Der Mann, der nichts vergessen konnte - Ralf Isau - E-Book

Der Mann, der nichts vergessen konnte E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

In der Nacht des Mauerfalls verbrennen Robert und Hanna Rosenholz in ihrer Wohnung. Ihr neunjähriger Sohn überlebt. Tim wächst zu einem Mann mit besonderen Kräften heran: Er kann sich an alles in seinem Leben erinnern – bis auf die Nacht, in der seine Eltern starben. Seine Fähigkeit ermöglicht es ihm, sämtliches Wissen der Welt in seinem Geist zu verwahren, und beflügelt ihn so zu herausragenden Leistungen als renommierter Wissenschaftler, Schachweltmeister, Sprachkünstler. Als ein folgenschweres Gerücht die Geheimdienste der Welt erschüttert, kann nur Tim das Rätsel lösen. Doch dabei holt ihn seine Vergangenheit ein ...-

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Ralf Isau

Der Mann, der nichts vergessen konnte

 

Saga

Der Mann, der nichts vergessen konnte

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2008 im Piper Verlag erschienen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright ©2008, 2023 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390320

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Für Roman

»Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst,

dann lass ihn sich selbst besiegen.«

Anonymus

»Früher oder später kommt der Zusammenbruch,

und er kann schrecklich sein.«

Roger Babson (Wirtschaftsexperte, 5. September 1929)

PHASE I HERAUSFORDERUNG

9. November 1989

»Im Schach nämlich geht es darum: das Ich des Gegners zu unterwerfen, sein Ego zu zerbrechen und zu zermalmen, sein Selbstbewusstsein zu zertreten ‒ und es zu verscharren und seine ganze verachtenswerte sogenannte Persönlichkeit ein für alle Mal zu Tode zu zerhacken – und zu zerstampfen; und dadurch die Menschheit von einer stinkenden Pestbeule zu befreien. Es ist ein königliches Spiel«

Bobby Fischer

Es wird behauptet, bedeutende Ereignisse seien wie eine Frischzellenkur für das Gedächtnis. Noch Jahrzehnte später entsännen sich Menschen beim Gedanken daran genau an den Ort ihres Aufenthalts oder an die gerade verrichtete Tätigkeit. Umso sonderbarer mutet es an, wenn ausgerechnet der Mann mit dem besten Gedächtnis der Welt sich nicht mehr an einen solchen Tag erinnern konnte. Und trotzdem ist genau das geschehen.

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war Tim Labin neun Jahre alt und hieß noch Tim Rosenholz. Er litt zwar gelegentlich unter epileptischen Anfällen, doch seine Lehrer bescheinigten ihm einen überdurchschnittlichen Verstand. Seinen Altersgenossen war er weit voraus. Der blinde Fleck auf der später so makellosen Netzhaut seines Erinnerungsvermögens rührte von tragischen Vorkommnissen her, die in besagter Nacht sein Leben verändern sollten.

Wie Millionen andere Familien saßen auch die Labins an jenem Donnerstag vor dem TV-Gerät. Um sie herum vibrierte das ganze Wohnhaus wie eine riesige Lautsprecherbox, weil offenbar die ganze Nachbarschaft ebenfalls Westfernsehen guckte. Der Sender Freies Berlin, vor wenigen Monaten noch eine verbotene Fernsehstation auf der anderen Seite des sozialistischen Schutzwalls, strahlte ein weltweit einzigartiges Live-Programm aus.

Am innerstädtischen Grenzübergang Bornholmer Straße hatte die Masse seit etwa neun Uhr abends »Tor auf!« skandiert, bis Viertel nach elf der Schlagbaum tatsächlich hochging. Ähnliches vollzog sich an den Übergängen Sonnenallee und Invalidenstraße. Seitdem war Berlin ein Tollhaus. Im Westen der Stadt fielen sich die Menschen um den Hals, am Brandenburger Tor tanzten sie auf der Mauer, und in den Straßen floss der Sekt in Strömen.

Bei den Rosenholzens herrschte ergriffenes Schweigen. Robert und Hanna saßen im Wohnzimmer, einander bei den Händen haltend, auf der Couch. Ihre Blicke waren wie unter Hypnose auf die Mattscheibe gerichtet. Um ihre elterlichen Instinkte nicht zu wecken, verhielt sich Tim still. Er steckte zwar schon in dem lächerlichen blauen Frotteeschlafanzug mit dem Sandmännchen auf der Brust, durfte aber ebenfalls noch fernsehen.

Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür.

Die Eltern zuckten zusammen, als flösse elektrischer Strom durch die Sprungfedern des alten Sofas.

»Ziemlich spät für einen Besuch«, raunte Hanna. Ein besorgter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.

Roberts Blick wanderte zur Standuhr neben dem Sekretär. Es war elf Minuten vor Mitternacht. Seine Stimme klang auf eine beschwörende Weise ruhig, als er antwortete: »Vielleicht nur jemand von den Nachbarn, der mit uns auf die Grenzöffnung anstoßen will. Ich schau mal nach.« Er schlüpfte in die Filzpantoffeln, und nachdem er den Fernseher leise gestellt hatte, schlich er aus dem Zimmer.

Trotz des Lärms aus den oberen Stockwerken hörte Tim die Dielen im Flur knarren. Die Familie Rosenholz lebte in einer geräumigen Altbauwohnung in der Krausnickstraße 5 im Berliner Stadtteil Mitte. Mit den Nachbarn kam man gut aus. Wozu also die Geheimnistuerei?, fragte er sich.

Erneut klingelte es, und die gedämpfte Stimme eines Mannes war zu hören. »Herr und Frau Rosenholz? Ich muss Sie dringend sprechen. Bitte, öffnen Sie.«

Im nächsten Moment war Robert wieder im Zimmer. Hastig schaltete er die Deckenleuchte und den Fernseher aus. »Es ist Gomlek«, zischte er und spähte vorsichtig durchs Fenster zur Straße hinab.

»Wer?«, fragte Hanna.

»Iwan Gomlek. Der Russe, der neulich bei uns in der Registratur herumgeschnüffelt hat. Rainer meinte, ich solle ihn nicht beachten. Gomlek sei von unseren Freunden, ein KGB-Stationsleiter aus Karlshorst.«

Tims Mutter sprang von der Couch hoch. »Der sowjetische Geheimdienst? Meinst du, sie sind uns auf die Schliche gekommen?«

»Psst!« Robert vollzog mit erhobenem Zeigefinger einen Kreis, als wolle er auf Kobolde oder andere unsichtbare, unter der Decke schwebende Lauscher hindeuten. Das Verhalten seiner Eltern war Tim nicht geheuer. Mit einem Mal hörte er ein Klopfen von der Wohnungstür.

»Herr und Frau Rosenholz. Bitte, öffnen Sie sofort! Wir wissen, dass Sie zu Hause sind.«

»Wir sind aufgeflogen«, jammerte Hanna.

Robert schüttelte den Kopf. »Vielleicht werden wir bespitzelt, aber wir sind keine Feinde der Republik. Nicht mal Diebstahl kann man uns vorwerfen.«

»Nein, aber wir haben etwas hinzugefügt. Sie werden sich einen feuchten Kehricht um unsere Absichten scheren. Für sie sind wir Saboteure. Sie bringen uns nach Bautzen und sperren uns weg. Oder wir werden hingerichtet ...«

Abermals pochte es. »Herr Rosenholz, seien Sie doch vernünftig. Wenn Sie nicht öffnen, müssen wir die Tür aufbrechen«, drohte die Stimme von draußen.

»Ich versuche sie hinzuhalten. Versteck du den Jungen. Sofort!«, zischte Robert.

Allmählich bekam Tim Angst. Zwar hatte er seine Eltern in den letzten Wochen ab und zu beim Tuscheln erwischt, sich aber nichts weiter dabei gedacht. Erwachsene meinten ja ständig, sie müssten ihren Kindern etwas verschweigen, weil sie für die Wahrheit noch nicht reif genug seien.

Seine Mutter packte ihn am Arm. »Komm, schnell!«, flüsterte sie und zog ihn auf den Flur hinaus, wohin schon der Vater vorausgeeilt war.

»Sie haben uns geweckt. Was wollen Sie denn?«, rief Robert und täuschte ein Gähnen vor.

»Versuchen Sie nicht, uns hinzuhalten, Rosenholz. Wir haben Ihren Fernseher gehört.«

»Sind Sie noch nie vor der Glotze eingeschlafen?«

»Das sage ich Ihnen, sobald Sie uns geöffnet haben. Aufmachen!«, befahl die Stimme dieses Gomlek. Tim fand sie hinreichend einschüchternd, um sich den Mann als besonders gefährlichen Geheimagenten vorzustellen.

Inzwischen war Hanna mit ihrem Sohn durch die nächste Tür geeilt – in die Küche. Neben dem Fenster lag die Speisekammer, ein besseres Versteck fand sich auf die Schnelle nicht. »Hinein mit dir und keinen Mucks!«, raunte sie und schob Tim in den engen Verschlag. »Wenn sie kommen, dann kriech unter die Plane in der Kartoffelkiste.«

Ehe er sich’s versah, hatte sie die Tür schon wieder verschlossen. Tim hätte am liebsten laut losgeheult. Die von den Bildern fröhlicher Menschen heraufbeschworene friedliche Stimmung war einer kalten Furcht gewichen. Aufregung, Angst, heftiges Atmen, Dämmerlicht und Kälte – das alles war nicht gut für ihn. Es konnte einen epileptischen Anfall auslösen. Und dann wäre er allein, niemand könnte ihm helfen ... Zitternd spähte er zwischen den verzogenen Holzfüllungen der Tür hindurch in die Küche. Mit einem Mal ging das Licht aus. Seine Mutter war in den Flur zurückgekehrt.

Die Kammer verfügte über ein eigenes Fenster, eng zwar und mit einer Schicht weißer Farbe auf der Scheibe, aber wenigstens schimmerten die Straßenlaternen matt hindurch. Tim sah sich um. Er kauerte inmitten von Regalen voller Einweckgläser, Dosen und Äpfel. Ganz hinten stand die große Holzkiste mit den Kartoffeln. Als er die Plane zurückschlug, hörte er unvermittelt die aufgeregte Stimme des Vaters.

»Was soll das? Wir haben nichts getan!«

»In die Küche mit ihnen«, verlangte Gomlek.

Die Ritzen in der Tür wurden erneut von gelbem Licht geflutet. Lautes Poltern und die Stimmen zweier anderer Männer drangen in die Kammer. Tims Angst wurde größer und größer, sein Zittern immer heftiger. Trotzdem zog es ihn wieder zu dem Spalt in der Tür. Dicht über dem Boden war er am breitesten und gewährte ein schmales Sichtfeld zwischen der Fensterwand und der karierten Wachstuchdecke auf dem Küchentisch. Niemand war zu sehen.

»Wo ist Ihr Sohn?«, fragte Gomlek mit tiefer Stimme in fast akzentfreiem Deutsch.

»Er übernachtet heute bei einem Freund«, log Robert.

Tim war am Nachmittag tatsächlich bei seinem Schulfreund in der Oranienburger Straße gewesen. Weil beide Jungen im selben Karree wohnten, hatte er abends die Abkürzung über den begrünten Innenhof genommen und das Haus durch den Hintereingang betreten. Sollten die Agenten nur vorne, in der Krausnickstraße, Posten bezogen haben, konnten sie von seiner Heimkehr nichts wissen.

Iwan Gomlek schien sich mit der Antwort zu begnügen. Er lief an der Vorratskammer vorbei und zog die Fenstervorhänge zu. Jetzt konnte Tim ihn von der Seite sehen, und er erschrak.

Das Scheusal richtete eine Pistole auf seine Eltern, ein schwarzes Ding mit monströs langem Lauf. Der Mann mochte um die fünfzig sein, war ganz in Schwarz gekleidet, groß und so breit wie ein Kleiderschrank. Sein kantiger Schädel wurde durch eine Glatze noch besonders betont. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Gesicht ...

»Plaudern wir miteinander. Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Gomlek mit gespielter Freundlichkeit. Er schob den Küchentisch zum Herd hinüber und stellte zwei Stühle mitten in den Raum. Seine beiden Helfer zwangen Robert und Hanna, sich hinzusetzen, womit sie für Tim ebenfalls sichtbar wurden, wenn auch nur von hinten.

»Damit Sie in der Aufregung keine Dummheiten anstellen, werden wir Ihnen jetzt ein Mittel injizieren«, erklärte Gomlek im Ton eines Arztes, der über eine harmlose Schutzimpfung spricht.

Tims Mutter fing leise an zu weinen.

»Was ist das? Eine Wahrheitsdroge?«

»Viel besser. Schön stillhalten, damit ich nicht hiervon Gebrauch machen muss.« Gomlek wackelte bedeutungsvoll mit der Waffe.

Einer seiner Begleiter zog eine Spritze auf. Der Kerl hatte dichtes, glattes, schwarzes Haar, einen vollen Schnurrbart, aber nur eine Augenbraue. Im Vergleich zu seinem Boss war er jünger, kleiner, grobschlächtiger und irgendwie ... orientalischer. Sanftheit gehörte offenbar nicht zu seinen Stärken – er stach Hanna die Nadel einfach durch den Rock in den Oberschenkel. Sie japste vor Schmerz.

»Muss das wirklich sein?«, protestierte Robert.

Der dritte Agent schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht.

Hanna schrie.

Der Mann versetzte auch ihr eine Ohrfeige.

Tim hätte am liebsten ebenfalls losgebrüllt, doch ihm schwante, dass er damit sich und seinen Eltern nur schaden würde. Stattdessen biss er in den Ärmel seines Pyjamas, um gegen die aufkommende Panik anzukämpfen. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse, als seine Mutter zu weinen begann. Ihm war schwindelig. Warum hatte ihn seine Epilepsie nicht längst außer Gefecht gesetzt? Hilflos musste er mit ansehen, wie der Schnurrbärtige eine zweite Ampulle köpfte, dieselbe Spritze abermals aufzog und sie dem Vater ins Bein jagte.

Gomlek befahl seinen Männern, die Wohnung nach dem Jungen zu durchkämmen. Derweil sackte Robert zur Seite. Tim sah seinen Vater schon betäubt vom Stuhl fallen, aber unvermittelt hielt der KGB-Mann ihn fest und rückte ihn wieder gerade. »Vermutlich wundern Sie sich, warum Ihre Arme und Beine Ihnen nicht mehr gehorchen. Das ist aber ganz normal«, erklärte er gut gelaunt, während es in einem Nachbarzimmer polterte. »Mein Kamerad hat Ihnen einen Cocktail verabreicht, der Ihre Muskulatur erschlaffen lässt. Keine Sorge, wir haben die Zusammensetzung und Dosierung so gewählt, dass Sie weiter atmen und sprechen können. Die Schwäche wirkt nur auf die Extremitäten. So ersparen wir uns die Handschellen oder Stricke, und Sie können mir ganz entspannt zuhören und meine Fragen beantworten. Sie arbeiten doch beide im Referat 7 der Hauptverwaltung Aufklärung, nicht wahr?«

»Was soll die Frage? Das wissen Sie doch ganz genau«, knirschte Robert.

Gomlek verzog den Mund zu etwas, das einem Lächeln ähnelte. »Ganz richtig. Ich will es Ihnen nur leichter machen, Herr Rosenholz. Wir können die Angelegenheit auch gerne abkürzen: Wonach haben Sie und Ihre Frau im Archiv gesucht?«

»Wir? Gesucht? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

Der Agent schlenderte zu den Küchenschränken neben dem Herd, ließ seine Fingerspitzen über zwei der dort liegenden Messer gleiten und entschied sich für das größere. Damit kehrte er zurück und stach Hanna die Klinge tief in den Oberschenkel.

Ihr Schmerzensschrei ließ Tim von der Tür zurückschrecken. Mit weit aufgerissenen Augen saß er auf dem Boden der Speisekammer und presste sich den Arm gegen den Mund, weil er nicht mehr länger an sich halten konnte. In einem erstickten Laut brachen Furcht und Entsetzen aus ihm hervor. Wenn sie dich hören, bringen sie dich um! Der Gedanke vermischte sich in seinem Kopf mit der Sorge um die Eltern zu einem betäubenden Gift, das ihm schier das Bewusstsein raubte.

Nach einer Weile kroch er trotzdem zum Spalt zurück. Hanna wimmerte nur noch, und der KGB-Mann fuhr mit seinem Verhör fort.

»... müssen mir bitte glauben, Herr Rosenholz, dass ich keine Freude bei dem empfinde, wozu Sie mich zwingen«, säuselte Gomlek, als bedauere er den brutalen Vorfall. »Aber ich kenne mich mit der menschlichen Anatomie leidlich aus. Das Messer hat keine Schlagader verletzt. Ihre Frau muss also nicht verbluten – wenn Sie Ihre Bedenkzeit kurz halten.«

»Wir sind keine Spione«, beteuerte Robert. Seine Stimme klang gepresst von unterdrücktem Zorn und hilfloser Verzweiflung.

»Habe ich das behauptet?«, entgegnete Gomlek konziliant. »Was wissen Sie über Thomas Jefferson Beale?«

»Wie? Ich verstehe nicht ...«

»Unserer Kenntnis nach haben Sie in der Registratur, in der Sie arbeiten, Informationen über diese Person gesammelt. Der Name ist auch mehrmals in Gesprächen gefallen, die Sie mit Leuten aus Ihrem Auslandsgeheimdienst und anderen Mitarbeitern der HVA führten.«

Roberts Kopf taumelte hin und her, »Beale ist kein amerikanischer Spion. Unsere Nachforschungen sind rein privater Natur.«

»Ach?«

»Das ist die Wahrheit. Sie müssen mir glauben, Genosse Gomlek. Bitte, verbinden Sie doch endlich meine Frau!«

Hannas Wimmern wurde lauter.

»Das hat noch Zeit. Sie kennen doch sicher die Worte des großen Strategen: ›Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann lass ihn sich selbst besiegen.‹ Mag sein, dass ich nicht stark genug bin, um Sie zum Reden zu bringen, Herr Rosenholz, aber gegen Ihre eigenen Gefühle kommen Sie auf die Dauer nicht an. Sagen Sie mir jetzt, was Sie so sehr an Thomas Beale interessiert. Was verbindet Sie oder Ihre Familie mit diesem Mann?«

»Das weiß ich selbst nicht genau ...«

»Wir spielen hier kein Kaffeehausschach, Herr Rosenholz. Sie sind am Zug. Geben Sie mir endlich klare Antworten, oder Ihre Frau ...«

Gomlek verstummte, weil die beiden Agenten in die Küche zurückkehrten.

»Wir haben nur das hier gefunden, Genosse Oberstleutnant«, sagte der mit der fehlenden Augenbraue in fließendem Deutsch, wenn auch mit hartem Akzent.

»Wodka?«

»Sogar zwei Flaschen von dem feinsten Wässerchen. Von dem Jungen fehlt jede Spur. Er könnte höchstens noch hinter der Tür da sein.«

»Du meinst, uns sitzt ein Kibitz im Nacken?«, entgegnete Gomlek vergnügt. Zum ersten Mal wandte er sein Gesicht direkt dem Versteck zu.

Tim erschrak. Ihm war, als blicke er ins Antlitz eines haarlosen Ungeheuers. Dieser Mann hatte etwas von einem Kraken an sich. Hektisch krabbelte er zu der Kartoffelkiste, kletterte hinein, zog sich die Plane über den Kopf und hielt den Atem an.

Einen lärmenden Herzschlag später wurde die Tür aufgerissen. Zwei feste Schritte. Durch die Ritzen zwischen den Brettern sah Tim schwere Stiefel. Direkt über ihm erklang die Stimme des Schnurrbärtigen. »Eine Speisekammer, Genosse Oberstleutnant. Kein Junge. Nur eine Kiste.«

»Schau nach, was drin ist, Casim.«

Tim sah durch den Spalt, wie der Mann in die Hocke ging und die Mündung einer Pistole vorüberglitt. Er kniff die Augen zu. Jetzt bist du fällig! Der Gedanke donnerte noch durch seinen Schädel, als unvermittelt Roberts aufgeregte Stimme dazwischenblitzte.

»Also gut, ich gebe Ihnen, was Sie haben wollen.«

Der Agent in der Kammer fuhr herum.

Gomlek lachte. »Warum nicht gleich so, Herr Rosenholz?« Und in ernsterem Ton fügte er hinzu: »Du kannst zurückkommen, Casim, und schließ die Tür hinter dir ab.«

Tim hörte ein Klappen, und in der Kiste wurde es dunkel. Er atmete aus.

Eine Weile wagte er nicht, sich zu rühren, aber dann wurde die Sorge um die Eltern übermächtig. Er schlüpfte unter der Plane hervor, kroch auf allen vieren zur Tür und spähte durch den Spalt.

Das Kinn seiner Mutter war auf die Brust gesunken, so als schliefe sie. Ihr Bein blutete immer noch.

Robert reckte seinem Peiniger trotzig das Kinn entgegen.

Gomlek sagte amüsiert: »Ich hoffe für Sie, Ihr Zwischenzug war nicht bloß eine Finte.«

Ehe Tims Vater etwas erwidern konnte, erschien wieder der Mann mit der fehlenden Augenbraue auf der Bildfläche und reichte seinem Boss einen geöffneten, vergilbten Briefumschlag. Gomlek entnahm ihm ein einzelnes, in der Mitte gefaltetes Blatt.

»Eine Vollmacht in englischer Sprache. Wie interessant«, murmelte er, während er mit großen Augen den Inhalt des Papiers studierte. »Sogar beinahe hundertfünfzig Jahre alt! Und was haben wir denn da?« Gomlek fing an, aus dem Inhalt zu zitieren: »›Ich verdanke Mr. Rosewood mein Leben ... Er genießt mein vollstes Vertrauen ... händigen Sie bitte Mr. Rosewood die Schachtel mit sämtlichen Papieren aus.‹ Rosewood? Rosenholz? Klingt ja tatsächlich, als habe sich da einer Ihrer Ahnen um den Unterzeichner des Dokuments verdient gemacht. Da stehen nur die Initialien T.J.B. Woher wussten Sie, dass dieses Schriftstück von Thomas Jefferson Beale stammt?«

»Weil es unzählige Veröffentlichungen über Robert Morriss und Beale gibt.«

»Wo? In der DDR? Das bezweifle ich. Und in den Buchläden unserer sozialistischen Bruderstaaten werden Sie bestimmt auch nichts über das Gespann gefunden haben. Oder lesen Sie etwa die Schriften des Klassenfeinds?« Gomleks Stimme wurde hart. »Machen Sie mir nichts vor, Herr Rosenholz. Sie wissen mehr, als Sie zugeben wollen. Ist Ihre Familie im Besitz dieser Schachtel, die Beales Freund Jacob Rosewood in Empfang genommen hat?«

»Nein, verdammt noch mal! Sie unterstellen uns da etwas ...« Roberts Kopf wackelte wie bei einem Betrunkenen hin und her. »Wir haben weder diese Schachtel noch die erwähnten Papiere jemals gesehen. Wäre es anders, wieso sollten wir dann in der Registratur nach weiteren Spuren zu diesem mysteriösen Dokument suchen?«

»Vielleicht, weil Beales Vermächtnis verschlüsselt ist und Sie es nicht entziffern können?«

»Aber das ist nicht wahr.«

»Ein guter Spieler überblickt stets mehrere Züge seines Gegners im Voraus, Herr Rosenholz. Als dieser Vollidiot von Pressesprecher heute ohne Ermächtigung den Wegfall sämtlicher Reisebeschränkungen verkündete, war mir klar, dass ich handeln musste, damit Sie mir nicht entwischen ...«

»Sie sind wahnsinnig!«, schrie Robert dazwischen.

Tim trat der kalte Schweiß auf die Stirn, und sein Herz fing an zu rasen.

Gomlek blieb scheinbar gelassen. Bedächtig nahm er dem Bärtigen eine der Wodkaflaschen aus der Hand – und zerschlug sie blitzschnell auf dem Kochherd. Der Inhalt spritzte über den Boden. Mit dem zersplitterten Rest in der Hand näherte er sich langsam Tims Mutter.

»Sind Sie bereit, Ihre Dame zu opfern, Rosenholz?«

»Bitte!«, bettelte Robert. »Lassen Sie Hanna in Ruhe. Dieses Papier ist uralt. Vielleicht existiert Beales Schachtel überhaupt nicht mehr. Ich würde Ihnen alles geben, um meine Familie zu schützen, aber ich habe nichts.«

»Kannst du mir Feuer geben, Casim?«, wandte sich Gomlek seinem Henkersknecht zu.

Der Schnurrbärtige zog eine Streichholzschachtel aus der Tasche und strich ein Zündholz an. Auf Gomleks Wink warf er es in die Wodkapfütze unter dem Herd. Tim vernahm ein leises Fauchen. Blaue Flammen züngelten über den Boden.

Gomlek verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »Tempus fugit, sagt der Lateiner – ›Zeit fliegt‹ –, und die Ihre ist gerade verflogen.« Noch immer stand er vor Hanna, den Flaschenhals fest umklammernd.

»Bitte!«, schluchzte Robert. »Was immer Sie von uns wollen, wir haben es nicht.«

Versonnen starrte Gomlek auf das beschichtete Tischtuch, das zuvor auf den Boden gefallen war. Qualmwolken stiegen davon auf. Er schüttelte traurig den Kopf. »Wirklich zu schade, Herr Rosenholz. Es ist nicht allein die magere Ausbeute unseres Besuchs hier, die mich bekümmert, sondern mehr noch Ihr völlig nutzloses Leiden.«

»Wenn Sie nur bitte endlich gehen!«

»Sie haben mir also nichts mehr mitzuteilen?«

»Verdammt noch mal, nein!«, brüllte Robert aus voller Kehle.

Starr vor Angst klebte Tim an der Tür und wünschte, dies alles sei nur ein grausamer Traum. Sämtliche Muskeln in seinem Körper waren hart wie Stein; nur seine Lungen pumpten den Sauerstoff immer schneller ins Blut.

Gomlek seufzte. »Dann sagen Sie Ihrer Frau Lebewohl.« Er nickte seinem zweiten Helfer zu.

Der Mann trat hinter Hanna, krallte seine Finger in ihren dunklen Haarschopf und riss ihren Kopf brutal zurück.

Eine kleine Ewigkeit lang betrachtete Gomlek teilnahmslos die ihm dargebotene Kehle. Dann holte er bedächtig mit seinem Scherbendolch aus.

In diesem Moment durchlief Tim ein nur allzu bekanntes Gefühl – meistens kündigte sich so ein epileptischer Anfall an. Ein, zwei Sekunden lang war ihm, als stürze er in einen tiefschwarzen Abgrund. Dann versagten ihm Arme und Beine den Dienst, und während er wie aus weiter Ferne den Schrei seines Vaters hörte, sackte er zu Boden und versank in Finsternis.

*

Als Tim wieder zu sich kam, tat ihm die Zunge weh. Er schmeckte Blut. Um ihn herum war es laut. In seinen Ohren dröhnte ein unerklärliches Fauchen. Benommen sah er sich um. War er in der Speisekammer? Seltsam. Hatte er etwa wieder einen Anfall gehabt?

Die Luft in dem kleinen Raum war so heiß, als käme sie aus einem Föhn. Tim verspürte den unbändigen Drang davonzulaufen. Irgendwohin. Doch er war offenbar in einem Albtraum gefangen, aus dem es keinen Ausgang gab. Als er den Kopf hob, bemerkte er die gleißenden Ritzen in der Tür. Allmählich kehrte sein Geist in die Wirklichkeit zurück, wenngleich diese ihm nach wie vor alles andere als real erschien. In der Küche tobte ein Feuer!

Er musste raus hier. Sofort! Seine Hand wollte sich auf den Türknauf legen, zuckte aber sofort wieder zurück. Das Metall war glühend heiß.

Ächzend kam er auf die Beine und sah sich in der Speisekammer um. Sein Blick streifte über Gläser, Dosen und Äpfel und blieb schließlich an einem alten Handtuch hängen. Das könnte gehen.

Rasch faltete er den Stoff zweimal zusammen, legte ihn über den Knauf und drehte diesen nach rechts. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Die Vorstellung, in der Kammer bei lebendigem Leibe zu verbrennen, versetzte ihn in Panik. Er schrie und rüttelte an der Tür, aber die rührte sich nicht, und so musste er den Drehgriff wieder loslassen, weil die Hitze seine Haut sogar durch den vierlagigen Lumpen hindurch zu versengen drohte. Gehetzt sah er sich um.

Das Fenster! Es war der einzige Weg in die Freiheit. Die Wohnung lag im ersten Stock. Konnte er einen Sprung aus dieser Höhe wagen? Und würde er überhaupt durch die schmale Öffnung hindurchpassen? Ein bedrohliches Knacken von der Tür gemahnte ihn zur Eile. Jeden Moment konnten die Flammen sich durchs Holz fressen. Es blieb ihm gar keine andere Wahl, als sich durchs Fenster zu zwängen.

Entschlossen packte er den ersten der beiden Schwenkriegel, aber auch der hing fest. Wieder sah sich Tim in der Kammer um. Da gab es weder einen Hammer noch andere Werkzeuge, nur diese verdammten ...

Dosen!

Besser als nichts, dachte er, nahm einen der Weißblechbehälter aus dem Regal und hämmerte damit gegen den Riegel. Nach mehreren Schlägen lockerte sich dieser und klappte endlich herum. Sofort nahm Tim den zweiten Verschluss in Angriff, hämmerte, rutschte ab und schlug erneut dagegen, bis auch dieses Hindernis genommen war. Die verbeulte Dose ließ er achtlos fallen.

Aus der Ferne hörte er das Martinshorn der Feuerwehr. Vermutlich hatten die Nachbarn den Notruf gewählt. Gut so. Hoffentlich waren auch seine Eltern den Flammen entkommen. Wieder ertönte von der Tür ein schauerliches Knacken.

Tim packte den runden Knauf. Der Anfall hatte ihn geschwächt, deshalb sammelte er einen Moment Kraft. Dann riss er das Fenster mit einem Ruck auf.

Zu spät wurde ihm klar, was er damit ausgelöst hatte. Der Todeskampf der Tür schwoll zu einem grauenerregenden Knirschen und Ächzen an. Tim sah eine Menschentraube auf der Straße. Mehrere Leute gestikulierten aufgeregt, aber der Lärm des Feuers übertönte ihre aufgeregten Stimmen.

Rasch stieg er in die Fensternische und schob sich mit vorgereckter Schulter nach draußen auf den Sims. Nur noch ein paar Minuten, dachte er, dann kommt die Feuerwehr und rettet ...

Unvermittelt brach die Hölle los. Die Tür der Speisekammer wurde förmlich aus ihrem Rahmen gesprengt, und eine brüllende Flammenzunge leckte gierig nach dem frischen Sauerstoff.

Vor Schreck verlor Tim den Halt und fiel. Während das Pflaster des Gehweges auf ihn zuraste, drehte sich alles um ihn herum. Er schrie aus Leibeskräften. Dann wurde sein Körper gleichsam von einer riesigen Faust zermalmt, und jener seidene Faden, der seine Schmerzen und Ängste gehalten hatte, riss jäh von ihm ab.

PHASE II AUFSTELLUNG

17 Jahre später

»Ich konnte den Traum noch mechanischer behandeln; aber mein Genius ruft mir überhaupt zu: Gleich der Schachmaschine; rollet die Weltmaschine mit lauten Rädern um, aber eine lebendige Seele verbirgt sich hinter den mechanischen Schein.«

Jean Paul

Ein Raunen ging durch die bogenförmigen Reihen des Auditoriums, als JJ ihren betagten Schützling in den Saal führte. Sie wusste nur allzu gut, dass die Studenten hier ein verwöhntes Publikum waren. Doch selbst an einer Eliteuniversität wie dem MIT gehörten Auftritte wie dieser wohl eher zu jenen seltenen Ausnahmen.

Dr. Emil W. Kogan, der Gastdozent an diesem Nachmittag, arbeitete für die National Security Agency, den geheimsten Geheimdienst der USA, so geheim, dass noch dreißig Jahre nach seiner Gründung zahlreiche Kongressabgeordnete und Senatoren nichts von seiner Existenz gewusst hatten, Crypto City, das NSA-Hauptquartier in Fort Meade, Maryland, hieß zwar wie eine Stadt, hatte auch die Dimensionen einer Kleinstadt, ließ sich aber auf keiner offiziellen Karte finden. Die NSA war ein hungriger Moloch, der nicht Kinder, sondern elektronische Nachrichten verschlang. Jedes Telefonat, jedes Fax und jede E-Mail verleibte er sich ein – weltweit. In seinem kilometerlangen »Gedärm« wurde diese oft unverdauliche Kost aufgeschlüsselt: in einen großen Batzen Abfallstoffe und die wenigen nützlichen Bestandteile, die ihn weiter wachsen ließen. Der monströse Verdauungstrakt beschäftigte an die vierzigtausend Bakterien – die NSA bevorzugte allerdings die Bezeichnung »Mitarbeiter«. Den Stoffwechsel des Moloch in Gang zu halten galt als Privileg, das gemeinhin mit einem sicheren Job und guter Bezahlung assoziiert wurde. Da nun aber der Appetit des Riesen unersättlich war, suchte er ständig neue begabte Mathematiker, Linguisten und Informatiker.

Letztere gehörten einer ganz besonderen Spezies an, der man bisweilen geradezu mystische Fähigkeiten nachsagte: Sie vermochten Maschinen Leben einzuhauchen. Nach Ansicht vieler spielten sie damit in derselben Liga wie Zeus oder Zarathustra. Und zu den weltweit führenden Zauberschulen für den Götternachwuchs zählte das MIT, genauer gesagt, das Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory, kurz CSAIL.

Wie schräg einige Köpfe an diesem »Laboratorium für Informatik und Künstliche Intelligenz« zu denken fähig waren, dokumentierte recht anschaulich der Gebäudekomplex, in dem es untergebracht war. Das Rayand Maria Stata Center, in dessen vierstöckigen Sockelbau JJ soeben ihren Mentor geführt hatte, wirkte ein wenig, als sei es eine Manifestierung von Ballantines bizarrem Traum aus Alfred Hitchcocks Film Ich kämpfe um dich. Mit seinen schrägen Fassaden vermittelte der Komplex den Eindruck der Unfertigkeit, so, als seien große Spielkarten flüchtig aufeinandergestapelt, um beim nächsten Windhauch wieder zusammenzustürzen. Immerhin hatte das Stata diesen Zustand jetzt schon mehr als zwei Jahre überdauert. Damit symbolisierte es treffender als jeder Slogan das Credo der Menschen, die hier lernten und arbeiteten: Nichts ist statisch, alles kann sich verändern, nur der Wandel bleibt uns ewig erhalten.

Obwohl also Abwechslung am CSAIL Pflicht war, entbehrte der Auftritt des »Stargasts« nicht einer gewissen Exotik. Karim Al Massari – JJs am MIT studierender Freund – hatte die Erwartungshaltung im Vorfeld der Veranstaltung hochgeschraubt. Kogan sei blind, hatte er seine Kommilitonen wissen lassen, und seine achtundzwanzig Jahre junge Begleiterin eine Traumfrau wie aus Tausendundeiner Nacht.

Während JJ den Redner zum Katheder geleitete, schweifte ihr Blick durchs Publikum. Überwiegend Männer. Oder zumindest Milchbärte, deren lässige Körperhaltung verriet, wie ungemein männlich sie sich fühlten. Bis jetzt verlief also alles nach Plan. Der hungrige Schwarm stierte den Köder an. Es störte sie nicht, von Kogan vor allem als Blickfang mitgenommen worden zu sein, solange ihre übrigen Qualitäten bei ihm im Vordergrund standen. Und das musste man Emil Kogan lassen: Obwohl er ein Meister der Täuschung war, achtete er bei seinen Mitarbeitern stets mehr auf den Inhalt als auf die Verpackung.

Der Doktor aus Crypto City trug einen langen weißen Stock und eine schwarze Brille, welche sich perfekt an seine Gesichtsform anpasste. Auch sein dunkelgrauer Anzug war maßgefertigt. Kogan füllte ihn auf beeindruckende Weise aus. Im Veranstaltungshinweis hatten die Studenten lesen können, er sei sechsundsechzig, doch in der Art und Weise, wie sich dieser stattliche Mann bewegte, wirkte er auf die meisten wohl eher zwanzig Jahre jünger. Da gab es kein Zittern, keinen gebeugten Rücken oder sonstige Anzeichen von Hinfälligkeit. Aufrecht trat er ans Pult – es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, seinen Vortrag sitzend zu halten. Sein weißes Haar war voll und für einen Mann dieses Alters erstaunlich lang.

Als Repräsentantin einer dem US-Verteidigungsministerium unterstellten Behörde hatte JJ für den Auftritt im CSAIL ein konservatives Outfit gewählt: dunkelblaues Kostüm mit taillierter Jacke und eng geschnittenem Rock, der eine Handbreit über dem Knie endete; dazu eine weiße Bluse und eine Perlenkette, die besonders gut mit ihrem bronzefarbenen Teint harmonierte. Sie war eins fünfundsiebzig groß und schlank. Die figurbetonte Kleidung konnte sie sich also leisten, auch dank eines strengen Ernährungsplans und regelmäßigen Trainings in Thaing Byong Byan, einer burmesischen Kampfsportart. Ihre weit über die Schultern fallenden, dunkelbraunen, seidig glatten Haare trug sie offen. Vermutlich fragten sich die stieläugigen Milchbärte, woher diese Miss Orient oder ihre Ahnen stammten. Auf Afghanistan tippt ihr bestimmt nicht, dachte JJ, während sie ins Publikum lächelte. Karim meinte immer, ihre Augen seien ihre stärkste Waffe. Sie leuchteten ausdrucksstark wie vom Sternenhimmel gefallene grüne Smaragde, und mit dem dunkleren Außenring um die Iris besaßen sie eine fast hypnotische Wirkung. Als gebürtiger Pakistaner war auch er ein Orientale, und die neigten ja bekanntermaßen zu blumigen Übertreibungen.

»Die junge Dame neben mir, die ein Großteil von Ihnen gerade angafft, ist JJ«, begann Kogan ganz unkonventionell seinen Vortrag. Auf eine förmliche Begrüßung verzichtete er. Offenbar wusste er genau, dass er mit Konventionen vor diesem Publikum keinen Eindruck schinden konnte, wohl aber mit dem Juwel an seiner Seite.

JJ nickte in die Zuhörerschaft, ließ einmal mehr ihr betörendes Lächeln aufblitzen und setzte sich auf den Stuhl, welchen man für sie neben dem Rednerpult bereitgestellt hatte. Einige Studenten verfolgten interessiert das damit einhergehende Höherrutschen ihres Rocksaums.

»JJ ist an einer kleineren Universität in New Haven, Connecticut, immatrikuliert, wo sie gerade an ihrer Dissertation in Geschichte arbeitet«, fuhr Kogan fort und erntete dafür spontanen Beifall. Jeder hatte verstanden, dass er von Yale redete, nach Harvard, das gewissermaßen auf der anderen Straßenseite vom MIT lag, die zweitreichste Universität der Welt. Mit seinem sicheren Gespür für die ewige Rivalität der beiden Wissenschaftszentren hatte Kogan bei seinen elitären Zuhörern, noch ehe sein Vortrag begann, zum zweiten Mal gepunktet. Einige Studenten johlten vor Vergnügen. JJ machte gute Miene. Kogan deutete mit der Linken erstaunlich präzise in ihre Richtung und setzte noch einen drauf. »Wem sie ihre Gunst schenkt, der darf diese anmutige Fee Jamila nennen. Aber unterschätzen Sie JJ nicht. Wer sie beeindrucken will, braucht eine gehörige Portion Grips,«

Im Hörsaal ertönten begeisterte Pfiffe und Jay-Jay-Rufe. Einige hielten sich sogar für intelligent genug, »Jamila« zu intonieren.

»So gerne ich Ihnen am heutigen Nachmittag mehr über meine liebreizende Assistentin erzählen würde, so sehr drängt es mich, mit einem anderen Thema Ihre geschätzte Aufmerksamkeit zu gewinnen.« Mit diesen Worten brachte Kogan seinen Vortrag geschickt auf die sachliche Ebene. Er stellte sich nun förmlich als Mitarbeiter eines NSA-Projekts vor und bezeichnete sich ganz unbescheiden als einen der führenden Experten auf dem Gebiet des Terrorismus und der Kriegführung im Internet. Über das genaue Aufgabengebiet seiner Arbeitsgruppe dürfe er aus Geheimhaltungsgründen nichts Näheres sagen. Damit fesselte er sein Publikum noch mehr. Mit seiner nächsten Äußerung wurde er sehr konkret, ja, geradezu unverblümt.

»Einige bezeichnen uns als größte und einflussreichste Schnüffelbehörde auf diesem Planeten.« Unter der undurchsichtigen Brille zog sich sein Mund in die Breite. »Das stimmt. Doch ich möchte Ihnen heute etwas darüber erzählen, warum die Welt eine solche Einrichtung benötigt und wieso die NSA ein Garant für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Bündnispartner sowie für unser aller Freiheit ist. Ich will auch ganz offen über die Gefahren sprechen, die unsere westliche Zivilisation bedrohen. Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels veranschaulichen.«

Er deutete mit dem Zeigefinger nach oben. »Einige von Ihnen kommen vermutlich aus dem dritten Stock dieses Gebäudes, wo das Labor für Robotik untergebracht ist. Andere befassen sich intensiv mit künstlicher Intelligenz. Ich denke, Ihnen allen wird meine kleine Geschichte gefallen. Sie handelt von einem Schachautomaten. Nein, nicht von Rechenungetümen wie Deep Blue, der Garri Kasparow 1996 bezwang, oder diesem deutschen Programm mit dem putzigen Namen Deep Fritz, das dieser Tage Wladimir Kramnik in Bonn an die Wand spielt. Die Maschine, um die es geht, wurde vor fast zweihundertvierzig Jahren gebaut.«

Kogan besaß das seltene Talent, Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Er fand genau die richtige Mischung zwischen orientalischem Märchenerzähler und sachlichem Wissenschaftsjournalisten, um die Spannung im Hörsaal nicht abreißen zu lassen. Seine Geschichte handelte von Wolfgang Ritter von Kempelen, einem österreichisch-slowakischen Baron, der Kaiserin Maria Theresia 1769 mit einem Schach spielenden Automaten verblüffte. Die Konstruktion bestand aus einem tischgroßen, eleganten Holzkasten mit einem Schachbrett obenauf, an der Rückwand saß eine lebensgroße Puppe in türkischer Tracht. Bevor ebendiese gegen Freiwillige aus dem Publikum antrat, pflegte der Erfinder einige Türen und eine Schublade an dem Automaten zu öffnen und das Innenleben zu präsentieren: ein Gewirr aus Walzen, Hebeln und Zahnrädern rasselte darin. Für gewöhnlich spielte die Maschine den menschlichen Gegner in Grund und Boden. Dabei bewegte sie ihren mechanischen Arm und schob die Figuren eigenhändig über die Felder, bis zum Schachmatt.

Der Kempelensche Schachautomat war, wie man sich denken kann, eine Sensation. Jeder wollte den Türken sehen. Gelehrte stritten sich darum, was da im Spiele sei, Metaphysik oder nur Elektrizität und Magnetismus. Der Baron tourte mit seinem Androiden durch ganz Europa, mehr als dreißig Jahre lang. Er wurde als »neuer Prometheus« gefeiert, als Aufklärer der Neuzeit und Genie der Mechanik. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden kritische Stimmen laut, die in seinem Türken einen großen Betrug sahen. Und das war er am Ende auch. Obwohl fünfzig Jahre nach der ersten Vorstellung des Androiden immer noch Berichte erschienen, die Kempelens Erfindung für einen echten Schachautomaten hielten, erwies sich die Konstruktion letztlich nur als dekoratives Meisterstück der Feinmechanik, in dem ein kleinwüchsiger Schachmeister agierte.

Im Hörsaal wurde gelacht. Einige kannten die Geschichte bereits und schlürften gelangweilt an einer Cola oder widmeten sich dem Studium von JJs Beinen.

»Was lernen wir daraus?«, fragte Kogan in bester Professorenmanier. »Wir lernen, wie Menschen ticken. Und – sobald man das kapiert hat – wie man sie täuscht. Wohl nicht von ungefähr spricht man im Deutschen heute noch Vom ›Türken‹, wo wir von einem fake, einem Betrug oder Schwindel sprechen. Nun fragen Sie sich bestimmt: Wie konnten die Menschen nur auf die Puppe hereinfallen?«

Kogan wartete einen Moment, ehe er zur Erklärung ansetzte. »Um die Antwort zu finden, müssen wir uns in Kempelens Zeit versetzen. Aufgrund der enormen Fortschritte auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik hatte sich im 18. Jahrhundert eine durch und durch materialistische Geisteshaltung etabliert. Man glaubte, alles sei in eine endliche Menge von Teilen zerlegbar, deren Verhalten man nach den Regeln der Mechanik und Mathematik genau vorausberechnen könne. Dieser sogenannte Determinismus führte zu der kühnen Vorstellung, man könne den Lauf der Welt, sobald man diese erst in ihre Einzelteile zerlegt habe, bis zur Schöpfung zurückverfolgen und sogar bis in die ferne Zukunft extrapolieren. Wieso also, dachten sich die Jünger dieser Kosmologie, sollte man nicht den Menschen, da er auch nur eine geniale Maschine ist, nachbauen können?« Der Doktor legte eine rhetorische Pause ein, ehe er fragte: »Was ist der Schachautomat somit gewesen?«

»Ein Placebo«, kam es postwendend aus dem Auditorium.

Kogan nickte. »Sehr gut! Ein technisch-philosophisches Placebo. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie ›ich werde gefallen‹. Genau das tat der Türke. Er entsprach den Erwartungen der Menschen seiner Zeit, und damit wurde er tatsächlich zu etwas Metaphysischem. Für das Publikum existierte die denkende Maschine tatsächlich. Es erweckte sie zum Leben. Die Leute hinterfragten nicht, sondern bezahlten brav ihr Eintrittsgeld und applaudierten. Und damit sind wir genau beim Thema.«

Man hätte im Hörsaal eine Stecknadel fallen hören können. JJ schmunzelte. Kogan hatte die Elitestudenten genau da, wo er sie haben wollte. Und nun sprach er über sein Spezialgebiet.

Viele seiner Kollegen hielten den Cyberterrorismus für keine ernst zu nehmende Gefahr, weil die Qualifikation der Bösewichte in keinem Verhältnis zum Arsenal an Abwehrmaßnahmen in Militär, Behörden und Wirtschaft stünden. Er selbst sei da ganz anderer Ansicht, gab Kogan für einen Vertreter des Staates erstaunlich freimütig zu. Es gebe Methoden, um an Firewalls und anderen Schutzeinrichtungen vorbeizukommen. Das Zauberwort heiße »Social Engineering«. Wer es verstehe, zwischenmenschliche Beziehungen und die Autoritätshörigkeit der Leute auszunutzen, käme leicht an Insiderwissen, das eigentlich geheim sei. Mit dem Rüstzeug der »sozialen Manipulation« müsse ein Angreifer kein technisches Feuerschott durchbrechen, er könne es einfach untertunneln oder besser noch: Er sei schon Teil des Systems und könne so von innen heraus sein Unwesen treiben. »Ich bin überzeugt, einige von Ihnen haben das Zeug, mit diesem Instrumentarium und einigen Hackertricks sogar den Riesen USA ins Wanken zu bringen.«

Einmal mehr hatte es Kogan geschafft, die Studenten zu überraschen. Plötzlich waren sie nicht mehr nur Zuhörer, sondern potenzielle Akteure. Er hat sie bei ihrem Ehrgeiz gepackt, dachte JJ. Das kann er wirklich gut. Im Saal wurde getuschelt. Einige nickten zustimmend.

»Wir reden hier nicht über Peanuts«, machte Kogan klar, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war. »Die Angriffsziele für Cyberterroristen sind vielfältig, und der Schaden, den sie anrichten können, ist immens. Wenn Bankautomaten kein Bargeld mehr ausspucken oder Kreditkarten vorzeitig ihre Gültigkeit verlieren, klingt das vielleicht harmlos. Aber was, wenn die auf automatischen Effektenhandel getrimmten Computer der Brokerfirmen plötzlich – scheinbar ganz von allein – riesige Wertpapierpakete verkaufen und dadurch die Börse kollabiert? Was, wenn über Nacht der zivile Flugverkehr zusammenbricht? Oder wenn Züge zusammenstoßen, weil Eisenbahnweichen fremden Befehlen folgen? Auch die Fahndungscomputer der Polizei und Geheimdienste sind keineswegs unverwundbar. Wenn sie streiken, können die Angreifer unerkannt ihr Unwesen treiben ...«

»Ist das ein Test?«, rief eine Studentin aus der zweiten Reihe, die so tief in ihrem Sessel hing, als wolle sie jeden Moment einen Abgang machen. »Spielen Sie uns jetzt auch den Automaten vor, in dem eine Disc der NSA abläuft? Am Ende bekommen wir dann alle einen Bewerbungsbogen Ihrer Behörde in die Hand gedrückt, stimmt’s? Was Sie da erzählen, ist doch reine Panikmache.«

Kogan ließ sich nicht provozieren. Er lobte sogar die Zwischenruferin. »Guter Einwurf. Aber woher nehmen Sie die Gewissheit, dass nicht Sie gerade auf einen Automaten hereinfallen, der unserem System längst Schach geboten hat? Müssen wir erst matt sein, ehe wir uns der Herausforderung bewusst werden?«

Die Studentin schwieg.

Vielleicht, fuhr Kogan daraufhin geduldig fort, sollte man den ewigen Beschwichtigern unter den Experten – von denen bedauerlicherweise einige auch zu den Beratern des Präsidenten gehörten – an Hand eines »kontrollierten Angriffes« beweisen, wie verwundbar die moderne Informationsgesellschaft sei. Man habe lange genug die Placebos der Politiker geschluckt, die mit immer weiteren Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermitteln. Wenn man die Ignoranten in Washington nicht wachrüttele, werde ein terroristischer Angriff aus dem World Wide Web die westliche Welt kalt erwischen. Der Krieg im Cyberspace werde früher ausbrechen, als die meisten glaubten. Für diesen Tag müsse man gerüstet sein.

*

Der Vortrag hatte nicht wenige Studenten überfordert. Auch das gehörte zum Plan. Es war ein erster Test. JJ wusste, dass Kogan kein Interesse an Leuten hatte, die sich bei der NSA ein bequemes Leben machen wollten. Er meinte, nach einer solchen Sondierungsveranstaltung würden die meisten zunächst die Flucht ergreifen. »Was wir ihnen sagen, ist wie eine Bakterienkultur in ihren Köpfen. Die eingeimpften Gedanken müssen sich erst entwickeln. Ihre erste Reaktion wird dich wahrscheinlich enttäuschen.«

Enttäuschen war gar kein Ausdruck. Die Ausbeute des Tages betrug gerade zwei Personen, und eine von ihnen war JJs Freund Karim. In seinem Kielwasser näherte sich dem Rednerpult ein Bursche, der für sie auch kein Unbekannter mehr war: Justin Flock, ein zweiundzwanzigjähriger, ungemein cooler Typ, der sich für einen Update von Colin Farrell hielt. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hollywood-Mimen war Justin allerdings nicht abzusprechen. Der ein Meter siebzig kurze, sehnige Hacker hatte halblanges, dunkles Haar, einen Dreitagebart, stechende braune Augen, ungesunde Ernährungsgewohnheiten und einen Hang zu unkonventioneller Kleidung. Seine Jeans sahen aus, als habe er sie den Fängen eines Reißwolfs entrissen, und auf seinem fleckigen, knallroten T-Shirt stand in schwarzen Lettern: WWW World Wisest Wag. Der »Welt weisester Witzbold« war unbestreitbar ein Genie, wenn es um das Austricksen von Computernetzwerken ging, aber damit waren seine Qualitäten auch schon erschöpft. Charakterlich hielt ihn JJ für eine Niete.

Jamila begrüßte ihren Freund mit einem Kuss. »Tolle Show habt ihr da abgezogen«, sagte er. »Und du siehst umwerfend aus in deinem ach so seriösen Outfit. Bin richtig eifersüchtig geworden, als meinen Kumpels bei deinem Anblick die Augen aus dem Kopf gekollert sind.«

Zu den größten Mysterien des Universums gehörten für JJ Männerfreundschaften, insbesondere wenn es um diese beiden Burschen ging. Karim Al Massari war so ganz anders als der Weltmeister im Witzigsein Justin Flock. Sie kannte Karim schon aus Kindertagen. Obwohl fast vier Jahre jünger als sie, war er reif, einfühlsam, auf eine zurückhaltende Weise geistreich und ziemlich gut aussehend. In Bollywood hätten sie ihn wahrscheinlich die Rolle des Frauenhelden spielen lassen, aber in natura war er eher schüchtern. Wenn es allerdings um Computer ging, blühte der angehende Informatiker richtig auf.

JJ stellte dem Dozenten die beiden Studenten vor.

»Ihr Vortrag hat mich sehr beeindruckt«, erklärte Karim.

»Besser als jeder Horrorstreifen«, pflichtete ihm Justin bei.

Kogan nickte lächelnd. »Danke für das Kompliment, meine Herren.«

»Jamila meinte, wenn uns nach der Vorlesung danach ist, könnten wir Sie gerne ansprechen«, sagte Karim.

»Sicher. Für junge Talente hbe ich immer ein offenes Ohr. Was kann ich für Sie tun?«

Die beiden jungen Männer warfen sich Blicke zu, als wollten sie in irgendeiner Geheimsprache ausknobeln, wer von ihnen die Rolle des Wortführers übernehmen sollte. Schließlich opferte sich Justin.

»Was Sie da über die Schnarchnasen in Washington gesagt haben und darüber, dass man sie wachrütteln müsste, lag genau auf unserer Wellenlänge. Die raffen nicht, wozu Hacker überhaupt fähig sind. War Ihr Vorschlag des ›kontrollierten Angriffs‹ ernst gemeint? Gibt’s in Ihrer Schublade vielleicht schon einen Plan, wie man den Ignoranten und Sesselfurzern in der Regierung endlich die Augen öffnen könnte?«

JJ unterdrückte ein Stöhnen. »Jetzt tu nicht so, als wärst du der einzige vernunftbegabte Mensch, Justin! Dr. Kogan berät immerhin einige von den Leuten, die du für schwachsinnig hältst.«

Justin deutete grinsend auf sein T-Shirt. »Ich bin der Welt weisester Witzbold. Narren und Toren dürfen die Wahrheit sagen.«

Karim räusperte sich. »Dr. Kogan, Sie meinten vorhin, Ihrer Überzeugung nach seien einige von uns durchaus in der Lage, den Riesen USA ins Wanken zu bringen. Justin und ich haben uns schon öfters in verschiedene Systeme gehackt. Natürlich nicht, um irgendjemandem zu schaden ...«

»Jedenfalls nicht so sehr«, warf Justin ein.

Karim stieß ihn mit dem Ellbogen an und fügte hinzu: »Wir halten uns an den Kodex der ethical hacker: Nur wenn man den Leuten beweist, wie löchrig ihre Schutzwälle sind, werden sie das notwendige Geld ausgeben, um ihre Systeme sicherer zu machen.«

Kogan lächelte. »Dann sind wir so etwas wie Brüder im Geiste. Hätten Sie Interesse, Ihre Fähigkeiten in etwas größeren Dimensionen zu erproben?«

»Wäre ’ne tolle Sache, wenn ich mit meinem Know-how unser Land und die Welt ein wenig sicherer machen könnte.«

Justin grinste. »Klar doch, solange wir dabei nicht darben müssen.«

»Ich bin sicher, der pekuniäre Aspekt des Projekts wird Ihnen gefallen«, versprach Kogan. »Gibt es im Kreis Ihrer Kommilitonen noch mehr junge Patrioten, die wie Sie denken, Mr. Flock?«

»Da verwette ich mein T-Shirt drauf, Sir. Die haben nur nicht gerafft, was Sie von ihnen wollten. Debby hat’s ja unüberhörbar in den Saal posaunt. Die Bande dachte, Sie verteilen hier ein paar Bewerbungsbogen von der NSA, und das war’s dann. Mit einem Mal sollten sie Eigeninitiative zeigen. Damit haben Sie die Kids überfordert.«

»Mir fallen schon ein paar Namen ein, die infrage kämen«, überlegte Karim. »Geben Sie uns ein paar Tage, Sir, dann bekommen Sie die beste Hacker-Meute, die Cambridge zu bieten hat.«

Kogan streckte ihm die Hand entgegen. »Es freut mich, dass bei meinem Vortrag nicht alle nur auf JJs Beine gestarrt haben. Wir sehen uns.«

Die Studenten verabschiedeten sich von dem Gastdozenten, und Karim flüsterte seiner Freundin ins Ohr, er wolle sie später noch in seiner Wohnung sehen.

»Die beiden klingen ja sehr zuversichtlich. Vielleicht war die Vorstellung doch besser, als ich anfangs gedacht habe«, gestand JJ, nachdem das Hackerpaar das Auditorium verlassen hatte.

Kogan lächelte. »Hab ein wenig mehr Vertrauen, kleine Morgiane. Wenn ich etwas in all den Jahren gelernt habe, dann, wie die Menschen ticken. Du wirst sehen, der heutige Tag war ein Erfolg. Bald wählen wir unsere Figuren aus, und dann können wir sie endlich aufstellen.«

*

Auf Deer Island lag Schnee. Große Eisschollen trieben vom nahen Ontariosee den Sankt-Lorenz-Strom hinab. Obwohl die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt lagen, war es im Vergleich zu früheren Wintern geradezu mild. Auch hier, in der Gegend der Thousand Islands zwischen Kanada und dem US-Bundesstaat New York, redete man neuerdings häufiger über die globale Erwärmung. Nur nicht in dem Landhaus am Ostufer von besagter Insel.

Emil W. Kogan hatte eine handverlesene Schar von Studenten des CSAIL hierher, etwa drei Kilometer nördlich der Alexandria Bay, zu einem »Seminar zwischen den Jahren« geladen. Acht junge Männer und drei Frauen, ausnahmslos idealistische Computerspezialisten und »ethische Hacker«, waren seinem Ruf in die Wildnis gefolgt.

Schon in Cambridge hatte er die von Karim und Justin zusammengetrommelten Kandidaten gesiebt. Einige weitere sprangen ab, als sie den Termin der Veranstaltung mitgeteilt bekamen. Es erschien ihnen reizvoller, mit der Familie unterm Weihnachtsbaum Geschenke zu tauschen und zum Jahreswechsel mit Böllern zu knallen, als sich zu einer außerordentlichen Büffelrunde auf einer Insel internieren zu lassen, von der man weder über eine Brücke noch mit einer Fähre fliehen konnte.

Das Cottage – es diente in der wärmeren Jahreszeit einer gewissen Russel Trust Association als Klubhaus – war eine Mischung aus Stein und Holz, dessen rustikales Interieur das Gefühl gemütlicher Urtümlichkeit vermittelte. Alles wirkte ein wenig antiquiert und abgenutzt. Die Haupthalle war angefüllt mit einer kuriosen Sammlung von Erinnerungsstücken aus aller Herren Länder. Sieben der insgesamt fünfzehn Gästezimmer blickten auf den Fluss hinaus, weshalb bei der Ankunft der Gruppe zunächst das Gerangel um das beste Quartier ausbrach. Unzufrieden mit seiner Unterbringung war am Ende aber keiner.

Auch für das leibliche Wohl der Seminaristen war gesorgt. Kogan hatte eigens einen Koch einfliegen lassen. Gleichwohl wusste er, dass ihnen der Veranstaltungsort ob seiner Abgeschiedenheit wie eine Gefängnisinsel mit Beschäftigungsprogramm erscheinen musste. Mit dem ihm eigenen Sinn für Humor sagte er gleich in seiner Begrüßungsansprache am 24. Dezember: »Das hier ist nicht Alcatraz. Es ist viel schlimmer. Ich möchte ganz besonders JJ danken, die mit ihren vorzüglichen Kontakten zu einigen einflussreichen Yale-Absolventen das Arrangement für die exklusive Nutzung dieses entlegenen Ortes getroffen hat.«

Anschließend ging er auf den Zweck der Übung ein. »Wir werden in den nächsten neun Tagen ›die Gruppe‹ sieben. Die Gruppe, das sind Sie, meine Damen und Herren, oder das, was am Ende davon übrig bleibt. Nur die Besten von Ihnen werden an dem Experiment teilnehmen. Drei oder vier, mehr nicht. Strengen Sie sich also an. Wir singen hier keine Weihnachtslieder. Sie werden einige interessante Dinge lernen, aber vor allem werden Sie zeigen können, was in Ihnen steckt. Tun Sie es nicht, fliegen Sie raus.«

Worum es bei dem »Experiment« ging, sagte er nicht. Alles war top secret. Schon für die Teilnahme an dem Kurs mussten alle Kandidaten ein NSA-Formular unterschreiben, dessen Text ihnen das Gefühl vermittelte, sich eines Kapitalverbrechens schuldig zu machen, sollten sie jemals in Redseligkeit verfallen. Auch stimmten die Unterzeichnenden zu, sich während der Veranstaltung filmen zu lassen, damit ihr Verhalten unter Stress für die Erstellung eines psychologischen Profils herangezogen werden könne.

Der Verlauf des neuntägigen Auswahlverfahrens war dann für manche eine Überraschung. Sie hatten damit gerechnet, einen Haufen neuer Hackertricks zu lernen, doch Kogan war kein Crack im Überwinden der Sicherheitseinrichtungen von Computern und Kommunikationsnetzen, sondern ein Meister des Social Engineering. Der technische Kram, hatte er JJ einmal erklärt, sei für ihn nur Mittel zum Zweck. Dafür gebe es hungrige junge Spezialisten, die ihren Job hundertmal besser machten als er.

Auf dem Stundenplan standen ganz andere Themen. Es begann beim »guten, alten Phreaking«, dem illegalen Manipulieren von Telefonsystemen, indem man sich bei den Telefongesellschaften als Systemadministrator ausgab und um neue Passwörter bat. Obwohl die Methode inzwischen ein alter Hut sei, könne man dadurch eine Menge über die Spielregeln der sozialen Manipulation lernen. Denn das Grundmuster des Social Engineering habe sich in den vergangenen zwanzig Jahren kaum verändert.

»Wenn möglich«, erklärte Kogan in einer Lektion, »versuchen Sie im Vorfeld einige Informationsschnipsel über Ihr Opfer, seine Vorgesetzten oder andere Interna herauszubekommen. Büroklatsch eignet sich besonders gut dazu, manchmal genügt auch ein Schuss ins Blaue. Der Satz ›Ich bin von der Hotline, die Sie angerufen haben‹ wirkt wahre Wunder, weil ständig jemand die Hotline anruft. Wenn Sie völlig danebenliegen, war’s eben eine Verwechslung. Sie entschuldigen sich galant und ziehen sich zurück. Stufe zwei ist die Kontaktaufnahme mit einem Opfer, vorzugsweise durch einen fingierten Telefonanruf. Oft genügt es schon, sich als Techniker auszugeben, der sofort vertrauliche Zugangsdaten benötigt, um eine Katastrophe abzuwenden. Zeitdruck lockert so manche Zunge. Ein bisschen Fachjargon tut ein Übriges. Und je sympathischer Sie rüberkommen, desto gesprächiger wird Ihr Gegenüber sein. Notfalls drohen Sie damit, den Vorgesetzten behelligen zu müssen. Sie werden staunen, wie effektiv diese Methode ist. Es gibt heute Verschlüsselungsalgorithmen, die selbst der beste Supercomputer der NSA nicht in einer vernünftigen Zeit knacken kann. Doch mit Social Engineering erreichen Sie Ihr Ziel oft in wenigen Stunden, manchmal in Minuten.«

Neben solchem Grundlagenwissen, das für die meisten Anwesenden zumindest theoretisch nicht neu war, vermittelte Kogan vor allem praktische Erfahrungen. Mehr als die Hälfte seiner Zeit verwendete er auf Rollenspiele. Manchmal mussten sich die Seminaristen gegenseitig vertrauliche Informationen abtrotzen, wobei niemand wusste, wer aus ihm welche Indiskretion herauszukitzeln versuchte. Ein andermal wurde ihre Teamfähigkeit erprobt. Sie führten sogar einige echte Hackerangriffe durch, natürlich nur solche, die den betroffenen Einrichtungen keinen Schaden zufügten.

Dann, am Nachmittag des Neujahrstags, kam die Stunde der Entscheidung. Die Gruppe versammelte sich in der großen Halle des Cottages. Alle waren erschöpft. Auch dem Dozenten und seiner Assistentin sah man die Strapazen an.

Kogan zog ein nüchternes Resümee. Er lobte alle für ihren Durchhaltewillen und beschwor noch einmal die drohende Gefahr eines terroristischen Angriffs aus dem Cyberspace herauf. Die Studenten hingen an seinen Lippen, als sei er der allwissende Guru des Informationszeitalters und verkünde himmlische Offenbarungen. Immer öfter hatten sie ihn in den letzten Tagen »Meister« genannt, manche mit einem neckenden Unterton, andere voller Hochachtung. Das war insofern bemerkenswert, als alle Anwesenden auf dem weiten Feld der Informatik zu den Besten der Besten gehörten und einige darüber hinaus Asse in Mathematik waren.

»Ich habe Ihnen nichts vorgemacht«, sagte er zum Schluss seines Resümees. »Wir würden Sie sieben, versprach ich Ihnen. Das haben JJ und ich getan. Drei haben den Parcours bestanden. Doch um die Enttäuschung der Übrigen nicht ins Uferlose zu treiben, darf ich Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie alle Gewinner sind, so Sie es möchten. Auch wenn Sie vielleicht an dem Experiment nicht teilnehmen dürfen, werde ich Ihre Namen auf eine Empfehlungsliste setzen, und die meisten von Ihnen werden nach Abschluss des Studiums eine hoffnungsvolle Karriere bei der NSA beginnen können. Das Zeug dazu haben Sie alle. Nur an eines muss ich Sie erinnern: Erzählen Sie niemandem, wie Sie an diesen Vorzug gelangt sind! Genauso wenig, wie es ein ›Zwischen den Jahren‹ gibt, hat es jemals dieses Seminar gegeben.«

Im Anschluss nannte Kogan die Namen der drei Besten. Mit knappem Vorsprung hatte es Justin Flock auf Platz eins geschafft, dicht gefolgt von Karim Al Massari. Die Bronzemedaille ging an Tianna Walsh, ein dreiundzwanzigjähriges Vollweib mit roten Haaren und Sommersprossen. Sie konnte, ohne Luft zu holen, stundenlang reden, und zwar nicht nur Nonsens wie Justin. Ihr Spezialgebiet waren neuronale Netze, Computerprogramme, die einen Verbund von Gehirnzellen nachbildeten.

Kogan bat die Gewinner in die Bibliothek. JJ bemerkte einige lange Gesichter bei den zurückbleibenden acht Kandidaten. Sie hatten wirklich ihr Bestes gegeben. Doch Niederlagen gehörten nun mal zum Leben. Je eher sie das lernten, desto besser würden sie ihre Zukunft meistern.

In der halbkreisförmigen Bibliothek des Klubhauses richtete Kogan das Wort an die stolzen Sieger. »Ihr Leben hat jetzt einen Scheideweg erreicht. Sie können alles so weiterlaufen lassen wie bisher, oder Sie schlagen eine neue Richtung ein. In jedem Fall müssen Sie sich heute entscheiden, und es gibt kein Zurück: Entweder Sie lassen sich von mir als Ihrem Tutor durch Türen führen, die niemand bisher durchschritten hat, oder Sie machen Ihren MIT-Abschluss und fristen Ihr Dasein als Programmierer in irgendeiner Softwareklitsche. Jetzt sind Sie am Zug, meine Dame und meine Herren.«

Jamila lächelte Karim aufmunternd zu.

»Ich begleite Sie, Meister«, sagte er mit einem jungenhaften Lächeln.

Justin zuckte die Achseln. »Ist doch wohl klar, dass ich dabei bin.«

»Wenn ihr zwei denkt, ich werde die traumhafte Frauenquote in der Gruppe mit einem Rückzieher zunichtemachen, dann habt ihr euch geschnitten, Jungs«, beschied Tianna.

Kogan lächelte zufrieden. »Ich habe keine andere Antwort von Ihnen erwartet. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Entscheidung. Ich verspreche Ihnen, unser Experiment wird ... nein, Sie werden die Welt verändern.«

*

Vier Monate nach dem Seminar auf Deer Island traf sich die Gruppe in einem heruntergekommenen Lagerhaus im Bostoner Hafen. Von außen sah das Backsteingebäude ziemlich marode aus, doch JJ hatte ihrem Team glaubhaft versichert, dass die Substanz gesund sei. Nach Nordwesten bot sich durch verdreckte Scheiben ein eintöniger Blick auf die Fish Pier und das umliegende Hafenbecken. Unter dem lang gestreckten Bauwerk lag der Ted Williams Tunnel, durch den der Massachusetts Pike nach East Boston hinüberführte.

»Nette Immobilie«, bemerkte Justin. Er hing wie ein achtlos hingeworfenes Badelaken in einem futuristischen Bürosessel und hielt ein Klappmesser in der Hand, mit dessen schlanker Klinge er sich die Fingernägel reinigte. An diesem Tag trug er ein schwarzes T-Shirt mit einem weißen Pfeil, der auf seine Gürtellinie zielte. Darüber stand »Down Under fängt das Leben erst an«.

Kogan wandte sich ihm zu. »Das Gebäude gehört einer Firma, die sich zu hundert Prozent im Besitz der NSA befindet. Es ist derzeit ungenutzt. Das werden wir jetzt ändern.« Er machte eine raumgreifende Geste, mit der er die ganze Etage einschloss, einen tausend Quadratmeter großen Raum, in dem es nichts außer ein paar Stützpfeilern, schmutzigen Fenstern und der »Insel« gab. Dabei handelte sich um ein Fünfeck aus Schreibtischen. Ein Pentagon für Arme, hatte Komiker Justin gewitzelt. Auf, unter und neben den Möbeln stand das Modernste, was die Computer- und Kommunikationstechnik zu bieten hatte. Die Geräte waren über Festnetz, Satellit und Mobilfunk mit der Außenwelt verbunden.

»Dr. Kogan möchte, dass ihr für diesen Ort einen Decknamen benutzt«, erklärte JJ. »Wenn wir untereinander und nur untereinander über ihn reden, dann nennen wir ihn ›die Fabrik‹.«

»Warum nicht ›das Labor‹? Hier geht’s doch schließlich um ein Experiment«, wandte Justin ein.

»Klugscheißer«, flüsterte Tianna.

Karim verdrehte die Augen.

»Bitte setzen Sie sich«, sagte Kogan. Er wartete geduldig, bis alle Platz genommen hatten.

Karim schnappte sich den Stuhl neben JJ und versuchte ihre Hand zu ergreifen.

Sofort ging sie auf Abstand und beschoss ihn mit einem Laserblick aus ihren Smaragdaugen.

»Was ist?«, hauchte er ihr ins Ohr. »Dein Boss kann uns nicht sehen.«

Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Denk nicht, weil ich heute früh bei dir eingezogen bin, kannst du dir alles erlauben«, flüsterte sie. »Pass gefälligst auf.«

Kogan räusperte sich, was völlig genügte, um die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Truppe zurückzugewinnen. »Nun«, begann er, und er ließ sich für dieses Nun sehr viel Zeit, »möchte ich Ihnen erklären, worum es im Einzelnen bei unserem Experiment geht. Doch zuvor muss ich Ihnen noch einmal verdeutlichen, wofür die Buchstaben NSA stehen. Hat jemand eine Ahnung?«

Inzwischen kannte jeder Kogan gut genug, um nicht übereifrig »National Security Agency« herauszuposaunen.

»Im Insiderjargon bedeutet die Abkürzung ›Never say anything‹. Merken Sie sich das. ›Niemals irgendetwas sagen‹ – das ist ab heute Ihr Glaubensbekenntnis. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Justin hob die Augenbrauen, als wolle er sagen: »Ich kann’s schon nicht mehr hören!« Doch er schwieg.

In den folgenden Minuten schilderte Kogan seinen vier Zuhörern ein Szenario, das selbst JJ in dieser Ausführlichkeit noch nicht kannte. Es gehe um die Simulation eines Krieges im Cyberspace, besser als jedes Computerspiel. Das Ganze gehöre zu einem internationalen Forschungsprojekt namens »Aspekte der geheimen Nachrichtenübermittlung als Mittel der Politik von der Antike bis zur Gegenwart«. Weltweit seien verschiedene Arbeitsgruppen tätig, das Team in der Fabrik gehöre nun auch dazu. Der größte Teil des Projekts habe öffentlichen Charakter, wenngleich bisher nur in Fachmagazinen darüber berichtet worden sei. »Was hier in Boston geschieht, unterliegt der Kontrolle der NSA und damit des Verteidigungsministeriums. Wenn Sie für den Rest Ihres Lebens nicht irgendeinem Schimmelpilz in einer Gefängniszelle Gesellschaft leisten wollen, dann bewahren Sie über unsere Arbeit absolutes Stillschweigen. Unser Forschungsgegenstand ...«

»Hübsche Metapher«, fiel Tianna ihm ins Wort.

»Das war nicht bildlich, sondern buchstäblich gemeint, Miss Walsh«, bekräftigte Kogan ernst.

Justin zog ein langes Gesicht und wedelte mit der Hand, bis er JJs wütenden Blick auffing und sich in seinem Drehstuhl demonstrativ aufrichtete.

»Sind Sie fertig, Mr. Flock?«, fragte Kogan.

Dem Witzbold fiel die Kinnlade herab. »Ja, Meister.«

Einen Moment lang sah es so aus, als würden die Augen hinter den schwarzen Brillengläsern Justin mit Röntgenstrahlen durchbohren, dann fuhr Kogan in seinen Ausführungen fort, als wäre er nie unterbrochen worden.

»Unser Forschungsgegenstand ist höchst brisant. Wenn die Erkenntnisse, die wir im Laufe des Experiments gewinnen werden, den falschen Leuten in die Hände fallen, könnte das zu einer globalen Katastrophe führen. Wir werden so realitätsnah wie möglich verschiedene Szenarien von Angriffen aus dem Cyberspace durchspielen, um die Verletzbarkeit unserer modernen vernetzten Gesellschaft zu analysieren und zu dokumentieren. Aus den Ergebnissen Ihrer Arbeit werden dann geeignete Schutzmaßnahmen entwickelt.«

Justin hob die Hand wie ein braver Schuljunge in der ersten Klasse. Als Kogan darauf nicht reagierte, sprach er einfach drauflos. »Mal ehrlich, Meister. Glauben Sie wirklich, ein Häuflein Hacker könnte den USA oder sogar der ganzen westlichen Welt ernsthaft gefährlich werden?«

Kogan lächelte. »Mal ehrlich, junger Freund. Hätten Sie gedacht, dass ein einziger Attentäter einen ganzen Weltkrieg auslösen kann? Trotzdem geschah genau das, nachdem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin im Juni 1914 in Sarajevo ermordet wurden. Oder würden Sie es für möglich halten, dass der Angriff auf einen Radiosender einen Weltkrieg verursacht? Wohl kaum, aber trotzdem hatten die Nazis den vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz als Rechtfertigung für ihren Überfall auf Polen benutzt, womit das zweite globale Gemetzel des 20. Jahrhunderts eingeläutet wurde. Oder nehmen Sie Vietnam. Schon mal was vom Tonkin-Zwischenfall gehört? Angeblich griffen die Nordvietnamesen zweimal mit Schnellbooten und Torpedos einen unserer Zerstörer, die USS Maddox an. Präsident Johnson rechtfertigte mit dem zweiten Zwischenfall das offizielle militärische Engagement der Vereinigten Staaten in dem Konflikt zwischen Nord- und Südvietnam. Nur: Der Vorfall war ein Türke, ein Fake. Die NSA hatte nach allen Regeln der Kunst einen fingierten Bericht über den zweiten Angriff erstellt, auch, um eigene Fehler zu vertuschen. Ich könnte jetzt so weitermachen, Ihnen von den angeblichen Massenvernichtungswaffen erzählen, die Präsident George W. Bush zum Anlass für einen Angriff auf den Irak nahm, doch ich will Sie nicht langweilen. Was lernen wir aus solchen Vorfällen? Zwei Dinge, die ich Ihnen schon bei früherer Gelegenheit zu vermitteln versucht habe. Erstens: Nichts ist, wie es scheint. Wie im Schach, so ist auch im Krieg eine der wirksamsten Waffen die Täuschung. Und zweitens: Kleine Ursache, große Wirkung. An sich lächerliche Ereignisse können sich zu einer globalen Katastrophe auswachsen, nicht weil man ihre Dimension unterschätzt hat, sondern weil die Vorfälle zum einen eine momentane Stimmung geschickt ausnutzen wie ein Surfer die große Welle und zum anderen, weil sie von den Drahtziehern ablenken, die das Geschehen so ungestört bis zur Katastrophe eskalieren lassen können.«

Justin holte tief Luft. »Okay. Hab’s kapiert.«

Kogan schürzte die Lippen. »Deshalb habe ich Sie ausgewählt, Mr. Flock. Sie sind lernfähig.«