Der Helgoländer Makel - Franziska Fairytale - E-Book

Der Helgoländer Makel E-Book

Franziska Fairytale

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Beschreibung

Leonie ist von Geburt an mit einem Feuermal auf der Stirn gezeichnet. Für ihre Familie ist sie ein unterwünschtes Kind. Auch in der Liebe hat sie kein Glück. Ihr Ehemann bringt sie direkt nach der Hochzeitsnacht an einen ihr unbekannten Ort und setzt sie dort einfach ohne Geld aus. Es bleibt ihr nur das, was sie Leib trägt. Ein Kuraufenthalt bringt sie über Büsum nach Helgoland, wo ihr eine Stelle als Kreuzfahrttesterin angeboten wird. Ohne es zu wissen, verliebt sie sich in ihren Chef.

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Für Ragnhild,

die mich beim Teetrinken auf diese Geschichte brachte

Sie war gezeichnet, schon seit ihrer Geburt. Leonies Stirn war von einem riesigen Feuermal verunstaltet. Nein – eigentlich waren es zwei nur durch einen schmalen Streifen getrennte Flecken: Der linke war etwas größer als der rechte Fleck.

„Das ist die Strafe dafür, dass deine Mutter einen guten Mann betrogen hat“, sagte Großmutter Elsa immer wieder, wenn Leonie sich über ihr Aussehen beklagte.

Leonie verstand nicht, warum sie für die Sünden ihrer Mutter büßen musste, die diese vor Leonies Geburt begangen hatte. Sie war schon genug gestraft damit, dass sie ihre Eltern nicht kannte.

Außerdem musste Leonie bei ihrer Großmutter aufwachsen. Sie war eine harte Frau, die nie ein gutes Wort für das Kind übrighatte. Wahrscheinlich nahm sie der Enkelin ein Leben lang übel, dass bei ihrer Geburt die Verfehlungen ihrer Tochter aufgeflogen waren. Dadurch hatte Elsa nicht wie vorgesehen ein Leben in Saus und Braus, sondern musste von der kargen Rente leben, die ihr Mann für sie erwirtschaftet hatte.

Der verstorbene Großvater war ein Säufer gewesen, hatte fast alles Geld in die Wirtschaft getragen. Dazu war er lange Zeit arbeitslos, weil er immer wieder wegen seines Alkoholkonsums die Arbeit verlor.

Sein Rentenanspruch war dadurch gering ausgefallen. Die Witwenrente für Elsa war entsprechend karg, da sie nie selbst gearbeitet hatte. Angebote für gute Arbeitsstellen hatte Elsa oft erhalten, aber immer wieder mit den Worten abgelehnt: „Eine verheiratete Frau hat es nicht nötig, arbeiten zu gehen. Ihr Ehemann muss für sie sorgen.“

Da Elsa sich nie mit Gelddingen und insbesondere nicht mit dem Rentensystem auseinandergesetzt hatte, erlebte sie eine böse Überraschung, als ihr Mann relativ jung starb und sie ihren ersten Rentenbescheid in der Hand hielt.

Glücklicherweise hatte die Tochter Andrea gerade ihre Ausbildung abgeschlossen, als der Vater starb. Sie wohnte noch bei den Eltern und Elsa sorgte dafür, dass sie reichlich Kostgeld zuhause abgab.

Die Männerbekanntschaften ihrer Tochter beäugte Elsa argwöhnisch. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter wie sie an einen Säufer geriet. Außerdem sollte der zukünftige Schwiegersohn gutes Geld verdienen, um eine Familie angemessen ernähren zu können. Andrea sollte schließlich nicht wie eine arme Frau arbeiten müssen, sondern sich nach der Hochzeit nur noch dem Haushalt und den Kindern widmen, wie es sich für eine anständige Frau gehörte. Außerdem hoffte Elsa, von ihrem Schwiegersohn auch hinreichend versorgt zu werden.

Ihr Plan schien aufzugehen. Elsa schaffte es, alle Verehrer ihrer Tochter, die ihr nicht genehm waren, zu vergraulen. Übrig blieb nur noch Robert, der einzige Sohn eines Unternehmers. Er war deutlich älter als Andrea, aber das war in Elsas Augen nur von Vorteil. So hatte er sich schon die Hörner abgestoßen und wusste eine junge, unerfahrene Frau zu lenken.

Andrea war genau das, was Robert suchte: Eine gutaussehende, fleißige, junge Frau, die ihm den Haushalt führte und seine Erben gebar.

Die Hochzeit war ein rauschendes Fest. Da Andrea Halbwaise ohne Vater war, richteten die Eltern des Bräutigams die Hochzeit aus.

Elsa konnte zwar nicht, wie sie es sich gewünscht hatte, zusammen mit ihrer Tochter umziehen, doch Andrea steckte ihr regelmäßig ausreichend Geld zu. Sie erhielt neben dem Haushaltsgelt ein großzügiges Taschengeld von ihrem Ehemann, welches sie zu einem großen Teil an ihre Mutter weitergab.

Zwei Monate nach der Hochzeit war Andrea schwanger und auch Elsa war im siebten Himmel. Sie würde Großmutter werden.

Das Glück war nicht von Dauer: im fünften Monat erlitt Andrea eine Fehlgeburt. Sie wartete die vom Arzt verordnete Schonzeit ab, dann versuchte sie es wieder. Doch sie wurde einfach nicht schwanger. In den nächsten Monaten nicht und auch nach über einem Jahr noch nicht.

Andrea wurde immer verzweifelter. Auch Elsa wurde nervös, denn sie merkte, wie unzufrieden der Schwiegersohn mit ihrer Tochter war. In der heutigen Zeit konnte man sich doch so leicht scheiden lassen. Da musste keine Untreue nachgewiesen werden, wenn ein Ehemann seine Frau loswerden wollte, weil er zwischenzeitlich etwas Besseres gefunden hatte. Er konnte einfach die Scheidung wegen zerrütteter Ehe einreichen.

Endlich kam bei einem Arztbesuch die erlösende Nachricht: „Sie sind schwanger“, sagte der Arzt zu Andrea.

Elsa unterstützte ihre Tochter im Haushalt nach Kräften, damit ihr Mann gut versorgt war und sie sich nicht zu sehr anstrengen musste.

Die erste Enttäuschung war, dass das Kind ein Mädchen war. Robert zeigte seinen Unmut deutlich.

Außerdem hatte das Kind auf der Stirn ein großes, feuerrotes Mal. Die Ärzte sagten zwar, dass dies vermutlich eine Folge der schweren Geburt sein könne und mit hoher Wahrscheinlichkeit einige Wochen nach der Geburt wieder verschwinden würde. Aber Robert glaubte den Ärzten nicht.

Als nächstes eröffneten die Ärzte Andrea, dass sie wegen der schweren Geburt keine weiteren Kinder mehr bekommen könnte. Es war ein schwerer Schlag für alle.

Elsa und Andrea hatten sich gerade mit der Situation abgefunden, als es drei Monate nach Leonies Geburt zum großen Knall kam: Robert zweifelte die Vaterschaft an. Er fragte sich, wie es geschehen könnte, dass ein Kind, dessen Eltern beide blaue Augen und blonde Haare hatten, dunkle Augen und dunkle Haare habe. Andrea brach in Tränen aus, schwor, dass sie Robert immer eine treue Ehefrau gewesen sei.

Doch Robert bestand auf einem Vaterschaftstest. Der brachte die Wahrheit ans Licht: Robert konnte definitiv nicht Leonies Vater sein. Er reagierte sofort, warf Frau und Kind aus dem Haus und reichte die Scheidung ein. Andrea und Leonie zogen erst einmal in Elsas Wohnung ein. Es sei nur ein Übergangszustand, versicherte Andrea ihrer Mutter, doch sie glaubte nicht daran.

Als Elsa und das Jugendamt Andrea aufforderten, den Namen des tatsächlichen Vaters zu nennen, gestand sie unter Tränen, dass sie ihn nicht kannte. Kurz nach ihrer Fehlgeburt hatte sie herausbekommen, dass Robert eine Geliebte hatte, die ihn regelmäßig auf Geschäftsreisen begleitete. Die Frau konnte nach einer Abtreibung in jungen Jahren keine Kinder mehr bekommen. Roberts Vater würde diese Frau darüber hinaus nicht als Schwiegertochter akzeptieren, da sie bereits einmal geschieden war und ihre Vorfahren aus dem fahrenden Volk stammten.

So hatte Robert Andrea nur geheiratet, um eine Frau zu haben, die seine Erben für das Unternehmen zur Welt brachte und den Haushalt versorgte, während er sich mit seiner Geliebten vergnügte. Sex mit der prüden Andrea sei ihm zu langweilig, sagte er.

An einem Tag hatte Andrea weinend im Park gesessen, nachdem Robert sich für eine Woche auf Geschäftsreise verabschiedete. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass seine Geliebte ihn begleiten würde. Außerdem mahnte Robert sie, sich bei seiner Rückkehr anständig für ihn anzuziehen, um seine Lust zu wecken, weil er bei seiner Rückkehr endlich seinen Sohn zeugen wolle.

Plötzlich hatte ein Mann Andrea angesprochen, gefragt, warum sie weinen würde. Ohne nachzudenken hatte sie ihm ihr Herz ausgeschüttet. Er hatte sie in den Arm genommen, ihr zugehört. Weil es zu regnen begann, hatte er sie mit auf sein Hotelzimmer genommen, wo sie sich dann geliebt hatten.

Als Robert von seiner Reise zurückkam, hatte er vier Wochen lang jeden Abend die Erfüllung der ehelichen Pflichten von Andrea eingefordert. Nachdem feststand, dass Andrea endlich wieder schwanger war, hatte Robert sie nicht mehr angerührt. Er war wieder regelmäßig zu seiner Geliebten gegangen, während Andrea hoffte, dass ihr Seitensprung ohne Folgen geblieben war, dass das Kind von Robert stammte und ein Sohn sein würde.

Und nun war das Schlimmste geschehen. Elsa war wütend auf ihre Tochter, beschimpfte sie als Flittchen, das ihrer dreier Zukunft ruiniert habe.

Andrea hoffte noch immer, dass Robert zu ihr zurückkehren würde, doch sie hoffte vergebens. Längst hatte er sich nach einer anderen Mutter für seine Erben umgeschaut.

Am Tag als die Scheidung ausgesprochen wurde nahm Andrea sich das Leben. Das Jugendamt ließ das Kind bei der Großmutter, zahlte für die Betreuung gut zusätzlich zur Waisenrente.

Elsa verbrauchte das meiste Geld für sich, achtete aber darauf, dass man ihr keine Vernachlässigung des Kindes vorwerfen konnte. Ihr erstes neues Kleidungsstück bekam Leonie im Alter von dreizehn Jahren, weil sie sich weigerte, nur die unmodischen Sachen aus der Altkleidersammlung aufzutragen, und damit drohte, die Großmutter beim Jugendamt zu verpetzen.

Das Feuermal war entgegen der Vorhersagen der Ärzte nicht kurz nach der Geburt verschwunden, sondern hatte sich umso deutlicher von den anderen Hautpartien abgegrenzt. Die anderen Kinder in der Schule hänselten Leonie deswegen. Auch die Lehrer behandelten sie nicht wie ein normales Kind, sondern starrten immer wieder wie gebannt auf ihre Stirn. Leonie versuchte, das Feuermal hinter einem Pony zu verbergen, doch ihre Haare waren störrisch, sprangen durch Wirbel immer wieder beiseite und offenbarten ihren Makel.

Als sie älter wurde versuchte Leonie das Mal mit Schminke zu verbergen. Wenn ihre Großmutter es bemerkte, zwang sie Leonie, sich wieder abzuschminken. Dazu beschimpfte sie Leonie jedes Mal als liederliches Gör, dass einmal in einem Bordell enden würde.

***

Die Schulzeit neigte sich dem Ende zu und Leonie musste sich für einen Beruf entscheiden. Sie war verzweifelt. Gern wäre sie viel gereist, wollte in einem Reisebüro oder als Flugbegleiterin arbeiten. Sie bewarb sich, wurde zum Verstellungsgespräch eingeladen. Doch sie schaffte es nicht, ihr Feuermal ausreichend zu verstecken. Einen Vertrag bekam sich nicht.

Dann suchte sie nach Berufen mit möglichst wenig Kontakt zu anderen Menschen. Sie wurde Buchhalterin, beschäftigte sich mehr mit Zahlen, nicht mit Menschen. Leonie war einsam, wünschte sich Kontakt zu Gleichaltrigen. Doch die Großmutter ließ sie nicht aus den Augen, überwachte Leonies Kontostand und gab ihr nur ein mageres Taschengeld.

Kurz nachdem Leonie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und vom Betrieb übernommen worden war, starb die Großmutter. Dem Betrieb ging es nicht besonders gut, das konnte Leonie erkennen. So beschloss sie, sich in eine andere Stadt zu bewerben, wo sie niemand kannte und von ihrem Feuermal wusste.

Es funktionierte: Leonie bekam einen Arbeitsplatz in Düsseldorf. Das Gehalt war deutlich höher als in ihrem Heimatort im Ruhrgebiet. So konnte sie sich schnell ein finanzielles Polster schaffen.

Aber Leonie war noch immer einsam, wünschte sich einen Mann, der ihr Leben mit ihr teilte. Außerdem wollte sie gern Kinder haben. Sie war zu schüchtern, um allein auszugehen. Deshalb meldete sie sich bei einer Partnerbörse im Internet an.

Es dauerte lange, bis sie das erste Treffen mit einem realen Mann hatte. Aber dann landete sie einen Glückstreffer: Wolfgang war ihr im Netz sofort sympathisch. Er war ein ernster, bodenständiger Mensch, kein Luftikus. Außerdem teilte er ihre Hobbies. Leonie vertraute ihm schnell, traf sich mit ihm. Trotz allem wagte sie nicht, ihm von dem Feuermal zu erzählen, schminkte es bei jedem Treffen sorgfältig über.

Nach drei Monaten machte Wolfgang ihr einen Heiratsantrag. Leonie war im siebten Himmel. Beide wohnten sie in sehr kleinen Wohnungen. So beschlossen sie, direkt nach der Hochzeit in eine gemeinsame größere Wohnung zu ziehen. Schnell wurden sie fündig, mieten eine Wohnung, die beiden gefiel. Bis zu Leonies Arbeitsplatz war es recht weit, aber sie wollte nach der Hochzeit ohnehin nicht mehr arbeiten. Sie wollte sich lieber nur noch für ihren Mann und die Kinder da sein, die hoffentlich bald kommen würden.

Wolfgang kümmerte sich um die Beschaffung der Möbel. Da Leonie in einem kleinen Zimmer mit uralten Möbeln wohnte, die sie von Großmutter Elsa nach deren Tod übernommen hatte, fand sie es angemessen, Wolfgang reichlich Geld für schöne Möbel zu geben. Leonie sah sich die Einrichtung vor der Hochzeit nicht an. Sie wollte als Braut über die Schwelle in das Heim ihres Mannes getragen werden und sich am nächsten Morgen von der Einrichtung überraschen lassen.

Leonie kündigte ihr Zimmer und ihre Arbeitsstelle zum letzten Märztag, zog für die letzte Woche vor der Hochzeit, die am siebten April stattfinden sollte, in ein Hotel. Die Möbel brachte sie alle auf den Sperrmüll. Andere Dinge hatte sich nicht, ihre Zeugnisse hinterlegte sie in einem Bankschließfach. So war die Kleidung, die in einen Koffer passte, neben dem Geld auf ihrem Bankkonto, dass durch die Wohnungseinrichtung schon deutlich reduziert war, das einzige, was sie mit in ihre Ehe und die neue Wohnung brachte.

Die Hochzeit fand in einem recht kleinen Kreis statt. Leonie hatte weder Verwandte noch Freunde und auch Wolfgangs Eltern waren bereits gestorben. So feierten sie nach der standesamtlichen Trauung mit einigen Freunden von Wolfgang, gingen erst in einem einfachen Restaurant essen und tanzten dann noch in einer Bar.

Als sie in ihrer ehelichen Wohnung ankamen, um die Hochzeitsnacht zu zelebrieren, war Leonie verschwitzt und beschwipst. „Lass mich noch schnell duschen, bevor wir ins Bett gehen“, sagte sie zu Wolfgang und war schon im Badezimmer verschwunden. Sie schminkte sich ab, duschte ausgiebig und zog dann das Nachthemd über, dass sie sich extra für die Hochzeitsnacht gekauft hatte und das eigentlich nur ein Hauch von Nichts war.

Beschwipst, wie sie war, bemerkte sie nicht, dass Wolfgang das Feuermal auf ihrer Stirn entsetzt betrachtete. Sie legte sich zu ihm ins Bett und wartete aufgeregt darauf, dass er sie zu seiner Frau machen würde. Doch nichts geschah …

„Ich bin zu betrunken“, murmelte er. „Ich will dir eine schöne Nacht bereiten. Lass uns daher bis morgen warten, damit ich vorher meinen Rausch ausgeschlafen habe.“ Leonie war einerseits enttäuscht, freute sich aber andererseits über seine Rücksichtnahme. Sie würden ja noch viele gemeinsame Nächte haben, sagte sie sich beim Einschlafen.

***

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war Wolfgang schon verschwunden. Leonie zog sich in Ruhe an, wanderte dann durch die Wohnung. Sie war sehr spartanisch eingerichtet. Der Kühlschrank war übersichtlich gefüllt. Leonie, überlegte, ob sie den Tisch für ein gemeinsames Frühstück decken sollte, als Wolfgang die Wohnungstür öffnete. Er sah wütend aus.

„Du hast mich betrogen. Ich werde die Ehe annullieren lassen!“, schrie er sie an.

„Aber warum?“, stotterte Leonie. „Ich bin noch Jungfrau.“

„Das ist mir egal! Glaubst du, ich werde mich mit einer Frau zeigen, die mit so einem Teufelsmal gezeichnet ist? Du hättest mir davon vor der Hochzeit erzählen müssen. Ich will keine Kinder, die so ein Mal im Gesicht haben.“

Leonie brach in Tränen aus, doch Wolfgang beschimpfte sie weiter. Dann nahm er ihre Tasche, warf sie in den Flur. Er packte Leonie am Arm, schleifte sie zu seinem Auto und warf sie auf den Rücksitz. Leonie wollte aussteigen, doch sie konnte die Tür nicht öffnen. Er hatte die Kindersicherung aktiviert.

Er raste auf die Autobahn, fuhr in eine Gegend, die Leonie nicht kannte. Sie versuchte sich die Namen der Orte zu merken, doch sie schaffte es nicht. Nach Stunden hielt er in einem Industriegebiet an, warf sie aus seinem Auto.

„Wage nicht, dich noch einmal in meinem Leben zu zeigen!“, waren die letzten Worte, die Leonie von ihrem Ehemann hörte. Wie betäubt blieb sie lange Zeit stehen.

Irgendwann fing ihr Kopf wieder an zu arbeiten. Wo war sie und wohin sollte sie gehen? Leonie wusste es nicht, und es war ihr auch egal. Ihr Leben war zerstört. Sie hatte weder Geld, Arbeit noch ein Dach über dem Kopf. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Irgendwann fand sie sich auf Straßenbahnschienen wieder. Als eine Bahn näherkam, ließ sie sich einfach davor fallen.

***

Als sie erwachte, hatte Leonie Kopfschmerzen. Sie lag in einem Bett. Ein freundlicher älterer Mann lächelte sie an. War dies der Himmel?

„Schön, dass sie wieder bei uns sind“, sagte er. „Sie haben uns und vor allem dem Fahrer der Straßenbahn einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

Leonie versuchte, sich zu orientieren.

„Sie sind in einem Krankenhaus.“

Der Mann legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm.

„In Erfurt“, fügte er nach einiger Zeit hinzu.

„Wie komme ich hierher?“, flüsterte Leonie. Ihr Hals war trocken.

„Das würden wir gern von Ihnen wissen“, hörte sie eine andere Stimme. „Wie sie ins Krankenhaus gekommen sind, wissen wir. Aber wer sie sind und wie sie nach Erfurt gekommen sind, wüssten wir gern von Ihnen.“

Leonie schaute in Richtung der Stimme und erblickte einen jungen Polizisten. Dann schaute sie wieder auf den älteren Mann. Der blickte tadelnd in Richtung des Polizisten und sagte: „Als Arzt verordne ich der jungen Dame erstmal Ruhe. Wenn sie sprechen mag, darf sie gerne antworten. Wenn sie es nicht will, sollten Sie jetzt den Raum verlassen.“

Der Polizist versuchte zu widersprechen: „Aber ich muss doch herausbekommen, wer sie ist, nachdem sie ohne Papiere hier aufgefunden wurde. Und eine Vermisstenmeldung, bei der die Personenbeschreibung auf sie passt, habe wir auch nicht. Da sind wir sicher, denn die Frau hat ja eindeutige Merkmale zur Identifikation.“

Nun brach Leonie in Tränen aus.

„Raus!“, donnerte der Arzt den jungen Polizisten an. „Was lernt ihr eigentlich auf der Schule? Menschlichkeit wohl nicht.“

„Nein, warten Sie“, stammelte Leonie. „Er darf ruhig zuhören.“ Und so erzählte sie ihre Geschichte.

„Habe ich es richtig verstanden?“, fragte der Polizist nach, als Leonie schwieg. „Ihr Mann hat sie am Tag nach der Hochzeit ohne Geld und Papiere hier ausgesetzt, nur weil sie einen Fleck im Gesicht haben?“

Leonie konnte nichts sagen, nickte nur.

„Würden Sie Ihre Aussage später noch einmal wiederholen, wenn ein Kollege da ist, damit wir es zu Protokoll nehmen können?“, sagte er mit zitternder Stimme. Dann stockte er. „Es tut mir leid, dass ich Sie quälen muss, aber so sind nun einmal die Formalien.“

Leonie nickte. Dann verließ er den Raum. Der Arzt blieb bei ihr. „Körperlich sind sie bis auf ein paar Schrammen gesund“, sagte er nachdenklich zu Leonie. „Aber ihre Seele hat Schaden gelitten. Und das nicht erst durch das Verhalten Ihres Mannes, sondern schon viel früher.“

Leonie zuckte mit den Schultern.

Der Arzt sprach weiter: „Ich mache mir große Sorgen um sie. Sie sind so eine wunderschöne, junge Frau.“

Nun sah Leonie ihn wütend an.

„Tut mir leid, dass ich das so sage. Das ist nur unsere blöde Gesellschaft hier, die sie wegen ihres Feuermals mobbt. In anderen Kulturen wurden solche Auffälligkeiten als Glücksbringer gesehen. Und irgendwo habe ich diese Form schon einmal gesehen. Ich weiß nur nicht wo.“

Leonie antwortete wütend: „Ich soll also irgendeine Gegend mitten im Urwald finden, wo ich als völlig normal angesehen werde? Nein – ich mag nicht mehr. Ich will nicht mehr leben.“

„Bitte beruhigen Sie sich doch, so war es nicht gemeint“, sagte der Arzt. „Auch hier gibt es genug Menschen, die nicht auf das Aussehen, sondern auf den Menschen dahinter schauen. Solche haben Sie leider nur bisher noch nicht gefunden.“ Er hielt ihr einen Becher mit einer Flüssigkeit hin: „Bitte trinken Sie. Es ist ein leichtes Schlafmittel. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“

Als sie am nächsten Tag spät erwachte, saß der junge Polizist an ihrem Bett. Er wirkte etwas nervös.

Leonie sah ihn müde an: „Sie warten sicher darauf, dass ich meine Aussagen zu Protokoll gebe …“

„N… Nein“, stotterte er. „Ich habe heute meinen freien Tag. Eigentlich wollte ich Ihnen Blumen bringen, um mich für mein schlechtes Benehmen gestern zu entschuldigen. Ich hatte meine Schwester gefragt, damit die mir beim Aussuchen hilft. Aber sie meinte, dass ich Ihnen etwas mitbringen soll, das Sie länger nutzen können. Meine Schwester ist Schneiderin und hat mir eines ihrer Ausstellungsstücke mitgegeben.“

Er hielt ihr eine Tasche hin. Leonie nahm das Teil heraus und hielt vor Staunen die Luft an. Es war ein wunderschönes Kleid, dass offensichtlich genau ihre Größe hatte. Noch nie hatte sie etwas so Schönes besessen.

„Probieren Sie es doch mal an“, sagte der junge Polizist nun ganz aufgeregt.

„Aber ich bin doch total schmutzig und verschwitzt“, protestierte Leonie.

„Das kann man ändern“, hörte sie daraufhin die Stimme des Arztes. „Wir haben hier im Krankenhaus auch Duschen. Die Pfleger geben Ihnen auch gern ein frisches Handtuch.“

Leonie genoss das warme Wasser auf ihrer Haut, wusch auch ihre Haare gründlich. Sie hatte das Gefühl, den Schmutz abzuwaschen, den Wolfgang auf ihrem Körper hinterlassen hatte. Mangels sauberer Unterwäsche stieg sie nackt in ihr Kleid und ging wieder in das Zimmer zurück. Als sie es betrat, schauten Arzt und Polizist sie bewundernd an.

Bevor Leonie etwas sagen konnte, betrat eine Frau das Zimmer und die Männer entfernten sich schnell.

Die Frau ging auf Leonie zu, reichte ihr die Hand und stellte sich vor: „Ich bin Chandni Rani, Psychologin hier im Haus. Wenn Sie mögen, würde ich mich gern mit ihnen unterhalten.“

Leonie schaue sie an. Etwas war merkwürdig an der Frau und es war nicht der Name. Dann kam sie darauf. Die Frau hatte zwei Gesichter. Nein, das stimmte nicht. Die beiden Gesichtshälften waren grundverschieden. Die linke Hälfte war das Gesicht einer bildschönen Frau. Rechts hatte sie eine hässliche Maske aufgesetzt, so als bestünde diese Gesichtshälfte nur aus Narben. Was wollte die Frau damit ausdrücken?

Die Psychologin sagte nichts, beobachtete Leonie nur. „Wollen wir uns setzen?“, fragte sie nach einer Weile und wies auf den Tisch in Leonies Krankenzimmer.

Leonie nickte und ging zum Tisch.

„Sie warten sicher darauf, dass ich meine Maske abnehme“, sagte die Psychologin, als sie beide am Tisch saßen.

Leonie war unsicher, wusste nicht, was sie antworten sollte.

„Ich kann die Maske nicht abnehmen. Es ist mein Gesicht.“

Erschüttert sah Leonie die Frau an.