Sebastian Kurz - Barbara Toth - E-Book

Sebastian Kurz E-Book

Barbara Toth

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Beschreibung

Sebastian Kurz gilt als das Wunderkind der österreichischen Politik. Von den internationalen Medien angesichts seines Alters und seiner steilen politischen Karriere bestaunt, konnte er als Bundesparteiobmann einen großen Wahlsieg erringen. Wer ist dieser junge Mann, der mit dem Versprechen antrat, eine alte, verkrustete Partei in eine moderne 'Bewegung' umzuwandeln? Was sind seine politischen Inhalte und Ziele? Wer steht hinter ihm? Wie haben sich seine Positionen im Laufe seiner politischen Laufbahn geändert? Die Journalistinnen Nina Horaczek und Barbara Tóth beleuchten in diesem Porträt Herkunft, Werdegang und Politik von Sebastian Kurz.

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Nina Horaczek, Barbara Tóth

Sebastian Kurz

Österreichs neues Wunderkind?

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2017 Residenz Verlag GmbHSalzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Thomas KussinUmschlagbild: David Payr / laif / picturedesk.comTypografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

ISBN ePub978 3 7017 4566 1

ISBN Printausgabe978 3 7017 3451 1

Inhalt

Prolog

Kapitel 1 – Macht

Kapitel 2 – Familie

Kapitel 3 – Freiheit

Kapitel 4 – Leistung

Kapitel 5 – Sicherheit

Kapitel 6 – Veränderung

Epilog

Danksagung

Personenregister

Prolog

Wenn es ein einziges Wort gibt, das Sebastian Kurz beschreibt, dann das: Kontrolle. Kurz ist die personifizierte Selbstkontrolle. Wenn er auftritt, ist nichts dem Zufall überlassen. Seine Sätze sind wie gestanzt, er spricht nahezu druckreif. Die Fotos und Videos, die er von sich in die Welt schickt, lässt er am liebsten von seinen eigenen Medienleuten gestalten. Die Frisur sitzt, das Gesicht ist perfekt mattiert. Sein persönliches Team, seit Jahren dasselbe, besteht aus einer Handvoll Jugendfreunde und steuert alles, was politisch rund um ihn passiert. Er hat das Team im Griff, das Team hält ihm die Partei im Griff.

Auch sein Lebenslauf entspricht dem Erwartbaren. Kein Bruch, kein Umweg stört den Karriereweg dieses österreichischen Wunderkindes der konservativen Politik – von seinem nicht abgeschlossenen Studium abgesehen, aber selbst das lässt sich rechtfertigen. Wer wird schon mit 24 Jahren Staatssekretär, mit 27 Außenminister, mit 31 Chef einer Partei, Wahlsieger und bald Kanzler? Kurz schaffte es als »Wunderkind« in die internationalen Schlagzeilen und wurde in einem Atemzug mit Politikern wie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron oder dem kanadischen Premier Justin Trudeau genannt. Er ist ein Star deutscher Talk-Shows, auch, weil er den deutschen Konservativen, vor allem jenen, die mit dem Kurs der deutschen Kanzlerin Angela Merkel unzufrieden sind, als Rollenvorbild dient.

Sein Weg an die Spitze des Staates zählt zu den am besten vorbereiteten und professionellsten Machtübernahmen in der Geschichte der österreichischen Nachkriegszeit. Kein Widerspruch, kein Gegenkandidat, ein durchkomponierter Wahlkampf wie aus dem Handbuch der Kampagnengurus.

Und auch sein Privatleben. Das wenige, was Sebastian Kurz im Nationalratswahlkampf 2017 über sich und seine Familie preisgab, zeigt ihn als Durchschnittsmenschen ohne Allüren und Eitelkeiten. Sportler, Tierliebhaber, Langzeitfreundin, Eltern aus dem städtischen Mittelstand, Großeltern vom Land. Kurz gelang es sogar, beim berühmten persönlichen Fragebogen des französischen Schriftstellers Marcel Proust Antworten zu geben, die alles und nichts aussagten. Wo möchten Sie leben? »Da, wo ich jetzt lebe, fühle ich mich am wohlsten.« Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten? »Humor, Charme, Intelligenz.« Und bei einem Mann? »Humor, Charme, Intelligenz«. Ihre Lieblingstugend? »Fleiß«. Wer oder was hätten Sie gern sein mögen? »Ich mag ich sein!« Der einzige Sinn und Zweck dieser Kunstfigur, die die öffentliche Privatperson Kurz darstellen soll, ist, dass sich in ihr jede und jeder ein wenig wiederfinden soll. Und auch diese Kunstfigur wird bis ins letzte Detail von Kurz und seinem Team kontrolliert.

Dieses Buch ist ein Projekt, das Sebastian Kurz weder vorhersehen noch planen noch kontrollieren konnte. Es entstand im Laufe des Nationalratswahlkampfes 2017 mit seinem Wissen, aber ohne seine Unterstützung. Mehrere Anfragen um einen Gesprächstermin mit ihm blieben ohne Ergebnis. Allerdings stimmte Kurz schließlich zu, dass sein Büro Fragen zu seiner Person beantwortet.

Dieses Buch ist weder eine Jubelbiografie noch eine Abrechnung, sondern eine gründliche Rekonstruktion seiner bisherigen Laufbahn sowie ein politisches Porträt. Es nähert sich dem Phänomen Kurz entlang einer biografischen Achse von sechs Perspektiven. Sie lauten Macht, Familie, Freiheit, Leistung, Sicherheit und Veränderung.

Diese sechs Perspektiven – aufgezeichnet in sechs Kapiteln – ergeben eine Art persönliches, politisches Programm von Sebastian Kurz, und das ist kein Zufall. Kurz ist ein Politiker, der mehr aus sich heraus agiert, aus seinem persönlichen Empfinden und seiner – in Jahren vielleicht geringen, aber trotzdem intensiven und dichten – Lebenserfahrung, als dass er sich von Traditionen und Ideologien leiten lässt. Er ist ein Produkt seiner Generation, aufgewachsen im Allerlei der Post-Ära. Post-Demokratie, Post-Ideologie, Post-Populismus. Das Einzige, worauf sich Menschen seiner Prägung zu verlassen glauben können, ist ihr selbstbestimmtes und selbstoptimiertes Ich.

Das macht die Faszination Kurz aus. Und das macht ihn zu einem so wandlungsfähigen wie gleichzeitig unberechenbaren Politiker. Mehr als einmal hat er in seiner rasanten Karriere schon bewiesen, dass er das Genre wechseln und sich neu erfinden kann.

Aus Kurz dem I., dem frechen, bürgerlich-provokativen Jungpolitiker, den er in seiner Zeit als Chef der Jungen ÖVP, der Jugendorganisation seiner Partei, gab, wurde Kurz, der II. Ein ernsthaftes Regierungsmitglied, das das sensible Thema Integration souverän managte und endlich von einem Hetz-zu einem Sachthema machte.

Mit der großen Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten im Jahr 2015 kam die Wende. Aus Everybody’s Darling Kurz wurde Kurz, der III. Ein Prinz Eisenherz, der Sicherheitsminister, der sich zur Gallionsfigur der Anti-»Wir schaffen das«- und -»Willkommenskultur«-Bewegung aufschwang und früh vor der Überforderung der Aufnahmegesellschaft warnte. Ausländer, auch jene, die schon lange im Land lebten und die er noch zwei Jahre zuvor zu Leistungsträgern der Gesellschaft machen wollte, waren für ihn jetzt ein Problem. Er sah hinter ihnen die islamistische Gefahr oder eine Gefahr für das österreichische Sozialsystem.

Kaum hatte er im Jahr 2017 handstreichartig die ÖVP übernommen, tauchte Kurz der IV. auf. Eine messiasartige Erscheinung, die sich mit dem Slogan »Zeit für Neues« als Führer einer neokonservativen Volksbewegung für Veränderung im Land inszenierte. Ganz so, als käme er von ganz woanders, von außerhalb des politischen Systems. Kurz der V., der Regierungschef und angehende Kanzler, zeichnete sich bei seinem ersten Auftritt im neuen Parlament am 9. November 2017 ab. Ausnahmsweise mit Krawatte, sprach der ÖVP-Chef, der im Außenministerium mit seinen Diplomaten per Du ist, die versammelten Abgeordneten betont locker abwechselnd mit »Euch« und »Ihnen« an und bemühte sich um einen unprätentiösen, kameradschaftlichen Ton.

Kurz versteht es meisterhaft, sich und seine jeweils aktuelle, sinnstiftende Erzählung zu inszenieren und zu verkaufen. Er ist ein blendender Kommunikator und Stratege, ein Meister des Effekts. Die Mühen der Umsetzung überließ er, zumindest in der Vergangenheit, lieber anderen. Seine Lieblingsrolle ist die des Coaches und Motivators, nicht des Umsetzers. Wenn es ins Detail geht oder kompliziert wird, ist er schon wieder dahin, beim nächsten großen Wurf. Alles, was ihm und seinem bis zuletzt makellosen Image schaden würde, muss weggedrückt oder weitergereicht werden.

Wiewohl sich Kurz als Nicht-Politiker der Öffentlichkeit andient, ist er das typische Produkt parteiischer, österreichischer Elitenbildung. Er durchlief fast alle Förderprogramme, die die ÖVP ihrem Nachwuchs anzubieten hat, und bastelte früh an seinem Karrierenetzwerk. Dabei lernte er auch, zu täuschen, zu tarnen und durchzustechen. Der Machtpolitiker Kurz ist einer, den man sich als Gegner nicht aussuchen will.

Für dieses Buch gaben Dutzende Weggefährten, Freunde, Kritiker, politische Mitbewerber und Experten Auskunft. Manche sagten zuerst zu, dann wieder ab, nicht wenige von ihnen baten um Anonymität. Als diese Zeilen Ende November 2017 geschrieben wurden, war Kurz noch im Höhenflug. Kritik an ihm hätte wie Wehleidigkeit oder Neid des Verlierers ausgesehen. Der Teflon-Effekt, der in unbeschadet durch das Jahr 2017 getragen hat, wirkt immer noch nach. Und wer will es sich schon mit dem zukünftigen Machthaber verscherzen, der noch dazu bekannt dafür ist, von ihm unautorisierte Wortmeldungen so gar nicht leiden zu können?

Das ist das Berückende an Sebastian Kurz und dem Thema Kontrolle. Sie verselbständigt sich, alles richtet sich wie von selbst nach ihm aus. In der Soziologie wird diese Herrschaft des individualisierten, selbstoptimierten, kontrollierten Ichs als das prägende Momentum des Neoliberalismus beschrieben. Es funktioniert so klaglos, weil jeder Einzelne mithilft, es zu erhalten. Als Dank gibt es größtmögliche individuelle Freiheit. Der Preis ist die Entsolidarisierung.

Was wird Sebastian Kurz als Kanzler für Österreich bedeuten? Eine endgültige Abkehr von der sozialpartnerschaftlichen, wohlfahrtsstaatlichen, konsensorientieren Zweiten Republik? Eine Wiederaufnahme der politischen Projekte aus der Zeit der Wendejahre unter dem konservativen Kanzler Wolfgang Schüssel, der mit der FPÖ fünf Jahre lang regierte? Wird das von ihm geführte Österreich in Europa näher an die europaskeptischen Visegrád-Staaten rücken als an die an mehr europäischer Integration interessierten Kerneuropa-Länder?

Kurz war in den vergangenen Monaten Projektionsfläche für viele Wünsche und Hoffnungen. Er hat den diffusen »es muss sich etwas ändern«- und »so kann es nicht weitergehen«-Gefühlen in der Bevölkerung ein juveniles, nahezu geschlechtslos schönes Gesicht gegeben.

Kurz fasziniert, Kurz polarisiert, Kurz begeistert. Nur in einem sind sich Kritiker wie Anhänger einig: Die Erwartungen an ihn sind derart hoch, sie können gar nicht erfüllt werden.

Kapitel 1

Macht

Der Kursalon Hübner im Wiener Stadtpark ist eine Institution. Prächtig thront er im Stil der italienischen Renaissance neben der Ringstraße, angelehnt an die Vorbilder aus der Hand des berühmten italienischen Baumeisters Andrea Palladio. Hier feiert Wiens bessere Gesellschaft ihre Hochzeiten und Geburtstage, hier werden Touristenbusse zu klassischen Konzerten herangekarrt, und hier, in diesem ein wenig altmodischen, fast schon monarchistischen Ambiente feierte die ÖVP am 15. Oktober 2017 ihren Wahlsieger Sebastian Kurz.

Kurz, das »Wunderkind der österreichischen Politik« (Washington Post), die politische Inkarnation Mozarts (»Polit-Mozart« nannte ihn die Bild-Zeitung), der Mann, der den Siegeszug der Freiheitlichen bremste, der neue Hoffnungsträger konservativer Parteien. So überschwänglich und schmeichelhaft kommentierten internationale Medien den Wahlsieg. Tatsächlich war es Kurz gelungen, die FPÖ auf den dritten Platz zu verweisen, mit einem Wahlkampf, der ein Start-ZielSieg war. Nahezu fehlerfrei, durchkomponiert, nach amerikanischem Vorbild als Bürgerbewegung inszeniert. Erst nach und nach sickerte durch, was der Preis dieses Sieges für das Land sein könnte: ein Ruck nach ganz rechts. »Österreich biegt nach rechts ab«, titelte die Hamburger Morgenpost. Denn Kurz hatte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache mit dessen eigenen Waffen geschlagen. Er hatte sich als freundlicherer Rechtspopulist positioniert, die ausländerfeindliche Stimmung im Land geschickt aufgegriffen und damit viele FPÖ-Wähler, aber auch solche, die beim letzten Mal Protestparteien wie das Team Stronach oder die FPÖ-Abspaltung BZÖ gewählt hatten, für sich gewonnen. Kurz, ein Strache light?

Diesen Vorwurf wollte am Wahlabend niemand hören, im pompösen Hauptsaal des Kursalons Hübner. Es ging vor allem ums Feiern des Wahlsiegers und seiner »neuen« Partei. Es war eine Fête turquoise, ein türkises Fest. Nicht nur die Jubelschilder waren in der neuen Parteifarbe gehalten. Auch die Wahlkampfhelfer und Wahlkampfhelferinnen trugen ihre türkisen Kampagnen-Shirts. Manche hatten sich türkise Sonnenbrillen ins Haar gesteckt. Eine Dame hatte sogar türkisen Nagellack aufgetragen, wie der Conférencier des Abends, die Stimme der Kurz-Bewegung, Peter L. Eppinger, Österreichern als früherer Morgenmoderator des Radiosenders Ö3 wohlvertraut, mit der berufstypischen Mischung aus Heiterkeit und Spott von der Bühne herab betonte. »Applaus für türkisen Nagellack! Wie originell! Wir alle warten auf ihn, auf Sebastian Kurz, unseren Sieger, er ist schon vor dem Kursalon, sein Wahlkampftourbus ist eben angekommen, in wenigen Minuten wird er hier bei uns sein, um mit uns zu feiern …« Eppinger versteht es, Wartezeiten zu überbrücken. Es war kurz nach zehn Uhr abends, die Menge harrte seit drei Stunden ihres Helden.

So jung und beseelt wie an diesem Abend war die ÖVP schon lange nicht mehr gewesen. Schulter an Schulter drängten sich die jungen Wahlkampfhelfer von Kurz aneinander, jeder von ihnen optisch angelehnt an ihr Vorbild mit gepflegter Haarpracht, weißen, krawattenlosen Hemden und schmalen Anzügen in allen Schattierungen zwischen Granitgrau und Nachtblau. Der Gruß des Abends unter den Herren war nicht der förmliche Handschlag, sondern das kraftvolle Einschlagen, ganz so, wie es Sportler machen, die »Gimme Five« sagen – und ein beherztes Schulterklopfen.

Der Triumphzug wurde zum Albtraum für Kurz’ Sicherheitsleute. Begleitet von seiner Freundin Susanne, musste sich der Wahlsieger durch die Massen kämpfen. Millimeter um Millimeter rückte er vor. Hände wollten geschüttelt, Selfies gemacht, Wangen geküsst werden. Der Pulk an Kameraleuten schob sich mit ihm mit. Später würden deutsche Kollegen im Pressezentrum darüber rätseln, wie so etwas in einer ansonsten perfekt inszenierten Kampagne hat passieren können. Undenkbar wäre es in Deutschland, einen Kandidaten so zu gefährden.

Falls Kurz die Situation gestresst hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Wie immer, wenn der Druck steigt. »Genau in besonders stressigen Momenten, in denen andere im Büro nervös, laut oder gar hysterisch werden, wird der Chef immer ganz besonders ruhig«, erzählt einer seiner Mitarbeiter. Nur seine Freundin wirkt angespannt. Kurz eilte auf die Bühne und bedankte sich zuerst einmal. Bei seinem Team, bei den Wahlkampfhelfern, bei seinen Eltern, seiner Freundin. Wer eine programmatische Ansage erwartet hatte, wurde enttäuscht. Nein, Kurz hielt keine spontane Rede, wie und mit wem er nun Österreich verändern würde. Kurz sprach nur davon, dass das ein Tag des Dankes, des Feierns und auch der Demut sei. Nur kein Übermut, nur keine Euphorie, warnte er.

Dafür, dass das sein Abend war, der Moment, dem er in den vergangenen Wochen des Wahlkampfes alles untergeordnet hatte, wirkte Kurz noch nüchterner und kontrollierter als sonst. Wissend, dass der Wahlsieg nur die erste Etappe einer sehr viel längeren Reise ist, und längst nicht die schwierigste. Hohe Erwartungen lasten auf ihm.

Erst zwei Mal in der Geschichte der Zweiten Republik hatte sich die ÖVP aus der Umarmung der Großen Koalition lösen können. Regierungen zwischen den Sozialdemokraten und den Christlich-Sozialen stellten den politischen Normalfall im Nachkriegs-Österreich dar. Die Große Koalition war berechenbar, pragmatisch, aber bei keiner der beiden Parteien wirklich beliebt. In den ersten Jahrzehnten schweißte die mahnende Erinnerung an den Bürgerkrieg zwischen den beiden Weltkriegen die einst verfeindeten Großparteien zusammen. Nie mehr wieder dürften einander Linke und Rechte mit Waffen in der Hand auf der Straße gegenüberstehen, deswegen sei die erzwungene Kooperation notwendig und Staatsräson. In den 1960er-Jahren kam der erste Bruch. ÖVP-Chef Josef Klaus konnte von 1966 bis 1970 eine Alleinregierung bilden, in der Erinnerung der Altvorderen der Partei eine Zeit des sozialen Aufbruchs und der bürgerlichen Selbstfindung. Aber Österreichs sozialdemokratischer Kanzler Bruno Kreisky durchkreuzte im Jahr 1970 Klaus’ Erfolgsprojekt, wagte eine von den Freiheitlichen gestützte Minderheitsregierung, ging ein Jahr später in Neuwahlen und erreichte die absolute Mehrheit. Diese konnte er bis ins Jahr 1983 halten.

Aus Sicht der Linken waren das Österreichs bislang fruchtbarsten Jahre. Aus Sicht der Konservativen die Furchtbarsten. Kreiskys Sozialreformen, die Bildungsreformen, die die Hochschule für Arbeiter öffneten, und die staatliche, von John Keynes inspirierte Wirtschaftspolitik sind unter Konservativen bis heute als Ära des Schuldenmachens und der ideologischen Bevormundung abgespeichert. Trotzdem musste die ÖVP ab 1986 bis 1999 als Juniorpartner der Sozialdemokraten in der Großen Koalition ausharren.

Erst Wolfgang Schüssel gelang es, ein zweites Mal aus der Großen Koalitions-Umklammerung auszubrechen. Obwohl der ÖVP-Chef bei der Nationalratswahl 1999 um wenige hundert Stimmen knapp hinter der FPÖ auf dem dritten Platz landete, ließ er sich von dieser zum Kanzler wählen. Der »Wendekanzler« war geboren, und unter der »Wende« verstehen die Bürgerlichen bis heute ihre späte Antwort auf die roten Kreiskyjahre. Privatisierung, Eigenverantwortung, Neoliberalismus statt Staatsinterventionismus, dazu eine klare Abkehr von Sozialpartnerschaft und Wohlfahrtsstaat. Doch das Wende-Experiment war nach sechs Jahren schon wieder vorbei. Ein schwerer Schlag für die gerade erst wieder selbstbewusst gewordene ÖVP. Elf quälende Jahre und vier gescheiterte ÖVP-Parteichefs – Wilhelm Molterer, Josef Pröll, Michael Spindelegger und Reinhold Mitterlehner – brauchte es, um das Wahlergebnis aus dem Jahr 2006 endlich zu korrigieren. Das ist die lange Vorgeschichte, die nötig ist, um zu verstehen, welche Bedeutung Kurz’ Sieg am 15. Oktober 2017 für Österreichs Bürgerliche hatte. Das Gedächtnis der ÖVP ist eben lang. Sie hat viele Jahre darauf hoffen müssen, wieder den Kanzler stellen zu können. Aber das alleine konnte erst der Anfang sein. Es ging nun darum, »zu vollenden, was wir unter Schwarz-Blau in den Nullerjahren nicht mehr geschafft haben«, formulierte es einer der Altvorderen am Wahlabend ein wenig wehmütig. Mit seiner furiosen Parteiübernahme und seinem perfekt inszenierten Wahlkampf hatte Kurz so gesehen also sein Gesellenstück geliefert. Das Meisterstück sollte sein, die Wende fortzuführen und zu krönen.

Wer verstehen will, wie Kurz als Machtpolitiker funktioniert, sollte einen genaueren Blick auf sein Gesellenstück werfen: jene fünf Monate, die zwischen seinem Antritt als 17. Parteiobmann der ÖVP und dem siegreichen Wahlabend liegen. Es waren fünf Monate, die in einer Art und Weise durchkomponiert waren, dass es im Rückblick fast schon beunruhigend wirkt. Vor allem, da Kurz die Machtübernahme der Volkspartei und den daraus resultierenden Wahlkampf tatsächlich mit allen Details lange zuvor minutiös geplant hatte. Zum einen aus Vorsicht, um vorbereitet zu sein, falls SPÖ-Chef Christian Kern vorzeitige Neuwahlen ausrufen sollte. Zum anderen aus reiner Gewohnheit. Voraussicht und Kontrolle gehen schließlich im Team Kurz über alles.

Die ÖVP ist eine notorisch uneinige und widersprüchliche »Matrix«-Organisation. So nennt man in der Wirtschaftswelt Unternehmen, die nicht nur eine Führungsebene und Befehlshierarchie haben, sondern ein ganzes Geflecht davon. Kurz färbte die in Ländergruppen und Bünden zersplitterte Partei in eine einzige türkise Bürgerbewegung um, mit ihm als strahlendem Anführer. Kein einziger Zwischenton, kein Widerspruch, keine parteiinterne Streiterei trübte das Bild. Geschickt setzte sich Kurz als Mann der starken Hand in Szene, der seine Partei gebändigt und damit Managerqualitäten gezeigt hatte. Seht her, ich kann diese bunte und zänkische Truppe führen, also kann ich auch das Land regieren, lautete die Botschaft.

Was Kurz nicht dazuerzählte, war, dass der ÖVP auch gar nichts anderes übriggeblieben war, als sich hinter ihm zu versammeln. Was er als Probe seines politischen Könnens und seiner Macht darstellt, war in Wahrheit purer Pragmatismus und überlebensnotwendig für die ÖVP. Es war ihre letzte Chance. Ohne Kurz wäre sie spätestens bei regulären Wahlen im Jahr 2018 unter die psychologisch wichtige Zwanzig-Prozent-Grenze und damit in die politische Belanglosigkeit gefallen, nur mehr ein Schatten der einstigen, stolzen Volkspartei.

Wie immer, wenn Kurz entscheidende Momente zu meistern hat, überließ er nichts dem Zufall. So war es auch am 14. Mai 2017, einem frischen Frühsommertag. Der entscheidende ÖVP-Parteivorstand war in der Parteiakademie unweit von Kurz’ Wohnung in Wien-Meidling zusammengetreten, um Kurz zum neuen Obmann zu wählen. Das Medieninteresse war enorm, aber die Journalistinnen und Journalisten mussten vor der Einfahrt in den Park des Springer-Schlössls, des Sitzes der ÖVP-Parteiakademie, warten. Kurz kam zu Fuß, begleitet von seinen beiden Vertrauten, Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer und Elisabeth Köstinger, damals noch EU-Abgeordnete. Er trug sein Standard-Politikerkostüm. Dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, ohne Krawatte, makellos mattierter Teint. Als er kurz vor 16 Uhr losmarschierte, filmte sein persönlicher Kameramann seine Schritte von hinten. Sein Leibfotograf lief voraus und fing die Szene von vorn ein. Kurzer Halt, Klick, danke, jetzt bitte weitergehen.

Mit diesen Bildern sollte Kurz später auf all seinen Kanälen seine Version der Ereignisse der vergangenen Woche erzählen. Es war die Geschichte einer Partei, die sich einem neuen, jungen, unverbrauchten Messias dankbar vor die Füße wirft, erlöst von ihren alten Lasten, den verstaubten Strukturen aus Bünden und Ländern, befreit von den Kompromissen in der ungeliebten Großen Koalition. Sie sollte dann im Spätsommer in der größten und pompösen Wahlkampfschlussveranstaltung, die Österreich je gesehen hatte, ihren Höhepunkt finden. 10 000 Anhänger versammelte Kurz Ende September in der Wiener Stadthalle zu einer Art politischen Massenmesse, die in ihrer Inszenierung an US-Wahlkampfveranstaltungen wie zuletzt jene von Donald Trump erinnert.