Der Herr der Unruhe - Ralf Isau - E-Book

Der Herr der Unruhe E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Ein italienisches Dorf am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Nico de Rossi ist Sohn eines Uhrmachers. Eines Tages muss er den Mord an seinem Vater mitansehen und flüchtet aus seiner Heimatstadt, um nicht ebenfalls ein Opfer des einflussreichen Manzini zu werden. Jahre später kehrt er, mit einer ungewöhnlichen Gabe ausgestattet, zurück, um Rache zu nehmen. Ein packender Fantasyroman über Vergeltung und Macht vor der historischen Kulisse des Zweiten Weltkriegs.-

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Ralf Isau

Der Herr der Unruhe

 

Saga

Der Herr der Unruhe

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2003 im Ehrenwirth Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2003, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390429

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Für Roman

Die Zeit verwandelt uns nicht,

sie entfaltet uns nur.

MAX FRISCH

1. KAPITEL Der sohn des Uhrmachers

Nettuno, 1932

 

Der tägliche Umgang mit Unruh, Anker, Spirale und all den anderen Teilen filigraner Uhrwerke formt gemeinhin eher feinsinnige Menschen von stiller, zurückhaltender Wesensart. Ein polterndes, aufbrausendes Gehabe ist ihnen fremd. Darauf baute Nico, als er sich auf dem Heimweg wappnete, seinem Vater gegenüberzutreten. Ein flaues Gefühl in der Magengrube spürte er trotzdem.

»Hast wohl die Hosen gestrichen voll«, sagte neben ihm Bruno, ein kräftig gebauter, beinahe schon dicker Junge mit glattem schwarzem Haar und weithin hörbarer Stimme. Während man Bruno durchaus zutraute, ein Scheunentor im Sturm einzurennen, ohne ernstere Blessuren davonzutragen, hätte dem schmächtigen Nico von derartigen Unternehmungen jeder sofort abgeraten. Zu seinem Leidwesen wurde der Sohn des Uhrmachermeisters, obwohl er den Kinderschuhen allmählich entwuchs, bisweilen immer noch für ein Mädchen gehalten. Nicht unerheblich trugen dazu seine großen braunen Augen bei, deren auffallend lange Wimpern das weibliche Geschlecht gemeinhin vor Neid erblassen ließen. Zum Steinerweichen konnte er daraus blicken, eine Wirkung, die er an Abenden wie diesem besonders zu schätzen wusste.

Die beiden Dreizehnjährigen polterten durch die enge Via Sacchi. Ihre Schatten wurden von einer schmutzigen Laterne, die hinter ihnen an einer Hauswand hing, gespenstisch in die Länge gezogen.

»Keine Ahnung, wovon du sprichst«, brummte Nico. Er hatte seinem besten Freund noch nie etwas vormachen können. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, blickte er finster auf das vom letzten Regenschauer noch feuchte Kopfsteinpflaster.

»Ich sage nur ein Wort: Sabbat. Du hast ihn gebrochen.«

»Und du hast mich dazu angestiftet.«

Bruno drückte die Brust heraus und hob abwehrend die Hände. »Ich bin Katholik und hab nicht den geringsten Schimmer, wie viele Schritte ihr am Ruhetag laufen dürft, bevor aus einem Spaziergang eine Reise wird.« Er kicherte. »Eure komplizierten Bräuche werd ich nie begreifen. Also gib bitte nicht mir die Schuld.«

»Ja, ja, ich weiß. Und du bist ein Heiliger. Ein Scheinheiliger.«

»Es war deine Entscheidung, aus dem Fenster zu klettern und mit mir zur Festung zu gehen.«

»Ach! Dann hast du das Steinchen wohl nur zufällig an meine Scheibe geworfen.«

»Ich wollte dir wenigstens gesagt haben, dass Don Alberto uns in sein Gemäuer einlädt.«

Die Rede war von Baron Alberto Fassini Camossi, der im Forte Sangallo, gleich neben der befestigten Altstadt von Nettuno, residierte. Durch großzügige Aufträge förderte er das örtliche Kunsthandwerk. Auch den Vätern der beiden Jungen, dem begnadeten Uhrmachermeister Emanuele dei Rossi sowie dem Maler und Restaurator Evaristo Sacchi, hatte der Mäzen schon mehrmals aus finanziellen Notlagen geholfen. Des Barons Gunst für die zwei Meister strahlte sogar auf deren Söhne aus. Hin und wieder lud er die Jungen in seine spätmittelalterliche Festung ein, ließ durch den etwas steifen Leibdiener Donatello Limonade und süßes Gebäck auftragen, und wenn sie sich die Mägen voll geschlagen hatten, durften sie einen der vier Türme erklimmen, um von dort oben nach Neptunia Ausschau zu halten – der Legende nach stieg die mythische, dem Meeresgott Neptun geweihte Stadt bei Ebbe zuweilen an dieser Stelle aus dem Wasser auf. An diesem Abend hatte sie sich jedoch nicht blicken lassen.

Das Haus, in dem der Uhrmacher und sein Sohn wohnten wie schon Generationen anderer dei Rossis zuvor, schälte sich aus dem Schatten. Es lag an der nordöstlichen Ecke der Stadtmauer und war mit ihr verwachsen wie ein uralter Baum. Bei unvorbereiteten Betrachtern löste sein Anblick bisweilen Irritationen aus. Zur Via Vespucci hin ragte ein halber mittelalterlicher Rundturm aus dem Gebäude heraus, gemauert aus Ziegeln und Felssteinen und im Gegensatz zum übrigen Haus unverputzt. Über dem Dach erhoben sich wie eine Krone die Zinnen eines zweiten, viereckigen Türmchens. So wie alle übrigen Teile, die jünger als vierhundert Jahre waren, wies es einen Anstrich auf, der ehedem hellgelb gewesen sein mochte, inzwischen jedoch fleckig geworden war und großflächig abblätterte. Zudem verfügte der architektonische Flickenteppich über ein Sammelsurium unterschiedlichster Fenster, einige viereckig, andere dagegen mit Rundbögen versehen. Im Erdgeschoss drang Licht durch die Ritzen der Fensterläden. Hier hatte Emanuele dei Rossi seine Werkstatt, die ihm zugleich als Laden diente.

»Dein Vater arbeitet schon wieder?«, fragte Bruno.

»Er schuftet seit einem Jahr wie ein Verrückter.«

»An der Manzini-Uhr?«

Nico schnaubte verächtlich und nickte. »Bin froh, wenn das Ding endlich aus dem Haus ist.« Massimiliano Manzini war vielleicht der reichste und mächtigste Mann der Stadt, aber gewiss nicht der beliebteste. Sein Name wurde nicht selten in Verbindung mit üblen Machenschaften erwähnt. Freilich hatte man ihm nie eine Gesetzesübertretung nachweisen können, was an seinen exzellenten Beziehungen zum faschistischen Machtapparat liegen mochte. Er schien sich nicht einmal daran zu stören, dass manche ihn einen skrupellosen Fuchs nannten. Dank seiner Gerissenheit hatte der Sohn eines römischen Steinmetzen sich aus einfachsten Verhältnissen nach oben gekämpft. Sein Einfluss wuchs unentwegt. Manche sahen ihn schon im Palazzo Comunale auf dem Stuhl des Gemeindevorstehers sitzen. Manzini schien von dem Gedanken beseelt, eine Dynastie zu gründen. Nur zwei Dinge fehlten ihm dazu noch: ein Sohn und die Meisteruhr.

Um die Beschaffung des Ersteren kümmerte er sich hingebungsvoll selbst. In der Stadt, die er seit dem Ende des großen Krieges wie der Schatten einer großen Wolke beherrschte, gab es eine ganze Reihe von Kindern, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Sehr zur Freude des angehenden Dynasten war mittlerweile sogar Genovefa, seine blutjunge Ehefrau, schwanger – bereits im sechsten Monat, wie es in Nettuno die Spatzen von den Dächern pfiffen. Donna Esmeralda, seine erste Gemahlin, hatte ihm nur eine Tochter geschenkt, inzwischen so um die elf Jahre alt und vom Vater der Obhut eines Schweizer Internats anvertraut. Die Mutter starb nur wenige Tage, nachdem ihr Gatte zur Erteilung eines besonderen Auftrages in der Werkstatt von Nicos Vater aufgekreuzt war.

Damit die in Planung befindliche Dynastie auch ein symbolträchtiges Insigne erhielt, hatte Manzini nämlich vor etwas mehr als einem Jahr bei Emanuele dei Rossi die Meisteruhr in Auftrag gegeben. Was, abgesehen von Gott, hatte er den Uhrmacher gefragt, sei so gewaltig wie die Zeit? Sie beuge die Kraft der Jugend, lasse härtesten Stein zu Staub zerfallen und sei sogar mächtiger als der Raum, der sich unter ihrem Auge – der Uhr – ständig verändern muss, während sie in souveräner Gleichmut dahinfließt. Nico hatte mit dieser Erklärung nicht viel anfangen können, als sein Vater ihm davon erzählte. Erst als der ihm die Gebräuche der Renaissance in Erinnerung rief – Könige und Kaiser hatten sich damals eigene Hof-Uhrmacher gehalten, um sich von ihnen einzigartige, unermesslich kostbare »Augen der Zeit« bauen zu lassen –, dräute ihm, worum es den als ausgesprochen abergläubisch beleumundeten Manzini tatsächlich ging. Er wollte die Meisteruhr wie ein Amulett benutzen, um damit den Zeitgeist in seinem Sinne zu beschwören.

»Danke fürs Mitkommen«, flüsterte Nico zum Abschied, als sie das Uhrmacherhaus erreicht hatten.

Unwillkürlich senkte auch Bruno die Stimme. »Soll ich noch mit reinkommen?«

»Besser nicht. Vielleicht kann ich mich unbemerkt in mein Zimmer schleichen.«

»Warum kletterst du nicht wieder durchs Fenster?«

»Weil es jetzt dunkel ist, du Hornochse, und ich mir nicht den Hals brechen will.«

»Ist ja schon gut. Also dann, bis morgen, Nico.«

»Ja. Vorausgesetzt, ich bekomme keinen Stubenarrest. Gute Nacht, Bruno.«

Der Sohn des Kunstmalers entbot seinem Freund einen zackigen Gruß, der einem Brigadegeneral nicht schlecht zu Gesicht gestanden hätte, und entfernte sich rasch in Richtung Piazza Battisti, wo er mit seinen Eltern direkt gegenüber der Chiesa collegiata Santi Giovanni Battista ed Evangelista – der »Stiftskirche der Heiligen Johannes des Täufers und des Evangelisten« – wohnte. Nachdem Bruno in die Via del Galliardo verschwunden war, stieg Nico die zwei Stufen zum Eingang empor und legte seine Hand auf eine kleine Messingkapsel, nur wenig länger als sein Mittelfinger, die schräg am rechten Türpfosten hing. Ihr oberes Ende zeigte nach innen, das untere nach außen. Sie enthielt die Mesusa, einen kleinen zusammengerollten Pergamentstreifen, auf dem sich in zweiundzwanzig Zeilen zwei Textpassagen aus dem Dewarim, dem fünften Buch der Thora, befanden. Die Worte mahnten jeden Gläubigen zur Liebe und zum Gehorsam gegenüber dem Ewigen und versprachen dem Folgsamen Segen, dem Abtrünnigen Fluch.

»Möge Gott mein Hinausgehen und mein Hineingehen behüten von nun und für immer«, murmelte Nico, obwohl er ernste Zweifel hegte, ob das Gebet ihn vor einer Zurechtweisung des Vaters schützen konnte. Er atmete noch einmal tief durch. Dann drückte er, äußerst behutsam, die Klinke der Haustür nieder.

Aus der Werkstatt fiel ein gelber Lichtschimmer in den unbeleuchteten schmalen Flur. Der Junge hörte gedämpfte Stimmen und wunderte sich. War das ein Kunde? So spät? Das Wochenende eignete sich nicht besonders zur Abwicklung von Geschäften zwischen strenggläubigen Christen und Juden. Wenn am Samstagabend bei Einsetzen der Dämmerung der Schabbat endete, blieb nur wenig Zeit bis zum Beginn der heiligen Sonntagsruhe. Emanuele dei Rossi neigte zwar im persönlichen Bereich zu einer eher großzügigen Auslegung der strengen Regeln jüdischen Glaubenslebens, aber weil die Leute niemandem ihre kostbaren Uhren anvertrauen mochten, der auch nur im Geringsten den Eindruck von Unredlichkeit erweckte, bemühte er sich wenigstens um den Anschein eines frommen Mannes. Selbiges ließ sich wohl, wenngleich aus anderen Gründen, auch von Manzini sagen. Ja, es war unzweifelhaft Don Massimilianos Stimme, die da aus der Werkstatt drang, untermalt vom gleichförmigen Ticken mehrer Wand- und Standuhren.

Eben noch hatte sich Nico, die Gunst der schützenden Geräuschkulisse nutzend, die Stiege hinauf in sein Zimmer schleichen wollen, doch nun entfachte die Gegenwart des hohen Besuchers seine Neugier. Die Tür zum Arbeitsraum stand etwa zwei Handspannen weit auf. Nico zog sich an die gegenüber liegende Wand zurück. Eine Diele knarrte verräterisch. Er hielt den Atem an. Auch der Uhrmacher und sein Kunde verfielen in Schweigen. Hatten sie den Lauscher in der Dunkelheit gehört? Nico spähte mit angehaltenem Atem in das Zimmer.

Die beiden Männer standen sich gegenüber, höchstens einen Schritt voneinander entfernt. Auf dem schmalen Gesicht des Uhrmachers lag ein müdes, aber zufriedenes Lächeln. Endlich durfte er sein Werk präsentieren, in das er mehr Zeit und Lebenskraft investiert hatte als in jede andere Uhr. »Fertig und übergeben am Samstag, den 2. April 1932 um 20.30 Uhr«, würde er, wie es seine Gewohnheit war, mit rotem Stift unter dem vereinbarten Abgabetermin ins Auftragsbuch schreiben, vermutlich mit einem dicken Kringel drum herum. Wie lange hatte er diesem Moment entgegengefiebert! Endlich durfte er sich an der Bewunderung seines Kunden satt trinken, wie ein Dirigent am Applaus des begeisterten Publikums.

Auf schwarzem Samt gebettet, lag die Uhr glitzernd wie ein am Nachthimmel funkelnder Stern in einer Kiste aus poliertem Ahornholz. Diese wiederum ruhte in Manzinis prankenartigen Händen, und der hohe Herr wirkte dabei auf eine komische Weise unbeholfen, fast wie ein Vater, der zum ersten Mal sein neugeborenes Kind im Arm hält. Sein schwarzer Schnurrbart zuckte nervös. Don Massimiliano war eine stattliche Erscheinung, die gewöhnlich durch sicheres Auftreten überzeugte. Damit überspielte er geschickt einige körperliche Defizite, die zumeist auf das Konto seiner enormen Masse gingen. Sein rundes Vollmondgesicht und die fleischige, an ihrem dicken Ende wie ein Kinderpopo gespaltene Nase gaukelten Gutmütigkeit vor, was ihm bisweilen zum Vorteil gereichte. Er kleidete sich stets elegant; auch für seinen informellen Besuch im Haus des Uhrmachers hatte er einen schwarzen Anzug gewählt. Der einzige Spleen, den sich das ansonsten sehr konservative Mitglied des Gemeinderats von Nettuno leistete, waren bunt schillernde Seidenwesten. An diesem Abend glänzte er vorwiegend in den Farben Rot und Silber. Nachdem er die Uhr durch sein goldgefasstes Monokel gebührend bestaunt hatte, kam das darüber ins Stocken geratene Gespräch wieder in Gang. Der Lauscher im Flur blieb unentdeckt und atmete erleichtert auf.

»Sie ist schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können!«, schwärmte Manzini, dessen Stimme stets so klang, als würden in seinem Kehlkopf kleine Kieselsteine tanzen.

»Danke. Sie sind zu freundlich, Don Massimiliano.«

»Ehre, wem Ehre gebührt, Maestro. Was bewegt sich da hinter dem Zifferblatt?«

»Es ist die Unruh. Sie hatten mich ja eindringlich auf die Symbolik der Uhr eingeschworen. Durch das Fenster aus Saphirglas kann man in ihr Inneres sehen. Die Unruh soll Ihre Lebenskraft darstellen, Don Massimiliano, und Ihren nie rastenden Fleiß.«

Nico verdrehte die Augen. Manzini würde die Uhr auch ohne derartige Schmeicheleien bezahlen.

»Haben wir das abgesprochen?«, fragte der Kunde.

Emanuele dei Rossi wirkte für einen Augenblick erschrocken. »Ich kann ein anderes Zifferblatt einbauen, wenn es Ihnen nicht gefällt, Don ...«

»Nein, nein, schon gut, Signor dei Rossi. Darf ich sie mir genauer ansehen?«

»Nur zu! Sie gehört ja jetzt Ihnen.«

Manzini entnahm die Uhr der Holzkiste, die er Emanuele achtlos reichte, rückte sein Monokel zurecht und widmete sich den vielen Details des Meisterstücks. Auf dem vorderen Deckel war ein Pfau dargestellt, der ein Rad schlug. Kleine Smaragde funkelten auf dem Außenrand des Federkreises. Die Augen des Vogels bestanden aus Rubinsplittern. Die Rückseite der schweren Uhr trug das Familienwappen der Manzinis. Als Gründer einer Dynastie hatte er es sich nach eigenen Vorstellungen entwerfen lassen. Umgeben von fein ausgearbeiteten Ornamenten zeigte es auf einem Schild den Hammer eines Steinmetzen, gekreuzt von einem gladius, jenem Kurzschwert römischer Legionäre, dem auch die Gladiatoren ihren Namen verdankten. Das Werkzeug des Handwerkers verwies unverkennbar auf Manzinis Wurzeln, mit jenem des Kriegers wollte er offenbar seinen unbezwingbaren Willen dokumentieren wie auch seine Entschlossenheit, sich von nichts und niemandem einschüchtern zu lassen. In der Aufzugkrone saß ein Brillant von sechs Karat. Auch für die Lagerung der Unruhwellenzapfen und anderer beweglicher Teile hatte Nicos Vater Diamanten verwendet, insgesamt fünfzehn an der Zahl. Die Spiralfeder bestand aus Invar, einer speziellen Nickel-Stahl-Legierung, die sich bei Hitze und Kälte kaum verzog und dadurch einen besonders genauen Gang garantierte. Man könnte ein ganzes Buch füllen mit den erstaunlichen Einzelheiten von Emanuele dei Rossis Meisteruhr. Er allein und sein Sohn, der ihre Entstehung in allen Phasen begleitet hatte, wussten um ihre vielen inneren Qualitäten.

Deren enthusiastisch vorgetragene Aufzählung schien Don Massimiliano weniger zu interessieren. Äußerste Präzision und Langlebigkeit hatte er ohnehin verlangt. Ihm kam es in erster Linie auf die »Verpackung« an, denn ohne prunkvolle Ausstattung würde selbst das beste Chronometer ihm nichts nützen. Er stand im Begriff etwas zu schaffen, das so unerschütterlich war wie der Lauf der Zeit. Beim Anblick seiner Familienuhr sollten selbst Kleingeister eine Vision davon erhalten. Im Moment wirkte er selbst wie verzaubert von der Pracht des Meisterstückes.

»Wollen Sie einen Blick auf das Uhrwerk werfen?«, hörte Nico seinen Vater fragen.

»Wozu?«, entgegnete Manzini lustlos. Trotzdem drehte er wieder die Wappenseite nach oben. In seiner Hand wirkte die nicht eben kleine Taschenuhr geradezu zierlich.

»Ich habe einige technische Besonderheiten eingebaut, die für dieses Kaliber ungewöhnlich sind. So etwa die Stoßsicherung mit elastischen Deck- und Lagersteinen, die Sie sonst nur bei Armbanduhren ...«

»Kaliber?«, fiel Manzini dem Meister ins Wort.

Nicos Vater lächelte, als gelte es, damit einen unverzeihlichen Fehler auszubügeln. »In unserer Zunft bezeichnen wir so die unterschiedlichen Typen der Werke. Wenn ich es Ihnen kurz zeigen darf, Don Massimiliano.« Er entwand seinem Kunden die Uhr und klappte den hinteren Deckel auf. »Im Gegensatz zu den Formkalibern haben wir es hier mit einem runden von dreißig Linien zu tun, das entspricht nicht ganz achtundsechzig Millimetern. Ich habe mich an die alte Maßeinheit für Uhren gehalten, um damit die Verwurzelung des Manzini-Geschlechts in den Traditionen ...«

»Was ist das?« Don Massimilianos schneidende Stimme kappte wie ein Fallbeil den Redefluss des Meisters, und sein Gesicht verfärbte sich rot.

Emanuele dei Rossi fuhr erschrocken zusammen. Sein Körper verharrte gekrümmt wie ein Fragezeichen. Manzinis Ausbruch musste ihm ebenso rätselhaft erscheinen wie dem verborgenen Beobachter auf dem Flur. »Ich verstehe nicht ...«, stotterte der Uhrmacher.

»Na, das da! ›Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht.‹ Was soll dieses Zitat?« Sichtlich empört entriss Manzini dem Meister sein Werk und deutete auf den Schriftzug im Innern des Deckels.

»Das ist von Dante«, beteuerte der Uhrmacher, als könne ihn allein der Name des Dichterfürsten von einer Schuld reinwaschen, deren Natur er nicht einmal begriff.

An Manzinis geröteten Schläfen traten dicke Adern hervor. »Sparen Sie sich die Erklärungen, Signor dei Rossi«, zischte er. »Ich bin ein glühender Bewunderer unseres großen Dichterfürsten und kenne jedes seiner Werke. Was haben Sie sich dabei gedacht, ausgerechnet diese Worte in den Deckel zu gravieren?«

»Es handelt sich um eine Prägung ...«

»Wollen Sie sich über mich lustig machen?« Manzini brüllte, dass die Wanduhren in der Werkstatt ins Stocken gerieten. Sein Kopf sah aus, als würde er jeden Moment platzen.

Nicos Knie zitterten, und weil sie zudem wachsweich wurden, rutschte er mit dem Rücken die Wand hinab, bis er am Boden kauerte wie ein verängstigter kleiner Junge. So erzürnt hatte er Don Massimiliano noch nie erlebt.

»Nein«, antwortete der Vater des Lauschers mit besänftigender Geste. »Bitte verstehen Sie mich richtig, Don Massimiliano. Dieser Schriftzug ist keine spezielle Gravur für Ihre Uhr so wie die Ziselierungen auf der Außenseite. Es handelt sich nur um eine Prägung. Um eine Art Markenzeichen. Ich besitze für sie einen Stahlstempel. Ein Erbstück meines Großvaters Adamo. Schon er – der erste Uhrmacher in unserer Familie – hat Dantes Worte in alle seine Meisterstücke geprägt: ›Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht‹. Sie müssen Dantes Worte zusammen mit Adamos eigener Ergänzung lesen. Hier ...«

»›Es sei, Dei-Rossi-Uhren tun ihre Pflicht‹«, hauchte Nico die zweite Zeile des Familienmottos im Chor mit seinem um Aufklärung bemühten Vater.

Manzini schien weder den Meister noch dessen Sohn zu hören. »Ich will dieses verfluchte Ding nicht haben. Da, nehmen Sie!«, schrie er und drückte dem verdutzten Handwerker die Uhr in die Hand.

»Aber das können Sie nicht tun, Don Massimiliano!«, widersprach Emanuele dei Rossi bestürzt. »Ich habe über ein Jahr lang an ihr gearbeitet. Ohne Bezahlung.«

»Und was ist aus meinem üppigen Vorschuss geworden?«

»Der hat nicht einmal ausgereicht, um die teuren Materialien einzukaufen. Außerdem mussten mein Sohn und ich ja auch von irgendetwas leben.«

»Jetzt fangen Sie nicht an zu jammern, Signor dei Rossi. Der Schwarze Freitag steckt uns allen noch in den Knochen.«

»Schämen Sie sich, Don Massimiliano, so etwas zu sagen. Sie sind der reichste Mann Nettunos. Ich dagegen musste mein Haus verpfänden, um Ihre Uhr zu bauen. Hier geht es um meine Existenz!«

Besorgt registrierte Nico die zunehmende Schrille in der Stimme seines Vaters. Nie hatte er ihn so aufgeregt erlebt. Manzini indes ließ sich davon nicht beeindrucken. Seine Antwort troff geradezu vor Zynismus.

»Sie sind Ihr eigener Herr, Signor dei Rossi, und tragen als solcher auch das Berufsrisiko. Ich kann Ihnen ja ein Angebot für Ihr Haus machen. Sie sind noch jung. Nehmen Sie das Geld, verlassen Sie mit Ihrem Jungen die Stadt und fangen irgendwo ein neues Leben an.«

»O nein, Don Massimiliano! So leicht kommen Sie mir nicht aus dem Vertrag. In meinem Auftragsbuch steht Ihre Unterschrift. Sie wollten die Uhr haben, nun müssen Sie sie auch nehmen.«

»Nicht mit dem Spruch im Deckel.«

»Darüber lässt sich reden.« Emanuele stapfte aus dem Sichtfeld. Auf Don Massimilianos Frage, was er da mache, reagierte der Uhrmacher nicht. Nico hörte nur ein Rascheln. Dann kehrte sein Vater in den Türausschnitt zurück. In seiner Rechten lag das geöffnete Auftragsbuch, das er Manzini unter die Nase hielt. »Hier, sind Sie jetzt zufrieden?«

Der Gefragte würdigte die in Leder gebundene Kladde keines Blickes. »Was soll das?«

Emanuele dei Rossi tippte mit dem Zeigefinger der freien Hand ins Buch. »Da steht: ›Kunde wünscht keinen Purgatorio im Deckel. Muss entfernt werden.‹ Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Zufrieden?«, keuchte Manzini. »Sie schreiben in dieses Buch, was ich ... Ach, ist ja auch egal. Nachher erzählen Sie allen Leuten in der Stadt, was ich Ihnen zugemutet habe.«

»Das ist nicht meine Art.«

»Man kann keinem von euch trauen.«

»Was soll das jetzt?«

»Ihr Juden habt den Herrn ans Kreuz genagelt.«

»Don Massimiliano! Sie vergessen sich ...«

»Ich sage nur, was alle hier denken. Schmelzen Sie die Uhr ein und machen Sie sich einen siebenarmigen Leuchter draus.«

»Bitte beruhigen Sie sich doch! Und unterlassen Sie diese Anspielungen. Es geht hier um ein Geschäft, um gegenseitige Abmachungen, und um nichts anderes. Sie bekommen einen Deckel ohne Innenprägung, und dann zahlen Sie den vereinbarten Preis.«

»Einen Teufel werde ich tun! Sie können die verdammte Uhr behalten.«

Nico sah, wie sein Vater einen Schritt zurücktrat, wodurch er zur Hälfte aus dem Türspalt verschwand. In seiner leisen Erwiderung schwang ein drohender Unterton. »Wenn Sie es wünschen, Don Massimiliano. In Rom gibt es viele betuchte Leute. Ich werde einen anderen Käufer finden.«

»Das lassen Sie schön bleiben. Sie werden die Uhr zerstören.«

»Um meinen Verlust noch größer zu machen? Auf keinen Fall. Ich verkaufe sie, und sollte mir trotzdem ein Schaden entstehen, werde ich ihn notfalls gerichtlich von Ihnen einfordern.«

Manzini japste. »Sie wollen mich verklagen?«

»Sie lassen mir keine andere Wahl.«

»Das halten Sie nie durch, Signor dei Rossi.«

»Wir werden sehen.«

»Sie verlieren.«

»Das soll der Richter entscheiden.«

»Sie sind nichts als ein Käfer, den ich zwischen meinen Fingern zerdrücke, so wie die Uhr, die ich gleich unter meinem Absatz zermalmen werde. Geben Sie das Ding her.«

Nico sah seinen Vater nun ganz aus dem Türspalt verschwinden. »Zahlen Sie den Preis, oder verlassen Sie mein Haus, Don Massimiliano.«

Manzinis rechte Hand war zuletzt von seinem massigen Köper verdeckt gewesen. Jetzt tauchte sie wieder auf. Sie hielt eine verchromte Pistole. »Ich sage es zum letzten Mal: Her mit der Uhr!«

»Niemals!«, keuchte Emanuele dei Rossi.

»Dann zerstören Sie das Ding selbst!«

»Sie sind ja von Sinnen, Don Massimiliano. Gehen Sie! Sofort!«

Nico wäre gerne weggelaufen, wenn er es nur gekonnt hätte. Er stand Todesängste aus. Überdies fühlte er seine angewinkelten Beine nicht mehr, konnte sie nicht im Geringsten bewegen. Warum rückte sein Vater die Uhr nicht heraus? Sie war doch nur ein Ding aus Gold und Edelsteinen, nichts, für das es sich zu sterben lohnte. Oder glaubte er Manzini nicht? Ehrlichkeit gehörte nicht zu dessen Stärken, eher schon Drohung und Erpressung – vorausgesetzt, die Gerüchte über ihn entsprachen der Wahrheit.

»Ich zähle jetzt bis drei«, sagte Manzini. »Ist die Uhr bis dahin noch nicht zerstört, drücke ich ab.«

»Scheren Sie sich davon!«, entgegnete Nicos Vater trotzig. Nur dessen zum Ausgang deutende Hand war für den heimlichen Beobachter zu sehen.

»Eins.«

Der Junge zitterte jetzt am ganzen Körper. Er war von dem Ernst der Drohung überzeugt.

»Zwei.«

»Hören Sie endlich auf damit, Don Massimiliano. Wegen einer Uhr begehen Sie keinen Mord.« Emanueles Stimme klang zornig, aber er wagte auch nicht, gegen den wesentlich schwereren Gegner vorzugehen.

Nico schloss die Augen und begann unbewusst eine kleine Melodie zu summen, eine Marotte aus frühen Kindertagen, mit der er bisweilen seine Angst bekämpfte. In der Werkstatt blieb er ungehört, weil sich dort in diesem Moment jemand von der Stelle bewegte und dabei die Dielen laut knarrten. Das Bild der blitzenden Pistole schien sich durch die Lider des Jungen zu brennen. Er sah die Waffe immer noch, glaubte zu hören, wie sie Atem schöpfte, um ihre tödliche Ladung auszuspeien. Wenn er ihr nur befehlen könnte zu schweigen! Alles in ihm bäumte sich gegen den Augenblick auf, der ihm unabwendbar schien ...

»Drei!«

... Die Pistole durfte nicht ...!

Klick!

Nico riss die Augen auf. Im lichten Türspalt war niemand zu sehen.

Klick, klick, klick!

Manzini betätigte wiederholt hektisch den Abzug, aber die Waffe verweigerte ihm aus irgendeinem Grund den Gehorsam. »Verdammt! Wenn man sie mal braucht, dann funktionieren die Dinger nicht.«

»Jetzt haben Sie mich aber wirklich erschreckt, Don Massimiliano! Einen Augenblick lang hatte ich gedacht ...« Noch im Flur konnte man die Erleichterung in der Stimme des Uhrmachers vernehmen. Ein Poltern brachte sie erneut zum Verstummen.

Nico sah, wie die Pistole über den Boden rutschte. Danach hörte er ein metallisches Klacken. Wiederum erschien Manzini im Türspalt, in seiner Hand lag ein langes Stilett.

»Jetzt ist aber Schluss!«, rief Emanuele.

»Sie sagen es, Signor dei Rossi.« Manzini trat mit unerwarteter Schnelligkeit vor, umfasste Emanueles Nacken und zog ihn zu sich heran. Das Auftragsbuch fiel zu Boden Beim Aufprall öffnete es sich an der Stelle des letzten Eintrags, wo die Seiten von einem metallenen Lesezeichen zusammengehalten wurden. Einen Moment lang kämpften die Männer miteinander und taumelten dabei in dem Ausschnitt, der dem heimlichen Beobachter so jäh zum Fenster in eine Kammer des Schreckens geworden war. Der Junge vernahm das Ächzen der beiden um Leben und Tod ringenden Kontrahenten. Er wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich ging ein Ruck durch Manzinis Körper. Nico hörte ein Keuchen, dem ein gurgelnder Laut folgte. Während er die ineinander verschlungenen, wie versteinert dastehenden Männer anstarrte, entleerte sich seine Blase.

»Papà!« Das Wort war nicht mehr als ein Hauch auf seinen Lippen. Warum bewegten sich die beiden nicht? Hatte sein Vater etwa den mächtigsten Mann der Stadt erstochen? Oder ...?

Unvermittelt rutschte der Uhrmacher am Körper seines Gegners herab. Nico zuckte zusammen, als er seinen Vater zu Boden sinken sah, wo er auf dem Rücken liegen blieb. Das Stilett ragte aus seiner Brust.

»Niemand verrät Massimiliano Manzini.« Der Mörder bückte sich und zog seinem Opfer das Messer aus dem Körper. Auf Emanueles Hemd verwandelte sich um die blutende Wunde herum Weiß zu Rot. Nachdem Manzini die schmale Klinge an der Hose des Uhrmachers abgewischt, das Stilett zusammengeklappt und es weggesteckt hatte, richtete er sich wieder auf. Ohne erkennbare Eile ließ er seinen Blick durch die Werkstatt schweifen.

Einen Moment lang sahen seine dunklen, kleinen, eng zusammenstehenden Augen direkt zu dem Türspalt. Nico konnte sich noch immer nicht rühren. Er glaubte den Blick des Mörders wie die Glut zweier Kohlen auf seinem Gesicht brennen zu spüren. Das Blut seines Vaters klebte auf Don Massimilianos schillernder Weste.

Dann war der Atemhauch des Todes vorübergezogen. Manzinis Augen suchten weiter, und der Junge fühlte, wie das Leben kribbelnd in seine Beine zurückkehrte. Während er sich langsam, jedes unnötige Geräusch vermeidend, aufrichtete, durchquerte der Mörder mehrmals den Ausschnitt der offen stehenden Tür. Beim ersten Mal hielt er die Schatulle aus Ahorn in der Hand, beim zweiten sah Nico die Meisteruhr unter dem sich schließenden Deckel verschwinden, und dann zog Manzini das Auftragsbuch unter dem Körper seines Opfers hervor. Erst als er sich darauf zum Gehen wandte, wurde Nico bewusst, in welcher Gefahr er schwebte. Er konnte nicht fortlaufen, ohne sich zu verraten – die Dielen des alten Hauses knarrten bei jedem Tritt.

»Du denkst, die Zeit zu beherrschen, doch am Ende wird sie über dich siegen ...«

Nico horchte auf. Es war die Stimme seines Vaters, keuchend, leise nur, die Manzini herumfahren ließ. Und dann glaubte der Junge selbst einen Stich in der Brust zu spüren. Er sah das ihm zugewandte Gesicht des Vaters, seine glitzernd feuchten Augen, in denen das Leben noch einmal trotzig aufflackerte. Nur einen Moment lang berührten sich beider Blicke, ein stiller Händedruck zum Abschied. Hatte der Vater etwa doch das Summen seines zu Tode erschreckten Kindes vernommen? Hatte er deshalb den Zorn des Mörders auf sich gelenkt, wie er es auch nun wieder tat?

»Ich verfluche dich, Massimiliano Manzini!«, röchelte der Uhrmacher.

Manzini bekreuzigte sich, als wolle er sämtliche Spötter Lügen strafen, die ihm nachsagten, der einzige Glaube, den er besitze, sei der Aberglaube. »D-du ... Du hast mich dazu gezwungen«, stieß er hervor.

Emanueles Kopf wippte auf dem Boden hin und her. »Flieh ...!«Er hustete. Nach einer entsetzensschweren Sekunde begriff Nico, dass der Sterbende ihn meinte. Die Uhrwerke tickten leise ihr Totenlied. Der Junge stieß sich von der Wand ab, brachte es aber nicht übers Herz, seinen geliebten Vater im Stich zu lassen. Emanuele spielte ein gefährliches Spiel, um seinen Sohn zur Flucht zu bewegen. Wenn Manzini begriff, wem diese Aufforderung gegolten hatte, dann ...

»Flieh doch, wenn du kannst!« Der Meister bäumte sich mit letzter Kraft auf. Seine Worte kamen nur noch stockend hervor. »Aber ... eswird dir nichts nützen, Don Massimiliano. Dein Leben ... es soll wie die Unruh der Uhr sein, die du gestohlen hast: unstet, zerbrechlich und wenn sie einst stehen bleibt ... sollst auch du sterben.«

»Schweig!«, zischte Manzini. Er stand über dem Uhrmacher, die Faust auf die Lippen gepresst, und zitterte, als könnte ihn seine Unschlüssigkeit jeden Augenblick zerreißen. Wen sollte er mehr fürchten, den Fluchenden oder dessen Verwünschung? Diesen Moment nutzte Emanuele, um sein Werk zu vollenden.

»Achte gut auf deine Lebensuhr! Und ... bebe vor Furcht! Denn wenn ihr Zeiger verschwindet ... und die Unruh erstarrt, ... kommt mit ihr auch dein Leben zum Stehen, ... wird für immer ... vergehen ...« Der Kopf des Uhrmachers fiel auf den Boden zurück und sank kraftlos zur Seite. Nico sah ein rotes Rinnsal aus dem Mundwinkel des Vaters sickern, und er wusste, dass er dessen Stimme nie wieder würde hören können.

Ein langer Augenblick der Stille kehrte ein. Sogar der mächtige Don Massimiliano war wie gelähmt. Bis zu dieser Stunde hatte er nichts und niemanden gefürchtet. Aber nun war der Fluch des Uhrmachers in die Welt gekommen, um ihn, Manzini, zu verschlingen.

Er schüttelte den massigen Kopf, erst langsam, dann immer schneller. »Nimm das zurück«, flehte er. Emanuele rührte sich nicht. »Ich habe gesagt, du sollst deinen Fluch zurücknehmen!«, kreischte Manzini.

Die schrille Stimme riss Nico vollends aus der Starre. Obwohl die Angst ihm fast alle Kraft geraubt hatte, schaffte er einen ersten Schritt in Richtung Ausgang. Das Bodenbrett knarzte unter seinem Fuß.

Manzini bekam davon nichts mit. Er schien dem Wahnsinn anheim gefallen zu sein. Seine Stimme war eine Mischung aus Wut und Wimmern. »Du verdammter Dreckskerl. Was fällt dir ein, mich zu verfluchen? Mich!« Nico hörte ein abscheuliches Krachen, als würde der Messerstecher nun auch noch den Schädel seines Opfers am Boden zertrümmern wollen. Manzinis Stimme hallte wie irr durch das alte Haus. »Nimm ihn zurück. Sofort!« Wieder erzitterten die Dielen. »Hast gedacht, du kannst mich mit deiner jüdischen Kabale austricksen, was? Aber nicht mit mir, mein Junge. Nicht mit Massimiliano Manzini. Wenn du glaubst, ich habe vor deinem Bannspruch Angst ...«

Mehr konnte Nico nicht verstehen, weil er aus dem Haus gestürzt und in die Dunkelheit geflohen war. Während er voranstolperte, begann er hemmungslos zu weinen. Zurück blieben der Mörder und sein Opfer, wobei noch nicht feststand, wer von beiden der Sieger und wer der Besiegte war. Zurück blieben auch eine Pfütze und ein paar feuchte Fußstapfen im Flur.

2. KAPITEL Der Fremde

Nettuno, 1938

 

Der baumlange Kraftprotz steckte in einer dunkelblauen Uniform und kämpfte wie ein Elitesoldat. Hände und Füße waren seine einzigen Waffen. Die Angriffe zielten vor allem auf die ungepanzerten Weichteile in den unteren Regionen des Gegners. Dieser gab schon längst keinen Laut mehr von sich, empfing stumm die härtesten Hiebe und Tritte.

Die Tortur vollzog sich auf offener Straße, am helllichten Tag. Einige Passanten blieben stehen und schüttelten verständnislos die Köpfe. Aber niemand wollte dem schwarzen Lancia zu Hilfe kommen. Bis der Fremde auftauchte.

Es handelte sich um einen jungen Mann von schlanker Statur, kaum zwanzig Jahre alt. Mit verschlossener Miene, die Arme um einen abgeschabten braunen Koffer geschlungen, war er um das Bahnhofsgebäude gekommen. Wie angenagelt blieb er stehen. Er trug derbe schwarze Schuhe, eine hellbraune, ziemlich ausgebeulte, jedoch saubere Hose sowie zum Schutz gegen die klamme Novemberkälte eine grüne Lodenjacke. Unter seiner schwarzen Schirmmütze lugten ein paar dunkelblonde Locken hervor.

Langsam ließ der junge Mann seinen Pappkoffer zu Boden sinken. Auf seinem Gesicht spiegelte sich noch Ungläubigkeit über den sinnlosen Gewaltakt, in seinen auffallend großen braunen Augen glomm indes schon ein Unwille, der jeden Moment in Zorn umzuschlagen drohte.

»Er ist noch so jung, gerade erst ein Jahr alt«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. Es war sonst nicht seine Art, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, zumal wenn diese ihn um mehr als einen Kopf überragten und wohl auch das Doppelte seines Kampfgewichts auf die Waage brachten.

Der Wüterich trat wie zum Trotz noch einmal gegen den Reifen der Limousine und baute sich sodann vor dem Fremdling auf. Nachdem er die Arme über der Brust verschränkt hatte, grunzte er: »Was verstehst du davon, he? Scher dich weg!«

Der junge Mann wich nicht von der Stelle. Im Gegenteil schob sich sein spitzes Kinn sogar aufmüpfig dem Hünen entgegen. »Wenn Sie den Wagen weiter schlagen, treten und beleidigen, wird er erst recht nicht anspringen.«

Der Chauffeur hieb mit der flachen Hand auf die Motorhaube, dass es nur so krachte. Danach strich er sich mit dem Zeigefinger über den dunklen Schnurrbart, kniff ein Auge zu und erwiderte grinsend: »Ich kann diesen störrischen Esel aus Blech so viel treten und beschimpfen, wie ich will, Bürschchen. Außerdem, woher willst du wissen, dass die dumme Kiste bockt? Bist du nicht gerade erst vom Bahnsteig rübergekommen?«

»Ich weiß es eben.«

»Bist wohl nicht von hier. Deine Sprache ist so komisch.«

»Ich komme aus Österreich.«

»Ein Reichsdeutscher? Dafür ist dein Italienisch allerdings ganz passabel.«

»Danke.«

»Du bist nicht zufällig Mechaniker? Kennst du dich mit solchen Wagen aus?«

Der Fremde ging um Chauffeur und Fahrzeugfront herum, immer noch beobachtet von einigen Passanten. Er beugte sich leicht vor und ließ seine Handfläche dicht über die Haube entlangschweben, so als wolle er die Wärme des Motors fühlen. Aus den Augenwinkeln spähte er in das Innere der Limousine, konnte aber nicht viel erkennen, weil gerade die Wolken aufgerissen waren und sich die Sonne in den Scheiben spiegelte. Er glaubte im Fond eine zierliche Gestalt auszumachen. Ohne den Blick vom Wagen zu nehmen, entgegnete er: »Zugegeben, Automobile können recht eigensinnig sein. Manche sind unheimliche Aufschneider: Sie blenden mit poliertem Holz und Chrom, obwohl sie doch lärmen und ganz fürchterlich stinken. Euer übermütiger junger Lancia Astura hier macht da keine Ausnahme. Dreiliter-V8-Motor – das nenne ich ein starkes Herz! Baujahr ’37, nicht wahr? Und eine feine Hülle hat man ihm auch angepasst: Die Karosserie wurde von Mayfair Carriage geschneidert, nehme ich an.«

Der uniformierte Choleriker bekam den Mund nicht mehr zu. Offenbar hatte ihn der junge Mann mit seinem profunden Wissen über Luxusautomobile überrascht. Schließlich fand der Chauffeur dann – hörbar gemäßigt – doch seine Sprache wieder. »Verstehst wohl tatsächlich was davon. Meine Herrin würde es sehr zu schätzen wissen, wenn ...« Er hielt inne, als sich unversehens der hintere Wagenschlag öffnete.

Auch der Fremde wandte sich um. Zuerst sah er nur ein blasses Gesicht hinter dem Fenster, hiernach einen über der Tür auftauchenden Kopf, und dann verschlug es ihm die Sprache. Sein Herz begann heftig zu schlagen. Die vom Chauffeur mehrmals erwähnte »Herrin« war keine Achtung gebietende Signora in fortgeschrittenem Alter, sondern eine Signorina von höchstens achtzehn Jahren.

Mitdem Antlitz eines Engels.

Dieser Gedanke vernebelte explosionsartig das Bewusstsein des jungen Mannes. Von nun an befand er sich in einer Art Trancezustand, in dem es ihm völlig unmöglich war, sie nicht anzusehen. Ihr Gesicht erschien ihm geradezu überirdisch. Einige schwarze Strähnen ragten ihr, als wollten sie Zweifel am Bild der makellosen Blässe wecken, tief in die Stirn. Aber dieser Kontrast machte das Mädchen in den Augen des jungen Mannes nur umso schöner. Während er noch den Umstand bedauerte, nicht mehr von ihrem wunderbaren, leider unter einem eng anliegenden Käppi größtenteils verborgenen Haar zu sehen, reckte sie sich eher keck als damenhaft hinter der offenen Tür. Sie hatte sich auf das Trittbrett der Limousine gestellt, die Unterarme auf die Tür gestützt und das Kinn auf die zarten weißen Hände gelegt. Für einen atemberaubenden Moment betrachtete sie den Fremden aus ihren funkelnden dunklen Augen. Unter ihrem strengen Blick fühlte sich der junge Mann wie ein im Schaukasten mit einer Nadel fixierter Schmetterling. Es fiel ihm schwer, nicht auf ihre Brüste zu starren, die sich an dem Fenster drückten.

Ohne den so gefangenen Wanderfalter freizugeben, rief sie: »Uberto, wie lange dauert denn das noch?«

Der Chauffeur sah erst seine Herrin, dann den jungen Mann an – keiner von beiden würdigte ihn eines Blickes. »Das störrische Ding hat mir den Krieg erklärt, Donna Laura. Ich werde Ihnen wohl ein anderes Fahrzeug besorgen müssen.«

Das Herz des Jünglings machte einen Sprung. Laura! Das also war ihr Vorname. Nein, es war ein kostbares Schmuckstück, ein Begrüßungsgeschenk, das seiner Ankunft in der Stadt einen bittersüßen Beigeschmack verlieh. Er würde diese goldene Kette aus fünf Buchstaben im sichersten Winkel seines Gedächtnisses bewahren ...

»Und was sagen Sie dazu?«

Der junge Mann erschrak. Hatte Donna Laura, die zweifellos aus gutem Hause stammte, da eben ihn angesprochen, den eher ärmlich gekleideten Fremden? Er deutete auf seine Brust. »Ich?«

Irgendetwas schien sie zu amüsieren. Ihr Blick blieb kühl. Und ihre Antwort klang ungeduldig, sogar ein wenig spitz. »Abgesehen von Uberto, der seine Unfähigkeit ja eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, sehe ich niemanden hier, den ich sonst hätte fragen können.«

Der junge Mann sah verwirrt zu der Menschentraube hinüber, die dem Dialog aufmerksam folgte. »Nun«, begann er verlegen, »ich würde sagen, Ihr Chauffeur hat Recht.«

Das Mädchen wandte ihm ihr schneeweißes Ohr zu. Scheinbar belustigt fragte sie: »Höre ich da einen Wiener Akzent?«

»Sie haben ein feines Gehör, Donna Laura.«

Ein bezauberndes Lächeln huschte über ihre Lippen. »In Locarno hatte ich zwei Klassenkameradinnen aus Wien, deren Italienisch ganz ähnlich klang«, sagte sie in fließendem Deutsch – sehr zum Unwillen des Publikums –, und der Fremde passte sich ihr an.

»Sie sind in der Schweiz zur Schule gegangen?«

Donna Lauras eben noch heitere Miene wirkte mit einem Mal wieder so unnahbar wie zuvor, fast so, als habe eine innere Stimme sie zur Ordnung gerufen. »Womit hat Uberto Recht?«

Dem jungen Mann gelang der Themenwechsel weniger leicht. Er musste das Gespräch im Gedächtnis erst zurückrollen, bevor ihm die passende Antwort einfiel. »Ihr Chauffeur sagte zu Ihnen, das störrische Ding habe ihm den Krieg erklärt. Genau so ist es.«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Wie kann ein Automobil einem Menschen den Krieg erklären?«

»Beispielsweise, indem es sich nicht mehr starten lässt.«

»Sie wollen sich über mich lustig machen, Herr ...«

»Michel. Niklas Michel. Das liegt mir fern, Donna Laura. Es gibt Personen, die einen Apparat nur scheel ansehen müssen, und schon verweigert die Maschine ihnen den Dienst. Oder schlimmer noch: Sie tut völlig unerwartete Dinge, für die sie eigentlich überhaupt nicht konstruiert ist.«

»Wenn Sie jetzt auch noch behaupten, ich wäre meinem Automobil unsympathisch, dann rufe ich die Polizei.«

»Um einen Irren in die Nervenheilanstalt zu überstellen?« Niklas Michel lächelte. »Die Mühe möcht ich Ihnen ersparen, Signorina. Im Übrigen ist es Ihr Chauffeur, der auf den Gefühlen des Lancia herumtrampelt. Mir ist schleierhaft, wie Sie einem solchen Grobian Ihren Wagen anvertrauen können. Es hätte nicht viel gefehlt, und das gute Stück wäre von ihm restlos zerbeult worden.«

»Das Automobil gehört meinem Vater, und außerdem sind Ubertos Wutausbrüche nur Schau. Er macht immer viel Lärm, hat aber noch nie etwas kaputt ... Halt! Wo wollen Sie denn hin?«

Der junge Mann hatte unversehens den Rückweg zu seinem Koffer angetreten. Ohne sich umzudrehen, lüpfte er die Schirmmütze und rief: »Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Signorina.«

»Was hat er gesagt, Donna Laura?«, knurrte der Fahrer, der wohl aus dem für ihn unverdaulichen deutschen Wortbrei seinen Namen herausgefischt hatte.

»Er behauptet, du hättest die Gefühle des Automobils verletzt.«

Der Fahrer schnappte nach Luft. »So etwas Haarsträubendes habe ich überhaupt noch nie gehört. Ich ...« Er schüttelte empört den Kopf und wandte sich dem Fremden zu. »Sie gehören in die Klapsmühle, Signore. Setzen Sie sich in den Zug und fahren Sie schnell wieder dorthin, woher Sie ...«

»Uberto!«, unterbrach Donna Laura den erbosten Fahrer.

»Na ist doch wahr!«, murrte der.

»Herr Michel«, richtete sie ihr Wort wieder an den Fremden, und sie benutzte dabei erneut die deutsche Sprache.

Der Angesprochene hatte gerade seinen Koffer aufgehoben und sah zu dem übers Wagendach blickenden Engelsgesicht. »Signorina?«

»Wenn Sie sich mit den Seelen von Maschinen so gut auskennen, könnten Sie dann das Automobil meines Vaters nicht überreden, mich nach Hause zu fahren?«

»Selbstverständlich könnte ich das. Aber warum sollte ich es tun?«

»Vielleicht, weil ich Sie darum bitte ...?«

Der junge Mann fühlte sich, als würde ein elektrischer Strom durch seinen Körper fließen. Für Uberto, den unsensiblen Maschinenschinder, empfand er nur Verachtung, aber wie konnte er diesem Mädchen einen Wunsch abschlagen? Er seufzte und stellte den Koffer wieder ab.

Wortlos ging er erneut um die Motorhaube herum. Dafür gab es keinen bestimmten Grund, außer vielleicht jenen einen: Im Fenster der nach wie vor offenen Tür konnte er einen weiteren Blick auf Donna Lauras elfenhafte Gestalt erhaschen. Auf dem Rücksitz entdeckte er einen zerknüllten ockerfarbenen Mantel. Wieso trug sie ihn nicht, sondern trotzte in ihrer schmal geschnittenen, spitzenbesetzten, lindgrünen Bluse dem kühlen Klima? Wollte sie ihn mit ihrer Weiblichkeit verzaubern? Oder ging es ihr gar wie ihm, der weder die Novemberkälte noch die zornglühenden Blicke des Fahrers spürte?

Mit einem Ruck riss er sich von ihr los und richtete seine Augen auf die Motorhaube. Langsam streckte er beide Arme aus und ließ abermals die Innenflächen seiner Hände dicht über das schwarz lackierte Blech wandern. Dabei summte er leise vor sich hin.

»Was soll das werden?«, brummte der uniformierte Hüne.

»Ich suche die kranke Stelle«, murmelte der junge Mann und setzte sein Summen fort.

»Wie wär’s, wenn du mal in deinem Kopf nachschaust?«

»Lass ihn, Uberto!«, verlangte Donna Laura.

Die Hände des jungen Mannes legten sich langsam auf einen bestimmten Punkt im oberen Drittel der Motorhaube. Uberto schnaubte verächtlich. Seine Herrin schmunzelte zwar, verfolgte aber nichtsdestotrotz fasziniert das seltsame Benehmen des Besuchers aus Wien. Selbiges ließ sich von der Menschentraube vor dem Bahnhof sagen, die den offenkundig auf Benzinkutschen spezialisierten Nervenarzt tuschelnd bei seiner Arbeit beobachtete. Während seine Hände noch auf dem warmen Blech lagen, neigte der Fremde den Kopf zur Seite und sagte leise auf Deutsch: »Im Übrigen haben die leblosen Dinge keine Seelen, wie Sie es sich vorstellen mögen, Donna Laura.«

»Sondern?«

»Für jemanden, dem ihre Natur fremd ist, lässt sich das schwer erklären. Vielleicht kann ich es so ausdrücken: Die Weisheit und unerschöpfliche Kraft des Allmächtigen hat die gesamte Schöpfung hervorgebracht. Wir Menschen mögen darin zwar die Krönung sein, aber der göttliche Funke glimmt sogar im winzigsten Sandkorn, das sich drüben am Badestrand mit Millionen anderen in den Wellen wiegt. Wenn wir, wie es in der Thora heißt, ›im Bilde des Ewigen‹ erschaffen worden sind, dann muss sich in jedem unserer guten Werke auch er spiegeln.« Niklas Michel lächelte verlegen. »Sobald man diese tiefe Wahrheit spürt, empfindet man sogar für ein Automobil Respekt.«

»Das ist alles?«, flüsterte Donna Laura erstaunt.

»Ich fürchte ja.«

»Und Sie wollen mir tatsächlich weismachen, die Maschinen könnten die Achtung spüren, die Sie ihnen entgegenbringen?« Allmählich wurde die junge Frau wieder lauter.

Anstatt zu antworten, umrundete der Fremde erneut den Kühlergrill des Wagens, öffnete die Fahrertür und setzte sich ans Volant.

»Das geht jetzt aber zu weit ...«, beschwerte sich Uberto bei seiner Herrin.

Sie hob nur ihre weiße Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, dann ließ sie sich auf den Rücksitz gleiten und beugte sich zu dem jungen Mann vor. »Sie haben Mut, Herr Michel.«

Ihr warmer Atem strich an seinem Ohr vorbei, und sein Nacken kribbelte wie unter einer heißen Dusche. Sie war umgeben von einem betörenden Duft. Jasmin?, fragte er sich. Alles um ihn herum drehte sich. Er war zu keiner Erwiderung fähig.

»Sind Sie Jude?«

Ihre überraschende Frage ließ ihn jäh zu Eis erstarren.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, fügte sie rasch hinzu.

»Wie ...?«

»Woran ich das gemerkt habe?« Sie lachte wie ein kleines Mädchen und kümmerte sich nicht im Geringsten um die verdutzten Blicke, die von draußen zu ihnen hereinstarrten. »Sie haben gerade von der Thora gesprochen, Herr Michel. Nur Juden nennen die Bibel so. Sie halten mich für ein verwöhntes, hochnäsiges, dummes Mädchen, nicht wahr?«

Der junge Mann fühlte einerseits den wohligen Schauer, den ihm ihr Atem im Nacken bereitete, andererseits den lähmenden Schrecken, der es ihm unmöglich machte, sich zu ihr umzudrehen. Er starrte in den Innenspiegel und sah darin ihre dunklen, herausfordernd funkelnden Augen. »Ich ... äh ... habe bei einem jüdischen Meister gelernt. Da muss wohl einiges abgefärbt haben.«

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und drückte sie sanft. »Ich verurteile Sie nicht, Herr Michel, ganz gleich, ob Sie nun Jude sind oder ein Christ, der mit ihnen sympathisiert. Es sind dunkle Zeiten für diese Leute, und ich will sie nicht noch schwerer machen. Ihr Geheimnis ist bei mir sicher. Aber seien Sie in Zukunft etwas vorsichtiger.«

»Ja, Donna Laura.«

»Und jetzt interessiert mich, ob Sie das Automobil meines Vaters besänftigen konnten«, trällerte sie unvermittelt fröhlich und ziemlich laut auf Italienisch.

Endlich entspannte er sich. Er schloss die Augen, holte tief Luft. Eine große Ruhe überkam ihn, wie er sie meistens empfand, wenn er sich in Einklang mit einem von Menschenhand erschaffenen Gegenstand versetzte. Leise summend kontrollierte er den Hebel für die Kaltstarthilfe – das noch warme Herz des Lancia brauchte fettarme Kost. Er nahm den Gang heraus und drückte außerdem das Kupplungspedal, um dem geschundenen Anlasser nicht mehr als nötig aufzubürden. Zuletzt betätigte er den Anlasserknopf. Der bullige Achtzylindermotor sprang geradezu übermütig an.

Auf dem Gehweg wurde gejubelt und applaudiert.

Auch das Mädchen im Fond juchzte vor Vergnügen. »Sie sind mir ein Schelm! Wie haben Sie das gemacht, Herr Michel?«

Er zuckte die Achseln und suchte im Rückspiegel einmal mehr ihre wunderbaren Augen. »Ich dachte, ich hätte es Ihnen erklärt, Donna Laura.«

Uberto trat neben die offene Fahrertür und grunzte: »Die Zündkerzen müssen nass gewesen sein. Das Benzin ist einfach verdunstet, während er Ihnen irgendwelchen Schwachsinn erzählt hat, Donna Laura.«

»So, so, und wieso ist es nicht verflogen, während du das Automobil mit Fußtritten traktiert hast?«

»Weil der Deutsche mich unbedingt dabei stören musste.« Der Chauffeur packte den jungen Mann an der Schulter und zerrte ihn aus dem Wagen. »Genug gespielt, Bürschchen. Und jetzt mach, dass du fortkommst.«

»Uberto!«

»Bei allem Respekt, Donna Laura, aber es wird Ihrem Vater nicht gefallen, wenn ich ihm von der Zudringlichkeit dieses Kerls erzähle.«

»Aber er hat uns geholfen!«

»Er wollte sich nur wichtig machen.« Der Chauffeur schob den jungen Mann zur Seite, setzte sich ans Steuer und knallte die Tür zu.

Das Mädchen rutschte auf der Rückbank hinter den Fahrersitz und kurbelte eilig das Fenster hinunter. »Ich danke Ihnen, Herr Michel.«

Er sah verlegen zu Boden. »War nicht der Rede wert, Donna Laura.«

»Bleiben Sie länger in unserer Stadt?«

Er blickte wieder auf. »Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ich muss hier was erledigen.«

»Geschäfte?«

Wieder ließ er den Blick sinken.

»Wir sollten jetzt fahren«, beschied der Chauffeur, bevor einer der beiden jungen Leute noch etwas sagen konnte. Und nachdem auch er sein Fenster heruntergekurbelt hatte, fügte er an den Fremden gewandt hinzu: »Für Wichtigtuer ist bei uns kein Platz. Lass dir für deine Geschäfte nicht allzu viel Zeit.«

Der junge Mann hob bedächtig den Kopf und sah den Fahrer aus großen braunen Augen durchdringend an. »Das habe ich nicht vor.«

Die Scheibe wurde wieder hochgekurbelt. Uberto grinste frech und fuhr dann los. Der Lancia protestierte mit einer knallenden Fehlzündung, ließ sich dann aber doch in eine Wende zwingen, bevor er die Via Durand de la Penne hinab davonrollte. Im Heckfenster sah der junge Mann Donna Lauras ernstes Gesicht. Sie wirkte nachdenklich, fast ein wenig verstört.

Jemand klopfte ihm auf die Schulter, dann noch einer und gleich darauf ein Dritter. Aus irgendeinem Grund schienen sich die Leute prächtig unterhalten zu haben, und nun dankten sie dem Narren für seine Vorstellung. Schnell löste sich die Menschentraube vor dem Bahnhof auf, und der Besucher aus Wien stand immer noch neben seinem Koffer und blickte in Richtung Neptun-Brunnen. Bis ihn jemand in ungläubigem Ton ansprach.

»Nico?«

Der Fremde fuhr herum, als hätte man ihn gerade bei einer verbotenen Tat erwischt. Erschrocken blickte er in das Gesicht des einzigen Passanten, der von den Schaulustigen übrig geblieben war, eines etwa gleichaltrigen jungen Mannes, um einen halben Kopf kleiner als der Besucher, aber kräftig, ohne dabei dick zu sein. Er hatte volles, glattes schwarzes Haar sowie ein jungenhaftes Gesicht mit einer breiten Nase und einem dicklippigen Mund, der ebenso Erstaunen wie auch Freude ausdrückte.

»Da muss eine Verwechslung vorliegen«, sagte Niklas Michel mit unüberhörbar deutschem, leicht näselndem Akzent. Er bückte sich nach seinem Koffer und wollte sich davonstehlen, aber eine kräftige Hand packte seinen Arm und hielt ihn fest.

»Ich dachte, Nico dei Rossi wäre tot«, flüsterte Bruno Sacchi.

3. KAPITEL Der Flüchtling

Außerhalb von Nettuno, 1932

 

Der Regen hatte wieder eingesetzt. Schluchzend stolperte der Junge durch die Dunkelheit. Wo sollte er hin? Zur Polizei? Das war keine gute Idee. Obwohl man Manzini allerlei Schurkereien nachsagte, hatte er angeblich nie auch nur eine Nacht im Gefängnis zugebracht. Er konnte sich fast nach Belieben Polizisten und Richter kaufen. Nico wischte sich mit dem Ärmel Tränen und Rotz aus dem Gesicht. Nein, er durfte nicht länger in Nettuno bleiben. Es gab wohl nichts, das mörderischer war, als sich Don Massimiliano zum Feind zu machen.

Längst hatte er Nettuno in Richtung Westen verlassen. Bis zum Ortsrand von Anzio waren es nur etwa drei Kilometer. In der größeren Nachbarstadt würde er leichter eine Mitfahrgelegenheit finden. Irgendwie musste er es bis nach Rom schaffen, bis zu Meister Davide.

Nicos Vater hatte bei Davide Ticiani die Goldschmiedekunst und das Handwerk der Uhrmacherei gelernt. Die beiden waren mehr als Lehrherr und Geselle gewesen; eine enge Freundschaft hatte sie verbunden, die zuletzt auch Davides Frau und Emanueles Sohn mit einschloss. Mehr als einmal war Nico bei den Ticianis zu Gast gewesen, hatte von Salomias challot gegessen – die geflochtenen, mit Mohn bestreuten, nach ihrem ganz speziellen Rezept gebackenen Schabbatbrote – oder dem Meister in seiner Werkstatt bei der Arbeit zugesehen. Bis dorthin musste er kommen, ohne von Manzinis Leuten geschnappt zu werden, dann würde es wieder Hoffnung für ihn geben.

Hinter dem Jungen flackerten Lichter auf. Erschrocken fuhr er zusammen. Don Massimiliano kommt mich holen! Der Gedanke drohte ihn erneut zu lähmen, wie es gerade eben geschehen war, als er tatenlos den Mord an seinem Vater mit angesehen hatte. Von Schuldgefühlen und Furcht geschüttelt, stolperte Nico von der Straße und suchte hinter einer Pinie Deckung. Im Schutz des Baumes spähte er zum Ortsausgang hinüber. Die zwei Scheinwerfer kamen ohne allzu große Eile näher. Er hörte ein Röhren, das wunderbar zu einem asthmatischen Drachen gepasst hätte. Es schwoll an, verlor sich abrupt in einem mechanischen Knacken und gewann erneut an Intensität. Bei jedem knirschenden Schaltvorgang lief Nico ein Schauer über den Rücken.

»Ein Lastwagen!«, flüsterte er. Würde Don Massimiliano ihn mit einem lahmen Transporter verfolgen? Nico kniff die Augen zusammen und summte seine kleine Melodie. Die Beine hatte er überkreuzt, als müsse er den feuchten Fleck in seiner Hose verdecken, und er zitterte vor Angst am ganzen Leib. Wenn Manzinis Schläger in dem Fahrzeug waren, würden sie ihn fangen und ihn umbringen wie seinen Vater. Aber falls jemand anderer am Steuer saß ...? Zu Fuß konnte er seinen Verfolgern nicht entkommen. Er musste etwas tun, und zwar sofort.

Nico trat auf die Straße hinaus und riss die Arme hoch.

Der schwere Wagen dröhnte immer näher heran. Es hörte sich an, als schöbe jemand eine Ladung Felsbrocken über die Allee.

»Halt!«, schrie der Junge.

Der Laster donnerte weiter.

Nico kniff die Augen zu und summte seine Angst hinaus.

Plötzlich knallte es.

Ein metallisches Kreischen scholl durch die Nacht. Die Bremsen quietschten, als könnten sie das scheinbar Unabwendbare nicht ertragen. Das schwere Fahrzeug schlitterte auf dem regennassen Pflaster auf den Jungen zu.

Und kam etwa einen halben Meter vor ihm zum Stehen.

Die Tür wurde aufgerissen, und ein ebenso großer wie breiter Mann kullerte heraus und keuchte: »Ist alles in Ordnung, Junge?«

Nico stand da wie in Gips gegossen. Augen und Mund waren weit aufgerissen.

Der Fahrer eilte zu ihm und begann ihn zu schütteln. »Mutter Maria, der Arme hat einen Schock!«, murmelte er und schüttelte weiter.

Vielleicht war es der Weinatem des unrasierten Mannes, der Nico ins Hier und Jetzt zurückversetzte. Zuerst blinzelte er, dann fragte er: »Darf ich mitfahren, Signore?«

Der Stoppelbart ließ ihn los und beugte sich in der Mitte zurück, um den Knaben im Licht der Scheinwerfer besser betrachten zu können. »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«

Der Junge schüttelte langsam den Kopf.

Der alkoholisierte Transporteur stutzte. »Aber ich sehe nicht die kleinste Beule!«

Nicos Antwort beschränkte sich auf einen leidvollen Blick.

Der Fahrer runzelte die Stirn. »Sag bloß, du hast mir diesen Schrecken eingejagt, nur um mitzufahren!«

»Nein.«

Das schlechte Gewissen des Fahrers meldete sich. »Hab wohl in der Trattoria zu lange auf den Fisch gewartet, den ich heute noch nach Rom bringen soll. Da ist meine Kehle trocken geworden. Das ist nicht gut, weißt du? Ich musste sie einfach befeuchten.«

Der Junge nickte verständnisvoll.

Sein Gegenüber fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch die dunklen Haare und fragte: »Willst du nach Anzio?«

»Rom.«

»Bist wohl ausgerissen, was?«

Wieder nickte Nico.

»Dann solltest du besser nach Hause gehen, zu deinen Eltern.«

»Die sind beide tot.«

Nachdenklich musterte der Fahrer den Jungen. Mit einem Mal rümpfte er die Nase. »Sag mal, riechst du hier so streng?«

Der Junge zuckte nur die Achseln.

»Was haben sie nur mit dir angestellt?« Der Stoppelbart schüttelte fassungslos den Kopf. »Brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich wieder zu denen zurückschicke. Und was den Geruch betrifft – wir sind wohl beide im Moment nicht gerade eine Zierde unseres Geschlechts. Mein Name ist übrigens Mario. Und wie heißt du?«

»Nico.«

»Na prächtig, Nico! Dann steig mal ein.«

Der Junge war schneller auf dem Beifahrersitz, als Mario bis drei zählen konnte. Nachdem der rundliche Mann hinter dem Lenkrad Platz genommen und den Lastwagen wieder in Gang gesetzt hatte, bemerkte er: »Wir haben übrigens beide einen Riesenbammel gehabt, Nico.«

Der Junge drehte den Kopf und blickte seinen Nebenmann aus großen Augen fragend an. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeuges tauchten dessen Gesicht in ein gespenstisch fahles Licht.

Mario grinste säuerlich. »War kurz am Steuer eingenickt. Die Fehlzündung vorhin – sie hat mich aus dem Schlaf gerissen. Hätte die alte Karre sich nicht gemeldet, wäre ich glatt im Straßengraben gelandet ...«

 

Im Morgengrauen war von der sprichwörtlichen Schönheit der ockergelben Stadt nichts zu bemerken. Alles wirkte fahl. Vielleicht entsprang dieser Eindruck aber auch Nicos trüber Stimmung. Während der Fahrt in die Hauptstadt hatte er nicht viel gesprochen, obwohl Mario sich alle Mühe gab, ihn aus der Reserve zu locken. Er fragte den Jungen nach seiner Meinung zu den Leistungen der italienischen Fußballnationalmannschaft, wollte von ihm wissen, ob in zwei Wochen Tazio Nuvolari oder Rudolf Caracciola den Großen Preis von Monaco gewinnen würde – der Sieg von Alfa Romeo stand für ihn ohnehin fest –, aber nichts schien den schweigsamen Knaben zu interessieren. Schließlich drohte die Müdigkeit den rundlichen Wagenlenker vollends zu übermannen. Er gab den Versuch, so etwas wie eine Unterhaltung in Gang zu bringen, mit einem tiefen Seufzer auf, fuhr an den Straßenrand und legte ein Nickerchen ein. Nico war die ganze Nacht wach geblieben.

Der Junge ließ sich vor der Synagoge absetzen. Sie lag direkt gegenüber jener legendenumwobenen Insel, die seit alters der Medizin verbunden war und die wie ein Schiff der Toten und Kranken in den trüben Fluten des Tiber trieb, ganz langsam, mit allen Beladenen, in einem Fluss, der sie nicht als Last empfand. Menschen waren da weit unduldsamer gegenüber ihresgleichen, dachte Nico. Sie brachten einander um. Wegen eines Dante-Zitats. Der Junge fühlte sich so elend, dass er am liebsten zur Tiberinsel hinüber ins Ospedale dei Fatebenefratelli marschiert wäre. Aber vermutlich würden sich die Ärzte im Krankenhaus für Seelenpein, wie er sie litt, nicht zuständig fühlen. Also lief er die Via del Progresso entlang in das Viertel Sant’Angelo hinein.

Die Werkstatt des Goldschmieds lag hier irgendwo an einem namenlosen Platz. Anfangs war Nico noch zuversichtlich, diesen rasch zu finden, doch bald bemächtigte sich seiner eine zunehmende Verzweiflung. Wenn er mit seinem Vater auf Besuch zu Meister Davide und dessen Frau Salomia nach Rom gefahren war, hatte er sich nie um Abzweige, Plätze und Straßennamen kümmern müssen. Jetzt sah alles gleich aus. Erstaunlich, dass man sich in einem so kleinen Viertel verlaufen konnte. Noch vor knapp fünfzig Jahren hatte es hier Reste des rione gegeben, jenes Ghettos, in dem etliche Tausend Menschen seit Mitte des sechzehnten Jahrhunderts auf weniger als einem Hektar Land von Mauern zusammengepfercht leben mussten. Während er im zunehmend freundlicher werdenden Licht des Morgens durch die Gassen des alten Judenviertels irrte, entsann Nico sich der Geschichten, die ihm sein Vater darüber erzählt hatte. Die meisten davon passten zu seiner düsteren Stimmung.

Die schmiedeeisernen Laternen an den Hauswänden waren bereits erloschen, als er auf seiner Odyssee ungefähr zum vierten Mal eine kleine Trattoria sichtete, die inzwischen geöffnet hatte, um ihren Gästen vor dem Besuch der Synagoge oder dem Kirchgang den morgendlichen Cappuccino anzudienen. Eine mollige Frau mittleren Alters stellte gerade eine Schale mit Carciofi alla Giudecca ins Schaufenster. Die Artischocken, die wie vergoldete Blüten aussahen, erinnerten Nico daran, dass er seit etwa zwölf Stunden nichts mehr gegessen hatte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, blieb er vor der Gaststätte stehen. Die Schaufensterdekorateurin nickte ihm lächelnd zu. Er reagierte nicht, hatte nur Augen für die Antipasti. Mit einem Mal stand die Frau in der Ladentür und hielt ihm einen Streifen Schafskäse entgegen.

»Wir wär’s mit einem Stück Pecorino, junger Mann?«

Nico zuckte zusammen.

»So schreckhaft?« Sie lachte. Ihre Stimme klang auf eine freundliche Art rau. »Man könnte ja denken, du hättest was ausgefressen. Bist wohl nicht von hier.«

Er nickte.

»Kannst du auch sprechen?«

»Ich suche Signor Ticiani, aber ich finde ihn nicht.«

»Du meinst Davide? Den Goldschmied?«

Die braunen Riesenaugen des Jungen begannen zu leuchten. Er nickte abermals.

Die Frau trat vor den Laden, wandte sich nach links und deutete zu einer Straßeneinmündung. »Siehst du die Gasse da drüben?«

»Hm, hm.«

»Da gehst du rein. An der nächsten Ecke biegst du links ab und spazierst immer geradeaus, bis du auf eine kleine Piazza stößt. Da findest du Davides Geschäft.«

»Danke.«

»Keine Ursache. Bestell ihm schöne Grüße von Ariana.«

Wieder nickte der Junge und wollte sich schon auf den Weg machen, als Arianas heisere Stimme ihn zurückhielt.

»Du hast deinen Käse vergessen.«

Er schnappte sich das Stück, warf ihr ein Danke zu und rannte davon.

Schon von weitem erkannte er die bis unters Dach mit Wein bewachsene Fassade jenes Hauses, in dem sich eine andere Trattoria befand, die Erinnerungen an glücklichere Zeiten in ihm weckte. Dort hatte er zwei-, dreimal mit seinem Vater und Meister Davide zu Abend gegessen. Das Lokal lag direkt gegenüber von Davide Ticianis Werkstatt, an der namenlosen Piazza, deren Form ungefähr so ästhetisch und planvoll war wie die einer Tonscherbe. Als sich der Platz in sein Blickfeld schob, merkte Nico sofort, dass etwas nicht stimmte.

Laden und Werkstatt des Goldschmieds lagen an der Stirnseite eines fünfgeschossigen Hauses, das sich, eingezwängt zwischen zwei Gassen, wie ein Keil in die Piazza schob. Davor standen zwei kastenförmige Polizeifahrzeuge. Zahllose Menschen drängten sich vor dem seitlich gelegenen Eingang, nur mühsam von einer Kette Polizisten am Eindringen gehindert.

Nico schwante Schlimmes. Sollte er gleich kehrtmachen oder erst jemanden fragen, was das Polizeiaufgebot zu bedeuten hatte? Vielleicht fand da ja gerade eine Razzia statt, die ihm galt. Der Gedanke erschien ihm durchaus plausibel. Manzini kannte genügend Leute in hohen Stellungen. Er brauchte nur die richtige Nummer wählen und beiläufig einen Verdacht äußern: Könnte es nicht sein, dass Emanuele dei Rossis Sohn der Mörder ist ...?

»Pass doch auf!« Ein knochiger Kerl hatte Nico fast umgerannt; er konnte sich wohl nicht schnell genug unter die Gaffer mischen.

»Entschuldigung. Was ist denn da los?«

»Soll jemand erschossen worden sein«, rief der Mann über die Schulter hinweg und hastete weiter.

Ein Schauer rann Nico über den Rücken. Erschossen?