Der Handschlag - Barbara Tóth - E-Book

Der Handschlag E-Book

Barbara Toth

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Beschreibung

Der 24. Jänner 1985 sollte in die österreichische Geschichte eingehen: Der freiheitliche Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager begrüßt am Flughafen Graz-Thalerhof den wegen schwerer Kriegsverbrechen verurteilten SS-Sturmbannführer Walter Reder – per Handschlag. Eine Geste, die über Nacht für internationale Empörung sorgte und auch innenpolitisch große Auswirkungen hatte. Das ohnehin schon schwache Band zwischen den Regierungsparteien SPÖ und FPÖ wurde weiter strapaziert, der Versuch der Freiheitlichen Partei, sich als liberale Bewegung zu etablieren, scheiterte. Doch noch brisanter als der eigentliche Handschlag ist die Tatsache, dass Walter Reder in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg immer mehr als "letzter Kriegsgefangener" denn als Kriegsverbrecher stilisiert wurde. Anwalts- und Arztkosten wurden vom Staat getragen, Politiker aller Couleurs sprachen sich für eine Freilassung aus der Haft in Italien aus. Das vorliegende Werk widmet sich diesem meist vergessenen Kapitel österreichischer Geschichtspolitik und gibt erstmals einen ausführlichen historischen Rückblick auf die Geschehnisse. Dabei wird die Affäre Frischenschlager – Reder sowohl im Kontext ihrer Zeit als auch im historischen Kontext betrachtet und die Geschehnisse chronologisch rekonstruiert. Abgeschlossen wird diese umfassende Betrachtung mit einem Nachwort von Friedhelm Frischenschlager selbst, das eine sehr persönliche Sicht und weitere Perspektive auf die Geschehnisse eröffnet.

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Barbara Tóth

Der Handschlag

Die Affäre Frischenschlager – Reder

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Vorwort
I. Einleitung
II. Der „Handschlag“ im wissenschaftlichen Kontext: Die Skandalforschung
Begriffsdefinition und Rollenverteilung
Skandalmuster in der Zweiten Republik
Der Skandal und seine Funktion als Katalysator
III. Der „Handschlag“ im Kontext seiner Zeit
Reden über die Vergangenheit in der Prä-Waldheim-Ära
Kreiskys koalitionäres Erbe: Die Kleine Koalition als Kulisse
Walter Reder, der Soldat im „Bandenkampf“
Friedhelm Frischenschlager, das liberale Aushängeschild
IV. Der „Handschlag“ im historischen Kontext
Walter Reders „Spindoktor“: Schlüsselfigur Stefan Schachermayr
Der Meilenstein für die Reder-Mythologisierung: Die Rückeroberung der österreichischen Staatsbürgerschaft
Ein Vergleich: Wiesenthals Staatsbürgerschaftsakt
Geldflüsse: Überweisungen an den „ehemaligen Kriegsgefangenen“
Der Mythos Reder verfestigt sich: Interventionen unter Kanzler Josef Klaus
Eingestellte Ermittlungen: Die Akte Reder der Staatsanwaltschaft Linz
Aus Angst, einen Märtyrer zu schaffen: Interventionen für Reder unter Kanzler Bruno Kreisky
V. Der „Handschlag“: Die Affäre in der chronologischen Rekonstruktion
Skandalmotor ÖVP und zwei befeuernde Terminkollisionen
Das Ende der Mär von der sauberen Wehrmacht
„Es war ein schwerer politischer Fehler“: Koalitionäres Krisenmanagement
Die Affäre im Spiegel der Meinungsforschung
Die Folgen: Hebelwirkung für Haider und Desillusion in der SPÖ
Die ÖVP in Argumentationsnot: Der „Gegenskandal“ Gorton
Historische Argumentationsmuster in der Sondersitzung zur „Handschlag“-Affäre
Epilog: Versteckspiel mit Reder
VI. Schlussfolgerungen
Nachwort
Ergänzungen zu den Fakten und rückblickende Beurteilung aus heutiger Sicht
Zu meiner damaligen „Motivationslage“
Zur Geschichtspolitik
Zusammenfassend – die bis heute wirkenden Folgen
Zusammenfassung
Abstract
Literatur- und Quellenverzeichnis
Literatur und publizierte Quellen
Rechtsextreme Literatur
Oberösterreichisches Landesarchiv
Stiftung Bruno Kreisky Archiv (STBKA)
Archiv der österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands
Altes Archiv der voestalpine Stahl GmbH
Parlament
Zeitschriften/Zeitungen/Presseagenturen
Umfragen
Interviews
Videos
Zur Autorin
Impressum

Vorwort

Barbara Tóths spannendes und hervorragend recherchiertes Buch „Der Handschlag. Die Affäre Frischenschlager – Reder“ bringt ein in der Retrospektive fast unglaubliches, aber heute meist vergessenes Kapitel österreichischer Geschichtspolitik wieder in Erinnerung: wie aus einem durch und durch deutschnationalen österreichischen Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher der letzte österreichische Kriegsgefangene gemacht wurde. Insofern ist der Aufreger des Jahres 1985 – die Rückkehr des „letzten österreichischen Kriegsgefangenen“ Walter Reder und sein offizieller Empfang durch den damaligen FPÖ-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager nach Reders Amnestierung – ein fast zwingender Schlusspunkt.

Frau Tóth verbindet exzellente und kritische Analyse mit vielstimmiger Sprachgewandtheit und hat minutiös in allen vorhandenen Primär- und Sekundärquellen, aber auch in den Mediendebatten recherchiert. Ihr ist es gelungen, ein ganz zentrales Element dieser Debatte, das bisher verborgen geblieben ist, zu thematisieren: Wie ist es Walter Reders „Spindoktor“ Stefan Schachermayr, ehemaliger Gauinspektor der NSDAP-Gauleitung in Linz, gelungen, Stück für Stück, die „Wir-sind-alle-Opfer-Stimmung“ in der Zweiten Republik ausnützend, aus dem bekennenden deutschen Nationalsozialisten einen unschuldigen Österreicher zu machen?

Bereits vor 1938 war Reder, wie Tausende andere, zur Österreichischen Legion nach Hitler-Deutschland geflüchtet und hat sich immer als Deutscher verstanden. Trotz des Einspruchs des Innenministeriums in Wien wurde ihm – übrigens fast gleichzeitig mit Simon Wiesenthal – in Oberösterreich die Staatsbürgerschaft verliehen. Durch diesen hoheitlichen Akt wurden in weiterer Folge österreichische Steuermittel zugunsten dieses verurteilten Kriegsgefangenen eingesetzt, um die Anwaltskosten und die umfangreiche Korrespondenz für seine Freilassung zu finanzieren.

Diese Mythenkonstruktion wird zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Debatte, da Walter Reder nicht als zu Recht verurteilter SS-Mann und Kriegsverbrecher thematisiert, sondern zum unschuldigen Pflichterfüller in der deutschen Wehrmacht total umgefärbt wurde. So konnten Schachermayr und andere den „Mythos Reder“ im öffentlichen Diskurs bereits in den 1960er Jahren im öffentlichen Raum so stark verankern, dass es fast keinen Politiker der Zweiten Republik gab – von Josef Klaus bis Bruno Kreisky, aber auch Kardinal König –, der nicht intervenierte, um „unseren“ letzten Kriegsgefangenen – aus unterschiedlichen Motivationen – zurückzuholen. Der sozialdemokratische Kanzler Kreisky, der erst 1950 aus dem Exil in Schweden zurückkehren konnte, beispielsweise wollte verhindern, dass um Reder eine Art Märtyrer-Saga entsteht, sollte er in der italienischen Haft versterben.

In der „Handschlagdebatte“ 1985 nach dem Empfang durch den FPÖ-Minister Frischenschlager wechselten aber plötzlich die politischen Muster. Die ÖVP distanzierte sich plötzlich von ihrer bisherigen Unterstützung der Rückholung Reders und versuchte, die Kleine Koalition SPÖ/FPÖ kritisch zu attackieren.

Insgesamt gesehen zeigte sich, dass dieser „Handschlag“ mittelfristige Auswirkungen auf die österreichische Innenpolitik hatte. Vor allem unter den SPÖ-Regierungsmitgliedern, wie Ferdinand Lacina und Franz Vranitzky, verstärkte sich die Distanz zur FPÖ. Gleichzeitig förderte die mediale Debatte den Aufstieg Jörg Haiders. Jörg Haider, damals ein junger frecher Oberösterreicher und eher unbekannter Kärntner Landesrat, nützte die Diskussion und den Versuch der FPÖ, sich hier in weiterer Folge von Reder etwas zu distanzieren, um sich als liberale Bewegung zu positionieren. Haider erkannte sofort diese neue politische Bühne, um heftig gegen Frischenschlager und damit auch gegen die FPÖ-Führung um Norbert Steger zu polemisieren, und stellte sich hinter Reder und gegen Frischenschlagers Ausredeversuche. Haiders Machtergreifung in der FPÖ beginnt mit dieser Auseinandersetzung.

Dieses Buch von Dr.in Barbara Tóth, einer sehr erfolgreichen Autorin, ist eine höchst interessante Pflichtlektüre für alle, die die Geschichtspolitik in Österreich nach 1945 gegenüber dem nationalsozialistischen Verbrechen kritisch reflektieren wollen, um die nachfolgende Debatte um die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim besser einordnen und auch die Bedeutung der internationalen Debatte darüber besser verstehen zu können.

Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb

Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien

Wien, im Oktober 2016

I. Einleitung

In der wissenschaftlichen Literatur gilt die „Affäre Waldheim“1 als das einschneidende Ereignis, als der Bruch im österreichischen Geschichtsbewusstsein. Die „Affäre Frischenschlager – Reder“ wird zumeist als „Ouvertüre“ oder „Vorbote“2 erwähnt, als „Hinweis“3 darauf, dass „das offizielle Geschichtsbild mit den Erinnerungen und dem heutigen Bewusstsein vieler Österreicherinnen und Österreicher wenig gemein hat“4. Sie wird also als erstes Warnflackern bewertet, in dem die großen Linien der vergangenheitspolitischen Debatten, die auf die „Affäre Waldheim“ folgten, nur angedeutet werden. Ohne Zweifel bereitete die Auseinandersetzung rund um den „Staatsempfang“ für den Kriegsverbrecher Walter Reder den Weg für die „große“ vergangenheitspolitische Debatte, die im Jahr 1986 mit der Waldheim-Affäre entbrennen sollte. Auch vom internationalen Echo liegt die „Affäre Waldheim“ aufgrund der weltweiten Bekanntheit Waldheims als ehemaliger UN-Generalsekretär weit vor der „Affäre Frischenschlager – Reder“, die zwar auch kurzfristig Österreich in die internationalen Schlagzeilen brachte, aber dann schnell wieder aus ihnen verschwand.5

Dabei wird übersehen, dass der Fall Reder in der Geschichte der Zweiten Republik einzigartig ist. Für keinen anderen im Ausland wegen schwerer Kriegsverbrechen Verurteilten haben sich die beiden Großparteien derart eingesetzt wie für Walter Reder, und das bereits zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht wieder österreichischer Staatsbürger war. Reder wurde das erst wieder 1956. Egal, ob es Anwaltskosten oder Sozialleistungen oder sonstige Hilfestellungen waren: Reder bekam sie. Die oberösterreichische Kriegsgefangenenfürsorge zahlte etwa ab 1952 an ihn, ab 1955 die oberösterreichische Heimathilfe.6 Für Reders beide Anwälte wurden vor dem Militärgericht in Bologna im Jahr 1951 400.000 Lire pro Verfahren ausgelegt, in Summe also etwa 34.000 Schilling.7

Im Vergleich zum medial ungleich gewichtigeren Skandal um Waldheims verschwiegene Wehrmachtsvergangenheit ist die Affäre „Frischenschlager – Reder“ in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Rezeption unterbelichtet. Entsprechend spärlich ist die Literaur über die Vorgänge und ihre Protagonisten. Es existiert nur ein Aufsatz in einem Sammelband, der sich vor allem dem Skandal im Jahr 1985 widmet.8 In anderen Werken wird er im politikwissenschaftlichen9, vergangenheitspolitischen10, außenpolitischen11 Kontext im Zusammenhang mit Waldheim erwähnt oder als Teil der Skandalbiografie der Spätära Kreisky.12 Ähnlich stellt sich die Situation bei der Person Walter Reder dar. Obwohl Reder in rechtsextremen beziehungsweise ehemaligen Wehrmachtskreisen eine außerordentlich wichtige Rolle spielte und auch zahlreiche einschlägige Werke über ihn erschienen sind, die allesamt revisionistische Hagiografien sind13, und obwohl die Tatsache, dass sich Politiker aller Couleurs über Jahrzehnte für ihn eingesetzt haben, allgemein bekannt ist, ist die wissenschaftliche Literatur über Reders Werdegang und dessen spätere politische Begleiterscheinungen sehr überschaubar. Abgesehen von einer schmalen, inzwischen überholten Publikation des Dokumentationsarchivs aus dem Jahr 198514 existiert nur ein Aufsatz15, der sich vor allem mit seinem soldatischen Lebensweg und den Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges in Italien befasst. Die österreichische Rezeptionsgeschichte sowie die Affäre des Jahres 1985 werden nicht behandelt.

Eine eigenständige Arbeit, die Reders Biografie, die Geschichte der für ihn erfolgten Interventionen und die damit verbundene Mythologisierung, den Skandal des Jahres 1985 sowie seine vergangenheitspolitischen, politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zusammenführt, fehlte bis 2010. Ausgehend vom eigentlichen Skandal, dem umstrittenen Handschlag zwischen dem wegen Kriegsverbrechen verurteilten SS-Sturmbannführer und dem FPÖ-Verteidigungsminister, liefert Barbara Tóth eine ausführliche, fundierte und anhand von Quellenmaterial dokumentierte Gesamtschau zur Affäre „Frischenschlager – Reder“. Erstmals stellt sie anhand von bis dato nicht aufgearbeitetem Archivmaterial die Vorgeschichte der Affäre Reder dar. Dass ein verurteilter Kriegsverbrecher in der kollektiven Wahrnehmung zum letzten österreichischen Kriegsgefangenen wurde, liegt an der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnenen Umdeutungsarbeit seiner Gesinnungsgenossen sowie an der Kooperation der entscheidenden offiziellen Stellen in Österreich – allen voran der oberösterreichischen Landesregierung. Sie verschaffte ihm mit Hilfe des damaligen Innenministers ohne zwingenden Grund die österreichische Staatsbürgerschaft. Regierungspolitiker aus allen Lagern sowie Kirchenvertreter folgten Reders Begnadigungsgesuchen weitgehend unreflektiert. So entstand der Mythos Reder, der sich verselbständigte und sich spätestens unter der Alleinregierung von Josef Klaus, mit Sicherheit dann unter der Alleinregierung Bruno Kreiskys als Faktum verfestigte. Dabei kam es zu einem seltsamen Rückkoppelungseffekt: Weil sich ohnehin alle politischen Lager für Reder einsetzten, war der Rechtfertigungsdruck für jeden einzelnen Protagonisten gering. Man befand sich „in bester Gesellschaft“. Um diesen Prozess nachvollziehbar und transparent zu machen, wurde Reders umfangreicher Staatsbürgerschaftsakt, das Tagebuch der Linzer Staatsanwaltschaft sowie sein Sozialhilfeakt im Oberösterreichischen Landes­archiv gesichtet, ebenso die erhaltenen Materialien im Stiftung Bruno Kreisky Archiv sowie im Archiv der österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte.16

Schwerpunktmäßig werden aufgrund dieser neu erschlossenen Akten zwei Erzählstränge erstmals detailliert dargestellt: Zum einen schildert das Kapitel III Reders per Bescheid, auf Intervention der oberösterreichischen Landesregierung erfolgte Staatsbürgerschaftserlangung im Jahr 1956, deren mehr als problematische Vorgeschichte und die weitreichenden sozialrechtlichen wie politischen Folgen. Zum Vergleich wurde der Staatsbürgerschaftsakt Simon Wiesenthals herangezogen. Zum anderen wird die Genese der für ihn erfolgten Interventionen unter Bruno Kreiskys Kanzlerschaft umfassend behandelt. Neue Aspekte, wie etwa die sehr frühe vertrauliche Einbindung der italienischen Kommunisten oder das Wirken Rosa Jochmanns, die sich für Reder von Anfang an eingesetzt hatte, werden ebenso aufgearbeitet wie die zentrale und sehr umstrittene Rolle Stefan Schachermayrs, der als Reders Generalbevollmächtigter agierte und – in modernen Worten – sein „Spindoktor“ war. Kreisky, der bei seinen ersten Berührungen mit dem Fall als Staatssekretär im Außenamt noch eindeutig ablehnend agiert, übernimmt dann die von Rosa Jochmann gehegte Sorge, Reder könne zum „Märtyrer“ in Gaeta werden. Der Frage, warum Bruno Kreisky sich für Reder so vehement einsetzte und welches Gewicht das politische „Faustpfand“ Reder am Koalitionsverhandlungstisch mit den Freiheitlichen hatte, wird ebenso nachgegangen wie den Versuchen der ÖVP, im Wettrennen um Reders Freilassung die Nase vorne zu haben. Denn dass „das politische Spiel mit Reder“ von allen Parteien gepflogen wurde, daran besteht kein Zweifel. Aus der detaillierten Darstellung der politischen Interventionen für Reder und der dabei verwendeten Argumente lässt sich nicht nur das vergangenheitspolitische Bewusstsein der Akteure ablesen, sondern auch ein Sittenbild der Republik zeichnen.

Insofern ist die Affäre Reder als Indikator für das historische Bewusstsein der österreichischen Gesellschaft mindestens genauso aussagekräftig wie die Affäre Waldheim, wenn nicht sogar aussagekräftiger. Reder wurde nämlich von der Politik zu jener öffentlichen Figur stilisiert, als die er 1985 österreichischen Boden wieder betrat – und deren Bewertung sich dann so gar nicht mehr mit dem Verständnis eines Teils der Gesellschaft deckte. Er ist sozusagen das Produkt einer politischen Geschichtsschreibung, die im Begriff war, sich selbst zu überholen, als das Produkt lieferfertig wurde.

Der zweite Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Beschreibung des Skandals selber, also jener wenigen Tage zwischen dem 24. Jänner 1985, dem Datum der Überstellung Reders nach Österreich, und dem 1. Februar 1985, dem Tag der Sondersitzung im Parlament zur Affäre „Frischenschlager – Reder“. Besonderes Interesse gilt hier dem koalitionsinternen Krisenmanagement, den Motivationen der politischen Akteure und der Hebelwirkung des Skandals für alle politischen Parteien, allen voran für die FPÖ und ihren erstarkenden neuen Führer Jörg Haider. Aber auch für maßgebliche Akteure in der SPÖ wird der Handschlag zu einem Wendepunkt. Danach fällt es ihnen noch schwerer, hinter der von Bruno Kreisky eingefädelten rotblauen Kleinen Koalition zu stehen. Letztlich schärft auch ÖVP-Chef Alois Mock im Zuge der vor allem von seiner Partei betriebenen Skandalisierung des Handschlags sein vergangenheitspolitisches Instrumentarium. Zum vollen Einsatz kommt es dann im Präsidentschaftswahlkampf 1986 für Kurt Waldheim. Zahlreiche dieser vergangenheitspolitischen Argumentationsmuster lassen sich in der Sondersitzung zur Affäre nachvollziehen, der ein eigener Abschnitt dieser Arbeit gewidmet ist. Nur am Rande behandelt wird die Wahrnehmung des Skandals in den österreichischen Medien, weil es dazu bereits ein ausführliches Kapitel im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit gibt.17 Auch auf Reders Symbolkraft für die italienische Innenpolitik und das Selbstverständnis des Landes wird nur kursorisch eingegangen.

Die Affäre Reder ist mehr als eine bloße „Ouvertüre“ zur Affäre Waldheim. Sie ist einerseits ein Katalysator – und nimmt damit jene Funktion des Verstärkens und Beschleunigens bereits vorhandener Entwicklungen ein, die für Österreichs Skandalgeschichte typisch ist, wie im zweiten Kapitel dieser Arbeit anhand der relevanten wissenschaftlichen Literatur aus dem Gebiet der Skandalforschung ausgeführt wird. Auch wenn die öffentliche Aufregung nach wenigen Wochen wieder abebbte, wurden in den Köpfen der Akteure Argumentationslinien entwickelt und Einschätzungsstrategien geprobt, die ein Jahr später im Zuge der „Waldheim-Affäre“ zum Einsatz kommen sollten. Die Affäre ist aber auch ein schillerndes Beispiel für den wechselhaften und inkonsistenten Umgang aller Parteien mit der NS-Vergangenheit im Allgemeinen, mit ihren Repräsentanten und deren politischem Gewicht, gemäß dem Motto: „Zeitgeschichte ist das, was man dem anderen vorwerfen kann.“18 Die Geschichte Walter Reders steht stellvertretend für die jahrzehntelangen Bemühungen der SPÖ und ÖVP um die Einbindung des dritten Lagers, sei es als stille Wahlkampfreserve, sei es als tatsächlichen Koalitionspartner. Diesem Aspekt, also der zeitgeschichtlichen Einordnung des Falls Reder vor dem Hintergrund der Ära Kreisky, der Kleinen Koalition und dem gescheiterten Versuch der Liberalisierung der FPÖ, und dessen Verortung in den vergangenheitspolitischen Traditionen der Parteien der Zweiten Republik sind die Schlussfolgerungen dieser Arbeit gewidmet.

Der Standpunkt der Autorin gegenüber den zum Teil doch bemerkenswerten Vorgängen im Fall Reder ist dabei stets ein analytisch beobachtender, kein wertender. Er folgt dem Prinzip des „post-memoire“, entsprechend der Auffassung, dass die Phase der symbolischen Schlachten im Krieg um die Erinnerung vorbei ist, vergangenheitspolitische Konflikte an Streitwert eingebüßt haben und sich deswegen die Möglichkeit bietet, einen „analytischen Blick auf das zu werfen, „was auf das Zerbrechen der Nachkriegsmythen, das Neuverhandeln der historischen Identität, das Aufarbeiten einer belasteten Vergangenheit gefolgt ist: auf das Schuldgedächtnis als transnationale Signatur der Erinnerungskulturen in Europa“.19 Eine Verortung der Affäre „Frischenschlager – Reder“ in der europäischen Erinnerungslandschaft bildet deswegen auch den Schlusspunkt dieser Arbeit.

II. Der „Handschlag“ im wissenschaftlichen Kontext: Die Skandalforschung

Die politische Skandalforschung ist, vor allem in Österreich, eine vergleichsweise junge Disziplin, die, ähnlich wie andere Disziplinen, die zeitgleich entstanden sind, methodisch mit verschiedenen Ansätzen arbeitet und keine einheitlichen, allgemeingültigen Erklärungsmuster oder Theorien anzubieten hat.

Das ist kein Nachteil, sondern spiegelt nur die Struktur ihres Forschungsobjektes wider. Skandale spielen sich in oder meist zwischen den verschiedenen Systemen der modernen Gesellschaft ab, sie berühren moralische genauso wie politische Grundsätze. Sie sind Querschnittsmaterien, die die Zeitgeschichtsforschung genauso wie die Politik- und die Publizistikwissenschaften befassen können.

Daher lassen sich an ihnen aus systematisch-vergleichender Perspektive die Probleme einer Zeitepoche wie unter einem Brennglas nachvollziehen. „Skandalforschung wird bei einem solchen Zugang sowohl zu einem Element der politikgeschichtlichen Entwicklung eines Staates als auch zur Analyse politischer Skandale im Systemvergleich“, schreiben Michael Gehler und Hubert Sickinger in der Einleitung zu ihrem für Österreich nach wie vor grundlegenden Sammelband „Politische Affären und Skandale in Österreich“.20 Skandale lassen sich unter dieser Voraussetzung auch als „Entwicklungsindikatoren“ für ein politisches System und dessen Kultur betrachten.

In Österreich ist die Zuschreibung als „Skandalrepublik“ in den 1980er Jahren geläufig geworden. Dieser Begriff ist vor allem ein Produkt der medialen und politischen Debattenprägung. Historisch gesehen lässt er sich nicht halten: Auch in der Monarchie, der Ersten Republik und in den ersten beiden Jahrzehnten der Zweiten Republik gab es große Skandale.

Dass die Skandalisierung der Nation dennoch öffentlichkeitswirksam erst gegen Ende der Ära Kreisky erfolgreich war, lässt sich vor allem durch zwei Faktoren erklären: Zum einen sorgte eine veränderte Medienlandschaft, eine neue Generation an Journalisten, die den angloamerikanischen Aufdeckungsjournalismus zum Vorbild hatte, für verstärkte und vor allem nachhaltige Berichterstattung (siehe dazu auch Kapitel III), zum anderen fand sich ein aufnahmebereites Publikum. Durch den Wandel der politischen Kultur, durch die Erosion der traditionellen Lager und den Aufschwung neuer politischer Parteien wie der FPÖ und der Grünen, die „Skandalisierung“ zu ihrem Thema machten und zum Teil selbst als „Skandalisierer“ auftraten, war die Grundstimmung im Land eine andere: geprägt von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber den „Herrschenden“. Seit Beginn der achtziger Jahre war Kritik an der „politischen Klasse“ ein immer wiederkehrendes Motiv im politischen Diskurs.

Begriffsdefinition und Rollenverteilung

Damit wären auch schon die Grundbedingungen für das Entstehen eines Skandals angesprochen: Abgesehen von einem Vorfall braucht es einen Skandalisierer, eine entsprechende Bühne (die Massenmedien) und ein Publikum, um als solcher wahrgenommen zu werden.

Die Skandalforschung spricht von einem politischen Skandal dann, wenn politische Akteure unmittelbar und auslösend in die Ereignisse verwickelt sind und dadurch das Normen- und Wertegerüst der Gesellschaft in Frage gestellt werden.21 In der soziologischen Betrachtung – die Soziologie hält auch Untersuchungsraster und Deutungsmuster für Skandale bereit, die jedoch für politische Skandale adaptiert werden müssen – sind Skandale ein Instrument der sozialen Kontrolle. Aus der Kriminalsoziologie lässt sich der „labeling approach“, der Zuschreibungsansatz, anwenden: Dieser besagt, dass ein bestimmtes Verhalten nicht von vornherein als kriminell erachtet wird, sondern erst durch eine Reihe von Etikettierungen als solches definiert wird. Diese Definition erfolgt zunächst auf der Ebene der Gesetzgebung. Darüber hinaus spielen die Strafverfolgung, das Anzeigenverhalten der Bevölkerung, die Aburteilung durch Gerichte und die Stigmatisierung nach der Aburteilung eine Rolle. Gerade politische Skandale verlaufen oft nicht entlang der Linien, die das Strafgesetz vorgibt. Ein politischer Skandal kann auch entstehen, wenn kein „deliktnahes“ Verhalten vorliegt. Das wesentliche Moment ist also die „Etikettierung“ als politischer Skandal. Zum „Gelingen“ eines Skandals trägt die bereits erwähnte charakteristische Trias zwischen Skandalisierer, Öffentlichkeit („Bühne“) und Publikum also wesentlich bei.22

Die Rolle des Etikettierens übernimmt dabei zuerst der Skandalisierer. Kommt er aus dem Bereich der Medienwelt, ist er der „Aufdecker“. Aber auch einzelne Politiker haben sich als klassische einzelkämpferische Wühlmäuse bewährt. Ein Phänomen, das mit der Amerikanisierung der österreichischen Wahlkämpfe eine gewisse Professionalisierung erreicht hat, ist die gezielte Skandalisierung durch Exponenten politischer Parteien im Rahmen des „negative campaining“ oder „dirty campaining“. Die Skandalisierung selbst zum Skandal zu erklären, ist eine ältere politische Abwehrstrategie, die meist von den Betroffenen gewählt wird. Das bekannteste Beispiel in Österreich dafür ist die „Kampagne mit der Kampagne“ der ÖVP während des Präsidentschaftswahlkampfes 1986.

Als „Bühne“ für den politischen Skandal dient die professionalisierte Öffentlichkeit, also die Massenmedien und hier im Österreich der achtziger Jahre vor allem die neue Generation an Aufdeckungsmagazinen, beginnend bei „profil“, danach „Wochenpresse“ und „Basta“.23 Sie sind die publizistische Speerspitze jener zivil­gesellschaftlichen Bewegung, die spät, aber doch den Mangel an liberalen Traditionen in Österreich aufzuarbeiten versucht.

Und schließlich funktioniert kein Skandal ohne Empörung, die öffentlichen Druck erzeugt und so zu einer Art Rückkoppelungseffekt führt. Wie Sickinger/Gehler ausführlich schildern, war das aufnahmebereite Publikum in Österreich dank der Besonderheiten der traditionellen Proporz- und Konkordanzdemokratie erst in der ersten Hälfte der achtziger Jahre im kritischen Ausmaß vorhanden. Davor blockierte die Lagerloyalität die, wenn man so will, „Erregungsübertragung“ über das eigene politische Umfeld hinaus. Skandale blieben daher parteipolitische Ereignisse, weiteten sich aber nicht zu gesamtgesellschaftlichen Debatten aus. Das großkoalitionäre Stillschweigen – oder besser „Gleichgewicht des Schreckens“ – sicherte beiden Lagern gewisse Fehltrittmöglichkeiten zu. Pelinka verwendet in diesem Zusammenhang das – nachdem es auch um Fragen der Aufmerksamkeitsökonomie geht – durchaus passende Bild einer „Wettbewerbseinschränkung“. SPÖ und ÖVP hätten gemeinsam eine Art Skandalvermeidungs-Kartell gebildet, das erst durch verstärkten Wettbewerbsdruck der Öffentlichkeit auseinandergebrochen ist.24

Skandalmuster in der Zweiten Republik

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Kritik an der „politischen Klasse“ oder der Topoi „Privilegien“ eines der wichtigsten Skandalmuster der Zweiten Republik darstellt. Sickinger/Gehler fassen es unter der Bezeichnung „Sonderregelung für die politische Klasse“ zusammen und zählen dazu Ausnützung persönlicher Beziehungen zu „Machtinhabern“ und Behinderung der Justiz. Weiters differenzieren sie folgende „skandalisierte Sachverhalte“, die sich überschneiden können: „Korruption“ und „Grauzonen der Politikfinanzierung“, „politische Konflikte als Skandal“, „Schatten der NS-Vergangenheit“, das „skandalöse Privatleben von Politikern“ sowie „innerösterreichische Auswirkungen auf das internationale Renommee Österreichs.

Eine Sonderstellung in der österreichischen Skandalhistorie nehmen mit Sicherheit vergangenheitspolitische Skandale ein, unter die auch die Affäre „Frischenschlager – Reder“ fällt. Höhepunkt der Skandalisierung war die Affäre Waldheim im Jahr 1986, in der gleich mehrere „Skandalkategorien“ schlagend wurden: Vergangenheitsbewältigung, politischer Konflikt und Internationalisierung der Negativ­auswirkungen. Anhand eines Vergleichs des Verlaufs der Affäre Peter – Kreisky – Wiesenthal im Jahr 1975, der Debatte rund um „Frischenschlager – Reder“ im Jahr 1985 und der unvergleichlich stärkeren Emotionalisierung in der Affäre Waldheim ein Jahr später lässt sich die veränderte öffentliche Wahrnehmung und die Theorie, dass ein Skandal per se kein Skandal ist, sondern erst zu einem wird, wenn Skandalisierer, Bühne und Publikum vorhanden sind, bestens nachvollziehen. Alle drei Skandale zeigen auch, dass der Rückkoppelungseffekt durch die interessierte Öffentlichkeit sehr wohl über das Ausland erfolgen kann. Mehr noch: Bei vergangenheitspolitischen Skandalen, die sich immer um das innerösterreichische Tabuthema der Mittäterschaft an NS-Verbrechen drehen, war die kritische Resonanz im Ausland das tragende Moment. Wenn man so will, suchten und fanden diese Skandale die kritische Masse an Öffentlichkeit zuerst im Ausland, bevor die innerösterreichische Debatte entflammte.

Der Skandal und seine Funktion als Katalysator

Will man dem Skandal eine Funktion zuschreiben, so lässt sich diese für Österreich wohl noch am ehesten als die eines Katalysators beschreiben, der bereits vorhandene Entwicklungen beschleunigt oder verstärkt.25

Sorgten der AKH-Skandal26, der Lucona-Skandal27 und der Noricum-Skandal, die alle im Graubereich zwischen Wirtschaft und Politik angesiedelt waren, dafür, dass das Kontrollbedürfnis der Bevölkerung stieg und die Parlamentarisierung des politischen Systems durch die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen verstärkt wurde, rüttelten die vergangenheitspolitischen Skandale an der ideologischen Grundfeste der Zweiten Republik: der Opfertheorie.

„Die Verwestlichung der österreichischen Gesellschaft und damit des gesamten politischen Systems wurde durch den Skandal und dessen öffentliche Wahrnehmung vorangetrieben“, schreibt der Politologe Anton Pelinka im Hinblick auf den AKH-Skandal. Seine Schlussfolgerungen treffen auch auf die Wirkung der anderen Skandale zu. Sie zeigten auf, dass die Grundkonzeption, die die Zweite Republik ausmachte, an ihre Grenzen gestoßen war. „Der Skandal half mit, den für die Stabilisierung der Zweiten Republik verantwortlichen Eliten der großen Parteien und Lager die Möglichkeit zu entziehen, über das politische System die gesamte Gesellschaft zu steuern und zu kontrollieren.“28 Große Koalition, „Nebenregierung“ der Sozialpartnerschaft, Konkordanz- und Proporzdemokratie, die berechenbaren Faktoren der österreichischen Gesellschaft aus der Nachkriegszeit, der von den herrschenden Eliten beider Parteien außerordentlich lange hinübergerettete Staatskonsens, die obrigkeitshörige, von einem quasi staatlichen aufgeklärten Dualismus geprägte politische Kultur – all diese Faktoren begannen sich in den 1980er Jahren zu verändern.

III. Der „Handschlag“ im Kontext seiner Zeit

Die Affäre „Frischenschlager – Reder“ spielt sich aus mehreren Gründen in einer ausgesprochen prekären Phase der Zweiten Republik ab. Gesellschaftspolitisch, parteipolitisch wie vergangenheitspolitisch ist die zweite Hälfte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Zeit des Wandels zu begreifen. Österreich war zu Beginn der achtziger Jahre immer noch ein Land des „Garantismus“ mit einem starken „retardierenden“ Moment, „Sicherheit“ war „das traditionelle Leitmotiv für das Handeln politischer Akteure, für die Formulierung und das Marketing politischer Angebote wie für die Aspirationen und thematischen Anliegen der österreichischen Wähler“29. Der Postmaterialismus bahnte sich erst langsam seinen Weg. 1974 waren in Österreich nur neun Prozent der 16 bis 29-Jährigen Postmaterialisten, in Deutschland waren es 15 Prozent, in den Niederlanden 28 Prozent30. Als Schlüssel­jahr des Wandels gilt gemeinhin das Jahr 198631. Nicht nur, weil die Waldheim-Affäre Österreichs Selbstbild als Opfer des Zweiten Weltkrieges massiv in Frage stellte und letztlich auch zerstörte, sondern auch, weil es jenes Jahr war, das den Einzug der Grünen ins Parlament brachte – und damit den späten Einbruch der Zivilgesellschaft und der neuen sozialen Bewegungen ins offizielle politische Repräsentationssystem und das Ende des etablierten Dreiparteienherrschaft. 1986 ist auch das Jahr, in dem Jörg Haider die bundespolitische Bühne betritt – eine Bühne, deren Spielregeln er für über ein Vierteljahrhundert mitprägen oder besser durch Verletzungen auszureizen versuchen wird.

„Erosions- und Dealignmentprozesse, die fortschreitende Auflockerung bestehender Parteibindungen, erhöhte Wählermobilität wie eine spürbare Entkoppelung zwischen sozialer Milieuzugehörigkeit und Wahlverhalten – Faktoren, die im internationalen Vergleich schon seit längerer Zeit den Normalzustand der Parteiensysteme darstellen – transformieren mittlerweile auch die Tiefenstruktur des österreichischen Parteiensystems wie die strategischen und wahlpolitischen Ausgangs- und Rahmenbedingungen der österreichischen Parteien.“32

Im Jahr 1985 sind diese Verschiebungen in Andeutungen bereits spürbar, aber das große Beben bleibt noch aus. Umso interessanter ist es, das Handeln der Akteure vor diesen – bildlich gesprochen – sich langsam verändernden Hintergründen zu beobachten. So lautete beispielsweise die „Einstiegsfrage“ an den Politologen Anton Pelinka in einem Interview zur Affäre „Frischenschlager – Reder“, das am 2. Februar 1985 in der Ö1-Reihe „Im Journal zu Gast“ geführt wurde, folgendermaßen:

„Es scheint so, als wäre alles in Ordnung gewesen, wäre Verteidigungsminister Frischenschlager bei der Übergabe Reders nicht dabei gewesen und hätte diesem nicht die Hand gegeben. Ein Journalist hat dieses Ereignis so kommentiert, dass man meinte, durch Frischenschlager werde Österreich im Ausland wieder mit der Vergangenheit identifiziert, die wir mit Recht als bewältigt erklären. Kann man das wirklich so sagen? Haben wir die Vergangenheit wirklich bewältigt?“33

Aus heutiger Sicht „nahezu anachronistisch“, wie die Historikerin Heidemarie Uhl bemerkt. Pelinka antwortet klar: „Ich glaube, dass das eindeutig nicht der Fall ist“, um dann die Gespaltenheit des Geschichtsbewusstseins zu erklären. 1985 war übrigens zum „Jahr der Zeitgeschichte“ ausgerufen worden, Kriegsende und Staatsvertrag galt es zu gedenken.34

Reden über die Vergangenheit in der Prä-Waldheim-Ära

Das gesellschaftliche wie vergangenheitspolitische Klima Anfang und Mitte der achtziger Jahre ist in der wissenschaftlichen Literatur breit beschrieben worden.35 Aus heutiger, sozusagen Post-Post-Waldheim-Ära-Sicht schwer vorstellbar, verharrte die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in jenem „Wir sind Opfer“-Stadium, das in der unmittelbaren Nachkriegszeit von politischer wie damals mit dem politischen System eng verwobener medialer Seite geprägt wurde. Umstritten war zu diesem Zeitpunkt nicht die Frage, inwieweit sich Österreicher zu Tätern gemacht hatten, sondern die Schuld am Scheitern der Ersten Republik und der Anteil der beiden politischen Lager SPÖ und ÖVP daran. Dementsprechend hatte sich ein stark parteipolitisch orientierter Umgang mit der Vergangenheit etabliert, in dem entweder die sozialdemokratischen und christlichsozialen Erzählungen miteinander konkurrierten und deren Vertreter meist in gegenseitige Schuldzuweisungen verfielen oder eine konsensuale Geschichtsdarstellung gewählt wurde, die sprichwörtliche Koalitionsgeschichtsschreibung.36 Sie diente auch der „Befriedung der politisch gespaltenen Gesellschaften nach Kriegsende 1945“37. Hinzu kam das Momentum des Kalten Krieges, der die erste Phase der antinazistischen Aufarbeitung schnell beendete und der Bekämpfung des Kommunismus den Vorrang gab.

Österreich blieb im Großen und Ganzen unbeeindruckt von global wahrgenommenen Schlüsselereignissen der Vergangenheitsaufarbeitung wie etwa dem Prozess gegen Adolf Eichmann in den Jahren 1960 und 1961 oder der Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ im Jahr 1979 – wobei letztere, wie Heidemarie Uhl beschreibt, zumindest die Themen „Vergangenheitsbewältigung“ und „Schuldfrage“ in der nicht politischen Öffentlichkeit stärker verankert und damit die NS-Zeit erstmals weg von parteipolitischen Schuldzuweisungen auf die Ebene der familiären, generationsspezifischen Auseinandersetzung hebt.38 Einzelne Fälle von „De-Konsensualisierung im Umgang mit der NS-Vergangenheit“39 wie etwa die Taras-Borodajkewycz-Affäre oder die von Oscar Bronner in einer „Forum“-Sondernummer mit ausgelöste Debatte über die NS-Vergangenheit von Richtern und Generalanwälten an den Obersten Gerichtshöfen im Jahr 196540 sorgen zwar für Aufruhr, nicht aber für breite Diskussionen. Dafür gab es immer wieder nationale Ereignisse, die in der Kontinuität der Opferthese standen, wie etwa die Einstellungen der Verfahren gegen NS-Täter unter Justizminister Christian Broda Anfang der siebziger Jahre und die damit verbundene Generalamnestie. Broda ließ 1965 prüfen, ob Disziplinarverfahren gegen die Generalprokuratur möglich wären, das Kriegsverbrechergesetz 1947 war auf Grund der NS-Amnestie des Jahres 1957 aber nicht mehr anwendbar.41

Erste Brüche gab es erst Anfang der siebziger Jahre, unter anderem auch, weil ein neuer vergangenheitspolitischer Akteur auf der Medienbühne erschien, der der „Kronen Zeitung“ als Sprachrohr der Wehrmachtsgeneration Konkurrenz machte: das „profil“. Es wurde zum Trägermedium der ersten großen vergangenheitspolitischen Debatten wie der Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre im Jahr 1975 oder der nach Protesten verhinderten Wahl Friedrich Peters zum Dritten Nationalratspräsidenten im Jahr 1983.42

Gerade diese Debatten verliefen auch entlang generationsspezifischer Gräben, was sich deutlich in der Sondersitzung zum Fall Reder zeigt. Mehr als einmal ist von der „Gnade der späten Geburt“ und den berechtigten Protesten der „Jugend“ die Rede.43 Aber auch die kritischen Wissenschafter, allen voran der in den 1960er und 1970er Jahren institutionalisierten Zeitgeschichte, und Journalisten, besonders jene im „profil“, sind die Träger der „anderen Sichtweise“.44 Nicht wenige von ihnen stammten selber aus einem nationalsozialistischen Elternhaus und arbeiteten parallel auch ihre persönliche Familiengeschichte auf. Sie bilden eine neue Erinnerungsgemeinschaft45, deren Erzählung sich nach der Affäre Waldheim als dominant durchsetzen sollte. Inzwischen wurde sie von einem neuen Zugang, dem „Postmemoire“, abgelöst.46

Kreiskys koalitionäres Erbe: Die Kleine Koalition als Kulisse

Den unmittelbaren politischen Rahmen für die Affäre „Frischenschlager – Reder“ bildet die Kleine Koalition. Von Bruno Kreisky seitens der SPÖ und Friedrich Peter seitens der FPÖ über Jahre hinweg vorbereitet und durch viele persönliche Vertrauensmaßnahmen gefestigt, wurde sie von Fred Sinowatz eher gezwungenermaßen denn aus eigenem Antrieb umgesetzt. Die Führungsriege der FPÖ, auch Norbert Steger, verband mit ihr die Hoffnung, auf Dauer aus der Isolation der Opposition zu kommen und in Zukunft das „Zünglein an der Waage“ zu spielen wie die deutsche FDP. Die Kleine Koalition ist, rückblickend gesehen, eine kurze und in der Erinnerungskultur der Parteien vernachlässigte Episode. Wohl auch, weil das Interesse bei allen Protagonisten an ihrer Aufarbeitung unmittelbar nach Auseinanderbrechen ohnehin gering war und bis heute ist.47 Sie stellt, aus heutiger Sicht, den Ausnahmezustand in der österreichischen Koalitionshistorie dar.

Die Frage, welche der beiden Großparteien den „Tabubruch“ einer Koalition mit der klar als Nachfolgepartei der NS-Lagers wahrgenommenen FPÖ wagt, ist so alt wie die Zweite Republik. Erste Anbahnungsgespräche von SPÖ wie ÖVP hatte es bereits lange vor dem Jahr 1983 gegeben. 1964 scheitern erste Versuche Kreiskys, unterstützt von Franz Olah, konkrete Voraussetzungen für ein rotblaues Regierungsbündnis zu schaffen.48 Für Kreisky war der jahrzehntelange Aufbau der FPÖ zum akzeptablen Regierungspartner ein politisches Lebensprojekt. Es basierte auf seiner Grundstrategie, das bürgerliche Lager auf Dauer von der Macht fernzuhalten. Erste Kontakte zur FPÖ und zu Peter spannte er schon in seiner Zeit als Außenminister. Peters Engagement für Reder war einer der ersten Berührungspunkte, wie sich aus Korrespondenzen nachvollziehen lässt (siehe Kapitel III). Die schrittweise Einbeziehung der FPÖ in den Regierungsalltag – vor allem bei außenpolitischen Themen – festigte die Vertrauensbasis. In Friedrich Peter hatte Kreisky aus seiner Sicht den idealen Partner gefunden. Wie stark die persönliche Beziehung der beiden ist, zeigt eine Passage in Kreiskys Memoiren, in der er Peter als „typischen Fall“ für den kleinen Sozialisten beschreibt, der durch die NS-Zeit verblendet wurde und im „falschen“ Lager landete:

„Ein typischer Fall ist der ehemalige FPÖ-Obmann Friedrich Peter. Sein Vater war (...) Lokomotivführer in Attnang, Sozialdemokrat und Schutzbündler. Sein Großvater mütterlicherseits war hingegen ein Großdeutscher, und der Bruder seiner Mutter wurde als Nationalsozialist von einem Heimwehrmann erschossen. Die so gespaltene Familie war, wie ich glaube, der Nährboden für Peters damalige Gesinnung. Da ich verstanden habe, warum Leute wie er Hitler-Anhänger wurden, und auch die materiellen Ursachen einer solchen Bewusstseinsänderung aus der Nähe gesehen habe – nämlich die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, zuerst in Deutschland, dann in Österreich –, ist mein Verhältnis zu ehemaligen Nazis ein anderes.“49

Der umstrittene Handschlag fand kurz nach der ersten kleinen Erfolgsphase Sinowatz’ statt: Er hatte eine Regierungsumbildung vorgenommen und sich dadurch deutlich vom „Übervater“ der Kleinen Koalition, Bruno Kreisky, abgesetzt. Mit Franz Vranitzky saß nun ein Politiker neuen Typs im Schlüsselressort Finanzen, jenem Ministerium, das Kreisky mit seinem engsten Vertrauten und Verbündeten in seinem Kampf gegen Hannes Androsch, Herbert Salcher, besetzt hatte. Ferdinand Lacina, der eigentlich SPÖ-Zentralsekretär werden sollte, war als neuer Verkehrsminister ein Signal an die politische „Linke“ in der SPÖ. Als Aufdecker der Taras-Borodajkewycz-Affäre hatte er sich den Ruf eines klaren Antinazisten erworben, was ihn zur Galionsfigur der „um den Antifaschismus der SPÖ besorgten Kräfte“50 machte. Er sollte im Zuge der Affäre „Frischenschlager – Reder“ dann auch eine Schlüsselrolle innerhalb der SPÖ spielen.

Zum engsten Führungskreis um Sinowatz zählten beide allerdings nicht. Sinowatz beriet sich in brenzligen Situationen mit Außenminister Leopold Gratz und Wissenschaftsminister Heinz Fischer. Als erweiterter Führungskreis ist das sogenannte „Siebenerkomitee“ zu nennen, dem zusätzlich Sepp Wille als Klubobmann, die beiden Zentralsekretäre Peter Schieder und Fritz Marsch sowie Karl Blecha angehörten, der allerdings auch als besonderer Vertrauter Bruno Kreiskys galt.51

Sinowatz war es weiters gelungen, den Streit um das Kraftwerk Hainburg über die Weihnachtstage zu befrieden. Frischenschlagers „Fehltritt“ passte dann bestens in das Bild jener Kritiker, die die FPÖ nicht als jene „liberale“ Partei sehen wollten, als die sie sich selbst unter Steger bezeichnete.

Beim Handschlag zwischen Friedhelm Frischenschlager und Walter Reder kreuzen sich – sprichwörtlich – zwei österreichische Biografien, die als typisch für ihre Generation und Zeit angesehen werden und deswegen beide einen hohen Symbolwert haben. Das ist auch mit ein Grund, warum die Affäre diese Brisanz entwickeln konnte. Hier der liberale Vorzeigeschüler Frischenschlager, jener Mann in der rotblauen Koalition, auf dem die Hoffnungen all jener lagen, die an eine Wandlung des dritten Lagers zur liberalen Partei glauben wollten. Dort der mythologisierte, in weiten Teilen der Bevölkerung nahezu kultisch verehrte Walter Reder, der für all jene in jungen Jahren von der Zwischenkriegszeit desillusionierten und dann vom Nationalsozialismus begeisterten Soldaten steht, die in der Wehrmacht nur ihre Pflicht getan haben wollten.

Walter Reder, der Soldat im „Bandenkampf“

Reders Werdegang ist typisch für einen jungen Mann aus nationalem Milieu seiner Zeit.52 Er wurde am 4. Februar 1915 in der nordmährischen Stadt Freiwaldau geboren, nach dem Ersten Weltkrieg zog die Familie nach Steyr, wo der Vater Besitzer einer Fabrik war. Reders Elternhaus war katholischkonservativ. Er wurde laut dem Lebenslauf in seiner SS-Akte „im streng nationalen Sinne erzogen“53. Ob die Verhältnisse, in denen Reder aufwuchs, bürgerlich oder doch eher kleinbürgerlich waren, lässt sich schwer nachvollziehen. Einschneidend dürfte das Jahr 1928 gewesen sein, als der väterliche Betrieb in Konkurs ging. Reder musste zu seiner Tante nach Wien ziehen. Von September 1928 bis September 1931 war er in Wien bei seinem Onkel, dem Oberforstrat Ing. Oskar Roth, gemeldet, wohnte im 8. Bezirk in der Florianigasse 3 und besuchte das Bundesrealgymnasium im 14. Bezirk in der Diefenbachgasse.54 Er wohnte damals somit in unmittelbarer Nähe zur Parteizentrale der Wiener NSDAP, die ihren Sitz in einem Kellerlokal in der Florianigasse 16 hatte. Im Sommer 1930 zog die politische Organisation dann in die Schottenfeldgasse 41–43 um, während die HJ erst 1932 ins „Adolf-Hitler-Haus“ übersiedelte. Ab 1932 wohnte Reder, nunmehr 17-jährig, wieder in Linz, wo er die Handelsakademie besuchte.55

Reder erlebte als adoleszenter Mann also mehrere persönliche Brüche, gleichzeitig stand das klerikalautoritär regierte Österreich an der Schwelle zum Bürgerkrieg.56 Seine Schulzeit fiel mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und den zunehmend verzweifelten Versuchen des nach Ausschaltung des Parlaments seit März 1933 autoritär regierenden Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß zusammen, diese einzubremsen beziehungsweise sich mit den neuen Machthabern in Deutschland zu arrangieren.57 Die NSDAP, die 1932 erhebliche Erfolge bei den Landtagswahlen verbuchen konnte, wurde am 19. Juni 1933 de facto verboten. Ihre Anhänger wurden festgenommen, ihr Vermögen beschlagnahmt, Ausbürgerungen vorgenommen und hohe Geldstrafen auch für kleine Vergehen verhängt. Ab Oktober 1933 wurden Nationalsozialisten auch in sogenannten Anhaltelagern kaserniert. 1934 wurde das Land von einer nationalsozialistischen Terrorwelle überzogen. Der Februaraufstand der bewaffneten Linken, der in Reders Schulstadt Linz seinen Ausgang nahm, leitete den offenen Bürgerkrieg ein.

Reder macht aus seiner radikalen völkischen Gesinnung kein Geheimnis. Er schließt sich in Linz im September 1932 der Hitlerjugend an, 15 Monate später, im Dezember 1933, wird er in die zu diesem Zeitpunkt bereits verbotene SS aufgenommen. Seine spätere NSDAP-Mitgliedsnummer lautet 5020869. Wegen „Zettelkleben“, „Zugehörigkeit zur verbotenen SS“ und „Verdächtigungen bei verschiedenen Aktionen“ wird er vorbestraft und sitzt in Linz in Untersuchungshaft.58 1934 wird er aus allen Schulen Österreichs ausgewiesen. Der Verlegung in das Anhaltelager Kaisersteinbruch in Niederösterreich entgeht er, wie viele Nationalsozialisten damals, durch Flucht nach Deutschland am 25. Juni 1934 – einen Monat vor dem Putschversuch der Nationalsozialisten.59 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Reder ausgebürgert wurde.60 Seine weitere Sozialisation erfolgt ausschließlich in Deutschland, umso skurriler wirkt die spätere Repatriierung Reders in Österreich.

Reder selbst versucht seine Flucht nach Deutschland in einem Brief an Kreisky aus dem Jahr 1953 retrospektiv damit zu begründen, dass er sich

„im Juni 1934 nach Deutschland begab, und zwar mit Pass, um in Nürnberg in der Fabrik der ehemaligen Braut meines verstorbenen Bruders eine kaufmännische Volontärsstelle anzunehmen. Die wirtschaftliche Lage meiner Eltern war zu dieser Zeit mehr als prekär, so dass ich sie zu unterstützen suchte. Zum anderen zog mich auch meine damalige politische Einstellung nach Deutschland. Zu dieser Zeit war ich 19 Jahre alt und ich glaube, politische Irrtümer – wie man heute wohl zu sagen pflegt – kann man einem solchen jungen, unreifen Menschen weniger zum Vorwurf machen. Einmal in Deutschland zog es mich mehr zur militärischen als zur kaufmännischen Laufbahn.“61

In Deutschland tritt Reder, wie viele illegale Nationalsozialisten, der „österreichischen Legion“ bei.62 Um die Legion ranken sich vor allem von ehemaligen Mitgliedern gepflegte Mythen. Sie wird gerne als eingeschworene Eliteeinheit dargestellt, als Ausbildungslager für spätere führende österreichische Nationalsozialisten, als eine paramilitärische Organisation, deren Ziel es war, Österreich notfalls mit Waffengewalt für den Nationalsozialismus zu erobern, und in der nicht nur Reder, sondern auch Alois Brunner, die rechte Hand Adolf Eichmanns, Kaltenbrunner und Haider, der Vater Jörg Haiders, ihr „Handwerk“ lernten.63

Als Gruppe bestand die österreichische SA seit 1931, mit 1. Juli 1933 erhält die „SA Organisationseinheit Österreich“ den Status einer Obergruppe, der dann auch die in der „österreichischen Legion“ zusammengefassten österreichischen NS-Flüchtlinge unterstanden, die sich im bayrischen Lager Lechfeld befanden.64 Anfang Juli waren dort Schlafmöglichkeiten für 5000 bis 6000 Flüchtlinge geschaffen worden. Unter ihnen befanden sich nicht nur politisch motivierte Nationalsozialisten, sondern auch Kleinkriminelle und klassische Wirtschaftsflüchtlinge. Nach dem 28. November 1934 wird die Legion schrittweise aufgelöst und die fähigeren Kräfte in die deutsche Armee eingegliedert – allerdings nur nach Erwerbung der deutschen Staatszugehörigkeit.65 Unter ihnen war auch Reder, dessen deutsche Einbürgerungsurkunde mit 28. Dezember 1934 datiert ist.66

Reder schildert die Ereignisse in seinem Brief an Kreisky schon unter dem Aspekt der damals strittigen Staatsbürgerschaftsfrage folgendermaßen:

„Es ist richtig, dass ich im Dezember 1934 als 19- und noch Minderjähriger mit all den anderen Angehörigen desselben Btl. (Bataillons, Anm.) in Deutschland eingebürgert wurde. Zu dieser Angelegenheit der Staatsbürgerschaftsfrage erlaube ich mir zu bemerken, dass ich seit dem Zusammenbruch im Mai 1945 stets in gutem Glauben annahm, ich würde die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. (...) In dieser Ansicht wurde ich durch das Verhalten der amerikanischen CIC-Behörde bestärkt, die mich auf einen Irrtum aufmerksam machte, den ich begangen hatte, als ich anfangs nach der Gefangennahme als Staatsangehörigkeit automatisch ‚reichsdeutsch‘ angab.“67

Reder schlägt die SS-Führerlaufbahn ein, zuerst an der 1934 neu eingerichteten Junkerschule in Braunschweig68, wo er auch aus der Kirche austritt und sich nur mehr als „gottgläubig“ bezeichnet. 1936 wird er zur SS-Totenkopfstandarte „Oberbayern“ nach Dachau in die Wachmannschaft des Konzentrationslagers versetzt. Dort erklärte er eidesstattlich, die Flüchtlingspassnummer 16.195 zu besitzen und nicht im Besitz eines österreichischen Passes zu sein.69 In Dachau beginnt auch die langjährige Verbindung des damals gerade 21-Jährigen zu Max Simon. Er wird bis Ende 1944 sein Kommandant an verschiedenen Kriegsschauplätzen sein. Die für ihre Brutalität bekannten Totenkopfverbände und die daraus entstandene 3. SS-Division „Totenkopf“ werden Reders soldatische Heimat.70

Reders Karriere schreitet voran, er bringt das notwendige Draufgängertum und die Rücksichtslosigkeit mit, die es für diesen SS-Verband braucht. Intellektualität war nicht gefordert.71 Er nimmt am Einmarsch in Österreich und in die Tschechoslowakei teil und avanciert 1939 zum Verbindungsführer der Division bei der Reichsführer-SS. Im Frühjahr 1940 wird er 2. Adjutant beim Stab des „Totenkopf“-Infanterie-Regiments und nimmt am Westfeldzug teil. Als Kompaniechef in Max Simons „Totenkopf“-Infanterie-Regiment und später auch als Bataillonsführer zieht Reder 1941 in die Sowjetunion. Im März 1943 wird er bei der Rückeroberung von Charkow erheblich verwundet. Der rechte Arm ist von dieser Zeit an gelähmt, der linke Unterarm muss amputiert werden. Nach seiner Genesung meldet sich der SS-Sturmbannführer erneut bei Max Simon, der inzwischen die Führung der im Raum Laibach/Ljubljana neu aufgestellten 16. SS-Panzer-Grenadier-Division „Reichsführer-SS“ übernommen hat. Simon gibt ihm den Befehl über die Panzer­aufklärungsabteilung der Division. Sie ist ein „äußerst mobiler Spezialverband, stark motorisiert und gut bewaffnet, mit meist erfahrenen und besonders ausgebildeten Führern und Unterführern sowie sehr jungen, meist 17 bis l8 Jahre alten SS-Rekruten als Mannschaften“72. Nach sehr harten Kämpfen in Italien im Sommer 1944 mit erheblichen Verlusten wird die Division aus der Front herausgelöst und ab Mitte August verstärkt zur „Bandenbekämpfung“ herangezogen.

Die 16. SS-Panzer-Grenadier-Division gehört zu den grausamsten und gewalttätigsten Einheiten im Kampf gegen die Zivilbevölkerung. Ein Fünftel ihrer Gesamtverluste entstand durch ihre Einsätze.73 Mit ein Grund für die Brutalität war auch die einheitliche Sozialisation, wie Carlo Gentile anschaulich schildert. Seine Beschreibung des typischen „Reichsführer-SSlers“ liest sich wie Reders Lebenslauf:

„In der Division dienten nämlich zahlreiche ‚alte Kämpfer‘ aus den Totenkopfverbänden und der Konzentrationslager-SS sowie Angehörige von Einsatzkommandos oder von Einheiten der Waffen-SS und der Polizei, die auf den osteuropäischen ‚killing grounds‘ 1941 bis 1944 gewirkt hatten, extrem brutalisierende Erfahrungen gemacht und dabei die nationalsozialistischen Vernichtungspraktiken in allen ihren Ausprägungen kennen gelernt hatten. Es handelte sich um eine relativ homogene Kerngruppe von jüngeren SS-Führern in den mittleren Positionen der Abteilungsleiter und Bataillonskommandeure, die für die Durchführung der Vernichtungsaktionen verantwortlich waren. Sie wurden alle zwischen 1910 und l9l6 geboren und erlebten den Ersten Weltkrieg und die Wirren der Nachkriegszeit als Kinder.“74