Der goldene Skalp - Renate Hartwig - E-Book

Der goldene Skalp E-Book

Renate Hartwig

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Beschreibung

Vor 20 Jahren hat die Publizistin Renate Hartwig mit ihrer unbestechlichen und unerschrockenen Art Scientology über massive Öffentlichkeitsarbeit die Stirn geboten. Sie hat durch breite Thematisierung verhindert, dass diese totalitäre Institution in Deutschland wie gewünscht Fuß fassen kann. Heute klagt sie ein anderes System mit skandalösen Zügen an: unser Gesundheitswesen, das, durch die Rahmenbedingungen der Politik gedeckt, ein mafiöses System betreibt. Messerscharf recherchiert Hartwig, wie das Solidarsystem in eine Kommerzmaschine umgewandelt wurde. Sie berichtet von ihren Erlebnissen und Erfahrungen in den Machtzirkeln der Ärztefunktionäre. Entlarvt die Käuflichkeit und Feigheit sowie den Verrat der Patienten vonseiten der Masse der Ärzteschaft. Zeigt auf, wer profitiert und wohin die Gelder verschwinden und wie Kassenpatienten ausgeplündert werden: monetär, seelisch und als Ware. Im Zentrum stehen nicht weniger als die Frage nach Vertrauen, der Würde des Menschen und der Umgang mit Leben und Tod. Dem Kommerz zum Trotz: Der Mensch ist mehr als nur ein Glied in der finanziellen Wertschöpfungskette!

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Renate Hartwig Der goldene Skalp

Renate Hartwig

Der goldene Skalp

Wie uns die mafiösen Machenschaften der Gesundheitsindustrie

«Wer wagt, gewinnt – deshalb wage ich weiter.»Renate Hartwig

Die AutorinRenate Hartwig, geboren 1948 in Lindau, ursprünglich Sozialarbeiterin, ist heute Publizistin und Bestsellerautorin. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Hartwig durch ihre kritischen Bücher über «Scientology» bekannt, die sie schrieb, während sie sich mutig gegen diese Organisation einsetzte. Mit demselben Engagement kämpft sie für ein Gesundheitssystem, in dem der Mensch und nicht der Mammon im Mittelpunkt steht. Sie stellt sich gegen die, wie sie sagt, von «Kapitalinteressen» dominierte Gesundheitspolitik. Die Art, wie sie seit Jahren gegen mafiöse Strukturen kämpft, findet in weiten Kreisen Anerkennung.

www.patient-informiert-sich.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2014 by `fontis − Brunnen Basel Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgöns Umschlagfotos: Simon Booth, Shutterstock.com E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-566-7

Inhalt

Vorwort der Autorin

1. Die Wut eines Greenhorns

2. Wer hat den Bergdoktor auf dem Gewissen?

Abrechnen in den Weihnachtsferien

Das Geschäftsmodell Arzt

Wenn ehrlich nicht mehr hilft, dann halt unehrlich

Die Langfinger vom Stamme «Nimm»

DieWut der Ärzte

Nichts mehr wert

3. Vom Patienten zum Schnäppchenjäger

Der Bonus für die Gesunden

Sirenenschreie

Schnäppchenjagd beim Arzt

Warum ein besserer Rollstuhl? Gelähmt ist gelähmt!

Wer kriegt zu Recht unser Geld?

4. Frau Doktor! Die Kassen sind krank!

Die Kassen sind «schizofirm» geworden

Eine Kasse verpuppt sich

Das Kartell der Kassen

Frankenstein weckt das Kassenmonster

Geschlossene Kassen-Gesellschaft

Die Reise des Geldes

Der ewige Zahlenknoten

Der Traum vom Sparen zerplatzt

Unbeantwortete Fragen

Alle Organe kuschen

5. Nützliche Idioten – wie Selbständige von den Krankenkassen ausgenommen werden

Das Jahr der Tränen

Ein Fragezeichen in meiner Abrechnung

6. Kannibalen unter sich – wie sich Ärzte selbst zerfleischen

Was ist die Kassenärztliche Vereinigung?

In der Regressfalle

Knuspern am Hexenhaus

Millionen aus dem Keller

Verschanzt im Selbstbedienungs-Saloon

Kassenärztlicher Konzern

Ein Aprilscherz im Februar

Der Beitragsgeldfluss fließt und fließt

Der Speck und die Mäuse

Sexuelle Störung im Kartenleser

Und wie schützen wir die Daten?

Sollen wir lachen oder heulen?

7. Häuptlinge in der Drehtür – wo Politiker und Lobbyisten sich die Klinke in die Hand drücken

8. Die Jagd nach dem goldenen Skalp

Das Postfach quillt über

Dann gehen wir eben ins Olympiastadion!

Die Hausärzte verraten die Patienten

Hausärztlicher Kundendienst

Die Politiker verraten die Hausärzte

Der letzte Kampf der Hausärzte

Der Tag X

Eine Telefonlawine geht ab

Die Ideen der Ärzte

Eine Ideenfabrik in der Post

Der Tanz geht erst los

9. Räuber auf der Pirsch – die Konzerne nehmen Witterung auf

Ein fantastischer Deal

Ein gescheitertes Uni-Experiment

Sturm über Kronach

Krankenhäuser zu verschenken

Ich will nicht verkauft werden

Rote Karte für den Klinikverkauf

10. Bittere Medizin – die lukrative Symbiose von Kassen und Pharmafirmen

Rabattverträge und die Krankenkassen

Die andere Seite der Spar-Medaille

Sparen ist unerwünscht

Satire: Aus Staub wird Gold!

Eine Krankheit als Geschäftsmodell?

11. «Klinik ist wie Bundeswehr» – der unmenschliche Alltag von Pflegekräften

Die Pflege liegt am Boden

Die stillen Helden fangen an zu schreien

«Feigheit gehört zum System»

Eine Pflegekonferenz in eigener Sache

Die Billig-Falle

Ruhiggestellt mit Medikamenten

Der glücklichste Fall

12. Helvetia und ihre medizinischen Einwanderer

Eine Therapeutin pendelt

Klinikärzte werden heimisch

Ein deutscher Exportschlager

Die Schweizer Versicherten und die Kosten

Die Schweiz und wir

13. DieWut des ehemaligen Greenhorns

Hippokrates’ letzte Jünger

Eine zwei Jahrtausende alte Provokation

Vorwort

Weshalb dieses Buch? Habe ich nicht schon alles aufgeschrieben?

Nein! Acht Jahre lang saß ich in der ersten Reihe der Schmierenkomödie, die sich «unser Gesundheitssystem» nennt.

Ich kenne das miese Programm.

Jetzt ist es Zeit für eine letzte Warnung. Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Deshalb dieses Buch.

Renate Hartwig, April 2014

1. Die Wut eines Greenhorns

Ich war ein Greenhorn, eingeklemmt in den Sitz eines Reisebusses, auf meinem Weg in eine neue Welt. Greenhorns waren Männer und Frauen, die in ein unbekanntes Amerika aufbrachen, um ein neues Leben zu beginnen. Sie waren unerfahren und hatten keine Vorstellung von dem, was sie hinter dem Ozean erwartete. Sie waren perfekte Opfer für die Spießgesellen, die das raue Leben im neuen Land schon kannten. Die nutzten ihre Unerfahrenheit aus und benutzten sie für ihre Pläne. Es fällt mir nicht leicht, mir das einzugestehen: Aber genauso ein Greenhorn war ich auch. Und lange habe ich die Wahrheit nicht gesehen.

Vor acht Jahren begann meine Reise. Mit dem Bus fuhr eine Gruppe Hausärzte nach Nürnberg zu einem Treffen, bei dem sie richtig Dampf ablassen wollten. Sie waren wütend und verzweifelt. Überall um mich herum klagten Männer und Frauen über ihre Situation. Sie schimpften und fluchten über ein Gesundheitssystem, in dem sie Gefangene bei Wasser und Brot waren. Aber keine Ärzte mehr, die gerne Patienten behandelten. Sie hatten Angst um ihre Zukunft, denn die Entscheider hatten sie an der Kehle gepackt und drückten ihnen die Luft ab. Die Honorare waren schlecht, und was ich in diesem Bus hörte, machte mir Sorgen: Viele Existenzen und Praxen standen vor dem Ende. Eine Welt ohne Hausärzte? Keine, in der ich leben wollte.

So lange ich mich erinnern kann, hatte ich nie negative Erfahrungen mit Ärzten gemacht. Begegnungen mit ihnen hatte ich genug: Ich weiß noch heute, wie mein Kinderarzt, Dr. Wagner, ausgesehen hat. Graue Haare, für mich als Kind schien er riesengroß. Ja, er kam mir immer vor wie ein guter Riese. Wenn mir etwas wehtat, dann konnte er das wegzaubern. Ich konnte als Kind nicht verstehen, warum andere Kinder im Wartezimmer weinten und Angst hatten vorm Herrn Doktor.

Aber es gab noch andere wichtige Ärzte für mich. Mein Vater war in meiner Kindheit schwer krank, und unser Hausarzt, Dr. Euler, kam immer zu uns nach Hause und hat ihn hervorragend betreut. Außerdem hat unsere ganze Familie meine kranke Mutter im Alter mit Unterstützung unseres damaligen Hausarztes daheim gepflegt. Dazu kamen Schwangerschaften, Geburten und natürlich Krankheiten. Alles waren Momente, in denen ich auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen war und viele kennen gelernt habe. Sie haben immer das erfüllt, was ich von ihnen erwarte: vertrauensvolle, verlässliche Partner zu sein. Sie haben sich Zeit genommen, zu verstehen und zu helfen.

2007 änderte sich alles. Da saß ich mit meinem rauen Hals im Sprechzimmer meines Hausarztes. Ich war allein – der Doktor war kurz raus zum Telefonieren gegangen. Plötzlich bewegte sich das Bild auf seinem Computerbildschirm, und ein breiter roter Streifen erschien. «Die Behandlungszeit für diesen Patienten ist abgelaufen», leuchtete da.

Ich war ziemlich schockiert. Bisher gab es für mich in diesem Zimmer nur den Arzt und mich. Aber auf einmal hatte ich das Gefühl, als würde ein Fremder zwischen uns sitzen und bestimmen, dass ich jetzt zu gehen hätte. Aber ich konnte diesen Fremden nicht sehen und fragte mich: Wer entscheidet hier eigentlich, wie lange der Arzt mit mir reden darf? Ich wollte das verstehen, und als der Arzt zurückkam, habe ich ihn sofort auf dieses Laufband angesprochen.

Er war ziemlich überrascht, es passte ihm nicht, dass ich den Hinweis auf seinem Bildschirm bemerkt hatte, und er sagte nur: «Ach wissen Sie, das ist das System.»

Ich wollte, dass er mir das erklärt, aber er meinte: «Dazu reicht mein Budget nicht!»

Ich war irritiert – bisher hatte ich nicht gehört, dass der Arzt für mich ein Budget hat. Bis dahin war ich immer voll Vertrauen zum Arzt gegangen, aber die Minuten in diesem Behandlungszimmer waren für mich wie ein Schock.

Es war der Aufbruch in eine neue Welt, von der ich wenige Augenblicke vorher im Wartezimmer noch keinen blassen Schimmer hatte. Eigentlich ist das Bild von der neuen Welt ziemlich absurd, denn der Irrsinn dieses Gesundheitssystems trifft uns schon bei Lappalien wie einem Kratzen im Hals. Eigentlich sollten wir es deshalb kennen wie den Weg zum Hausarzt. So habe ich auch gedacht, dass ich eine Ahnung von diesem System hätte. Ich habe immer geglaubt, dass wir mit unseren Kassenbeiträgen ein Solidarsystem finanzieren, in dem der Gesunde für den Kranken zahlt. In dem Kassen das Beitragsgeld zum Wohle der Patienten verwalten und das nur zu dem einen Zweck existiert: im Krankheitsfall den Menschen mit den notwendigen Mitteln zu helfen.

Damals wurde mir aber klar, dass wir für das «System» eine völlig neue Landkarte brauchen. Ich merkte zum ersten Mal, dass ich ein Greenhorn war. Zwar habe ich eine Versichertenkarte in meinem Geldbeutel, bin also Bürgerin des Landes «Gesundheitssystem», aber ich wurde wie alle anderen Kassenpatienten schön dumm gehalten. Denn ohne unser Wissen wurde die Gesundheitsversorgung umgepflügt und neu gestaltet, so dass ein gänzlich wildes und unentdecktes Land entstanden ist. In diesem Land herrschen nicht mehr Solidarität, Mitgefühl und Menschenwürde. In diesem Land schwingen die Betriebswirte, Ökonomen und Investoren die Gewinnpeitschen, und Ärzte, Ärztinnen, Schwestern und Pfleger müssen spuren. In diesem Land war ich eine Fremde.

Wenige Tage später klingelte es bei uns, und vier Ärzte standen vor der Tür. Mein Hausarzt hatte drei Kollegen mitgebracht, und bis spät in die Nacht saßen sie mit uns am großen Tisch im Esszimmer und klagten ihr Leid mit dem Gesundheitssystem. So hörte ich zum ersten Mal Wörter wie «Regelleistungsvolumen», «Fallpauschale» oder «Regress», und die Ärzte erzählten von völlig absurden Abrechnungen.

Ich war entsetzt: Jeder Arzt bekommt im Quartal pro Patient eine bestimmte Summe. Egal, wie oft der Patient in seine Praxis kommt. Als die vier gegangen waren, sagte ich zu meinem Mann: «Entweder ich lese die falsche Zeitung, oder die vier haben uns die letzten Stunden für dumm verkaufen wollen. Oder sie sind einfach nicht ganz richtig im Kopf!»

Von dem, was die mir da erzählten, hatte ich noch nie etwas gehört. Es war für mich wie eine Fremdsprache, in der sie sich unterhalten haben. Ich wollte wissen: Welcher Hornochse kommt auf die Idee, ein solches System, von dem 90 Prozent der Bevölkerung abhängig sind, so zu verkomplizieren, dass es niemand mehr versteht?

Also bin ich bereits einige Wochen später in den Bus eingestiegen und mitgefahren. Ich wollte kämpfen! Denn eine Welt ohne Hausärzte war keine, in der ich leben wollte. Mein Albtraum war, dass die freien niedergelassenen Ärzte weggespart werden und Handelsvertreter der Gesundheitskonzerne ihren Platz einnehmen. Die haben zwar auch Medizin studiert, sind aber für mich keine Ärzte mehr, weil es ihnen nicht um unsere Gesundheit zu gehen hat, sondern darum, den Gewinn ihrer Arbeitgeber zu steigern. Das Ende der Busreise war ein Debakel. Die Ärztinnen und Ärzte wollten, dass ihre Sorgen gehört würden. Stattdessen wurden ihre Redebeiträge von einem anwesenden Politiker, übrigens selbst Arzt, als ein Benehmen wie «Rotz am Ärmel» betitelt. Es wird keine Hilfe kommen. Das wurde mir damals klar.

Also wollte ich kämpfen. Ich wollte diesen Fremden finden, der den Ärzten im Nacken sitzt und sie zwingt, ihre Patienten abzuspeisen. Ich wollte nicht, dass er unser Gesundheitssystem mit Haut und Haaren verschlingt. Also drehte ich jeden Stein um, ihn zu finden und in die Ecke zu treiben. Ich telefonierte, recherchierte, schrieb Bücher, gründete eine Bürgerinitiative und mietete für eine Demo das Olympiastadion in München. Ich wusste, dass Patienten und Hausärzte gemeinsam für das Gesundheitssystem aufstehen und es im Schulterschluss verteidigen müssen. Sonst würde es niemand machen. Ich hatte immer geglaubt, dass Ärzte und Patienten nichts mehr wollen als eine gute Gesundheitsversorgung erhalten.

Aber ich war noch immer ein Greenhorn. Und ich musste die Wahrheit schmerzhaft kennen lernen: Es gibt keinen Schulterschluss und kein Mitgefühl mehr. Die Ärzte nutzten mein Engagement und meine Wut für ihre Zwecke aus. In all den Jahren ging es der Masse der Ärzte nie darum, die Systemfehler des Marktes zu beheben; sie hätten die Macht dazu! Aber sie haben sich diesem System angepasst und sich eingerichtet. Es ging immer nur um die Honorare und nie um das, wofür ich eigentlich angetreten bin. Ein Ärztefunktionär hat mir mal höhnisch geraten, ich solle mich besser nicht so für die Ärzte aus dem Fenster lehnen. Denn eins sei sicher: Egal, wer der Schar vorweglaufe, er müsse nur einen Hunderteuroschein hochhalten und die Ärzte würden blind hinterherlaufen. Egal in welche Richtung. Damals habe ich mich öffentlich mit dem Funktionär angelegt, heute muss ich ihm leider recht geben: Für die große Masse der Ärzte stimmt das.

Das habe ich jahrelang nicht erkannt, und ich habe diese Ärzte immer entschuldigt. Wahrscheinlich liegt das an meiner Prägung als Sozialarbeiterin. Ich habe lange Jahre in der Bewährungshilfe viele schwierige Fälle betreut, an deren Lage angeblich immer etwas anderes schuld war. Und so habe ich Ärzte eben auch entschuldigt und ihr Verhalten gerechtfertigt, so als könnten sie bei diesem System nicht anders reagieren. Aber in Wirklichkeit sind sie selbst verantwortlich. Sie zanken sich um Honorare und Patienten. Der Wettbewerb hat mittlerweile aus Haus-, Fach- und Kinderärzten Konkurrenten gemacht, die sich gegenseitig misstrauen. Da tun mir die Ärzte einerseits leid, andererseits bekomme ich eine riesige Wut auf sie, weil sie es eigentlich in der Hand hätten, das System zu verändern, aber stattdessen im Hamsterrad den Honoraren hinterherrennen.

Nur die Ärzte und ihr Verhalten zu kritisieren wäre zu kurz gedacht. Wehren wir uns denn als Beitragszahler? Mein Eindruck ist, dass wir schon selbst glauben, in diesem Wildwestkrimi irgendwo auf Öl zu stoßen und selbst Profit aus dem System herauszuschlagen. Uns Patienten bezeichnen die Kassen seit Jahren schon als Kunden, und ich habe immer mehr das Gefühl, dass diese Propaganda mittlerweile in unseren Köpfen Wurzeln geschlagen hat. Wir sind so geblendet und übersehen, dass dieses System das Verhältnis zu uns Menschen komplett verändert hat. Wir sind keine Patienten mehr, und auch unsere Gesundheit ist zweitrangig.

Nach acht Jahren Recherche und Kampf mache ich mir deshalb nichts mehr vor: Das Solidarsystem existiert nicht mehr. Das ist nur noch ein sozialromantisches Märchen, das wir uns zur Beruhigung vor dem Schlafengehen erzählen. In Wirklichkeit stehen nur noch Ruinen, und die werden Stück um Stück von denen abgetragen und verkauft, die seit Jahren auf die Geldberge unseres Gesundheitssystems aus sind. Denn wir reden hier über einen wachsenden Markt! Durch den fließen jährlich allein an Kassenbeiträgen 190 Milliarden Euro. Plus ca. 70 Milliarden Euro, die durch Zuzahlungen und unzählige Gesundheitsprodukte dazukommen.

Für ein Stück von diesem Kuchen ist jeder bereit, seinen Nächsten gewinnbringend zu verschachern. Die Krankenkassen die Funktionäre. Die Funktionäre die Ärzte. Die Politiker die Ärzte. Die Ärzte die Patienten. Die Gesunden die Kranken. Die Kranken die Schwerkranken. Denn das neue, marktregierte System verwandelt uns alle, es macht uns krank! Wir nehmen aber gar nicht wahr, was mittlerweile aus Ärzten, Pflegekräften, Patienten und Politikern geworden ist. Unsere Gesellschaft ist längst auch mit dem Virus des Dollar-Fiebers verseucht.

Rückblickend saß ich acht Jahre lang in einem Kinofilm, in dem sich vor meinem Auge die Auswüchse der menschlichen Gier abgespielt haben. Nur dass dieser Film nicht nach zwei Stunden aus war. Er hat bis heute nicht aufgehört. Nach jedem Ende wartete ein neuer Abgrund. Acht Jahre Lebenszeit habe ich für diese Schmierenkomödie investiert. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dass nie wieder ein Thema so Besitz von mir ergreifen darf. Mein Ziel war immer ein menschlicheres Gesundheitssystem – dort bin ich noch nicht angekommen. Unterwegs habe ich aber so viel erlebt, dass ich mich fühle wie ein Container, bis zum Rand angefüllt mit dem Unrat dieses Systems. Ich muss einfach die Türen aufklappen und das alles zu Papier bringen, sonst platze ich noch. Darum ist dieses Buch auch meine Geschichte mit dem System. Ich werde hier die Fakten aufschreiben, die mittlerweile Regale voller Ordner und Boxen in meinem Archiv füllen. Aber auch die vielen Erlebnisse, die mehr als Fakten unserem Gesundheitssystem die Maske herunterreißen.

Meine Erkenntnis dabei ist: Diese gierigen Fremden, nach denen ich so lange gesucht habe, das sind wir alle. Die Gier beherrscht uns, darum ist unser krankes Gesundheitssystem nicht mehr zu heilen. Es wird immer kränker und schwächer, und die Medikamente, die ihm als politische Reformen gespritzt werden, bringen rein gar nichts. Darum müssen wir die Augen öffnen! Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir übernehmen als Versicherte und Ärzte endlich Verantwortung und starten neu. Oder wir vergessen das mit der Solidarität und dem Mitgefühl, verhökern das letzte Tafelsilber und finden uns damit ab, dass wir kein Miteinander mehr wollen.

Dann sollten wir uns aber besser mit dieser Welt anfreunden, die ich Ihnen, werte Leserinnen und Leser, in den nächsten Kapiteln zeigen werde. Und lassen Sie mich jetzt schon sagen, es ist eine hässliche Welt! Und sie wird immer hässlicher. In ihr sind wir allesamt Greenhorns. Leichte Beute. Wirklich gut kennen sich nur die aus, die dieses System gebaut und erdacht haben. Ihnen sind wir als Patienten und Ärzte ausgeliefert.

2. Wer hat den Bergdoktor auf dem Gewissen?

Die Nachfahren von Albert Schweitzer gibt es heute nur noch im deutschen Fernsehprogramm. Arztserien wie «Der Bergdoktor», «In aller Freundschaft» und «Familie Dr. Kleist» erzielen regelmäßig gute Einschaltquoten. Die Serien zeigen uns die perfekten Ärzte. Sie haben offene Ohren für ihre Patienten und Mitarbeiter, und wenn es irgendwo Probleme gibt, springen sie sofort ins Auto und rasen los. Das sind natürlich Fantasien von Drehbuchautoren. Doch irgendwie müssen sie die Sehnsucht in uns nach einer heilen Welt anheizen, denn sonst würden wir nicht so oft einschalten.

Wenn man nach solchen Ärzten in der Realität sucht, stößt man auf keinen Albert Schweitzer. Er war ein Arzt, für den es wichtig war, Menschen zu helfen. Nun ist aber Albert Schweitzer lange tot, und die echten Abbilder des Bergdoktors stürzen gerade vom Felsen ab, auf den wir sie gehoben haben. Eigentlich genießen Ärzte seit Jahrzehnten in unserer Gesellschaft ein sehr hohes Ansehen. Ein «Herr Doktor» zu sein, das ist mal was! Wer Menschen heilt, muss ein Menschenfreund und an sich ein guter Mensch sein. Diese Erwartungen waren sicherlich oft übertrieben, und vielleicht gerade weil sie zu hoch waren, spürt man jetzt die Enttäuschung umso stärker. Denn dieser solide Image-Felsen bröckelt. Immer öfter stehen Ärzte öffentlich als gierig da.

Die Ärzte sind an solchen Bildern nicht unschuldig. Seit Jahren diskutiere ich mit ihnen über unser System. Solidarität hat die Masse der Ärzte in diesen Jahren aber herzlich wenig interessiert.

Vor kurzem habe ich mit einem Arzt gesprochen, der zu mir sagte: «Das Solidarystem brauchen wir nicht. Es ist ungerecht.»

«Wie?», habe ich ihn gefragt. «Ungerecht für wen? Für euch Ärzte?»

Da hat er unumwunden Ja gesagt: «Im Solidarsystem bekommen wir nicht, was wir verdienen.»

So ging es all die Jahre in meinen unzähligen Gesprächen mit Ärzten immer nur um einen Punkt: ihre Honorare.

Aber das Image bröckelt nicht nur bei mir. Auch die Öffentlichkeit wird skeptisch. In den vergangenen Jahren haben die Ärzte für höhere Honorare demonstriert. Viele Patienten rieben sich ungläubig die Augen, als die Ärzte anfingen, sich über zu wenig Geld zu beklagen. Denn der «Herr Doktor», so glauben viele, verdient eher gut als schlecht. Das ist Teil des Bildes, das wir von ihm haben.

Auf eine Frage möchte ich mich in diesem Buch aber nicht einlassen: Verdienen Ärzte genug? Diese Neid-Debatte bringt uns nicht weiter. Aber interessant ist sie schon deshalb, weil sie entlarvt, dass das Marktdenken auch längst bei uns Patienten angekommen ist. Wir sind Schnäppchenjäger geworden, die gerne in einem Discount-Gesundheitssystem beim besten Angebot zuschlagen. Teure Ärzte sind da schon Luxusgüter, und wehe, sie kosten zu viel! Um diese Patientenmentalität soll es im nächsten Kapitel gehen.

Kommen wir zurück zu den Ärzten. Auch sie haben sich dem Markt angepasst. Das System hat die Einstellung der jungen Mediziner zu ihrem Beruf und letztlich auch zu uns Patienten verändert. Ich glaube, das liegt ein Stück an der Ausbildung. Die Studierenden müssen schnell kapieren, dass sie in der Uni nur durchkommen, wenn sie sich anpassen und die Regeln befolgen. In der Klinik als Assistenzarzt ist das später nicht besser: Wer Karriere machen und mal Oberarzt werden will, muss vor den meisten Chefärzten buckeln. Und so haben sie sich auch an die neue Welt angepasst, die vor ihren Augen aus dem Solidarsystem herausgebrochen worden ist. Traurig ist, dass sie sich nie dagegen gewehrt haben. Sie haben eigentlich als Erste gesehen, was da kommt. Aber sie haben stillgehalten und überlegt, wie sie sich anpassen können.

In dieser Welt ist der Menschenfreund in dem TV-Bergdoktor nur noch eine schräge Fiktion. Längst zählt eine ganz andere Qualität, um in diesem Job zu überleben. Ärzte müssen Zahlen mehr lieben als Menschen. Betriebswirte, Ökonomen und Investoren haben den Bergdoktor längst umgebracht.

Abrechnen in den Weihnachtsferien

In den Weihnachtsferien habe ich eine Ärztin, die ich gut kenne, in ihrer Praxis besucht. Dieser Januar war traumhaft warm, und die Sonne strahlte am Himmel. Kein Vergleich zum düsteren Vorjahr. Viele andere haben die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester zum Entspannen genutzt. Sie aber saß in ihrer Praxis vor ihrer Quartalsabrechnung. Als sie mir die Tür öffnete und ich eintrat, war es wie ein Sprung vom helllichten Tag in die Nacht. Überall brannte Licht. Die Rollos waren wie immer bei geschlossener Praxis heruntergelassen. Wären sie oben, würden unter jeder Garantie Patienten klingeln. Die Ärztin saß vor ihrem Computer, auf dem Schreibtisch stapelweise Papier, und überprüfte die Unterlagen von Patient zu Patient. Das sind nicht wenige, die sie mit ihren beiden Kollegen betreut.

«Das ist doch Schikane!», sagte ich zu ihr. «Die Leute, die sich diesen bürokratischen Oberschmarren hier ausgedacht haben, fahren jetzt irgendwo Ski, liegen in der Sonne, und du sitzt hier und kontrollierst jede einzelne Zahl und jeden einzelnen Buchstaben von dem zu Ende gehenden Quartal.»

Sie meinte, dass ich schon recht hätte. «Aber was soll ich machen? Ich muss hier akribisch schauen, dass ich nichts vergesse und nirgendwo ein Zahlendreher drin ist.»

Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Zahlendreher? Dazu muss ich ein paar Takte erklären. Die niedergelassenen Ärzte bekommen ihr Geld nicht von der Krankenkasse ausbezahlt, sondern von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) – für mich eine mehr als dubiose Einrichtung in diesem System und mir deshalb ein eigenes Kapitel wert. Die KV verhandelt für die Ärzte nicht nur mit den Kassen, wie viel Geld ein Arzt für seine Leistung an uns Kassenpatienten bekommt, sondern sie bekommt das Geld von den Kassen überwiesen, um es an die Ärzte nach einem absurden Ziffernsystem auszubezahlen! Seit ich selbst eingestiegen bin in diesen Wirrwarr von Ziffern und Buchstaben, um den Wahnsinn nachzuvollziehen, sage ich immer wieder: Dieses System ist nicht mehr vermittelbar! Kein Mensch kann sich vorstellen, wie unnötig kompliziert hier verwaltet wird.

Seit ich mit meinen Recherchen begonnen habe, hat sich dieses Abrechnungssystem mehrfach grundlegend geändert. Angefangen hat es mal mit Pünktchen, mittlerweile sind die Schreibtischtäter auf die tolle Idee gekommen, immer mehr Ziffern zu verwenden. Jede Behandlung muss mit einer Ziffer eingetragen werden, für die es dann eine bestimmte Summe gibt. Die zwei Bücher mit den entsprechenden Ziffern sind 350 Seiten dick, und erst im Oktober 2013 sind weitere Seiten dazugekommen.

Ein Beispiel gefällig?

Neu in diesem Unsinns-Regelwerk (das übrigens kurz EBM heißt – «Einheitlicher Bewertungsmaßstab») sind Ziffern für chronisch Kranke. Kommt also zum Beispiel ein Patient mit Diabetes zum ersten Mal in die Praxis, muss die Zahl 03220 eingetragen werden. Die KV gibt dafür 13 Euro. Kommt der Diabetiker noch einmal, muss die 03220 wieder gelöscht und stattdessen 03221 eingetragen werden, das ist die Ziffer für seinen zweiten Besuch in der Praxis. Erst ab diesem gibt es zwei Euro mehr im Quartal.

Wenn nun aber im Tagestrubel jemand in der Praxis vergisst, die Zahlen zu verändern, oder sich vertippt – ein Zahlendreher ist schnell mal möglich –, kann das bei vielen Patienten den Arzt schnell eine Stange Geld kosten.

Was ist die Konsequenz daraus? Die Ärzte sind gezwungen, mehr auf die Zahlen zu sehen, laufend zu kontrollieren. Wenn andere Leute abends schon längst vom Alltag abgeschaltet haben, sitzen Ärzte noch vor dem Computer und überprüfen den Tagesablauf. Aber sie haben keine Wahl. Entweder sie investieren hier ihre eigene Lebenszeit, stellen vielleicht extra dafür jemand ein, oder die Praxis riskiert enorme Verluste.

Was macht das mit den Ärzten? Dieses bürokratische Unsinns-System verändert sie. Die Prioritäten werden verschoben. Sie sind mittlerweile mehr Verwalter von Patienten als deren Ärzte. Diese Bürokratie frisst Zeit auf, die wir als Patienten in den Praxen so oft vermissen. Zeit für uns, die ein Softwareprogramm einteilt und an die ein Bildschirm-Laufband den Arzt erinnert. Aber es kostet eben nicht nur die Zeit, sondern auch Energie. Am Tag sieht ein Arzt oft sechzig Patienten: sechzig einzigartige Fälle, jeder hat seine Probleme. Er muss sich auf jeden einlassen. Anstatt abends oder in den Ferien Kraft zu tanken, zwingt das System die Ärzte, die eingetragenen Ziffern und die Rezepte sowie sich selbst und die Mitarbeiter zu kontrollieren. Es zwingt sie, misstrauisch zu sein, denn jeder Fehler kostet Geld. Das ist wie mit einem Luftballon, der in einem Glas aufgeblasen wird. Je größer der Luftballon wird, desto weniger Platz ist noch übrig für die Luft im Glas. So werden die Menschen von der Bürokratie unseres Gesundheitssystems an den Rand gedrängt.

Wie hieß es auf dem Laufband? «Die Behandlungszeit für diesen Patienten ist abgelaufen!» Die Verwaltungszeit, die der Arzt danach für mich aufwenden musste, hat bestimmt doppelt so lange gedauert. Das ist doch verrückt: Letztlich schaden wir uns selbst, wenn wir eine so absurde Situation zulassen, die nicht den Menschen, sondern die Verwaltung zum Maßstab nimmt. Es ist eigentlich zum Lachen, dass mir der Arzt damals nicht erklären konnte, warum ich zu gehen hatte. Dafür habe er schließlich kein Budget, sagte er mir. In den 350 Seiten des EBM gibt es ja keine Abrechnungsziffer für Nachhilfe im Gesundheitssystem. Genauso wenig wie für viele Einsätze des lieben Doktors. Vielleicht sollte man sagen: Die Bürokraten und Technokraten haben den Herrn und die Frau Doktor längst auf ihren Schreibtischen geopfert.

Das Geschäftsmodell Arzt

Die geschäftstüchtigen Ärzte versuchen nun, das Beste aus dem bestehenden Regelwerk herauszuholen. Sie handeln wie Kaufleute, so sehen es manche zumindest. Ein Mitglied in einem Internet-Ärzteforum schrieb einmal, wenn Politiker und Funktionäre die Anliegen der Ärzte mit Füßen träten und ihre Existenzen bedroht seien, müsse «die kaufmännische Seite sogar die Oberhand gewinnen». Während die Ärzte zaghaft ihre kaufmännische Ader entdecken, sind andere schon längst im Geschäft. In diesen Gesundheitskaufhäusern muss schließlich die Buchhaltung stimmen. Wie es für uns Berater in allen Belangen gibt, gibt es für die Ärzte ebenfalls freundliche Helfer. Das EBM-Ziffern-Regelwerk ist ja schon komplex genug, gut also, dass jemand die oft überforderten Ärzte unterstützt, wenn wieder einmal neue Ziffern herauskommen, was zuletzt im Oktober 2013 passiert ist. Diese Helfer machen das in der Regel nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern weil sie selbst eine Geschäftsidee haben.

Im November 2013 habe ich mich mit einem Arzt unterhalten, der mir von einer Einladung in ein Luxushotel erzählt hat. Eine Pharmafirma und eine Unternehmensberatung hatten eine medizinische Weiterbildung und eine berufspolitische Fortbildung organisiert: «Der neue Hausärzte-EBM – was kommt auf Sie zu?»

Auch die Kassenärztliche Vereinigung hat solche Kurse angeboten, die haben die neuen Ziffern ja auch ausgeheckt. Oft kosten diese Kurse sogar etwas. Die Ärzte gönnen einander offensichtlich nichts. Ganz anders die Pharmafirmen. Ihre Fortbildung war kostenlos, inklusive Drei-Gänge-Menü. Von dem wusste der Arzt anfangs noch nichts. «Da habe ich nach der Vorspeise gedacht, das wäre alles, und wollte gehen!» Aber die Berater haben ihn dann doch zum Bleiben überredet, der Hauptgang kam ja noch.

Die Botschaft der Fortbildung sei dann gewesen: Mit den neuen Ziffern bekämen die Ärzte weniger als vorher. Das wussten sie zwar selbst schon, ebenso dass alles noch komplizierter wurde. Das Angebot dieses «Bildungsnachmittags plus Abendessen» im schönen Ambiente war nun: Mitarbeiter der Unternehmensberatung kommen in der Praxis vorbei und werfen einen Blick auf die Abrechnung plus Beratung am offenen PC! Dort sollen sie dann gezielt kommen, die Extra-Tipps – gegen Bezahlung, versteht sich –, wie man sein Einkommen sichern, sein Budget strecken und füllen kann. Die Ärzte sollen auf die Chroniker-Ziffern achten!

Ein weiterer toller Tipp der Beraterliga: Die Ärzte sollen sich von den Patienten anrufen lassen. Das kann man abrechnen! Besonders gut ist so ein Nachfragetelefonat am Wochenende. Also den Patienten in der Sprechstunde bitten: «Rufen Sie mich noch mal am Wochenende an, damit ich weiß, wie es Ihnen geht!» Den Ärzten wird also per Beratung beigebracht, ihre Patienten so clever zu behandeln, dass sie mehr Geld bekommen. Diese Geschäftsidee scheint immer mehr um sich zu greifen, nach dem Motto: Damit auch nichts verloren geht! Eine Beraterin drückte den Ärzten – so quasi als Extra-Nachtisch – nach der «Schulung» im November 2013 ihre Visitenkarte mit dem Rat in die Hand, dass sie sich beeilen sollten. Sie sei sehr gefragt!

Zufälligerweise kenne ich diese Dame und hatte auch schon vor ein paar Jahren das Vergnügen, bei einem solchen Praxisbesuch dabei zu sein. Damals kam die Frau allerdings im Auftrag einer Pharmafirma. An diesen Mittwochnachmittag kann ich mich noch lebhaft erinnern. Die nette Dame von der Pharmafirma kam im eleganten Hosenanzug, mit Laptop und einer Tüte vom Bäcker unterm Arm. Der Auftritt wirkte professionell, sie hätte genauso gut aus der Hochglanzbroschüre von McKinsey stammen können. Als ich ihr Outfit sah, dachte ich: Wieder eine, die meint, es langt ein Hosenanzug, um clever zu sein. Aber das lag wohl daran, dass ich Hosenanzüge hasse …

Akribisch suchte sie nach Möglichkeiten, mehr Geld mit der Praxis rauszuholen. Aus der Bäckertüte zauberte sie übrigens süße Kuchenstücke und aus der Abrechnung süße Neuigkeiten für die Ärzte. Die Doctores bekamen den Mund gar nicht mehr zu vor lauter Kauen und Staunen, denn in ihrem Laden ging noch einiges!

Eine kurze Erklärung dazu: Die Abrechnung mit den Ziffern kann man nicht ins Unendliche treiben. Ab einem gewissen Betrag ist das Budget ausgeschöpft und Schluss mit der Bezahlung. In Bayern liegt dieses Regelleistungsvolumen (RLV) für Hausärzte bei ca. 38 Euro. Fragt man Fachärzte, sagen die, sie wären froh, das zu bekommen! Da liegt einer der Stachel zwischen den Ärzten. Auch bei Hausärzten wird in den verschiedenen Bundesländern mit anderen Beträgen gerechnet. Das RLV ist die Ursache für die Aussage von vielen Ärzten: «Wir behandeln gratis!» Ist die Grenze des RLV erreicht, behandelt der Arzt den Patienten danach bis zum Ende des Quartals quasi kostenlos. Egal, ob der Patient nur einmal kommt oder zehnmal. «Flatrate-Medizin» hat deshalb einer die Behandlung von Kassenpatienten verächtlich genannt.

Das kann man mit All-you-can-eat-Angeboten von Restaurants vergleichen. Für 38 Euro kann man essen, bis man platzt. Aber es gibt eine Ausnahme, die es übrigens so ähnlich auch bei den Ärzten gibt: Die Getränke sind meistens nicht in der Flatrate drin. Die Rechnung kann also durchaus saftiger ausfallen. Die Ärzte können über Weiterbildungsmaßnahmen besondere Untersuchungen anbieten, die ihnen extra bezahlt werden. Wer sich gerne sperrige Bürokratenbegriffe merken möchte, kann das Wortungetüm «qualitätsorientierte Zusatzvergütungen» als Kürzel QZV speichern.

Die Dame mit den süßen Kuchenstückchen im Gepäck empfahl den Ärzten damals, solche Untersuchungen noch öfter zu machen. Sie sollten zum Beispiel in der restlichen Zeit des Quartals mehr Belastungs- und Langzeit-EKGs machen, da seien noch Kapazitäten im Budget offen! Auch bei den Ultraschalluntersuchungen sollten sie zulegen.

Ich habe mich gefragt, wie die Ärzte das denn machen sollen. Solche Untersuchungen kann doch niemand vorhersagen! Was die Patienten brauchen und ob in den letzten Wochen des Quartals Patienten kommen, die das brauchen, stand nicht zur Diskussion. Es war der Dame im Hosenanzug auch nicht so wichtig wie die aufgepeppte Abrechnung. Was bringt aber einer Pharmafirma so eine Nachhilfestunde? Mit Sicherheit war dieser Nachmittag nicht für einen Gotteslohn. Die Dame hatte ja noch eine Stofftasche dabei. Da war aber nicht mehr Kuchen drin, sondern Proben eines neuen Medikaments der Firma und Infomaterial für Patienten.

Später habe ich auch von anderen Ärzten aus ganz Deutschland erfahren, dass sie diese Serviceangebote in Anspruch genommen haben. Sie erzählten mir, dass die Damen von der Pharmafirma keinen Hehl daraus gemacht hätten, was sie als Gegenleistung erwarteten: eine Bevorzugung von Medikamenten ihres Unternehmens bei der Verschreibung.

Später wollte ich mit ein paar Ärzten über diese Gefälligkeitsdienste und deren Folgen diskutieren. Nicht nur, dass es mehr als mühsam war, die damit verbundene Abhängigkeit und Erpressbarkeit zu thematisieren. Auch die vorgebrachten Gegenargumente ließen meinen Adrenalinspiegel bedenklich in die Höhe steigen. In der Runde wurde ich als personifizierte Kassenpatientin angesehen, zwar eine, die sich auskennt, der man aber trotzdem den ganzen Frust über dieses ärztliche Problemfeld «Kassenpatient» an den Kopf werfen kann.

Zum Beispiel, dass dieses Aufspüren von versteckten Goldnuggets in der Abrechnung nichts anderes sei, als sich das zu holen, was ihnen zustehe! Als wäre ich verantwortlich für die Überbürokratisierung in den Praxen und den ärztlichen Kassenfrust.

Zum Schluss warf ich ihnen meine ganze Wut an den Kopf: «Für mich blitzt bei diesen Gefälligkeitsdiensten das korrumpierende System mit all seinen Widrigkeiten bis hin zur ärztlichen Erpressbarkeit durch!»

Danach gingen wir getrennte Wege, und die Herren mussten den Rest des Abends allein verbringen.

Das ist nur ein Beispiel für die Geschäftsmodelle, die sich aus dieser wuchernden Bürokratie entwickeln. Was mich ärgert, ist, dass wir durch unsere Kassenbeiträge nicht nur diesen Wahnsinn finanzieren, sondern mittlerweile unser Beitragsgeld an Firmen fließt, die Ärzten diesen Verwaltungsapparat erklären müssen.

Ich möchte aber nicht pauschal von «den» Ärzten sprechen. In Deutschland gibt es ca. 140.000 niedergelassene Individualisten. Jeder versucht auf seine Art und Weise, in dem System seinen Schnitt zu machen.

Ein anderer Arzt erzählte mir, dass er nur eine bestimmte Zahl von Kassenpatienten behandelt. Grund: Die Kassenpatienten dienen als festes, gesichertes Einkommen. Ist die Zahl erreicht, die seine fixen Kosten abdeckt, nimmt er keine neuen mehr auf. Seinen profitablen Umsatz macht er, so seine Erklärung, mit sogenannten IGeL-Leistungen (individuellen Gesundheitsleistungen), also Behandlungen, die nicht von den Kassen honoriert werden, sondern von den Patienten selbst bezahlt werden müssen. Und mit Privatpatienten!

Wenn Sie auf dem Land wohnen, dann können Sie mal überlegen, was es bedeutet, wenn der Arzt in Ihrem Dorf so arbeitet. Wenn Sie leider als der Patient in die Praxis kommen, der über dem Limit der fixen Kostenabdeckung liegt, sind Sie der Depp. Dann können Sie schon mal überlegen, wo Sie in Ihrer Umgebung die nächste Praxis finden.

Der Kassenpatient ist so nur noch Mittel zum Zweck. Ein Fall, um die Existenz zu sichern. Ich habe in den Jahren viele Dutzend Ärzte kennen gelernt, von denen ich mich nicht behandeln lassen würde. Schon beim ersten Blickkontakt hatte ich das Gefühl, dass sie im Patienten nur das Geld sehen, das sie verdienen können. Das ist wie bei diesen alten Registrierkassen, die immer «Tschitsching!» gemacht haben, wenn die Geldschublade aufsprang. Und in diesen Arztköpfen macht es dauernd auch nur «Tschitsching!» und noch mal «Tschitsching!».

Wenn ehrlich nicht mehr hilft, dann halt unehrlich

Wenn Sie sich jetzt über die Beispiele ärgern, dann muss ich Sie aber daran erinnern, dass diese Ärzte immer noch mit legalen Mitteln arbeiten. Es geht aber auch anders – man kann auch wunderbar tricksen, wobei das noch der vornehme Ausdruck ist. Ich würde es lieber so ausdrücken: Man kann auch wunderbar betrügen, um mehr Geld für seine Patienten zu bekommen. Und das machen nicht wenige. Hört man den Ärzten zu, dann machen es sogar alle. Das sagten mir Ärzte, die solche Abrechnungen einreichen. Immer mit der Entschuldigung: «Das machen doch alle!»

Erst vor kurzem war ich bei einem Treffen von Ärzten in Süddeutschland. Ich hatte aber eher das Gefühl, an den Stammtisch eines Wolfsrudels geraten zu sein. Alle trugen Outdoorkleidung von Jack Wolfskin, als würden sie gleich zu einer Bergtour starten. Das Logo der Firma ist eine aufgestickte Wolfstatze. Und da saß ich nun zwischen zwölf Ärzten im Wolfspelz, die über ihren Kalendern brüteten. Es ging um Bereitschaftsdienste im kommenden Quartal, wann wer für die Kollegen Dienst macht.

Dabei kamen sie auch auf den neuen Ziffernkatalog für die Abrechnungen zu sprechen, den neuen EBM, der im Oktober 2013 aktualisiert worden war.

Oben habe ich bereits von einer Neuigkeit geschrieben, der Ziffer 03220 für chronisch Kranke. Aber damit nicht genug: Für alte Menschen gibt es ebenfalls zwei neue Ziffern, die mehr Geld bringen. An dem Rudel-Tisch in der Wirtschaft ging es schnell um die Vorteile dieser Geld-Nummern. Ziffer 03360: Die Ärzte können mit Patienten im Alter ab siebzig einen Test machen. Quasi einen TÜV für ältere Menschen, in Arztsprache «geriatrisches Basisassessment» genannt. Stellt der Arzt bei diesem Check zum Beispiel Vergesslichkeit fest, kann er eine beginnende oder sogar schwere Demenz diagnostizieren. Dazu beackert er mit seinem Patienten oder seiner Patientin einen Fragebogen. «Mini-Mental-Status-Test» heißt der. Ein paar Kostproben gefällig?

«Welchen Tag haben wir heute?»

«Wo sind wir?»

«Buchstabieren Sie bitte ‹Radio› rückwärts!»

Sehr aufschlussreich ist, dass die Autoren des Fragebogens das rückwärtsgeschriebene «O-I-D-A-R» vorsorglich neben die Aufgabe gedruckt haben. Die «nicht dementen» Ärzte haben offenbar selbst Probleme, Radio rückwärts zu buchstabieren …

Aber wir müssen weitermachen, unendlich Zeit haben wir für diesen Test natürlich nicht! Ich nenne Ihnen jetzt drei Gegenstände: Auto, Blume, Kerze. Können Sie wiederholen, welche Gegenstände ich gerade genannt habe? Und auch beim ärztlichen Fragebogen dreht es sich gleich wieder ums Thema Geld. In einer Aufgabe soll der Arzt den Patienten bitten, ihm folgenden Satz nachzusprechen: «Sie leiht ihm kein Geld mehr!»

Wenn Sie das nicht mehr auf die Reihe bekommen, sind Sie gerade sehr aktiv dabei, dem Herrn Doktor zu Geld zu verhelfen! Bei jeder falschen Antwort gibt es nämlich Punktabzug. Und Sie werden nicht erraten, wie unglaublich «aufwändig» danach diagnostiziert wird. Die erreichten Punkte zählt man zusammen, und es gibt wie beim Persönlichkeitstest in der Illustrierten eine Tabelle: Wer nur 25 bis 18 Punkte schafft, kann vom Arzt schon den «Hinweis auf eine leichte Demenz» attestiert bekommen. 17 bis 10 mittelschwere Demenz. Unter 10 ist es dann eine schwere Demenz.

Aber ich muss erst einmal festhalten: Eigentlich ist es keine schlechte Idee, dass Ärztinnen und Ärzte mehr Geld für demente Patienten bekommen. Vorausgesetzt, sie haben dann mehr Zeit für ihre Behandlung! Und so war es wohl auch gedacht. Kommt bei diesem «Mini-Mental-Status-Test» eine Demenz-Diagnose heraus, kann der Arzt eine neue Ziffer abrechnen, nämlich die 03362. Die bringt mehr Geld, und hoffentlich nimmt er sich dann mehr Zeit. Aber der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist gewaltig, und ich würde nur zu gerne wissen, welcher Mini-Mental-Kleingeist sich dieses naive System ausgedacht hat, das eigentlich aus einem richtigen Gedanken entstanden ist.

Eine Ärztin hatte mir dazu einen warnenden Brief geschrieben: «Die alten Patienten werden zu ‹Deppen› gemacht – auch wenn sie noch so rüstig sind», stellte sie fest. «Denn die Preisfrage ist: Wer soll bitte kontrollieren, ob dieser Test korrekt gemacht worden ist und die Diagnose stimmt?»

Zurück zu den Wölfen in die Kneipe. Mich interessierte brennend, wie sie wohl mit diesem Test umgehen. Als ich das Thema ansprach, heulte das Rudel begeistert den Euro-Mond an: Keiner könne das kontrollieren, und es sei leicht, eine beginnende Demenz zu diagnostizieren. Sie müssen nur siebzig Jahre alt sein und bei solchen Tricksern im Behandlungszimmer sitzen. Von den Euros, die dann für Ihren erhöhten Betreuungsaufwand überwiesen würden, bekämen Sie als Patient nichts mit. Für den Großteil des Rudels eine saftige Beute.

Zweien von den Ärzten wurde es dann doch zu ungemütlich.

«Was ist, wenn das auffliegt?», fragte ein älterer Kollege. Ihm war unwohl bei dem Gedanken, dass er einen Patienten auf dem Papier dement machen kann, nur weil der bei einer Untersuchungsfrage zu lange überlegen muss.

Einer der anwesenden Doktoren bügelte die Einwände aber flach: «Wer soll das denn kontrollieren?»

Ich musste erst mal schlucken, denn am gleichen Tag hörte ich im Radio die Nachricht, dass es in Deutschland immer mehr Demenzkranke gibt. Sehr witzig!, habe ich bei mir gedacht. Über diese steigenden Zahlen brauchen wir uns gar nicht zu wundern, wenn die Regeln die Ärzte förmlich dazu einladen, die Patienten dement zu machen. Aber tatsächlich ist das überhaupt nicht zum Lachen. Nennen wir es doch beim Namen! Das ist Betrug. Und zu diesem Betrug werden die Ärzte regelrecht verführt. Und keinen stört es, weil es ja angeblich alle machen. Und was heißt das für uns Patienten? Müssen wir uns in Zukunft ab siebzig auf den Arztbesuch vorbereiten und noch mal im Kopf durchgehen, wie man «Radio» rückwärts buchstabiert?

Es gibt noch mehr Möglichkeiten zu betrügen. Eine beliebte Methode sind Hausbesuche. Ich habe das selber in Abrechnungen gesehen, weil ein paar Ärzte mir ihre gezeigt haben. Da habe ich dann gemerkt, dass einige Ärzte anscheinend kaputte Uhren tragen, die bei einer bestimmten Uhrzeit stehen geblieben sind und einfach nicht weiterlaufen wollen. Ab einer bestimmten Uhrzeit gibt es nämlich mehr Geld. Das sind dann Notfälle zur Unzeit, wenn der Arzt ab 19 Uhr oder ab 22 Uhr zu einem Patienten muss. Für alle diese Uhrzeiten gibt es natürlich im EBM eigene Abrechnungsziffern und nachher unterschiedlich viele Euro für den Einsatz. Der Trick ist also, einfach öfter eine falsche Uhrzeit einzutragen. Wer soll es auch kontrollieren? Wir Patienten sehen niemals eine Rechnung. Nirgendwo ist vermerkt, wann der Arzt bei uns vor der Tür steht.

Ein Arzt hat mir sogar ganz offen die Strategie erklärt: «Man darf es nur nicht übertreiben», meinte er. «Wenn du überall um acht hingehst, fällt das auf!» Also gibt er von drei Hausbesuchen am Nachmittag einen als Notfall zur Unzeit an.

Ich habe damals zu ihm gesagt: «Das ist doch Beschiss!»

Er meinte nur: «Wieso Beschiss? Selbst wenn ich bescheiße, bekomme ich immer noch zu wenig für das, was ich leiste!»

Die Langfinger vom Stamme «Nimm»

«Ich bekomme immer noch zu wenig!», hat der Doktor gesagt.

Darüber müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen. Wenn ich Ärztin wäre und hätte einen Patienten, der immer sagt: «Ich muss mir das nehmen, was mir zusteht!», würde ich ihm raten, über seine Lebenssituation nachzudenken. Es kann einfach nicht gesund sein, immer zu glauben, dass mir etwas vorenthalten wird! Ich bin aber keine Ärztin, und es sind komischerweise gerade die Ärzte, die immer wieder betonen, dass sie nicht bekommen, was sie verdienen. Das scheint sich in den Köpfen vieler schon so festgebissen zu haben, dass ich Situationen erlebt habe, mit denen ich einen ganzen Abenteuerroman über die Langfinger vom Stamme Nimm füllen könnte.

Ich habe eine Einladung einer Pharmafirma bekommen, weil die Ärzte sich – nach der Weiterbildung – von mir einen Vortrag aus meiner Sicht über den weißen Tellerrand wünschten!

Bei Pharma-Veranstaltungen bekomme ich eigentlich immer Bauchschmerzen und habe – bis auf diese – jedes Mal Nein gesagt. Aber weil sich die Ärzte gewünscht haben, dass ich komme, bin ich hingefahren. Das Treffen fand in einem Hotel in Stuttgart statt, es hätte aber genauso gut ein Hotel in der Karibik sein können. Alles sah aus wie in der Raffaello-Werbung. Die Tische waren in strahlend weiße Decken gehüllt, und über die Terrasse war ein blütenweißes Sonnensegel gespannt. Ich habe zuerst gedacht, dass hier für eine andere Veranstaltung gedeckt ist.

Auf der Einladung stand: «Mit kleinem Imbiss.» Eben kleinere Häppchen oder belegte Brötchen. Mein Mann hatte mich begleitet und meinte zu mir, dass er während meines Vortrags in die Stadt fahren wolle, um zu Abend zu essen, denn Häppchen sind nicht sein Ding nach einem langen Arbeitstag!

Er hätte ruhig bleiben können, denn nach dem Vortrag wurde unter weißen Sonnensegeln kräftig aufgetischt. Es gab ein Drei-Gänge-Menü. Zu den angerichteten Tellern kamen üppige Platten mit Spätzle, Kroketten, Kartoffeln, Gemüse und Fleisch auf die Tische. Zum Nachtisch konnte man zwischen Karamellpudding und Eis wählen. Es waren locker hundert Ärzte anwesend.

Nach dem Essen stupste mich mein Tischnachbar an und zeigte auf mein Stuhlbein. Das stand genau auf der Schlaufe seines Rucksacks, und den brauchte er jetzt.

«Oh, Entschuldigung!», sagte ich und rückte zur Seite.

Er nahm den Rucksack auf seinen Schoß, klappte ihn auf und schaute den Tisch entlang zu seinen Kollegen. «Sind alle fertig?», fragte er und bekam allerseits ein Nicken zur Antwort. Dann griff er in den Rucksack, zog drei Tupperboxen raus und begann, stehend Fleisch und Spätzle von den Platten einzupacken.

Ich war etwas überrascht, dass mein Tischnachbar für schlechte Zeiten vorsorgen musste.

«Das ist das Mittagessen für morgen. Dafür gibt es ja die Mikrowelle», meinte er.

Als er dann auch noch die Kroketten in seine Boxen schaufelte, siegte in mir die Genießerin. «Die können Sie doch nicht mehr warm machen! Die schmecken dann doch wie eingeschlafene Füße!» Alte Kroketten sind zäh wie Gummi! Aber meinen Kochkünsten wollte er nicht vertrauen und verstaute seine Notration im Rucksack. Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, nach dem Essen ein Buffet zu plündern und dafür vorsorglich Tupperdosen mitzunehmen.

Aber an dem Tag war ich offensichtlich die Einzige, die sich gewundert hat. Für die anderen war das völlig normal. Als mein Nachbar seine Boxen gezückt hatte, war das sogar ein Startschuss. Die versammelte Runde war plötzlich in Bewegung. Einen Tisch weiter tippte einer seine Frau an, und die zog eine Rolle Alufolie aus ihrer Handtasche. Eine ganze Rolle! Wenn Sie das nächste Mal eine Raffaello-Werbung im Fernsehen sehen, dann müssen Sie sich nur vorstellen, dass, während im Vordergrund die weiß gekleidete Schönheit der Karibik-High-Society eine Kokoskugel nascht, im Hintergrund eine Gruppe von Männern und Frauen Pralinen in Plastikdosen einpackt oder in Alufolie einschlägt. Etwa so sah das damals in diesem weiß verpackten Stuttgarter Nobelhotel aus.

Es war nicht das letzte Mal, dass ich Angehörige dieses bisher noch selten erforschten Stammes Nimm getroffen habe. Ein Markenzeichen sind ihre großen Stofftaschen, die sie zu Veranstaltungen mitbringen. Auf Ärztekongressen und Hausarzttagen sind im Foyer viele Firmen aus der Pharma- und Medizinbranche vertreten, die Werbegeschenke verteilen: Lineale, Blöcke, Radiergummis, Bleistifte, Bonbons, Kugelschreiber. Es sind nicht wirklich Kostbarkeiten, aber für viele Ärzte scheinen sie immensen Wert zu besitzen. Mir kam es manchmal vor, als wäre eine Mannschaft Messies auf Betriebsausflug.

Auf einer Veranstaltung in Essen griff neben mir ein Arzt mit beiden Händen in eine Kiste mit Kugelschreibern. Er machte so reiche Beute, dass selbst seine Enkel niemals Mangel an Kugelschreibern leiden werden.

«Wie viele Praxen haben Sie denn, dass Sie so viele Stifte brauchen?», fragte ich ihn damals.

Er meinte nur: «Wieso? Die kosten doch nichts!»

Die Stofftaschen – die sie von den Firmen übrigens auch geschenkt bekommen – waren gut gefüllt an diesem Tag in Essen.

Das ist natürlich zum Schmunzeln. Ich habe aber auch ärgerlichere Situationen erlebt. Ich habe schon mehrere Bücher über das Gesundheitssystem und seinen Irrsinn geschrieben. Eins erschien im Verlag meines Mannes. Ende 2013 hat mich unser Steuerbüro darauf aufmerksam gemacht, dass noch viele Buchrechnungen offen seien. Es hat meinem Mann sehr empfohlen, Mahnungen zu schreiben. Ich habe die offenen Rechnungen durchgesehen und gedacht: Da kann jetzt keine Mahnung raus. Denn das waren überwiegend Bestellungen von Ärzten, einige davon kenne ich gut! Es wäre besser, das direkt zu klären, habe ich gedacht und zum Telefon gegriffen.

Mein erster Anruf war bei einem Arzt in München, der vor zehn Monaten ein Buch von mir bestellt hatte.

«Da ist noch eine Rechnung offen vom letzten Jahr», habe ich ihm am Telefon gesagt.

Er wusste von keiner Rechnung.

«Sie haben doch ein Buch bestellt!»

Daran konnte er sich erinnern und plötzlich auch daran, was mit der Rechnung passiert ist: «Die habe ich weggeschmissen!»

Wie bitte?, dachte ich. «Wieso schmeißen Sie die Rechnung weg?»

Da wurde er plötzlich ungehalten: «Wieso soll ich das Buch bezahlen?», fragte er. «Ich lege es doch nach dem Lesen in mein Wartezimmer und mache so Werbung für Sie! Das bezahle ich nicht!»