunte in dem charakteristischen monotonen Tonfall. Er, der so zerbrechlich aussah, hielt sich im Schatten der Gasse verborgen. Dendybar sprach sehr selten, und wenn er sprach, zeigte er keine Spur einer Emotion. Die Kapuze seiner Robe hatte er stets tief ins Gesicht gezogen. Dendybar wirkte auf alle Menschen, die ihm begegneten, sehr kaltblütig, und das entnervte sie. Auch wenn der Zauberer von Statur der kleinste und am wenigsten eindrucksvolle Mann in der Handelskarawane war, die die vierhundert Meilen weite Reise zur Grenzsiedlung Zehnstädte zurückgelegt hatte, fürchtete Kessell ihn mehr als alle anderen zusammen.

»Morkai der Rote, mein ehemaliger Meister, ist tot«, wiederholte Kessell leise. »Akar Kessell wird von diesem Tag an bekannt sein als Kessell der Rote und der Gilde der Zauberer in Luskan angehören!«

»Sachte, mein Freund!«, warnte ihn Eldeluc und legte beruhigend eine Hand auf Kessells Schulter, die unter der Berührung nervös zuckte. »Für die angemessene Ernennung wird genügend Zeit sein, wenn wir in die Stadt zurückkehren.« Er lächelte und zwinkerte Dendybar heimlich zu.

Kessells Gedanken wirbelten durcheinander. Er verlor sich in Tagträumen und überprüfte dabei alle möglichen Folgen seiner bevorstehenden Ernennung. Niemals wieder würde er von den anderen Lehrlingen verspottet werden, von Burschen, die viel jünger waren als er und in den Reihen der Gesellschaft eine Stufe nach der anderen aufstiegen, seien diese auch noch so ermüdend. Jetzt würden sie ihm Respekt erweisen müssen, denn er würde selbst über jene hinwegspringen, die ihn in den frühesten Tagen seiner Ausbildung bereits überholt und schon länger die ehrenhafte Stellung eines Zauberers erlangt hatten.

Während er sich jede Einzelheit einer strahlenden Zukunft ausmalte, erlosch plötzlich das Lächeln auf seinem Gesicht. Er drehte sich scharf zu dem Mann an seiner Seite um, und seine Gesichtszüge wurden starr, als sei ihm ein schrecklicher Fehler eingefallen. Eldeluc und einige andere in der Gasse wurden nervös. Ihnen war das volle Ausmaß der Folgen wohl bewusst, das sie treffen würde, wenn der Erzmagier des Hauptturms des Geheimwissens von diesem Mord erfahren sollte.

»Die Robe?«, fragte Kessell. »Hätte ich die rote Robe mitbringen sollen?«

Eldeluc konnte sich ein erleichtertes Kichern nicht verkneifen, doch Kessell hielt es für eine tröstende Geste seines neuen Freundes.

Ich hätte wissen müssen, dass so etwas Banales ihn derart in Panik versetzen kann, dachte Eldeluc, aber zu Kessell sagte er lediglich: »Mach dir deswegen keine Sorgen. Im Hauptturm gibt es unzählige Roben. Außerdem würde es ja wohl ein wenig verdächtig aussehen, wenn du dich an der Tür des Erzmagiers zeigst, den frei gewordenen Platz von Morkai dem Roten für dich beanspruchst und dabei die Robe trägst, in der der Zauberer ermordet wurde.«

Kessell dachte über das Argument nach und stimmte zu.

»Vielleicht«, fuhr Eldeluc fort, »solltest du sowieso nicht die rote Robe tragen.«

Kessell kniff entsetzt die Augen zusammen. Seine alten Selbstzweifel, die ihn schon seit seiner Kindheit verfolgten, stiegen wieder in ihm hoch. Was hatte Eldeluc gerade gesagt? Hatten sie etwa ihre Meinung geändert und wollten ihm nun doch nicht den Platz zuweisen, den er sich rechtmäßig verdient hatte?

Eldeluc hatte ihn mit dieser zweideutigen Bemerkung nur necken wollen und keineswegs beabsichtigt, Kessell in den gefährlichen Zwiespalt seiner Selbstzweifel zu stoßen. Mit einem zweiten Zwinkern zu Dendybar, der dieses Spiel durch und durch genoss, beantwortete er die unausgesprochene Frage des armen Teufels: »Ich meine nur, dass dir vielleicht eine andere Farbe besser steht. Blau würde gut zu deinen Augen passen.«

Vor Erleichterung entfuhr Kessell ein nervöses Kichern. »Vielleicht«, stimmte er zu, während er nervös mit seinen Fingern spielte.

Auf einmal wurde Dendybar der Farce überdrüssig und gab seinem stämmigen Gefährten ein Zeichen, sich des lästigen Lehrlings zu entledigen.

Eldeluc führte Kessell gehorsam die Gasse hinunter. »Jetzt geh zu den Ställen zurück«, wies er ihn an. »Sag dort Bescheid, dass die Zauberer noch in dieser Nacht nach Luskan aufbrechen.«

»Aber was ist mit der Leiche?«, fragte Kessell.

Eldeluc lächelte böse. »Lass sie dort liegen. Die Hütte ist sonst für reisende Händler reserviert. Wahrscheinlich wird sie bis zum nächsten Frühling leerstehen. Ein Mord wird in diesem Teil der Welt wenig Aufsehen erregen, das versichere ich dir, und selbst wenn die guten Bürger von Osthafen herausfinden sollten, was wirklich passiert ist, werden sie klug genug sein, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern und sich nicht in die der Zauberer einmischen!«

Die Reisegruppe aus Luskan trat aus dem Schatten der Straße in das schwindende Sonnenlicht. »Verschwinde jetzt!«, befahl Eldeluc. »Sieh nach uns, sobald die Sonne untergegangen ist.« Er sah Kessell nach, der wie ein begeisterter kleiner Junge davoneilte.

»Was für ein Glück, dass wir dieses angenehme Werkzeug gefunden haben«, spottete Dendybar. »Dieser Zauberlehrling ist wirklich an Dummheit unübertroffen, aber er hat uns viel Ärger erspart. Ich bezweifle, dass wir sonst eine Möglichkeit gefunden hätten, an diesen listigen Alten heranzukommen. Und nur die Götter werden wissen, wieso Morkai ausgerechnet für diesen erbärmlichen kleinen Lehrling ein so weiches Herz hatte.«

»Weich genug für eine Dolchspitze!«, fiel lachend eine zweite Stimme ein.

»Und der Schauplatz ist so vortrefflich«, bemerkte ein anderer. »An diesem primitiven Außenposten sind Leichen, für die es keine Erklärung gibt, nichts weiter als ein kleines lästiges Übel für die Putzfrauen!«

Lautes Lachen schüttelte Eldelucs stämmigen Körper. Die gräuliche Tat war erledigt, und sie konnten endlich diese öde Eiswüste verlassen und nach Hause zurückkehren.

Kessell ging mit raschen Schritten durch das Städtchen Osthafen auf die Scheune zu, wo die Pferde der Zauberer untergebracht waren. Ihm war, als würde sich durch die Tatsache, dass er nun bald ein Zauberer werden würde, in seinem täglichen Leben wirklich alles ändern, als habe eine geheimnisvolle Kraft seine so unzulängliche Begabung beeinflusst.

Er bebte vor Vorfreude auf die Kraft, über die er verfügen würde.

Eine streunende Katze lief ihm über den Weg und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, während sie an ihm vorbei- stolzierte.

Mit zusammengekniffenen Augen sah sich Kessell um, ob ihn jemand beobachtete. »Warum nicht?«, murmelte er. Er zeigte mit einem Finger, der Tod bringen sollte, auf die Katze und murmelte jenen Befehl, der eine Explosion bewirken würde. Die Katze bemerkte, was er vorhatte, und schoss nervös davon. Doch kein magischer Blitz schlug auf sie ein, solange sie noch in der Nähe war.

Kessell betrachtete seinen verbrannten Finger und fragte sich, was er falsch gemacht haben könnte.

Aber er war nicht übermäßig enttäuscht. Dass sein Fingernagel geschwärzt war, war eine stärkere Wirkung, als er sie je zuvor bei diesem Zauber erreicht hatte.

Am Ufer des Maer Dualdon

Regis, der Halbling, der Einzige seiner Art im Umkreis von Hunderten von Meilen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich gegen den moosbedeckten Baumstamm. Selbst nach den Maßstäben seiner Rasse war er klein. Der Flaum seiner braunen Haarlocken bedeckte spärlich seine kaum einen Meter große Gestalt, aber sein Bauch war ziemlich dick, denn er liebte eine gute Mahlzeit oder auch mehrere, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

Ein gebogener Stab, der ihm als Angelrute diente, ragte über ihm empor. Eingeklemmt zwischen zweien seiner pelzigen Zehen hing er über dem stillen See und spiegelte sich auf der makellos glatten Oberfläche des Maer Dualdon. Kleine Wellen rollten sanft über das Spiegelbild, als sich der rote Holzhaken leicht bewegte. Die Leine war zum Ufer getrieben und hing jetzt schlaff im Wasser. Daher war es Regis auch entgangen, dass ein Fisch vorsichtig nach dem Köder geschnappt hatte. Innerhalb von Sekunden war der Angelhaken fein säuberlich abgenagt. Aber der Halbling wusste das nicht, und es sollte noch Stunden dauern, bis er sich überhaupt die Mühe machte, den Haken zu überprüfen. Es wäre ihm sowieso einerlei gewesen.

Er war zum Vergnügen hier und nicht zum Arbeiten. Angesichts des nahenden Winters erschien es Regis wahrscheinlich, dass es möglicherweise sein vorerst letzter Ausflug an den See war. Im Winter ging er nicht fischen. Das taten nur einige der unersättlich gierigen Menschen von Zehnstädte. Außerdem hatte der Halbling genügend Schädelknochen von den Fängen anderer Fischer gelagert, um sich in den sieben langen, verschneiten Wintermonaten beschäftigen zu können. Er machte seiner nicht gerade ehrgeizigen Rasse wahrhaftig Ehre, denn schließlich trug er ein wenig zur Zivilisation in einer Gegend bei, die sonst völlig unerschlossen war und Hunderte von Meilen von dem nächsten Ort entfernt lag, der mit Recht als Stadt bezeichnet werden konnte. Andere Halblinge reisten selbst während der Sommermonate niemals so weit in den Norden, sondern zogen die Annehmlichkeiten der südlichen Landstriche vor. Auch Regis hätte liebend gern seine Habseligkeiten zusammengepackt und wäre in den Süden zurückgekehrt. Doch da gab es ein kleines Problem für ihn mit dem Vorsteher einer berühmten Diebesgilde.

Ein zehn Zentimeter großer Block des »weißen Goldes« sowie verschiedene hervorragende Schnitzgeräte lagen neben ihm auf dem Boden. Auf dem viereckigen Block waren die Umrisse eines Pferdemauls zu erkennen. Regis hatte eigentlich vorgehabt, während des Angelns daran weiterzuarbeiten.

Regis hatte immer vieles vor.

»Der Tag ist zu schön«, dachte er sich. Das war eine Entschuldigung, die für ihn niemals abgedroschen klang. Doch anders als sonst entsprach sie diesmal wirklich der Wahrheit. Es schien, als hätten die Wetterdämonen, die dieses raue Land ihrem eisernen Willen unterwarfen, einen Tag Urlaub genommen. Vielleicht sammelten sie auch nur ihre Kräfte, um für einen besonders harten Winter zu sorgen. Zuvor jedoch verwöhnten sie das Land mit einem Herbsttag wie im zivilisierten Süden. So etwas erlebte man selten in jener Region, die im Laufe der Zeit den Namen Eiswindtal bekommen hatte, einen wohlverdienten Namen in Anbetracht des Ostwindes, der unaufhörlich zu wehen schien und eiskalte Luft vom Reghed-Gletscher mitbrachte. Selbst die wenigen Tage, an denen sich der Wind drehte, waren keine Wohltat, denn Zehnstädte wurde im Norden und Westen von der sich über Meilen hinziehenden Tundra begrenzt, und an die schloss sich noch mehr Eis an, nämlich die Treibeis-See. Lediglich der Südwind versprach angenehme Abwechslung, doch wenn dieser versuchte, die entlegene Landschaft zu erreichen, wurde er fast immer von den hohen Gipfeln des Grats der Welt zurückgehalten.

Es gelang Regis, eine Weile die Augen aufzuhalten. Er spähte zwischen den flaumigen Ästen der Pelzbäume zu den bauschigen weißen Wolken empor, die, von der milden Brise getrieben, am Himmel dahinzogen. Die goldene Sonne schenkte so viel Wärme, dass der Halbling hin und wieder in Versuchung kam, seine Weste abzulegen. Doch sobald sich eine Wolke vor die warmen Strahlen schob, wurde ihm wieder bewusst, dass es ein Septembertag in der Tundra war. In einem Monat würde es schneien, und in zwei Monaten würden die Straßen, die im Westen und Süden nach Luskan führten, der Zehnstädte nächstgelegenen Stadt, nur für die Abgehärtetsten oder Dümmsten passierbar sein.

Regis ließ den Blick über die weite Bucht schweifen, die an seinen kleinen Angelplatz angrenzte. Auch andere Bewohner von Zehnstädte nutzten das schöne Wetter aus. Viele Fischerboote waren draußen und stießen sich an oder schlängelten sich aneinander vorbei, um ihre besonderen »Glücksstellen« zu finden. So oft er sie auch schon beobachtet hatte, jedes Mal wieder war er über die Gier der Menschen erstaunt. Damals, als er noch im südlichen Calimshan lebte, war der Halbling innerhalb kurzer Zeit zum stellvertretenden Vorsteher einer der berühmtesten Diebesgilden der Hafenstadt Calimhafen aufgestiegen. Aber die Gier der Menschen hatte Schuld daran getragen, dass seine Laufbahn zerstört wurde. Jedenfalls war das seine Meinung. Der Vorsteher der Gilde, der Pascha Pook, besaß eine wundervolle Sammlung von Rubinen – mindestens ein Dutzend –, deren Facetten so meisterhaft geschnitten waren, dass man meinen konnte, sie zögen den Betrachter mit geheimnisvollen Kräften in ihren Bann. Regis hatte die funkelnden Edelsteine stets bewundert, wann immer Pook sie ausgestellt hatte, und außerdem hatte er ja nur einen einzigen an sich genommen. Bis zum gegenwärtigen Augenblick konnte der Halbling nicht verstehen, warum der Pascha, der doch immerhin noch elf Steine hatte, unverändert zornig auf ihn war.

»Wehe der Gier der Menschen«, hatte Regis stets gesagt, sobald er die Männer des Paschas in einer Stadt erblickt hatte, in der er sich niederlassen wollte. Jedes Mal war er gezwungen gewesen, in ein noch ferneres Land auszuweichen. Aber seit seiner Ankunft in Zehnstädte vor anderthalb Jahren hatte er diesen Satz nicht mehr sagen brauchen. Pooks Arme waren zwar lang, aber diese Grenzsiedlung inmitten des unwirtlichsten und wildesten Landes, das man sich vorstellen konnte, war doch noch weiter entfernt, und Regis fühlte sich in der Sicherheit seiner neuen Zuflucht recht wohl. Hier gab es Reichtum, und für jene, die zum Schnitzen geschickt und begabt genug waren und den elfenbeingleichen Knochen der Knöchelkopfforelle in ein Kunstwerk verwandeln konnten, bot sich ein angenehmes Leben bei geringem Arbeitsaufwand.

Und da im Süden die feinen Schnitzereien aus Zehnstädte inzwischen Mode geworden waren, hatte der Halbling gewiss vor, seine übliche Trägheit abzuschütteln und seinen neuen Beruf in ein blühendes Geschäft zu verwandeln.

Eines Tages gewiss.

Drizzt Do’Urden bewegte sich lautlos vorwärts. Seine weichen, kurzen Stiefel wirbelten kaum Staub auf, und die Kapuze seines braunen Umhangs hatte er tief über die wallenden, schlohweißen Haare gezogen. Sein Gang war von einer so mühelosen Anmut, dass ein Beobachter denken konnte, der Dunkelelf sei nichts weiter als eine Illusion, eine Sinnestäuschung der endlosen braunen Tundra.

Drizzt Do’Urden zog den Umhang noch enger an sich. Im Sonnenlicht fühlte er sich so verwundbar wie wohl andererseits ein Mensch im Dunkel der Nacht. Die zweihundert Jahre, die er viele Meilen tief unter der Erde verbracht hatte, waren durch fünf Jahre unter der Sonne nicht ausgelöscht worden. Bis zu diesem Tag ermüdete ihn das Sonnenlicht und machte ihn schwindelig.

Drizzt war die ganze Nacht lang gewandert, aber er durfte sich keine Pause gönnen. Er hatte sich mit Bruenor im Zwergental verabredet, und er war bereits spät dran. Außerdem hatte er die Zeichen gesehen.

Die Rentiere hatten ihre Herbstwanderung gen Süden angetreten, doch es fehlte jede Spur von den Menschen, die sonst den Herden folgten. In den Höhlen nördlich von Zehnstädte, die stets eine Zwischenstation für die nomadischen Barbaren waren, wenn sie in die Tundra zurückkehrten, waren nicht einmal Vorräte angelegt worden, mit denen sich die Stämme auf ihrem langen Marsch sonst versorgten. Drizzt wusste das alles zu deuten. Das Überleben der Barbarenstämme hing davon ab, dass sie den Rentierherden folgten. Da sie offensichtlich von ihren traditionellen Wegen abgewichen waren, bestand Grund zu mehr als leichter Beunruhigung.

Aber Drizzt hatte auch die Kriegstrommel gehört.

Ihr leises Dröhnen rollte über die leere Ebene wie ein ferner Donner. Sie vibrierten in einem Rhythmus, der gewöhnlich nur für andere Barbarenstämme wahrnehmbar war. Aber Drizzt wusste, was sie verkündeten. Er war ein Beobachter, der Wissen über Feind und Freund zu schätzen wusste, und hatte sein überragendes Können seit eh und je verstohlen eingesetzt, um die täglichen Arbeiten und Traditionen der stolzen Barbaren, der Urbewohner von Eiswindtal, zu verfolgen.

Drizzt erreichte fast die Grenze seiner Belastbarkeit, als er sein Tempo beschleunigte. In den fünf zurückliegenden Jahren hatte er für die Ansammlung von Siedlungen, die als Zehnstädte bekannt war, und für ihre Bewohner Sympathie und Anteilnahme entwickelt. Wie viele andere Ausgestoßene auch, die sich schließlich hier niedergelassen hatten, war der Dunkelelf nirgendwo sonst in den Reichen willkommen. Sogar hier wurde er von den meisten Bewohnern nur geduldet, aber in der stillschweigenden Einvernehmlichkeit der Familie der Vagabunden und Gauner belästigten ihn nur wenige. Er hatte mehr Glück als die meisten anderen gehabt, denn er hatte einige Freunde gefunden, die über sein Erbe hinwegsahen und seinen wahren Charakter erkannten.

Besorgt schielte der Dunkelelf zu Kelvins Steinhügel hinüber, dem einsamen Berg, der den Zugang zu dem felsigen Zwergental zwischen dem Maer Dualdon und dem Lac Dinneshere markierte. Aber seine wunderbaren, violetten, mandelförmigen Augen, die in der Nacht mit denen einer Eule wetteifern konnten, vermochten den Schleier des Tageslichts nicht ausreichend zu durchdringen, um die Entfernung abzuschätzen.

Wieder zog er den Kopf in die Kapuze zurück. Lieber marschierte er blind weiter, als sich einem Schwindelanfall durch die Sonne auszusetzen, und so vertiefte er sich wieder in die dunklen Träume von Menzoberranzan, der lichtlosen unterirdischen Stadt seiner Vorfahren. Einst hatten die Dunkelelfen auch auf der oberen Welt gelebt und mit ihren hellhäutigen Vettern unter der Sonne und den Sternen getanzt. Aber die Dunkelelfen waren bösartige, kaltblütige Mörder, was sogar die Toleranz ihrer sonst so unvoreingenommenen Vettern überstieg. Und in dem Krieg, der unvermeidlich zwischen den Elfennationen ausbrach, waren die Dunkelelfen in das Erdinnere vertrieben worden. Sie fanden eine Welt finsterer Geheimnisse und schwarzer Magie vor und gaben sich damit zufrieden, sich dort niederzulassen. Im Laufe der Jahrhunderte erholten sie sich wieder und verschrieben sich den Wegen der geheimnisvollen Magie. Sie wurden mächtiger als ihre Vettern, die auf der Oberfläche lebten und deren Beschäftigung mit der geheimen Kunst in der lebensspendenden Wärme der Sonne ein Zeitvertreib und keine Notwendigkeit war.

Doch die Dunkelelfen hatten jegliche Sehnsucht nach der Sonne und den Sternen verloren und sich mit allen Sinnen den Tiefen angepasst. Zum Glück aller, die unter dem freien Himmel lebten, waren die Dunkelelfen damit zufrieden, dort zu bleiben, wo sie waren. Nur gelegentlich tauchten sie auf und überfielen und plünderten das Land. Soweit Drizzt wusste, war er der Einzige seiner Art, der auf der Oberfläche lebte. Er hatte zwar irgendwie gelernt, das Licht zu ertragen, litt aber immer noch an jener angeborenen Schwäche.

Doch noch während er darüber nachdachte, dass das Licht ihn benachteiligte, packte ihn die Wut über seine eigene Sorglosigkeit. Plötzlich nämlich standen zwei bärenähnliche Tundra-Yetis vor ihm, deren schmuddelige Felle zur Tarnung noch im sommerlichen Braun gefärbt waren.

Die rote Flagge, mit der ein Fang bekanntgegeben wurde, stieg vom Deck eines der Fischerboote auf. Regis beobachtete, wie sie sich immer höher bewegte. »Fast ein Meter. Oder noch größer«, murmelte der Halbling anerkennend, als die Flagge direkt unter dem Dwarsbalken am Mast festgemacht wurde. »Da wird heute Abend bei einer Familie ganz schön gefeiert werden!«

Ein zweites Schiff stoppte neben dem ersten, das den Fang signalisiert hatte. In seiner Hast stieß es mit dem vor Anker liegenden Boot zusammen. Beide Mannschaften zogen unverzüglich ihre Waffen, blieben aber auf ihren Schiffen. Da zwischen ihm und den Schiffen nur Wasser lag, konnte Regis den Streit der Kapitäne gut verfolgen.

»Ihr habt unseren Fang gestohlen!«, schrie der Kapitän des zweiten Bootes.

»Du bist wohl übergeschnappt!«, gab der Kapitän des ersten zurück. »Das stimmt überhaupt nicht! Es ist unser Fisch, ehrlich gefangen und ehrlich heraufgeholt! Jetzt verschwinde mit deinem stinkenden Bottich, bevor wir dich aus dem Wasser heben!«

Wie vorauszusehen war, stürzte die Mannschaft des zweiten Schiffes los und schwang sich über die Reling hinüber zum ersten Schiff, bevor dessen Kapitän noch zu Ende gesprochen hatte.

Regis ließ den Blick wieder zu den Wolken schweifen. Der Streit auf den Schiffen interessierte ihn nicht, auch wenn sich der Lärm der Schlacht beunruhigend anhörte. Diese Zankereien waren auf den Seen üblich, und immer ging es dabei um den Fisch, insbesondere dann, wenn jemandem ein besonders großer Fang geglückt war. Im Allgemeinen waren die Auseinandersetzungen nicht sehr ernst zu nehmen, und nur selten wurde ein Fischer schwer verletzt oder gar getötet. Eher spuckten die Fischer große Töne und wichen einem Kampf aus, als sich ernsthafte Auseinandersetzungen zu liefern. Doch gab es Ausnahmen. Bei einem Geplänkel, an dem nicht weniger als siebzehn Schiffe beteiligt gewesen waren, waren drei ganze Mannschaften und die Hälfte einer vierten erschlagen und im blutroten Wasser zurückgelassen worden. Noch am gleichen Tag war dieser See, der von den dreien am südlichsten lag, von Dellon-lund in Rotwassersee umbenannt worden.

»Ihr kleinen Fische, was für einen Ärger ihr nur verursacht«, murmelte Regis und grübelte über die Ironie des Schicksals und die verheerenden Folgen nach, die der silberne Fisch im Leben der gierigen Bewohner von Zehnstädte bewirkte. Seine zehn Gemeinden verdankten der Knöchelkopfforelle mit ihrem übergroßen, faustförmigen Kopf und ihren Knochen, die Elfenbein ähnelten, ihre Existenz. Auf der ganzen Welt waren diese drei Seen die einzigen bekannten Stellen, wo dieser kostbare Fisch zu finden war. Und obwohl dieses Gebiet öde und wild, von Halbmenschen und Barbaren überlaufen und ständig heftigen Stürmen ausgesetzt war, die das stabilste Gebäude im Handumdrehen dem Erdboden gleichmachen konnten, lockte der Anreiz zum schnellen Reichtum trotzdem Leute aus den entlegensten Winkeln der Reiche herbei.

Aber zwangsläufig verschwanden wieder genauso viele, wie neue ankamen. Eiswindtal war eine düstere, farblose Ödnis mit einem unbarmherzigen Wetter und unzähligen Gefahren. Der Tod war seinen Bewohnern ein vertrauter Gast, und er suchte rasch jene heim, die den rauen Gegebenheiten im Eiswindtal nicht gewachsen waren.

Trotzdem waren in dem Jahrhundert seit der Entdeckung der Knöchelkopfforellen die Städte beträchtlich gewachsen. Anfangs waren die neun Dörfer an den Seen nichts weiter als Barackensiedlungen gewesen, wo einzelne Fischer ihre Ansprüche auf eine besonders ergiebige Bucht angemeldet hatten. Der zehnte Ort, Bryn Shander, inzwischen eine ummauerte, geschäftige Stadt mit mehreren tausend Bewohnern, war damals noch ein leerer Hügel mit einer einzigen Hütte gewesen, in der sich die Fischer einmal im Jahr trafen und Geschichten und Waren mit den Händlern aus Luskan austauschten.

In jenen frühen Tagen von Zehnstädte war bereits ein Ruderboot mit einem Mann draußen auf den Seen ein seltener Anblick. Denn sie waren das ganze Jahr über so kalt, dass man innerhalb von Minuten starb, wenn man das Pech hatte, über Bord zu fallen. Aber jetzt verfügte jede Stadt an den Seen über eine ganze Flotte von Segelschiffen, die ihre Fahne führte. Targos allein, die größte von den Fischerstädten, konnte hundert Schiffe über das Maer Dualdon fahren lassen, und darunter waren einige zweimastige Schoner mit Mannschaften von zehn oder mehr Männern.

Von den beiden Schiffen, die in den Kampf verwickelt waren, erscholl ein Todesschrei. Gleichzeitig war laut das Klirren von Stahl zu hören. Regis fragte sich, und das nicht zum ersten Mal, ob die Bewohner von Zehnstädte ohne diesen lästigen Fisch nicht besser dran wären.

Trotzdem musste sich der Halbling eingestehen, dass für ihn Zehnstädte trotz allem eine sichere Zuflucht war. Seine geschickten Finger passten sich leicht dem Schnitzwerkzeug an, und er war sogar zum Sprecher einer Stadt gewählt worden. Zugegeben, Waldheim war die kleinste und nördlichste der zehn Städte, ein Ort, an dem sich die schlimmsten Gauner versteckten, aber trotzdem empfand Regis seine Ernennung als große Ehre. Und darüber hinaus erwies sie sich als günstig. Da er der einzige richtige Schnitzer in Waldheim war, hatte er auch als einziger Bewohner einen Grund oder den Wunsch, regelmäßig nach Bryn Shander, in den größten Ort und das Handelszentrum von Zehnstädte, zu reisen. Dieser Umstand hatte sich für den Halbling als Segen erwiesen. Er wurde ein wichtiger Verbindungsmann, der die Fänge von Waldheims Fischern auf den Markt brachte und dafür den zehnten Teil vom Erlös der Waren kassierte. Allein mit diesen Geschäften konnte er sich ein gutes Leben machen, und das war für ihn Grund genug dabeizubleiben.

Einmal im Monat, im Sommer und im Winter alle drei Monate, sofern die Wetterverhältnisse es zuließen, musste Regis an den Ratsversammlungen teilnehmen und seine Pflichten als Sprecher erfüllen. Diese Sitzungen fanden in Bryn Shander statt, drehten sich normalerweise um Nichtigkeiten, wie Auseinandersetzungen über Fischgebiete der Städte, und dauerten jeweils nur wenige Stunden. Für Regis war die Teilnahme an diesen Sitzungen ein niedriger Preis dafür, dass er das Vorrecht genoss, Reisen zu dem südlichen Markt zu unternehmen.

Inzwischen war der Kampf auf den beiden Schiffen beendet, und nur ein Mann war tot. Regis gab sich wieder dem stillen Vergnügen hin, den dahingleitenden Wolken zuzuschauen. Ein wenig später sah er über die Schulter zurück auf die niedrigen Holzhütten, die zu Dutzenden verstreut zwischen den dichten Baumreihen standen. Das war Waldheim, und obwohl die Stadt wegen ihrer Bewohner einen schlechten Ruf genoss, gefiel sie ihm von allen zehn am besten. Die Bäume lieferten gute Eckpfosten für die Häuser und boten einen gewissen Schutz vor dem heulenden Wind. Nur wegen der großen Entfernung zu Bryn Shander war die Waldstadt ein nicht so bedeutendes Mitglied von Zehnstädte.

Nachdenklich zog Regis den Rubinanhänger unter seiner Weste hervor und betrachtete den wunderschönen Edelstein, den er in Calimhafen, mehr als tausend Meilen nach Süden entfernt, seinem ehemaligen Besitzer entwendet hatte.

»Ach, Pook«, dachte er, »wenn du mich jetzt nur sehen könntest.«

Der Elf griff nach den zwei Krummsäbeln, die er an den Hüften trug, aber die Yetis rückten schnell näher. Instinktiv wirbelte Drizzt nach links, wo er dem Ansturm des ersten Ungeheuers ausgeliefert war, das seine großen Arme um ihn schlang.

Sein rechter Arm wurde dabei zwar an die Seite gepresst, aber er bekam den linken frei und zog seine zweite Waffe. Er achtete nicht auf den Schmerz, den der Yeti ihm mit seinem festen Griff zufügte, sondern legte den Knauf des Krummsäbels eng an die Hüfte an und machte sich den Angriffsschwung des zweiten Ungeheuers zunutze, um die gebogene Waffe in seinen Leib zu stoßen.

In seinem qualvollen Todeskampf riss sich der zweite Yeti jedoch mit dem Krummsäbel im Körper los.

Das andere Ungeheuer drückte Drizzt derweilen mit seinem Gewicht zu Boden. Der Dunkelelf versuchte hektisch, mit der freien Hand die tödlichen Zähne von seiner Kehle fernzuhalten, wusste jedoch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Gegner, der so viel stärker war, ihm das Ende bereiten würde.

Plötzlich hörte er ein scharfes Krachen. Der Yeti zitterte heftig, verdrehte auf absonderliche Weise den Kopf, und von seiner Stirn strömte Blut über sein Gesicht.

»Du bist spät dran, Elf!«, ertönte rau eine vertraute Stimme.

Bruenor Heldenhammer kam hinter seinem toten Gegner hervor, ohne weiter darauf zu achten, dass das schwergewichtige Ungeheuer auf seinem Elfenfreund lag. Trotz seiner unangenehmen Lage waren für Drizzt die lange und oft gebrochene Spitznase des Zwergs und sein feuerroter Bart, in den sich inzwischen einige graue Haare eingeschlichen hatten, ein freudiger Anblick. »Ich wusste doch, dass du in Schwierigkeiten steckst. Darum hatte ich mich entschlossen, nach dir zu suchen!«

Voller Erleichterung lächelte Drizzt über den Zwerg, der ihn stets von Neuem in Staunen versetzte. Schließlich gelang es ihm auch, sich unter dem Ungeheuer hervorzuschlängeln, während Bruenor sich an die Arbeit machte, seine Axt aus dem dicken Schädel zu ziehen.

»Der Kopf ist so hart wie eine gefrorene Eiche!«, murrte der Zwerg dabei. Er setzte die Füße hinter die Ohren des Yetis und zog die Axt mit einem kräftigen Ruck heraus. »Wo ist überhaupt dein Kätzchen?«

Drizzt stöberte einen Augenblick in seinem Tornister und holte schließlich eine kleine Onyxstatue hervor, die einen Panther darstellte. »Guenhwyvar würde ich kaum als Kätzchen bezeichnen«, widersprach er mit einer Stimme voller Liebe und Verehrung. Er drehte die Statuette in den Händen und überprüfte sie eingehend, um sich zu überzeugen, dass sie bei dem Sturz unter den Yeti nicht beschädigt worden war.

»Pah, Katze ist Katze!«, behauptete der Zwerg entschieden. »Und warum ist sie nicht zur Stelle, wenn du sie brauchst?«

»Auch ein magisches Tier braucht seine Ruhe«, erklärte Drizzt.

»Pah!«, schnaubte Bruenor wieder. »Es ist bestimmt ein trauriger Tag, wenn ein Dunkelelf – und obendrein ein Waldhüter – auf einer offenen Ebene von zwei schäbigen Tundra-Yetis überrumpelt wird!« Bruenor leckte über die blutbefleckte Klinge seiner Axt und spuckte gleich wieder voller Abscheu aus.

»Ekelhafte Bestien«, knurrte er. »Man kann diese verdammten Viecher nicht einmal essen!« Er stieß die Axt in den Boden, säuberte die Klinge und stapfte dann in Richtung Kelvins Steinhügel davon.

Drizzt verstaute Guenhwyvar wieder in seinem Tornister und holte sich seinen Krummsäbel von dem einen Ungeheuer zurück.

»Komm schon, Elf«, drängte der Zwerg. »Vor uns liegen fünf Meilen oder noch mehr!«

Drizzt schüttelte den Kopf und wischte die blutbeschmierte Klinge am Fell des toten Yetis ab. »Geh ruhig weiter, Bruenor Heldenhammer«, flüsterte er mit einem Lächeln. »Und wisse zu deiner Freude, dass dich jedes Ungeheuer auf deinem Weg sehr wohl bemerken und seinen Kopf gut versteckt halten wird.«

In der Honigweinhalle

Viele Meilen nördlich von Zehnstädte, jenseits der unberührten Tundra am äußersten Rand der Reiche, hatte der winterliche Frost den Boden bereits mit einer weißen Eisschicht überzogen. Hier gab es weder Berge noch Bäume, die den schneidenden und unablässig wehenden Ostwind aufhalten konnten, der die frostige Luft vom Reghed-Gletscher mitführte. Große Eisberge trieben gemächlich in der Treibeis-See, und der Wind heulte über ihre steilen Flanken und mahnte unerbittlich an den nahenden Winter. Und trotzdem hatten die Nomadenstämme, die hier mit ihren Rentieren den Sommer verbrachten, sich der Wanderung der Herden, die sie südwestlich entlang der Küste zu dem freundlicheren See auf der südlichen Seite der Halbinsel bringen würde, noch nicht angeschlossen.

Der gleichmäßige Horizont wurde nur an einem einzigen Punkt von einem einsamen Lager unterbrochen; dort befand sich die größte Ansammlung von Barbaren so weit im Norden seit mehr als einem Jahrhundert. Für die Unterbringung der Anführer der verschiedenen Stämme waren Hirschleder- zelte in einem Kreis aufgebaut worden, und jedes Zelt wurde von einem Kreis Lagerfeuer umgeben. In der Mitte des Lagers stand ein großes Zelt aus Hirschfellen, in dem alle Krieger Platz fanden. Die Nomaden nannten es das Hengorot, »die Honigweinhalle«, und es war für sie ein Ort der Huldigung für Tempus, den Kriegsgott, auf den sie ihre Trinksprüche ausbrachten, während sie Speis und Trank teilten.

An diesem Abend brannten die Lagerfeuer außerhalb der Halle niedrig, denn vor Mondaufgang sollten König Heafstaag und sein Elchstamm als letzte Gäste eintreffen. Alle anderen Barbaren, die sich bereits eingefunden hatten, waren im Hengorot versammelt und hatten mit den Festlichkeiten vor der großen Beratung begonnen. Überall auf den Tischen standen große Krüge mit Honigwein, und harmlose Rangeleien zum Kräftemessen wurden immer häufiger. Wenn die Stämme auch oft miteinander auf Kriegsfuß standen, so wurden im Hengorot doch alle Meinungsverschiedenheiten beiseitegeschoben.

König Beorg, ein kräftiger Mann mit zerzausten blonden Locken, einem ausgebleichten Bart und Falten, die von seiner Lebenserfahrung zeugten und sich tief in das gebräunte Gesicht gruben, stand feierlich am vordersten Tisch. Er, der die Stärke seines Volkes verkörperte, war groß und hielt sich aufrecht und die breiten Schultern stolz gestrafft. Die Barbaren im Eiswindtal überragten die Durchschnittsbewohner von Zehnstädte um mehr als eine Haupteslänge. Sie schossen in die Höhe, als nutzten sie die Weite der öden und leeren Tundra aus.

In der Tat waren sie ihrem Land sehr ähnlich. Wie der Boden, über den sie wanderten, waren ihre vielfach bärtigen Gesichter sonnengebräunt und die Haut vom ständigen Wind rissig. Das verlieh ihren Gesichtern ein lederartiges, zähes Aussehen, das Ähnlichkeit hatte mit einer unheilvollen, ausdruckslosen Maske, die Außenseiter von sich wies. Die Nomaden verachteten die Bewohner von Zehnstädte, die sie für Schwächlinge hielten, die nur an der Anhäufung von Reichtum und an keinerlei geistigen Werten interessiert waren.

Dennoch war bei jener Versammlung einer dieser Schwächlinge in ihrer heiligsten Versammlungshalle anwesend. An Beorgs Seite stand deBernezan, ein dunkelhaariger, unscheinbarer Südländer und der einzige Mann, der nicht bei den Barbaren geboren und aufgewachsen war. Er hielt wie in Abwehr die Schultern hochgezogen, während er sich nervös umschaute. Ihm war sehr wohl bewusst, dass die Barbaren von Außenseitern nicht übermäßig begeistert waren und dass jeder von ihnen, selbst der jüngste, ihn mit einer lässigen, ruckartigen Handbewegung in zwei Stücke zerreißen konnte.

»Ruhig Blut!«, ermahnte Beorg den Fremden. »Heute Abend wirst du ein paar Honigweinkrüge mit dem Wolfstamm leeren. Wenn sie deine Angst spüren …« Er beendete den Satz nicht, aber deBernezan wusste, wie Barbaren mit Schwächlingen umgingen. Der kleine Mann holte tief Luft und richtete die Schultern auf.

Doch auch Beorg war nervös. König Heafstaag war sein Hauptrivale in der Tundra und führte eine Streitmacht, die so einsatzfreudig, diszipliniert und groß war wie seine eigene. Im Unterschied zu den üblichen Überfällen plante Beorg die totale Eroberung von Zehnstädte. Danach sollten die überlebenden Fischer versklavt werden und dann weiterhin ihre Arbeit auf den Seen verrichten, sodass die Barbaren von den Einnahmen ein gutes Leben führen konnten. Beorg sah für sein Volk eine Chance, das unsichere Nomadenleben aufzugeben und ein Maß an Wohlstand zu erlangen, das sie bisher nicht gekannt hatten. Jetzt hing alles von Heafstaags Zustimmung ab, jenem brutalen König, der nur an persönlichem Ruhm und an erfolgversprechenden Plünderungen interessiert war. Beorg wusste, dass er sich bei einem Sieg über Zehnstädte zu guter Letzt mit seinem Rivalen auseinandersetzen musste, denn der würde nicht einfach von seinem leidenschaftlichen Blutdurst lassen, mit dem er an die Macht gekommen war. Doch das war eine Brücke, die er als König des Wolfstamms erst später zu überqueren hatte; das vorrangige Problem war erst einmal die Eroberung von Zehnstädte, und falls Heafstaag es ablehnte, sich an dem Vorhaben zu beteiligen, würden sich die kleineren Stämme spalten und zwischen den beiden Lagern aufteilen. In dem Fall konnte bereits am nächsten Morgen ein Krieg ausbrechen. Das würde sich für das ganze Volk verheerend auswirken, denn die Barbaren, die diesen Krieg überlebten, würden sich anschließend einem erbarmungslosen Kampf mit dem Winter ausgesetzt sehen. Die Rentiere waren schon längst zu den südlichen Weiden aufgebrochen, und die Höhlen, die auf dem Weg dorthin lagen, waren nicht mit Vorräten gefüllt worden. Heafstaag war ein listiger Anführer. Er wusste, dass bei einer Entscheidung so spät im Jahr die Stämme gezwungen waren, den Plan in die Tat umzusetzen, doch Beorg fragte sich, welche Bedingungen sein Rivale wohl stellen würde.

Doch vorerst tröstete er sich mit der Tatsache, dass unter den versammelten Stämmen bis jetzt keine schwerwiegenden Konflikte ausgebrochen waren. An diesem Abend war die Stimmung im Hengorot brüderlich und vergnügt, und jeder Bart war schaumbedeckt. Beorg hatte darauf gesetzt, dass die Stämme angesichts eines gemeinsamen Feindes und der Aussicht auf anhaltenden Wohlstand vereint werden könnten. Und bisher war alles gut verlaufen.

Aber das Scheusal Heafstaag blieb der Schlüssel zu allem.

Die schweren Stiefel von Heafstaags Kriegern ließen den Boden erzittern, als sie entschlossen heranmarschierten. Der riesengroße, einäugige König führte den Zug, und seine kraftvollen Riesenschritte wiesen ihn deutlich als Nomaden der Tundra aus. Neugierig auf Beorgs Vorschlag und argwöhnisch wegen eines möglichen frühen Wintereinbruchs hatte sich der König entschieden, die kalten Nächte geradewegs durchzumarschieren und nur für kurze Pausen anzuhalten. Obwohl Heafstaag in erster Linie für seine Grausamkeit in der Schlacht bekannt war, war er ein Anführer, der jeden Schritt sorgfältig abzuwägen wusste. Der eindrucksvolle Marsch würde bei den Kriegern der anderen Stämme denselben Respekt hervorrufen, den er bereits bei seinem Volk genoss, und Heafstaag stürzte sich schnell auf jeden Vorteil, den er erlangen konnte.

Es war keineswegs so, dass er im Hengorot Ärger erwartete. Er hatte große Achtung vor Beorg. Schon zweimal war er auf dem Feld der Ehre dem König des Wolfstammes begegnet, ohne einen Sieg davontragen zu können. Falls Beorgs Plan wirklich so vielversprechend war, wie es den Anschein hatte, würde Heafstaag mitmachen und lediglich darauf bestehen, die Führerschaft mit dem blonden König zu teilen. Die Idee, dass die Stammesangehörigen nach der Eroberung der Städte ihr Nomadenleben beenden könnten und mit Knöchelkopfforellen Handel treiben würden, interessierte ihn nicht. Aber er war bereit, Beorg seine Träume zu lassen, solange sie ihm selbst den Nervenkitzel der Schlacht und Sieg brachten. Erst einmal würden sie plündern und die Wärme während des langen Winters genießen können, und dann würde man immer noch das ursprüngliche Einverständnis ändern und die Beute umverteilen können.

Als die Lichter der Lagerfeuer in Sicht kamen, beschleunigte die Kolonne ihren Schritt. »Singt, meine stolzen Krieger!«, befahl Heafstaag. »Singt mit Begeisterung und aus vollem Halse! Sollen jene, die sich versammelt haben, beim Erscheinen unseres Stammes erzittern!«

Beorg spitzte bei Heafstaags geräuschvollem Kommen die Ohren. Da er die Taktik seines Rivalen gut kannte, war er nicht im Geringsten überrascht, draußen in der Nacht die ersten Töne des Liedes an Tempus zu hören. Der blonde König reagierte unverzüglich, sprang auf seinen Tisch und rief die Versammelten auf, zu schweigen und ihm zuzuhören. »Horcht, Männer des Nordens!«, schrie er. »Denkt an die Herausforderung in diesem Lied!«

Sofort brach im Hengorot ein Durcheinander aus, als die Männer sich von ihren Plätzen erhoben und sich zu ihren Stämmen stellten. Alle stimmten ein und sangen den gleichen Kehrreim über den Kriegsgott, mutige Taten und das glorreiche Sterben auf dem Feld der Ehre. Dieses Lied wurde jedem Barbarenjungen beigebracht, sobald er die ersten Worte stammeln konnte, denn das Lied an Tempus galt als Maßstab für die Stärke eines Stammes. Nur jene Zeile, in der die Sänger genannt wurden, unterschied sich bei den einzelnen Stämmen. Jene Zeilen sangen die Krieger auch mit zunehmender Lautstärke, denn die Herausforderung des Liedes bestand darin festzustellen, welcher Ruf an den Kriegsgott Tempus am deutlichsten zu ihm drang.

Heafstaag führte seine Männer direkt zum Eingang des Hengorot. In der Halle übertönte der Gesang vom Wolf- stamm offenkundig den aller anderen, aber Heafstaags Krieger waren der Lautstärke von Beorgs Männern gewachsen.

Angesichts der Vorherrschaft der Wölfe und Elche verstummten die kleineren Stämme nacheinander. Zwischen den zwei übrig gebliebenen Stämmen zog sich die Herausforderung noch eine Weile hin, denn keiner war bereit, unter den Augen der Gottheit den Wettstreit aufzugeben. In der Honigweinhalle legten die Männer der geschlagenen Stämme nervös die Hände an ihre Waffen. Auf den Ebenen war schon mehr als ein Krieg ausgebrochen, weil der Gewinner bei einem Kräftemessen mit diesem Lied nicht eindeutig zu bestimmen gewesen war.

Schließlich wurde der Eingang zum Zelt geöffnet, und Heafstaags Fahnenträger trat ein. Es war ein junger Mann, hochgewachsen und stolz, und seine aufmerksamen Augen musterten alles um ihn herum sehr sorgfältig und täuschten so über seine Jugend hinweg. Er setzte ein Horn aus Fischbein an die Lippen und blies einen klaren Ton. Die Tradition verlangte es, dass beide Stämme gleichzeitig mit dem Gesang aufhörten.

Der Fahnenträger schritt durch die Halle auf den gastgebenden König zu. Seine Augen blieben unverwandt und ohne zu blinzeln auf Beorgs eindrucksvolles Gesicht gerichtet und achteten auf jede Einzelheit seines Mienenspiels. Heafstaag hat seinen Herold sehr gut ausgewählt, fand Beorg, der sich der Prüfung sehr wohl bewusst war.

»Gütiger König Beorg«, begann der Fahnenträger, nachdem sich die Unruhe gelegt hatte, »und auch ihr anderen versammelten Könige. Der Elchstamm bittet um Erlaubnis, das Hengorot betreten und Honigwein mit euch teilen zu dürfen, damit wir gemeinsam auf Tempus trinken können.«

Beorg musterte den Fahnenträger etwas länger als üblich, um herauszufinden, ob er die Gemütsruhe des Jugendlichen mit dieser unerwarteten Verzögerung erschüttern konnte.

Aber der Herold blinzelte weder, noch wandte er den durchdringenden Blick ab, und auch das Kinn hielt er weiterhin entschlossen und zuversichtlich emporgereckt.

»Gewährt«, antwortete Beorg beeindruckt. »Schön, dass wir uns treffen.« Dann murmelte er ganz leise: »Eine Schande, dass Heafstaag nicht über deine Geduld verfügt.«

»Ich kündige Heafstaag, König des Elchstammes, an«, rief der Fahnenträger mit klarer Stimme, »Sohn von Hrothulf dem Starken, der da war ein Sohn von Angaar dem Unerschrockenen; dreifacher Töter des großen Bären; zweifacher Eroberer von Termalaine im Süden, Held des Krieges, der einst Raag Doning, König des Bärenstammes, im Zweikampf mit einem einzigen Hieb erschlug …« (Diese Erinnerung rief nervöses Scharren beim Bärenstamm hervor und insbesondere bei König Haalfdane, dem Sohn von Raag Doning.) Der Fahnenträger fuhr noch einige Zeit fort und zählte jede Tat, jede Ehre und jeden Titel auf, und damit alle Verdienste, die Heafstaag während seiner langen und glanzvollen Laufbahn erworben hatte.

So wie die Herausforderung durch das Lied ein Wettstreit zwischen den Stämmen war, war das Aufzählen der Titel und Taten ein persönlicher Wettstreit zwischen den Männern, insbesondere zwischen den Königen, deren Mut und Kraft sich direkt auf ihre Krieger auszuwirken schien. Diesen Augenblick hatte Beorg gefürchtet, denn die Liste seines Rivalen war länger als seine. Er wusste, dass Heafstaag unter anderem deswegen als Letzter gekommen war, weil die Aufzählung seiner Verdienste allen Anwesenden vorgetragen wurde, also auch den Männern, die bei ihrer Ankunft vor einigen Tagen Beorgs Fahnenträger in Privataudienzen gehört hatten. Es war der Vorteil des Gastgeberkönigs, dass er seine Liste jedem Stamm vorlesen lassen konnte, während die Fahnenträger der Gastkönige nur bei ihrer unmittelbaren Ankunft zu den anwesenden Stämmen sprechen durften. Dadurch, dass er als Letzter gekommen war, nachdem sich alle anderen Stämme bereits eingefunden hatten, hatte Heafstaag ihm diesen Vorteil zunichtegemacht.

Endlich war der Fahnenträger fertig und ging durch die Halle zum Zelteingang zurück, um seinem König die Plane aufzuhalten. Heafstaag schritt zuversichtlich durch das Hengorot auf Beorg zu.

Wenn Männer auch schon von der Aufzählung seiner mutigen Taten beeindruckt waren, dann wurden sie gewiss nicht durch seine Erscheinung enttäuscht. Der rotbärtige König war über zwei Meter groß, und sein fassförmiger Körper ließ im Vergleich sogar Beorg wie einen Zwerg erscheinen. Die Narben aus vielen Kämpfen trug er stolz zur Schau. Ein Rentier hatte ihm mit dem Geweih ein Auge herausgerissen, und seine linke Hand war bei einem Kampf mit einem Eisbären hoffnungslos verkrüppelt worden. Der König des Elchstammes hatte mehr Schlachten erlebt als jeder andere in der Tundra, und seinem Auftreten nach zu urteilen, war er bereit und begierig, weitere aufzunehmen.

Die zwei Könige musterten sich ernst, und keiner von ihnen blinzelte oder wandte auch nur eine Sekunde den Blick ab.

»Wolf oder Elch?«, stellte Heafstaag schließlich die Frage, die angemessen war, wenn die Herausforderung durch das Lied unentschieden geblieben war.

Beorg achtete genau darauf, die richtige Antwort zu geben. »Schön, dass wir uns treffen, und gut gekämpft«, erwiderte er. »Sollen die scharfen Ohren von Tempus entscheiden, wenn wohl auch selbst der Gott in Bedrängnis kommt, eine Entscheidung zu treffen.«

Nachdem die Förmlichkeiten ordentlich erledigt waren, wich die Spannung aus Heafstaags Gesicht. Er lächelte seinen Rivalen breit an. »Schön, dass wir uns treffen, Beorg, König des Wolfstammes. Es tut gut, dich zu sehen und nicht mein Blut, wie es die Spitze deines tödlichen Speers befleckt!«

Heafstaags freundliche Worte überraschten Beorg. Einen besseren Beginn für den Kriegsrat hätte er sich nicht erhoffen können, und er erwiderte das Kompliment mit gleicher Inbrunst. »Und dass ich mich nicht vor dem sicheren Hieb deiner grausamen Axt ducken muss!«

Das Lächeln verschwand jedoch schlagartig von Heafstaags Gesicht, als er den dunkelhaarigen Mann an Beorgs Seite bemerkte. »Welches Recht aufgrund von Mut oder Blut hat dieser schwächliche Südländer, dass er sich in der Honigweinhalle von Tempus aufhält?«, wollte der rotbärtige König wissen. »Sein Platz ist bei seinesgleichen oder bestenfalls bei den Weibern!«

»Vertraue mir, Heafstaag«, erklärte Beorg. »Das ist deBernezan, der für unseren Sieg von großer Bedeutung sein wird. Die Informationen, die er mir gegeben hat, sind von großem Wert, denn seit mehr als zwei Jahren lebt er in Zehnstädte.«

»Welche Rolle spielte er denn?«, fragte Heafstaag.

»Er informiert uns«, wiederholte Beorg.

»Das ist doch bereits geschehen«, gab Heafstaag zurück. »Welchen Wert hat er denn jetzt noch für uns? Gewiss wird er nicht neben unseren Kriegern kämpfen.«

Beorg warf deBernezan einen Blick zu und verdrängte schnell seine Verachtung für diesen Schuft aus seinem Denken, der in dem jämmerlichen Versuch, die eigenen Taschen zu füllen, sein Volk verriet. »Erkläre deinen Fall, Südländer. Und möge Tempus für deine Knochen auf seinem Feld einen Platz finden!«

DeBernezan versuchte vergeblich, Heafstaags eisernem Blick standzuhalten. Er räusperte sich und sprach so laut und selbstsicher, wie es ihm möglich war. »Wenn die Städte erobert sind und ihr Reichtum sichergestellt ist, werdet ihr jemanden brauchen, der den südlichen Markt kennt. Ich bin dieser Mann.«

»Zu welchem Preis?«, knurrte Heafstaag.

»Ein angenehmes Leben«, antwortete deBernezan. »Eine geachtete Stellung, weiter nichts.«

»Pah!«, schnaubte Heafstaag. »So wie er seine Leute verrät, wird er auch uns verraten!« Der riesige König riss die Axt aus seinem Gürtel und machte einen Satz auf deBernezan zu. Beorg zog eine Grimasse, denn er wusste, dass dieser kritische Augenblick den ganzen Plan zunichtemachen konnte.

Mit seiner verstümmelten Hand packte Heafstaag deBernezan an den öligen, schwarzen Haaren, zog den Kopf des schmächtigen Mannes zur Seite und entblößte seinen Hals. Er schwang die Axt mit voller Kraft auf dies Ziel zu. Sein Blick war unentwegt auf das Gesicht des Südländers gerichtet. Aber entgegen den unbeugsamen Regeln der Tradition hatte Beorg deBernezan auf diesen Augenblick gut vorbereitet. Der kleine Mann war mit eindeutigen Worten gewarnt worden, dass er auf jeden Fall sterben würde, wenn er sich sträubte. Aber da Heafstaag ihn ja bloß auf die Probe stellte, würde sein Leben wahrscheinlich verschont bleiben, wenn er dem Hieb nicht auswich. DeBernezan bot seine ganze Willenskraft auf, heftete den Blick auf Heafstaag und zuckte angesichts seines bevorstehenden Todes mit keiner Wimper.

Im allerletzten Augenblick wandte Heafstaag die Axt ab, und die Klinge zischte um Haaresbreite an der Kehle des Südländers vorbei. Heafstaag löste den Griff aus den Haaren des Mannes, sah ihn aber weiterhin prüfend an.

»Ein ehrlicher Mann nimmt jede Prüfung durch seine auserwählten Könige hin«, sagte deBernezan und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen.

Aus allen Kehlen erscholl im Hengorot Jubelgeschrei, und nachdem das verhallt war, wandte sich Heafstaag an Beorg. »Wer wird anführen?«, fragte der Riese unverblümt.

»Wer hat die Herausforderung des Liedes gewonnen?«, fragte Beorg zurück.

»Gut geschlichtet, gütiger König.« Heafstaag salutierte vor seinem Rivalen. »Dann also gemeinsam, du und ich, und kein Mann soll unsere Herrschaft infrage stellen!«

Beorg nickte zustimmend. »Tod einem jeden, der sich erdreistet!«

DeBernezan seufzte tief vor Erleichterung und bewegte vorsichtig seine Beine. Falls Heafstaag oder auch Beorg die Pfütze zwischen seinen Füßen auffiel, wäre sein Leben mit Sicherheit verwirkt. Wieder bewegte er nervös die Beine und sah sich um. Jäher Schrecken packte ihn, als er dem Blick des jungen Fahnenträgers begegnete. DeBernezan erbleichte in Erwartung der bevorstehenden Erniedrigung und seines Todes. Doch unerwartet wandte sich der Fahnenträger ab. Er lächelte zwar belustigt, hielt aber den Mund. DeBernezan wusste, dass dies ein beispielloser Gnadenakt angesichts der rauen Traditionen der Barbaren war.

Heafstaag warf die Arme über den Kopf und richtete den Blick und die Axt zur Decke empor. Beorg nahm seine Axt aus dem Gürtel und ahmte diese Bewegung schnell nach. »Tempus!«, riefen sie im Chor. Wieder musterten sie sich, dann schlitzten sie sich mit den Äxten die Haut am Schildarm auf und befeuchteten die Klingen mit ihrem Blut. Gleichzeitig wirbelten sie in einer schnellen Bewegung herum und schleuderten ihre Waffen durch die Halle. Beide Äxte fanden ihr Ziel im gleichen Fass Honigwein. Die Männer, die diesem am nächsten saßen, ergriffen ihre Krüge und stürmten dorthin, um die ersten Tropfen des Weins aufzufangen, der mit dem Blut ihrer Könige gesegnet war.

»Ich habe einen Plan geschmiedet, der deiner Zustimmung bedarf«, teilte Beorg Heafstaag mit.

»Später, ehrenwerter Freund«, erwiderte der einäugige König. »Widme diesen Abend dem Singen und Trinken zur Feier unseres Sieges.« Er schlug Beorg auf die Schulter und zwinkerte mit seinem einzigen Auge. »Freu dich über meine Ankunft, denn sonst hättest du auf einer solchen Versammlung einen schlechten Stand«, fügte er mit einem herzhaften Lachen hinzu. Beorg musterte ihn prüfend, doch Heafstaag schenkte ihm ein zweites groteskes Zwinkern, um ihn von seinem Zweifel zu befreien.

Unvermittelt schnalzte der robuste Riese mit den Fingern in Richtung auf einen seiner Feldleutnants und stieß seinen Rivalen mit dem Ellbogen an, als wollte er ihn an einem Witz teilhaben lassen.

»Hol die Mädchen!«, befahl er.

Der Gesprungene Kristall

Um ihn herum war alles vollkommen schwarz.

Gnädigerweise konnte er sich nicht erinnern, was passiert war und wo er sich befand. Nur Dunkelheit, eine tröstende Dunkelheit.

Doch dann spürte er an den Wangen ein eiskaltes Brennen, das immer stärker wurde und ihn um den Frieden der Bewusstlosigkeit brachte. Wie unter einem Zwang öffnete er ganz langsam die Augen, aber als er blinzelte, war das blendende, grelle Licht noch immer zu stark.

Er lag mit dem Gesicht im Schnee. Überall um ihn herum ragte das Gebirge empor, und die zerklüfteten und schneeüberzogenen Gipfel erinnerten ihn daran, wo er war. Sie hatten ihn in den Grat der Welt geworfen. Sie hatten ihn zum Sterben zurückgelassen.

Akar Kessells Kopf pochte, als er ihn schließlich hochheben konnte. Zwar schien die Sonne, aber der bitterkalte und böige Wind zerstreute jede Wärme, die ihre hellen Strahlen ihm schenken konnten. In diesem Hochgebirge herrschte ewiger Winter, und Kessell trug nur leichte Roben, die ihn kaum vor der tödlichen, schneidenden Kälte schützen konnten.