Das Lied der Befreiung Neschans - Ralf Isau - E-Book
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Das Lied der Befreiung Neschans E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Der dritte und letzte Band der »Neschan«-Triologie von Ralf Isau erzählt die Abenteuer von Jonathan in der Welt Neschan, eine fantastische Welt, in die der Junge wandert und dort magische Abenteuer erlebt. Drei Jahre sind vergangen, seit Jonathan in die rätselhafte Welt Neschans eingedrungen ist und seine Träume Wirklichkeit wurden. Doch nun gibt es eine neue Bedrohung für Neschan: Der schreckliche Herrscher Bar-Hazzat will diese friedvolle Welt unterwerfen. Die einzige Hoffnung ist eine Prophezeiung, die besagt, dass einzig und allein der siebte Richter Neschan retten kann. Und dieser siebte Richter ist Yonathan – der jüngste, den es je gegeben hat. Niemand weiß, ob seine Macht im Kampf gegen Bar-Hazzat ausreichen wird. Aber zum Glück steht er diesem nicht alleine gegenüber; immer an seiner Seite sind seine treuen Gefährten und der magische Stab Haschevet … »Wenn Freunde des fantastischen Genres großen Appetit haben, sind sie mit Ralf Isaus gewichtigem Dreiteiler gut bedient.« (Süddeutsche Zeitung) Die »Neschan«-Triologie von Ralf Isau findet in diesem dritten Band ihr spannendes Ende.

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Ralf Isau

Das Lied der Befreiung Neschans

Fantastischer Roman – Teil 3 der Neschan-Trilogie

Roman

Für Karin

Prolog

Sepher Rasim

(Buch der Geheimnisse, 7. Rolle)

Dies ist die Geschichte Geschans, den der Höchste zum siebten Richter erwählte, damit er die Welt Neschan befreie aus der Hand dessen, der sie in Finsternis verbarg. Und dies ist die siebte Rolle im Sepher Rasim, das zu versiegeln mir bestimmt wurde, der ich in die Welt Neschan kam, um mit ihr unterzugehen.

Doch die Verheißung sagt: Der Weltentaufe folgt ein neuer Anfang. Das Siegel wird erbrochen und das Buch der Geheimnisse zu einem der Offenbarungen werden. Ein jeder wird dann Einblick haben in die Geschichte, die ihm bis dahin verborgen war. Jeder wird frei sein, nach seinem Willen den eigenen Weg zu bestimmen.

Aber die Bürde, die mir auferlegt wurde, wiegt schwer. Denn wenn ich scheitere, wird diese Welt für immer untergehen, und wenn ich siege, wird sie zu ewigem Frieden gelangen. So lautet die Prophezeiung und dies lehrte mich auch Goel, der sechste Richter und mein Lehrmeister.

Nicht mehr lange, und ich führe den letzten Kampf, für Neschan, die Tränenwelt, die mir zur einzigen Heimat geworden ist. Doch ich will von vorne beginnen.

Wie die sechs Richter, die mir vorausgingen, wurde auch ich auf der Erde geboren. Ich lebte in einer Region, die man Schottland nennt, und trug den Namen Jonathan Jabbok. Nach dem frühen Tod meiner Eltern kümmerte sich mein Großvater, ein schottischer Lord, um mich. Er übergab mich der Obhut einer Schule, in der junge Männer darin ausgebildet wurden, als Helden für ihr Land zu sterben oder als Regierungsbeamte an ihren Schreibtischen zu verstauben.

Von Neschan erfuhr ich zum ersten Mal, als ich acht Jahre alt war. Ich erkrankte damals schwer, und obwohl ich zur Verwunderung vieler überlebte, wollten mich danach meine Beine nicht mehr tragen: Ich war gelähmt. Zu jener Zeit begann ich, von Yonathan zu träumen, der als gesunder Junge in dieser anderen Welt heranwuchs. Er führte ein beschauliches Leben, bis er beinahe vierzehn Jahre zählte.

Damals streifte mein Traumbruder Yonathan gerne durch die Wälder und Wiesen im Hinterland von Kitvar, seinem Heimatort hoch im Norden. Auf einem dieser Ausflüge stürzte er in eine tiefe Grube. Bei dem Versuch, sich aus ihr zu befreien, fand er einen Stab, der seine Sinne auf wundersame Weise stärkte. Wenig später stieß er auf einen Erdfresser, der es darauf abgesehen hatte, ihn zu verschlingen. In die Enge getrieben, bohrte er dem Ungeheuer die Spitze des Stabes in den Leib. Es gab einen gleißenden Blitz und der Körper des Untiers verwandelte sich zu Asche.

Und während die Ereignisse ihren Lauf nahmen, glaubte der irdische Jonathan noch immer zu träumen. Für ihn war sein Gegenstück – und damit die ganze Welt Neschan – nur ein buntes Bild seiner Fantasie.

Doch ich hatte mich getäuscht, das sollte ich bald erfahren. Dieser andere Yonathan erwies sich als sehr lebendig, so wirklich wie ein Zwillingsbruder. Ja mehr noch: Wir waren wie die zwei Seiten eines Goldevens: jeder ein Teil des Ganzen, keiner konnte ohne den anderen bestehen. Durch den Ratschluss Yehwohs wurden unser beider Leben schließlich zu einem verschmolzen. Doch bis dahin hatte mein Traum-Ich noch einige Prüfungen zu bestehen.

Nach der Auseinandersetzung mit dem Erdfresser kehrte ich wohlbehalten nach Hause zurück. Dort erklärte mir mein Pflegevater, Navran Yaschmon, dass ich den heiligen Amtsstab der Richter Neschans gefunden hätte. Über zweihundert Jahre lang hatte er in der Erde geruht, damit er nun dem siebten Richter übergeben werden konnte. Das, so sagte es die alte Prophezeiung, sei der Zeitpunkt für den Beginn der letzten Richterschaft, die zur Weltentaufe führen sollte. Navran Yaschmon machte mir klar, dass es meine Bestimmung sei, den Stab zum Garten der Weisheit, nach Gan Mischpad, dem fernen Verbannungsort des sechsten Richters, zu tragen.

Noch in derselben Nacht besuchte mich Benel, ein Bote Yehwohs, des Höchsten und himmlischen Vaters allen Lichts. Benel warnte mich vor den herannahenden Häschern Bar-Hazzats, des dunklen Herrschers von Témánah, und bestärkte mich in meinem Auftrag. Bereits am Morgen danach stach ich deshalb mit der Weltwind in See, dem Schiff von Kapitän Kaldek. Sein Adoptivsohn Yomi und ich wurden schon bald gute Freunde.

Wenig später begannen die Schwierigkeiten. Vor den Klippen des Ewigen Wehrs entdeckte uns Sethur, der Heeroberste Bar-Hazzats. Es kam zu einer mörderischen Jagd, in deren Verlauf Yomi und ich über Bord gingen, und obwohl ich schon dachte, dass mein Leben verwirkt sei, strandeten wir beide in einer Grotte und waren gerettet.

Auf einem geheimen Weg gelang es uns darauf, in das Verborgene Land vorzudringen, das seit vielen Jahrhunderten kein Mensch mehr betreten hatte. Dort fand uns der uralte Din-Mikkith, ein freundlicher grüner Behmisch, der bereits dem sechsten Richter, Goel, gedient hatte. Din-Mikkith führte uns durch das Verborgene Land bis zum Tor im Süden.

Dort trafen wir erneut auf Sethur. Es kam zu einem gewaltigen Zusammenstoß der Mächte des Lichts und der Finsternis. Sethur unterlag dem Koach des Stabes Haschevet – endgültig, wie wir glaubten – und Din-Mikkith entließ uns wieder in die bekannte Welt.

Doch die Freiheit sollte nicht lange währen. Bald schon fielen wir einem Haufen wilder Piraten in die Hände, gewannen aber einen neuen Freund: Gimbar, Sohn von Kaufmannseltern, die vor langen Jahren verschleppt worden waren; er kannte sich bestens im Handwerk der Seeräuber aus. Die Piraten lieferten uns drei an Sethur aus, der sich zu unserem Entsetzen bester Gesundheit erfreute. Dennoch entkamen wir ein zweites Mal.

Wenig später brach ein heftiger nächtlicher Sturm aus und unser kleines Segelschiff, die Mücke, drohte zu sinken. Als letzte Rettung erwies sich eine merkwürdige grünlich leuchtende Insel. Es stellte sich heraus, dass das rettende Eiland ein gewaltiges Lebewesen war, von kindlicher Einfalt, aber ausgesprochen hilfsbereit. Die lebendige Insel, die sich selbst Galal nannte, trug uns und das Schiff sicher bis an die Mündung des Cedan. Von hier aus segelten wir direkt bis vor die Tore von Cedanor.

In der Hauptstadt des Cedanischen Kaiserreiches fanden wir dann schnell Baltans Haus, das aufzusuchen mir Navran aufgetragen hatte. Erst später erfuhr ich, dass Baltan – genauso wie Navran übrigens – zu den Charosim gehörte, den vierzig Boten des sechsten Richters. Baltan war also nicht nur der erfolgreiche Händler und vermutlich reichste Mann Neschans, als den ihn alle kannten, sondern zugleich auch ein äußerst nützlicher Informant für Goel, da er zum Kreis der kaiserlichen Ratgeber gehörte.

Was kurz darauf geschah, konnte jedoch auch Baltan nicht verhindern. Kaiser Zirgis lud mich in seinen Palast ein. Erst unter Vorwänden, dann unter Zwang hielt er mich auf dem Schlossberg von Cedanor fest. Er hoffte, die Gewalt über den Stab Haschevet brächte ihm die weltliche und die geistige Führerschaft.

Auch diesmal war es ein neuer Freund – Felin, der jüngere Sohn des Kaisers –, der mir half, in die Freiheit zurückzugelangen. Zusammen mit Yomi und Gimbar glückte uns zu viert eine ungewöhnliche Flucht durch die Luft: Zirgis’ Hofgenie, Barasadan, hatte anlässlich der Feierlichkeiten zum dreißigjährigen Thronjubiläum seine neueste Erfindung, ein mit heißer Luft fliegendes Schiff, vorführen wollen. Daraus wurde nichts, weil wir in der Nacht zuvor mit dem Himmelssegler entkommen konnten und er bei der Landung ernsten Schaden nahm.

Baltan erwartete uns dann schon an einem geheimen Treffpunkt, östlich von Cedanor. Er versorgte uns mit allem, was wir für unsere weitere Reise benötigten, nicht zuletzt mit einem treuen und erfahrenen Karawanenführer. Yehsir sollte uns sicher durch die von Yehwoh verfluchte Wüste Mara geleiten. Auf dieser Route, so dachten wir, würde uns niemand folgen.

Wir hatten nicht mit der Beharrlichkeit Sethurs gerechnet. Er sandte gedungene Mörder hinter uns her, die eines Morgens unser Lager überfielen. Dieser Tag war zugleich der schlimmste wie auch der glücklichste in meinem ganzen bisherigen Leben; zum einen schrecklich, weil Gimbar sich in einen todbringenden Pfeil warf, der mir gegolten hatte, zum andern wunderbar, weil das, was darauf geschah, mit menschlicher Vernunft nicht erklärt werden kann.

Gimbar starb innerhalb weniger Augenblicke. In meiner Trauer über den Verlust des Freundes flehte ich zu Yehwoh. Ich warf mich über den toten Freund und berührte ihn dabei mit dem Stab Haschevet. Plötzlich begann Gimbar, wieder zu atmen. So wurde er der Zweimalgeborene und das Mal des Stabes Haschevet ist bis auf den heutigen Tag auf Gimbars Brust zu sehen.

In der Wüste Mara stellte uns Sethur weiter nach. Sogar Bar-Hazzat erschien mir zweimal und in den Ruinen des Schwarzen Tempels von Abbadon versuchte er, mich zu töten. Aber dank des Stabes wurde ich erneut gerettet.

Die letzte Konfrontation mit Sethur ereignete sich unmittelbar vor der wolkenverhangenen Grenze zum Garten der Weisheit. Eine Wand aus Wind, Wolken und Wüstensand trennte meine Gefährten und mich von Sethur und seinen Häschern. Wir konnten sicher in den Grenznebel des Gartens entkommen.

Goel, der sechste Richter, erwartete uns bereits und eröffnete mir, dass ich selbst dazu auserkoren sei, Neschan als siebter Richter zu dienen. Ich hätte die Wahl zwischen zwei Leben: einem irdischen, frei von den Fesseln meiner Lähmung, und einem auf Neschan, mit der Bürde der Weltentaufe auf meinen Schultern. Eine schwere Aufgabe bot er mir an. Und ich habe sie angenommen.

Kapitel 1 Die Nachricht

Die Kuh schwebte sanft über dem Wasser. Ihre Schwanzspitze nahm ein erfrischendes Morgenbad. Noch ganz im Schlaf versunken, schien sie nichts von dem unfreiwilligen „Ausflug“ zu bemerken, der sie von ihrem angestammten Platz auf der Weide bis hierher über den See geführt hatte. Der Himmel strahlte in einem makellosen Blau an diesem herrlichen Frühlingsmorgen und die Sonne brach sich in Abertausenden von Reflexen auf dem kleinen Gewässer.

Yonathan saß kaum einen Steinwurf weit entfernt am Ufer und beobachtete die Szene. Auf seinen Oberschenkeln lag ein hölzerner Stab mit einem goldenen Knauf.

Er lächelte zufrieden. Eigentlich hatte er nur ausprobieren wollen, wie gut er bereits die Kraft der Bewegung kontrollieren konnte. Diese Fähigkeit war nur eine der zahlreichen Facetten des Koach, jener Macht, die vom Stab Haschevet ausging und ständiger Übung bedurfte, damit sie vom Träger des Stabes gezielt und richtig dosiert eingesetzt werden konnte. Yonathan hatte mehr als drei Jahre benötigt, um sich aus den anfangs eher zufälligen Wirkungen des Koach einen sechsten Sinn zu schaffen, der einigermaßen seinem Willen gehorchte. Selbst noch nach dieser Zeit erforderte der kontrollierte Einsatz der Macht seine ganze Aufmerksamkeit. Kein Wunder also, dass er die Person hinter sich nicht bemerkt hatte.

„Yonathan! Hast du nur Unsinn im Kopf? Die arme Kuh wird sich zu Tode ängstigen.“

Der Gescholtene zog den Kopf ein und fuhr erschrocken herum. Während in seinem Rücken ein lautes Platschen zu hören war, erkannte er die Besitzerin der energischen Stimme.

Die Stachelwortspuckerin! Seit Yonathan das zierliche Mädchen mit den kohlrabenschwarzen Haaren vor über drei Jahren kennengelernt hatte, waren sie enge Freunde geworden. Vielleicht sogar mehr als das. Er war sich da nie so ganz sicher. Bithya jedenfalls schien jede Gelegenheit zu nutzen, ihn mit ihren spitzen Bemerkungen aus der Fassung zu bringen.

„Sie hat überhaupt nichts mitbekommen, sie schlief ja noch“, versuchte er sich zu verteidigen.

„Jetzt ist sie aber wach und sieht ziemlich verschreckt aus“, erwiderte Bithya. Sie hatte beide Hände in die Seiten gestemmt und sah für ihre Größe ausgesprochen bedrohlich aus.

Yonathans Augen wanderten zurück zum Wasser, dem gerade eine empörte und vor Nässe triefende Kuh entstieg. Mit einem vorwurfsvollen Blick in seine Richtung machte sie sich eilig davon.

Er wendete sich wieder Bithya zu. Selbst wenn sie wütend ist, sieht sie noch schön aus, dachte er. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Gurgi auf ihrer Schulter herumturnte. Der eichhörnchenähnliche Masch-Masch, den Yonathan einst aus dem Verborgenen Land mitgebracht hatte, erlag in letzter Zeit immer häufiger den kulinarischen Bestechungsversuchen des Mädchens. Gurgi schien die Unterhaltung der beiden Menschen mit großem Interesse zu verfolgen.

„Wenn du mich nicht erschreckt hättest, wäre gar nichts passiert“, meinte Yonathan.

„Wer weiß, was du mit dem Tier noch vorhattest.“ Einen Moment lang funkelten Bithyas Augen wie zwei dunkle Blutsteine in der Sonne. Dann holte sie tief Luft und fuhr fort: „Du benimmst dich manchmal wie ein kleiner Junge, Yonathan. Eigentlich solltest du inzwischen wissen, dass man Yehwohs Macht nicht zum Spaß oder aus Eigennutz gebrauchen darf.“

„Das weiß ich sehr wohl. Du vergisst, dass ich Geschan bin, der siebte Richter.“

„Nur gut, dass die Bewohner von Neschan ihrem neuen Richter noch nicht dabei zusehen können, wie er wehrlose Kühe in Angst und Schrecken versetzt. Es würde Euch einiges an Respekt kosten, ehrwürdiger Geschan.“

Offensichtlich war Bithya an diesem Morgen besonders angriffslustig. Und das verwirrte Yonathan. In letzter Zeit hatte er geglaubt, die Gefühle, die er für sie empfand, würden von ihr, wenn auch zaghaft, erwidert werden. Doch heute ...? Vielleicht hatte er sich nur etwas vorgemacht. Und überhaupt schien dies nicht sein Tag zu sein. Bithyas Auftritt war nämlich nicht das erste unangenehme Erlebnis seit Sonnenaufgang. Er beschloss, das Wortgefecht zu beenden, indem er auf ein anderes Thema ablenkte.

„Du bist bestimmt nicht zu mir gekommen, um meine Ausbildung zum Richter voranzutreiben, oder?“

Das Manöver zeigte Wirkung. Bithya senkte den Blick und sagte nun erstaunlich leise: „Ich bin gekommen, weil Goel mich darum gebeten hat.“

„Goel? Aber der Unterricht geht heute doch erst nach dem Mittagessen los.“

„Es handelt sich auch nicht darum ...“ Bithya stockte. Ihre Unterlippe begann zu zittern.

Yonathan spürte auch ohne die einfühlende Kraft des Stabes Haschevet, dass etwas in der Luft lag. Bithya machte sich Sorgen. Aber warum?

In sanftem Ton fragte er: „Was kann denn so dringend sein, dass es nicht bis Mittag Zeit hat?“

„Er will dich fortschicken.“

Yonathan schluckte. „Hat er dir das gesagt?“

„Nein.“ Bithyas Unterlippe bebte stärker. Auch ihre Augen begannen, feucht zu glänzen.

„Aber woher willst du das wissen ...?“

„Eine Frau spürt so etwas!“, fiel sie ihm trotzig ins Wort. „Aber was erzähle ich dir das? Du bist ja ein Mann. Was bei euch nicht logisch ist, das darf es auch nicht geben.“

Yonathan hätte darauf gerne noch etwas erwidert. Aber Bithya gab ihm keine Gelegenheit dazu. Sie wirbelte auf der Stelle herum und stapfte samt Gurgi nach Hause zurück, hinter ihr eine flatternde Mähne aus schwarz gelocktem Haar.

Yonathan folgte ihr langsam. Er musste nachdenken. Warum war Bithya so aufgewühlt? Selbst wenn ihn Goel wieder einmal nach Ganor schicken würde, um dem Rat der Charosim einige Anweisungen zu überbringen, war das doch kein Grund, sich derart aufzuführen!

Nein, die Ursache für Bithyas Erregung musste anderer Natur sein. Yonathan ahnte schon seit einigen Stunden, dass etwas nicht stimmte. Bei Sonnenaufgang war er erwacht, völlig durcheinander. Er hatte einen Traum gehabt. Nicht einen jener Träume, die ihn während all der Jahre begleitet hatten, als er noch als gelähmter Knabe auf der Erde lebte. In den Nächten war er damals immer der gesunde und aufgeweckte Junge von Neschan gewesen. Bis er sich hatte entscheiden müssen zwischen den beiden Welten. So hatte er schließlich das Amt des siebten Richters auf Neschan angenommen – und die Erde für immer verlassen.

Seit dieser Zeit erging es ihm wie jedem anderen Menschen auch: Manchmal träumte er Schönes, manchmal Verwirrendes und gelegentlich Unangenehmes. Nur die Erinnerung, die von Haschevet verliehene Gabe des vollkommenen Gedächtnisses, sorgte dafür, dass er beim Erwachen stets noch ganz genau wusste, was er geträumt hatte.

Aber an diesem Morgen war alles anders gewesen. Sosehr sich Yonathan auch bemühte, es gelang ihm nicht, sich den Inhalt des Traumes ins Bewusstsein zu rufen. Verwirrt hatte er sich aus dem Haus geschlichen und war hinausgegangen zum See der Reinheit; er suchte diesen Ort oft auf, wenn er ungestört sein wollte. Als die Sonne längst weit über dem Horizont stand, hatte er noch immer keine Lösung für sein Problem gefunden. Und dann war er auf die Idee mit der Kuh gekommen.

Auf dem Heimweg ging Yonathan nun entgegen der Strömung an dem kleinen Bach entlang, dessen sprudelndes Wasser am Haus der Richter vorbeifloss, um sich später in den See der Reinheit zu ergießen. Gerade, als er eine knorrige alte Trauerweide passierte, überkam ihn ein vertrautes und dennoch beunruhigendes Gefühl. Von einem leichten Schwindel gepackt, suchte er Halt am rauen Stamm des Baumes. Dabei fiel sein Blick auf eine Verdickung der Rinde, die wie ein Männerkopf aussah. Nein, es war ein Kopf, genauer gesagt: ein Gesicht, das ihn freundlich anlächelte.

Yonathan war mittlerweile mit diesen Erscheinungen vertraut.

Beim ersten Mal, als ihn ein solches Gesicht aus seiner Suppenschale heraus angeschaut hatte, war er aufgesprungen, hatte den Tellerinhalt verschüttet und einen ratlosen Goel zurückgelassen. Später, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, erklärte ihm der alte Richter alles. Derartige Visionen seien für den Hüter des Gartens der Weisheit etwas ganz Normales. Da Gan Mischpad von einer übernatürlichen Nebelwand umgeben sei, könne nur derjenige eintreten, der das Einverständnis des Richters besitze. Und da Geschan – Goel pflegte Yonathan stets mit seinem offiziellen Namen anzusprechen – nun einmal dieses Amt innehabe, solle er sich beizeiten an solche „Störungen“ gewöhnen.

Im Laufe der vergangenen Monate hatten viele Besucher um Einlass gebeten – aus Teebechern, Brunnen und Rosenblüten oder aus angebissenen Äpfeln heraus. Goel pflegte eben einen regen Gedankenaustausch mit seinen vierzig Boten, den Charosim. Am häufigsten „schaute“ Navran Yaschmon „herein“, wie er sich auszudrücken pflegte. Yonathans Ziehvater hatte sich in Ganor niedergelassen, nachdem sein Schützling zum siebten Richter ernannt worden war, und er bestand darauf, auch die kleinste Neuigkeit persönlich weiterzugeben. Yonathan war immer hocherfreut, wenn er das Gesicht des alten Mannes irgendwo entdeckte. Niemanden ließ er lieber ein. Allerdings hatte seit dem Tag, an dem er sich mit seinen Gefährten vor den Häschern Sethurs in den Garten flüchtete, auch kein Unbefugter mehr versucht, in diesen heiligen Ort einzudringen. Zum Glück! Jemanden zurückzuweisen hätte bedeutet, ihn hilflos im Grenznebel in die Irre zu schicken – manche behaupteten, für immer.

Die durch den Stab Haschevet wirkende Macht verlieh Yonathan die unbestechliche Gabe des Gefühls. Er war in der Lage, die Absichten und Empfindungen anderer Personen klar zu erkennen. Deshalb konnte er auch die Besucher, die um Einlass baten, sehr zuverlässig einschätzen. Alles Weitere war fast schon Routine: Yonathan öffnete mit seiner Willenskraft den Nebel, und der Neuankömmling erreichte, ganz gleich, aus welcher Richtung er den Garten betrat, in wenigen Stunden den Wohnsitz der Richter Neschans und konnte sich mit Goel oder ihm besprechen.

Yonathan kannte das Gesicht des jungen Mannes, das ihn aus dem Weidenstamm heraus anlächelte. Er kannte auch das zweite Gesicht, das sich kurz darauf an derselben Stelle zeigte. Felin und Gimbar, seine alten Gefährten, waren in den Grenznebel eingetaucht und baten um Zutritt. Yonathan freute sich, die beiden wiederzusehen. Ihnen gewährte er selbstverständlich Einlass in den Garten der Weisheit.

Und dennoch schien an diesem Morgen nichts so zu sein wie an anderen Tagen.

„Ich muss dich dringend sprechen, Geschan.“

„Das dachte ich mir schon, Meister. Warum sonst hättest du Bithya zu mir geschickt – und das noch vor dem Mittagessen?“

Die mandelförmigen Augen Goels verengten sich. „Erstens, mein vorlauter Schüler, musst du mir nicht immer vorhalten, dass ich Speisen und Getränken gewisse Freuden abgewinne, und zweitens: Wo ist Bithya überhaupt? Ich dachte, sie würde mit dir gemeinsam den Heimweg antreten.“

Yonathan durchschaute schnell, dass Goels Sorge um Bithya nur vorgeschoben war, um von seiner offensichtlichen Unruhe abzulenken. Zwar besaß der kleine Mann mit dem langen dünnen Bart von Natur aus ein sehr lebhaftes Temperament, das ihm selbst nach neunhundert Lebensjahren noch aus den Augen blitzte, aber Goels jetzige Anspannung war nicht darauf zurückzuführen. Etwas Ernstes musste geschehen sein.

Yonathan beschloss, auf die Taktik seines Lehrmeisters einzugehen und antwortete: „Bithya hat sich schnell rar gemacht, nachdem sie mir deine Botschaft überbracht hatte.“ Sein Experiment mit der Kuh verschwieg er lieber.

„Mich deucht, sie ahnt bereits, dass uns größere Veränderungen ins Haus stehen; Frauen sind in solchen Dingen sehr empfindsam. Es wundert mich übrigens, dass du noch nicht ...“ Der Richter hielt inne und blickte Yonathan fragend an.

Aber Yonathan wollte sich nicht darauf einlassen. „Was bewegt dich, Meister?“

„Es geschehen beunruhigende Dinge. Komm mit. Lass uns ein wenig spazieren gehen.“

„Ich habe heute Nacht einen Traum gehabt“, begann Goel, nachdem sie schweigend ein Stück des Weges zurückgelegt hatten. „Es war eine Botschaft von Yehwoh, von großer Tragweite. Eine Botschaft, die mich – das muss ich gestehen – ziemlich aufgewühlt hat.“

„Ach, daher das Rauschen!“

„Wie bitte?“ Goel wirkte verwirrt.

Mit einem Mal erhielt alles einen Sinn. Der Traum der letzten Nacht, an den Yonathan sich merkwürdigerweise nicht mehr erinnern konnte, war nicht sein eigener gewesen. Durch die Kraft Haschevets hatte er unbewusst die Erregung Goels wahrgenommen, wie ein fernes Geräusch irgendwo im Hintergrund, das man nicht recht deuten kann. Aber was konnte Goel derart beunruhigt haben?

Yonathan unterdrückte seine Neugier und sagte scheinbar ruhig: „Es ist lange her, dass du einen solchen Traum gehabt hast, nicht wahr, Meister?“

Goel nickte ernst. „Nicht mehr, seit das Richteramt auf dich übertragen wurde.“

„Dann muss es wirklich wichtig sein.“

Sie bogen gerade in das Heckenrondell ein, nicht weit hinter dem Haus der Richter Neschans. Die Rosensträucher wiesen schon junge Triebe und saftig grüne Blätter auf, aber die Blüten warteten noch auf ihre Jahreszeit. Nur ein Strauch erstrahlte wie immer in seiner ganzen Pracht.

„Kannst du dich an die Tränenland-Prophezeiung erinnern, Geschan? Aber natürlich entsinnst du dich. Du besitzt ja den Stab. Ein Teil der besagten Prophezeiung erfüllte sich, als du vor drei Jahren hier im Garten der Weisheit eintrafst. Es geht darin um den siebten Verwalter, den der König des Tränenlandes ausgesandt hatte, damit er dem verwerflichen Treiben des bösen Fürsten Einhalt geböte. Du kennst die Bedeutung dieses Gleichnisses?“

Yonathan nickte. „Der König steht für Yehwoh, der böse Fürst ist Bar-Hazzat und durch den Verwalter wird der siebte Richter dargestellt. Richtig?“

„Richtig. Wenn du so gut Bescheid weißt, dann kannst du mir sicher auch erzählen, was geschah, nachdem der siebte Verwalter ausgeschickt worden war.“

„Er legte den Fürsten in Ketten und brachte ihn zum König. Der saß über seinen Widersacher zu Gericht und ließ ihn in einen tiefen Turm werfen.“

Inzwischen waren Yonathan und Goel bei dem weiß blühenden Rosenstrauch angelangt, und der alte Richter setzte sich auf eine Bank aus weißem Marmor.

„Wieder richtig“, bestätigte er. „Du bist ein gelehriger Schüler, Geschan. Nun lass uns diesen Teil der Weissagung ebenfalls deuten: Wann gedenkst du eigentlich, Bar-Hazzat unschädlich zu machen?“

Yonathan schluckte schwer. Er war Bar-Hazzat, oder vielmehr einem Sendbild des dunklen Herrschers, zweimal begegnet. Zuletzt, im Schwarzen Tempel von Abbadon, hätte es ihn beinahe das Leben gekostet. „Ich hatte gehofft, Bar-Hazzat würde Ruhe geben, sobald er feststellte, dass sein Plan, mich und den Stab Haschevet vom Garten der Weisheit fernzuhalten, fehlgeschlagen sei.“

„Was ja auch nicht so falsch ist. Nachdem die Charosim der Welt die Nachricht überbrachten, dass der siebte Richter erschienen sei, wurden die schwarzen Priester, die Stellvertreter des dunklen Herrschers, überall aus den Städten und Dörfern verjagt. Die Ratten flüchteten in ihre Schlupflöcher zurück, an den Busen Bar-Hazzats, ihres finsteren Beschützers. Danach kehrte tatsächlich so etwas wie Friede ein.“

„Leider nicht für lange.“

Goel wurde jetzt sehr ernst. Er legte seinem Schüler eine Hand auf die Schulter und sagte: „Geschan, es fällt mir schwer, dir mitzuteilen, was zu sagen meine Pflicht ist.“

„Ich ahne schon, was jetzt kommt.“

„Du weißt, dass unsere vierzig Boten seit anderthalb Jahren immer beunruhigendere Berichte aus ganz Neschan mitbringen. Die schwarzen Priester Témánahs sind wieder aktiv geworden. Bar-Hazzat hat sich unerfreulich schnell von dem Schock deines Erscheinens erholt.“

Yonathan konnte sich noch recht gut an den Tag erinnern, als er von Kitvar aus, mit dem Stab Haschevet auf dem Rücken, seine abenteuerliche Reise zum Garten der Weisheit angetreten hatte. Damals war er in den Straßen der kleinen Hafenstadt versehentlich mit einem jener schwarz gekleideten témánahischen Priester zusammengestoßen und hatte sich zu Tode erschreckt. Später erfuhr er, dass die weißhäutigen, glatzköpfigen Diener Bar-Hazzats auf der Suche nach dem Stab waren. Yonathan konnte nur von Glück sagen, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatten, das kostbare Zeichen der neschanischen Richterschaft bei einem kaum vierzehnjährigen Knaben zu suchen.

„Hatte dein Traum etwas mit diesen Priestern zu tun?“, fragte er besorgt.

„Mit ihnen und mit noch viel Schlimmerem. Während meines Traums durchstreifte ich alle Regionen Neschans, und überall sah ich das gleiche Bild. Grässliche Dinge gehen vor sich! Die schwarzen Priester praktizieren Kulte, die mehr als verabscheuungswürdig sind – selbst vor Kinderopfern schrecken sie nicht zurück.“

„Aber wie können die Menschen so etwas dulden?“

„Es gibt leider viele, die sich mit Hingabe jeder Art von Mystik widmen. Sie hoffen, Ansehen und Einfluss zu erlangen, indem sie geheimen Mächten huldigen. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste.“

Yonathan schaute seinen Meister fassungslos an.

„Die weitaus größte Zahl ihrer Anhänger gewinnen die schwarzen Priester mit anderen Mitteln, durch eine schwer erkennbare Manipulation: Sie vergiften mit ihren Lehren den Geist der Menschen.“

„Wie das?“

„Sie predigen ihnen Reichtum, Erfolg, Macht, Ansehen – alles, was die Gier des Menschen zu nähren vermag. Das Gefährliche an ihren Lehren ist, dass die Rücksicht gegenüber den Mitmenschen nichts mehr gilt; alles muss sich der Befriedigung des eigenen Verlangens beugen. Bei denen, die ohnehin schon Macht und Einfluss besitzen, fällt der Same aus Témánah naturgemäß auf besonders fruchtbaren Boden. Das Gerede der Priester schmeichelt ihren Ohren: ‚Tu, was du willst. Nur du bist wichtig. Der Stärkere siegt immer über den Schwachen. Warum sich nicht auf die Seite der Gewinner stellen?‘ Das sind ihre Glaubenssätze. In meinem Traum sah ich, dass in manchen Gegenden Menschen verfolgt oder zumindest als Feinde der Gemeinschaft beschimpft werden, weil sie die Selbstsucht ihrer Mitmenschen anprangerten und zu mehr Nächstenliebe aufriefen.“

„Ich vermute, dass es als siebter Richter meine Aufgabe ist, die Menschen wieder zur Vernunft zu bringen?“

„Ja und nein“, meinte Goel. „Bedenke: Wir Richter haben die Menschen zu allen Zeiten auf Yehwohs gerechte Wege hingewiesen und die Machenschaften der dunklen Seite angeprangert. Einige hörten darauf, andere lachten über uns. Was du zu tun hast, ist weit mehr, als die sechs Richter vor dir unternahmen.“

„Ich dachte mir schon etwas Ähnliches. Du sprichst wahrscheinlich vom zweiten Teil der Tränenland-Prophezeiung.“ Goel nickte bedächtig. „Auch davon. Melech-Arez verlangt das zurück, was ihm – wie er meint – ganz allein zusteht. Jeder, der das Sepher Schophetim, das Buch der Richter Neschans, kennt, weiß, dass er der Gott dieser Welt ist. Er hat sie geschaffen als eine jämmerliche Kopie der Erde. Er wollte eine Welt, die ihm zu Füßen liegt, in der ausnahmslos jede Kreatur ihn als Gott und Schöpfer anbetet.“

„Was ihm nur sehr unvollkommen gelungen ist.“

„Natürlich. Hätte Yehwoh die entarteten Geschöpfe Neschans nicht von ihrer krankhaften Bosheit befreit, würde längst kein vernunftbegabtes Lebewesen mehr auf dieser Welt existieren. Yehwoh hat den vorher willenlosen Geschöpfen Melech-Arez’ die Fähigkeit gegeben, selbst zu entscheiden, wem sie dienen möchten: ihm oder dem selbst ernannten Gott Neschans. Außerdem sandte er die Richter und die Träumer von der Erde, als Kraft des Guten gegen die Mächte des Bösen.“

„Wir beide wissen ganz genau, wohin das alles geführt hat. Die Menschen und mit ihnen alle anderen vernunftbegabten Wesen Neschans finden sich seit Jahrtausenden in zwei Lagern wieder. Aber wie kann sich das jemals ändern?“

„Durch die Weltentaufe.“

Goels prompte Antwort raubte Yonathan für einen Moment den Atem. Seit den Tagen Yenoachs, des ersten Richters, war die Weltentaufe zwar in den heiligen Schriften immer wieder angekündigt worden, aber die Menschen neigen nun einmal dazu, die Unwägbarkeiten der Zukunft einfach zu verdrängen. Dass dieses Ereignis, in dessen Folge Neschan für immer vergehen würde, so kurz bevorstand, damit rechneten wohl nur wenige.

„Ich habe nie so richtig verstanden, wie von einem einzigen Menschen, dem siebten Richter, das Geschick einer ganzen Welt abhängen kann“, sagte Yonathan. „Was nützt den anderen Men­ schen da schon das Recht, frei über ihr eigenes Handeln zu bestimmen?“

Goel lächelte nachsichtig. „Das wäre der Gegenstand einer späteren Lektion gewesen, Geschan. Lass es mich ganz kurz erklären: Yehwoh ist gerecht, er ist die Liebe in Person. Nie würde er einen Menschen dem Untergang weihen, der ihm treu ergeben ist. Aber diese Welt hier – die Heimat so vieler Lebewesen – wurde vom Bösen hervorgebracht. Sie wurde geschaffen, um einem bösen Zweck zu dienen. Aus diesem Grund kann auch nichts, das von dieser Welt stammt, Neschan retten. ‚Finsternis kann niemals Licht gebären‘, heißt es im Sepher. Deshalb wurden die Richter immer von der Erde genommen. Und dir, Geschan, ist die Aufgabe anvertraut, als Stellvertreter für die vielen Gerechten ein für allemal die dunklen Helfershelfer Melech-Arez’ von dieser Welt zu verbannen. Nur dann wird die Weltentaufe anbrechen und dem Untergang Neschans ein neues Emporheben folgen, eine Welt mit neuem Namen.“

Yonathan schwieg lange Zeit. Obgleich Goels Worte ihm nicht fremd waren, hatte er das Unausweichliche lange weggeschoben. Eine ganze Welt zu retten, erschien ihm als eine nicht eben leichte Bürde.

Er musste sich überwinden, das Schweigen, das ihm ein trügerisches Gefühl der Geborgenheit gab, zu brechen. „Und wie, glaubst du, kann ich Bar-Hazzat und die anderen Diener des Melech-Arez nachhaltig ausschalten?“

Goel schien nur auf Yonathans Frage gewartet zu haben. „Ganz einfach, du musst die sechs Augen Bar-Hazzats zerstören.“

„Die ... was?“

„Ach“, Goel wirkte zerstreut, „davon habe ich dir, glaube ich, noch nicht erzählt. Ein schweres Versäumnis, das muss ich eingestehen. Melech-Arez und seine entarteten Geister lieben es, sich an materielle Dinge zu binden: Steine, Bilder, Statuen, alles Mögliche. Da sie selbst über keinen Leib verfügen, nutzen sie das Stoffliche, um damit Macht über die Lebewesen Neschans zu gewinnen.“

„Und die sechs Augen Bar-Hazzats sind solche ‚stofflichen‘ Dinge?“, fragte Yonathan verwirrt.

Goel nickte. „Es gibt im Sepher nur einige vage Andeutungen über sie. An einer Stelle heißt es: ‚Und der Fürst des Südreiches sandte seine Boten aus, damit sie ihm dienten als Augen, um allezeit zu wachen über die Tränenwelt ...‘“

Yonathan erinnerte sich an die Textpassage und fuhr fort:

„‚Vier mit den Weltwinden, einen in das Herz des Himmelsthrons und der sechste mit jedem Schritt an der Seite seines Herrn – ein jeder karminrot gekleidet, um in Blut zu tauchen die Länder des Lichts.‘“

„Ich muss immer wieder über dein Gedächtnis staunen, auch wenn ich weiß, dass Haschevet dich ein wenig unterstützt.“

„Er hilft mir ganz gehörig!“, versicherte Yonathan. Dann fiel ihm etwas ein. „Ich habe dir doch davon erzählt, wie der Stab Haschevet damals am Südkamm die Eislawine zum Schmelzen brachte, auf der Sethur stand.“

„Der Heeroberste Bar-Hazzats wurde mit dem Schmelzwasser fortgeschwemmt“, erinnerte sich der alte Richter.

„Als Sethur in den Eismassen versank, schleuderte er mir noch einen Fluch nach. Damals waren es rätselhafte Worte für mich. Er rief: ‚Ihr habt zwar einen Sieg errungen, aber Ihr habt die Schlacht noch nicht gewonnen, Stabträger. Die Augen liegen in ihren Höhlen und harren der Stunde der Erweckung, um Euch wieder die Macht zu nehmen und sie dem zu geben, dem sie gebührt.‘ Meinst du, er hat von denselben Augen gesprochen wie das Sepher Schophetim?“

„Da bin ich mir sogar sicher, Geschan.“

„Ich wüsste nur zu gern mehr über sie. Die Prophezeiung im Sepher und auch Sethurs Fluch – all das klingt, als wären die sechs Augen eigenständige Wesen.“

Goel zuckte mit den Schultern. „Es ist wenig bekannt. Aber nach dem, was ich über den Herrscher Témánahs weiß, glaube ich nicht, dass er irgendjemandem wirklich traut – selbst Sethur hat ihn enttäuscht, weil er dich nicht fangen konnte.“

„Wonach muss ich dann suchen, um Bar-Hazzats sechs Augen zu finden?“

„Nehmen wir einmal an, es seien Steine, karminrote Steine, um genau zu sein. Fällt dir dazu irgendetwas ein?“

Yonathans Augen weiteten sich. „Abbadon!“, hauchte er den Namen der verfluchten Stadt. „Als ich in dem Schwarzen Tempel nach Yomi suchte, sah ich einen Raum, in dem ein karminrotes Licht strahlte.“

„Nun, wie es aussieht, wissen wir bereits, wo sich das erste Auge befindet. Wenn es sich um ein lebendes Wesen gehandelt hätte, wäre es dir bestimmt entgegengetreten, um sich zu verteidigen.“

„So aber kam ihm Bar-Hazzat zu Hilfe und hätte mich beinahe zerquetscht wie einen lästigen Wurm. Sollte er immer sofort zur Stelle sein, sobald ich mich einem seiner Augen nähere, dann wird es ziemlich schwierig werden, sie zu zerstören.“

Goel wiegte den Kopf hin und her. „Ich glaube nicht, dass er dazu in der Lage ist. Der Schwarze Tempel dürfte in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnehmen. Er war schon immer Bar-Hazzats Refugium. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass er dir damals schon längere Zeit auf den Fersen war.“

„Jetzt wird mir einiges klar! Ich erinnere mich noch genau an die Worte des schwarzen Schattens im Tempel von Abbadon. Er sagte: ‚Ich kenne dich genauer, als du denkst, Yonathan. Du kriechst bereits viel zu lange Zeit unter meinen Augen dahin.‘ Er meinte nichts anderes als seine sechs karminroten Augen. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass ich auf meiner Reise nicht nur einem Stein – oder was immer diese Augen darstellen – sehr nahe gekommen bin.“

„Das kann gut sein. Vielleicht waren all die Hindernisse, die auf deinem Weg zum Garten der Weisheit lagen, Teil eines größeren Plans. Du solltest aber trotzdem damit rechnen, dass auch die anderen Augen bewacht werden. Bar-Hazzat versteht es, Dummheit, Stolz oder Machtsucht in Hörigkeit zu verwandeln. Wer sich ihm ausliefert, der kann jede Kontrolle über den eigenen Willen verlieren. Geh also lieber davon aus, dass er mächtige Geschöpfe zum Schutz seiner Augen auserwählt hat.“

„Ich werde daran denken“, erwiderte Yonathan geistesabwesend. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken wild durcheinander. „Vier Augen wurden mit den Weltwinden ausgesandt“, murmelte er, den Blick zu Boden gesenkt. „Und eines befindet sich im Herzen des Himmelsthrons. Ich glaube, ich weiß, wo sich zumindest einige der Augen befinden.“

„Dann gibt es nichts mehr, was dich noch länger hier im Garten der Weisheit zurückhalten sollte.“ Erschrocken hob Yonathan den Kopf.

„Oder dachtest du, du könntest deine Aufgabe von hier aus lösen?“

„Nein, natürlich nicht“, gab Yonathan verunsichert zu. „Mir kam nur gerade meine Ausbildung in den Sinn.“

„Ich fürchte, wir müssen sie vorzeitig abbrechen. Sieben Jahre wären besser gewesen, aber bei deiner Auffassungsgabe sind drei auch nicht schlecht.“

Yonathan schnappte nach Luft. „Drei statt sieben! Wenn du mir eben Mut machen wolltest, dann ist dir das gründlich misslungen.“

„‚Das Leben ist nicht der schlechteste Lehrmeister‘ sagt ein altes Sprichwort.“ Über Goels Lippen huschte ein geheimnisvolles Lächeln. Dann sprach er sehr ernst weiter: „Ich möchte dir für deine Reise etwas mitgeben.“

Yonathan sah ihn erwartungsvoll an.

„Es handelt sich um drei Rosen – allerdings keine gewöhnlichen, natürlich; drei Rosen vom Strauch Ascherels, meiner Lehrmeisterin.“

„Beziehungsweise Tarikas, wie meine Urgroßmutter auf der Erde hieß“, setzte Yonathan hinzu. „Du hast mir schon einmal zwei dieser geheimnisvollen Blumen anvertraut.“

Goel nickte. „Sie vergehen nicht, solange ihr rechtmäßiger Besitzer lebt.“ Er zog aus einer Falte seines schneeweißen Gewandes eine kleine silberne Klinge hervor, ging zu dem weißen Strauch und schnitt drei langstielige Rosen ab. Wieder zurück bei der Marmorbank reichte er Yonathan die Blumen und sprach dazu die feierliche Formel: „Als Hüter von Ascherels Rosenstock übergebe ich dir diese Blüten. Von nun an sind sie dein, bis du sie aus freiem Willen einem anderen gibst, es sei denn, du stürbest zuvor.“ Dann fügte er noch hinzu: „Und jetzt nimm den Stab und zerstöre sie.“

„Ich soll was ...?“ Yonathan hatte es die Sprache verschlagen.

„Na, zerschlage sie, mach Pulver aus ihnen, Blütenstaub, Rosenöl – was immer dir einfällt.“

„Aber wie ...?“

„Tu, was ich dir sage.“

Yonathan seufzte. Er stellte sich neben Goel, legte die Rosen auf die Marmorbank und drehte sich noch einmal zu seinem Lehrmeister um.

„Beeil dich, das Mittagessen wird kalt.“

Yonathan bezweifelte den Sinn dieser merkwürdigen Übung, aber er gehorchte. Er konzentrierte seinen Willen auf den Stab, holte weit aus und ließ den goldenen Knauf auf die zarten Rosenblüten niederfahren. Erwartungsgemäß zuckte ein blauer Blitz auf, und ein krachender Donner betäubte seine Ohren. Weißer Staub zwang ihn zum Husten.

Nachdem sich die Wolke gesetzt hatte, blickte er fassungslos auf die drei weißen Rosen, die völlig unversehrt in den Trümmern der Gartenbank lagen.

Goel drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zum Haus der Richter. Über die Schulter rief er Yonathan zu, der immer noch regungslos die Blumen anstarrte: „Willst du mich nicht zum Mittagessen begleiten? Dann könnte ich dir erklären, was geschehen ist; oder besser: was nicht geschehen ist.“

„Habt ihr versucht, einen Tunnel unter dem Grenznebel hindurch zu graben?“, begrüßte Bithya den ehrwürdigen Richter und seinen Schüler. In ihrer Stimme schwang eine gewisse Schärfe mit. „Ihr seht aus wie zwei Grubenarbeiter. Geht bitte vor die Tür und klopft euch ab. Danach könnt ihr wieder hereinkommen und euch an den Esstisch setzen.“

„Sie ist schon eine energische Person, meine Urenkelin“, flüsterte Goel vergnügt.

„Sie ist eine Stachelwortspuckerin“, knurrte Yonathan zurück. Er erinnerte sich an Bithyas seltsames Verhalten am See.

„Was hast du gesagt, Yonathan?“

„Nicht der Rede wert, Bithya. Wir sind gleich zurück.“

Am Brunnen vor dem Haus schüttelten Goel und Yonathan den Staub aus ihren Gewändern und wuschen sich gründlich genug, um unter den kritischen Augen Bithyas bestehen zu können. Die beiden Richter hatten sich auf dem Rückweg vom Rosengarten ganz auf ihr Gespräch konzentriert. Der weiße Marmorstaub, der Haare, Gesichter und Kleidung mit einer feinen Schicht bedeckte, war ihnen gar nicht aufgefallen.

Goel hatte Yonathan erklärt, warum Haschevet den weißen Rosen von Ascherels Strauch nichts anhaben konnte. „Beide sind Schöpfungen Yehwohs, Werke des Lichts“, hatte der alte Mann erklärt. „So wie ein Licht ein anderes nur verstärken kann, so kann sich das Koach nicht gegen irgendeine andere Äußerung der göttlichen Macht wenden. Außerdem habe ich dir die Rosen feierlich übergeben. Sie sind unzerstörbar, solange du lebst.“

„Und das Gleiche gilt, wenn ich sie jemand anderem anvertraue?“

„So ist es.“

„Aber wie können mir die Rosen dabei helfen, die sechs Augen Bar-Hazzats unschädlich zu machen?“

„Das musst du selbst herausfinden, Geschan.“

„Vielen Dank für die Hilfe.“

„Was ‚Hilfe‘ anbelangt, vermute ich doch, dass diese schon auf dem Weg hierher ist.“

„Du weißt von Gimbar und Felin?“

„Sagen wir, ich habe es geahnt.“

Vielmehr war auf dem Heimweg nicht aus dem alten Richter herauszubekommen. Yonathan hatte über alldem völlig Bithyas Sinn für Sauberkeit und Ordnung vergessen, was nicht ohne Folgen geblieben war. Das Mädchen half dem alten Sorgan und seiner Frau Balina bei den täglichen Arbeiten, die in und um das Haus der Richter Neschans anfielen. Sie tat es freiwillig, und manchmal glaubte Yonathan, nur deshalb, um ihn herumdirigieren zu können.

Bald nach dem Mittagessen traf Gimbar ein. Yonathan freute sich jedes Mal sehr, seinen alten Gefährten wiederzusehen, der ihn vor Jahren auf der Reise zum Garten der Weisheit begleitet hatte. Da die Geschichte dieses Abenteuers mittlerweile Gegenstand vieler Lieder und Erzählungen geworden war, kannte auf Neschan inzwischen jedes Kind den kleinen, muskulösen Mann, der seine ersten dreiundzwanzig Lebensjahre unter Piraten verbracht hatte. Zudem war er der einzige Mensch, der sich zweier Leben erfreuen durfte: Ein Pfeil der Häscher Sethurs hatte ihn damals getötet, als er sich schützend vor Yonathan warf. Doch die Kraft Haschevets hatte ihn wieder aus dem Todesschlaf zurückgeholt. Seit dieser Zeit trug Gimbar das Mal Haschevets auf der Brust, ein eingebranntes Adlergesicht.

„Wie geht es Schelima und den Kindern?“, begrüßte Yonathan den jungen dunkelhaarigen Mann mit der auffallenden Hakennase.

„Prächtig!“, antwortete Gimbar und zeigte sein strahlendes Lächeln. „Meine Frau blüht schöner als jede Blume, der kleine Schelibar erprobt zur Zeit die nervliche Belastbarkeit seines Vaters mit nächtlichen Lärmattacken, und meine Große, Aïscha, lernt gerade, wie man in Farbtröge steigt und über Stoffballen wandelt.“

„Das Familienleben ist wirklich ein Segen!“

„Ich wusste, dass du kein Mitleid mit mir haben würdest.“ Etwa zwei Stunden später erreichte auch Felin das Haus der Richter. Er hatte sich kaum verändert: Sein hochgewachsener schlanker Körper bewegte sich noch mit derselben Geschmeidigkeit, die Yonathan schon immer an ihm bewundert hatte; an seinem Sattel hing der alte Langbogen und auf dem Rücken trug er das mächtige Schwert Bar-Schevet, das längst schon genauso zu ihm gehörte wie seine traurigen Augen.

Das Wiedersehen mit dem Sohn des cedanischen Kaisers Zirgis versetzte Yonathan in eine ganz besondere Hochstimmung. Dies bedeutete aber nicht, dass er die Freundschaft Gimbars weniger schätzte. Der Freund wohnte sozusagen in unmittelbarer Nachbarschaft des Gartens, so dass man sich mehrmals im Jahr sehen konnte. Den schweigsamen Prinzen dagegen hatte Yonathan nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit Gimbar vor drei Jahren Schelima geheiratet und die Leitung von Baltans Handelskontor in Ganor übernommen hatte.

„So fügt sich denn alles zusammen“, sagte Goel, nachdem Yonathan und Felin sich umarmt und eine Weile einfach nur dagestanden waren, schweigend, als wollten sie sich von der Gegenwart des anderen völlig durchdringen lassen.

Felin blickte Goel fragend an.

„Erinnert ihr euch nicht mehr?“ Der sechste Richter lächelte geheimnisvoll. „Damals, als ihr drei zusammen mit Yomi und Yehsir in den Garten der Weisheit kamt, erhielt jeder von euch eine Berufung.“

„Ich kann mich noch sehr gut entsinnen“, warf Gimbar ein.

„Als wäre es gestern gewesen. ‚Diene Yehwoh und seinem siebten Richter, denn das ist, was dir bestimmt wurde‘, hattet Ihr zu mir gesagt.“

Felin nickte. „Wie könnten wir diesen Tag vergessen, ehrwürdiger Goel? Mich mahntet Ihr damals, das Schwert Bar-Schevet nie zu üblen Zwecken zu gebrauchen. Und meine Bestimmung, wie auch diejenige Geschans, sei es, einst im Thronsaal von Cedanor den Frieden über alle Völker Neschans auszurufen. Was das Schwert betrifft, so glaube ich, mich Eurem Rat würdig erwiesen zu haben, aber der Frieden Neschans scheint mir heute weiter entfernt als je zuvor.“

„Deswegen sind wir heute hier zusammengerufen worden“, sagte Goel.

„Einen Moment!“, warf Yonathan ein. „Was heißt ‚zusammengerufen‘? Wie kommt es überhaupt, dass ihr beide gerade heute hier eintrefft?“

„Erinnerst du dich nicht mehr an das, was ich damals zu dir sagte, als wir uns verabschiedeten?“, fragte Felin, und er klang beinahe vorwurfsvoll.

„Doch. An jedes einzelne Wort“, erwiderte Yonathan. „Seit ich den Stab Haschevet mit mir herumtrage, vergesse ich überhaupt nichts mehr. Du sagtest damals: ‚Wenn du mich einmal brauchst, dann werde ich da sein, mein Freund. Verlass dich darauf.‘ Aber das ist keine Antwort, Felin. Woher hast du gewusst, dass es heute soweit ist?“

Felin zuckte mit den Achseln. „Warum wissen die Krokusse, dass sie ihre Köpfe aus dem Schnee stecken sollen?“

„Weil es wärmer wird“, antwortete Yonathan unnachgiebig.

„Ja, das ist eine passende Erklärung“, pflichtete Felin seinem ungeduldigen Freund bei. „Sagen wir, es ist warm geworden auf Neschan, sogar heiß. Deshalb bin ich gekommen.“

Hilfesuchend blickte Yonathan zu Gimbar hinüber.

„Frag nicht mich“, entgegnete dieser, als müsse er seine Unschuld beteuern. „Bei mir war die Sache einfacher. Ich gab gestern früh Anweisung, einige besonders kostbare Bahnen frisch gesponnener Seide zum Bleichen in die Sonne zu hängen. Wenig später kamen einige Weber zu mir gelaufen und jammerten mir die Ohren voll, das ganze Tuch sei verdorben. Ich wollte mich selbst überzeugen und fand die Seide an ihrem Platz: unversehrt. Und rot.“

„Interessant“, murmelte Goel.

„Sie war was?“

„Ja, du hörst richtig, Yonathan. Die weiße Seide hatte ein sattes Rot angenommen. Niemand hätte in so kurzer Zeit eine solche Menge Stoff heimlich abnehmen, färben und wieder an die alte Stelle hängen können. Unsere Seide ist sehr kostbar, und daher passen wir immer gut auf sie auf. Nebenbei bemerkt, war die rote Seide völlig trocken! Ich konnte mir keinen Reim auf diesen Vorfall machen oder sonst irgendeine natürliche Erklärung dafür finden. Noch am selben Abend sagte ich dann zu Schelima, dass ich zu dir in den Garten ginge, da ich verpflichtet sei, dir zu helfen, und du offenbar dringend meine Hilfe benötigen würdest. Aber wie gesagt: Frag mich nicht, warum.“

Yonathan nickte gedankenverloren und murmelte: „Schade! um die schöne Seide.“

„Darum musst du dich nicht sorgen“, sagte Gimbar unbekümmert. „Die Seide ist ja nicht verdorben. Sie leuchtet jetzt nur in einem unvergleichlich kräftigen Karminrot, so gleichmäßig, dass ...“

„Sag das bitte noch einmal!“, platzte Yonathan dazwischen.

„Wie bitte?“

„Die Farbe! Wie hast du eben den Farbton beschrieben?“

„Sie ist karminrot – übrigens eine sehr gute Qualität.“ Yonathan wechselte einen schnellen Blick mit Goel.

„Lasst uns in das Studierzimmer gehen“, beschloss der alte Richter. „Es gibt einige sehr wichtige Dinge, die wir besprechen müssen.“

Zwischen Hunderten von Schriftrollen und kaum weniger ledergebundenen Folianten saßen Yonathan, Goel, Felin und Gimbar und berieten, wie man eine Welt retten konnte.

„Ich glaube, die Fakten sind eindeutig“, fasste Goel zusammen. Er wanderte unruhig im Zimmer umher, Girobar hatte sich in einen bequemen Sessel geworfen, Yonathan und Felin standen über einige Landkarten gebeugt am Tisch. „Mein Traum der vergangenen Nacht, die alten Weissagungen und der Bericht, den Felin von seiner Reise durch die Länder Neschans mitgebracht hat: Alles beweist, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist. In dem Maße, wie die sechs Augen Bar-Hazzats erwachen, gewinnen die schwarzen Priester Témánahs an Macht und Einfluss. Die Augen müssen unverzüglich zerstört werden! Andernfalls wird das dunkle Reich Témánah Neschan verschlucken. Die Weltentaufe kann dann dieser Welt nur noch die Erlösung bringen, die man einem Pferd mit gebrochenem Lauf gibt.“

„Man schneidet ihm die Gurgel durch“, meinte Girobar nüchtern.

Yonathan sprang auf. „Ich werde diese karminroten Augen finden, und ich werde sie zerstören.“

„Wann brechen wir auf?“, erkundigte sich Felin, die Ruhe in Person.

„Nur Geschan und Girobar werden diese Suche antreten!“, bestimmte Goel. „Deine Aufgabe ist eine andere, mein Urenkel. Du wirst nach Cedanor gehen, denn dorthin wird sich Bar-Hazzat wenden, sobald er spürt, dass wir ihm den Kampf angesagt haben.“

„Wer lässt sich schon gern ins Auge piken?“, scherzte Gimbar.

„Selbst wenn er sechs Stück davon hat.“

„Spätestens wenn Geschan das erste Auge zerstört hat, wird Bar-Hazzat unseren Plan durchschauen“, gab Goel dem kleinen Expiraten Recht. „Deshalb ist es so wichtig, dass du und Geschan schnell und unauffällig vorgeht; das betrifft vor allem die Anwendung des Koach.“

„Wie meinst du das?“, fragte Yonathan.

„Die schwarzen Priester werden sofort bemerken, wenn du die Macht Haschevets in ihrer Nähe gebrauchst, ebenso wie du ihre Gegenwart spüren wirst.“

„Das macht die Sache nicht eben leichter.“

„Es hat nie jemand behauptet, dass es einfach sein wird, Geschan. Mach dich mit dem Gedanken vertraut, dass ihr unsichtbar bleiben müsst, solange es nur irgend geht. Darum solltet ihr eure Suche dort beginnen, wo sie am zeitaufwendigsten ist; danach muss dann alles ganz schnell gehen.“

„Leichter gesagt als getan“, wandte Yonathan ein. „Gemäß der Prophezeiung befindet sich ein Auge im Herzen des Himmelsthrones. Wie wir alle wissen, wird der Palastberg in Cedanor so genannt. Wir müssen also erst einmal dorthin gelangen, nachdem wir das erste Auge irgendwo auf Neschan ausfindig gemacht haben. Das kann Wochen oder sogar Monate in Anspruch nehmen!“

„Deshalb ist es so wichtig, dass Felin mit Bar-Schevet nach Cedanor geht“, betonte Goel. „Nur die Macht Haschevets, die in dem Schwert wirksam ist, kann den Einfluss des Auges bannen, bis du die Hauptstadt erreichst.“

Der Prinz nickte. Am liebsten wäre er zwar seinen Gefährten gefolgt, aber er sah ein, dass Goels Argumente schwerer wogen. „Gut“, fuhr Yonathan fort. „Wenn – um weiter bei den Worten der alten Weissagung zu bleiben – das ‚Herz‘ Cedanor ist, dann sind die vier Weltwinde vermutlich die vier Himmelsrichtungen. Wir können also davon ausgehen, dass Bar-Hazzat seine karminroten Wächter in genügendem Abstand um die Stadt herum platziert hat. Von zwei weiteren Augen glaube ich zu wissen, wo sie sich befinden: eines im Nordwesten, das andere im Südosten.“

„Bleiben der Osten und der Westen“, folgerte Gimbar. „Ich bin einmal zur See gefahren und kenne mich in diesen Dingen aus.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über Yonathans Lippen. „Wir werden unsere Suche im Osten beginnen. Und zwar morgen früh.“

Der Vollmond warf sein silbriges Licht über den Rosengarten. Yonathan stand zwischen den Trümmern der Marmorbank und dem Strauch Ascherels. Er war noch einmal hinausgegangen, um in Ruhe nachdenken zu können. Vor drei Jahren hatte sich sein Leben radikal geändert. Auf der Erde war er der Sohn eines Lords gewesen, auf Neschan der Pflegesohn eines vermeintlichen Fischers. Wie ein Grenzgänger war er hin und her gependelt zwischen den beiden Seiten des Spiegels.

Bis er dann zum siebten Richter wurde. Goel hatte ihn hart herangenommen. Vielleicht hatte er schon immer gewusst, dass die Ausbildung des siebten Richters kürzer sein würde, als es die Bedeutung seines Amtes eigentlich gebot. Und nun würde sich Yonathans Leben erneut wandeln. Morgen sollte er die Geborgenheit des Gartens der Weisheit verlassen und in eine Welt hinausgehen, die ihm alles andere als freundlich gesinnt war. Er sprach ein stilles Gebet, seufzte und ging zum Haus zurück.

Vor dem Eingang traf er auf Bithya.

„Du bist noch wach?“

„Meinst du, ich schlafe an einem solchen Tag?“ Bithyas Stimme klang gereizt.

„Warum denn nicht?“

„Du kannst mich nicht für dumm verkaufen, nur weil ich ein Mädchen bin.“

„Ich habe nie auch nur im Geringsten daran gezweifelt, dass du ein ausgesprochen kluges Mädchen bist.“

„Das wird mir helfen, ohne dich zurechtzukommen.“

„Wie kommst du auf so etwas?“ Yonathan bemerkte, dass wieder die Unsicherheit von ihm Besitz ergriff, die er häufig in Bithyas Gegenwart verspürte.

„Glaubst du, ich weiß nicht, dass du morgen fortgehen wirst?“

„Nun ...“

„Gib dir keine Mühe“, unterbrach das zierliche Mädchen seinen matten Erklärungsversuch. „Seit dem Tod meiner Eltern habe ich mich allein durchgeschlagen. Ich werde es verkraften, auch jetzt wieder auf mich gestellt zu sein.“

„Aber du bist doch nicht allein. Goel kann den Garten nicht verlassen. Außerdem sind Sorgan und Balina ...“

„Das ist nicht das Gleiche“, fiel Bithya Yonathan erneut ins Wort. Er sah, dass ihre Unterlippe bebte. „Du wirst nicht mehr da sein. Nur das zählt für mich.“

Eine Fieberwelle lief durch Yonathans Körper, die ihn abwechselnd frösteln und brennen ließ. Also hatte er sich doch nicht geirrt, was Bithyas Gefühle ihm gegenüber betraf. Dieses anmutige, wunderschöne Mädchen wirkte mit einem Mal sehr verletzlich. Wo war die andere Bithya geblieben, die kratzbürstige Stachelwortspuckerin, die Komplizin bei so manchem Streich, die gute Freundin? Er erinnerte sich an die Verlegenheit und die feuchten Hände, die ihm bereits am ersten Tag ihrer Bekanntschaft zu schaffen gemacht hatten. Doch erst jetzt begriff er, wie sehr er dieses Mädchen wirklich liebte.

Balina hatte die ganze Nacht hindurch die Verpflegung für die drei Reisenden zubereitet und Sorgan hatte den Rest des Gepäcks zusammengestellt. Bithya war wie vom Erdboden verschluckt.

Yonathan hatte sich abgelenkt, indem er seine persönlichen Habseligkeiten ordnete und das zurechtlegte, was er mitnehmen wollte. Die drei Rosen Ascherels bettete er in einen langen Kasten aus Wurzelholz. Um seinen Hals hängte er sich die alte Flöte, die zu einem Erkennungszeichen des siebten Richters geworden war. Für den Knauf Haschevets hielt er einen Lederbeutel bereit; Goel hatte ihm geraten, den Stab damit zu tarnen, um eine vorzeitige Entdeckung zu vermeiden.

Für den äußersten Notfall überreichte der alte Richter Yonathan ein Pergament. „Gib es demjenigen, der dich aufzuhalten versucht; er wird sich von dem Blatt nie wieder lösen können, es sei denn, jemand anderes befreit ihn davon.“ Yonathan wollte einen Blick auf dieses merkwürdige Schriftstück werfen, aber Goel drückte seinen Arm nieder und fügte hinzu: „Versuche es niemals, Geschan! Deine Reise könnte enden, ehe sie begonnen hat.“ Der sechste Richter machte ihm noch zwei andere wundersame Abschiedsgeschenke: den Beutel und den Dolch, die Yonathan schon auf seiner letzten großen Reise so nützliche Dienste geleistet hatten; Ersterer, indem er in Zeiten des Hungers stets auf geheimnisvolle Weise genügend Nahrung gespendet und Letzterer, indem er sogar Stein und eiserne Fesseln zerschnitten hatte.

Die Dolchklinge konnte allein durch die Kraft der Gedanken scharf oder stumpf werden.

Die Kleidung, die Yonathan sich aussuchte, war einfach und zweckmäßig: ein alter grüner Umhang, den er einst von dem Behmisch Din-Mikkith geschenkt bekommen hatte, Wams, Hosen und Stiefel aus Hirschleder sowie zwei ungefärbte, weite Leinenhemden.

Die Wahl des Reittieres bedurfte keiner Überlegung. Kumi, das weiße Lemak mit den verschiedenfarbigen Augen, das er von Baltan geschenkt bekommen hatte, war in den vergangenen drei Jahren noch kräftiger geworden. Der aufgeweckte und häufig etwas launische Hengst würde ihn überall hintragen.

Als schließlich der Augenblick des Abschieds nahte, tauchte plötzlich Bithya wie aus dem Nichts auf. Ihre Augen waren gerötet.

„Ich werde auf dich warten“, sagte sie mit belegter Stimme.

„Es wird nicht vergeblich sein.“

„Aber all die Gefahren! Wenn du nun ...“

„Still“, unterbrach Yonathan das Mädchen sanft, während er ihm seinen Zeigefinger auf die Lippen legte. „Ich werde zurückkommen. Oder zweifelst du an den Prophezeiungen des Sepher?“

„Nein“, presste Bithya hervor, und ihre Unterlippe zitterte wieder. „Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie ich ohne dich ...“ Der Rest des Satzes ging in einigen erstickten Lauten unter.

„Du brauchst jetzt nichts mehr zu sagen“, sprach Yonathan beruhigend auf das Mädchen ein, das er schon so lange liebte – anfangs, ohne es sich selbst einzugestehen, und später, ohne es offen auszusprechen. „Wir werden uns wiedersehen. Ich verspreche es. Schon bald!“ Und mit einem schiefen Lächeln fügte er hinzu: „Pass so lange gut auf unsere kleine Masch-Masch-Dame auf. Mir scheint, Gurgi ist in letzter Zeit ein wenig fett geworden. Gib ihr nicht zu viele Nüsse.“

Er küsste Bithya auf die Stirn, und ehe er ihr noch einmal in die Augen blicken konnte, hatte sie schon einen Zipfel ihres Gewandes gegen Mund und Nase gepresst und ihr Heil in der Flucht gesucht.

„Du musst noch so viel lernen, Geschan.“

Yonathan drehte sich erschrocken um. Goel stand hinter ihm und lächelte geheimnisvoll. Hatte er alles mit angehört?

„Ich verstehe nicht ...“

„Nein, wirklich nicht. Nun wurde dir schon die Gabe des Gefühls zuteil, aber du hast dich einfach geweigert, das Offensichtliche anzuerkennen. Bithya liebt dich. Und das schon eine ganze Weile. Wenn ihr beide nicht noch so jung wärt, hätte sie dir schon längst einen Heiratsantrag gemacht.“

„Bithya? Mir?“

„Du solltest lernen, aufmerksamer zu sein, Geschan – und unvoreingenommener.“

„Ja, Meister. Dein Rat wird mir fehlen. Ich wünschte, du könntest mitkommen.“

„Du bist jetzt der Richter. Du musst für dich allein entscheiden, für dich und für Neschan. Ich wollte dir das zum Abschied noch einmal sagen.“ Yonathan nickte. Er fühlte sich seinem Amt überhaupt nicht gewachsen. Eher unwürdig, wie damals, als Yehwohs Bote Benel ihm die Aufgabe übertragen hatte, den Stab Haschevet zum Garten der Weisheit zu tragen. „Ich bin froh, einen Lehrer wie dich zu haben, Goel. Lauf mir nicht weg, bis ich wieder zurück bin.“

Wieder lächelte Goel geheimnisvoll. „Da musst du dich nicht sorgen, mein Sohn. Wenn du wiederkehrst, werde ich längst im Herzen der Erde ruhen.“

Yonathan traf diese so ruhig geäußerte Ankündigung wie ein Faustschlag. „Aber ...?“

Nun wirkte Goel doch ein wenig verwundert. „Ja, hast du dich denn nicht genügend mit der Zeitrechnung beschäftigt? Wusstest du nicht, dass ich in wenigen Wochen sterben werde?“

Kapitel 2 Der Jäger im Turm

Der Schwarze Turm zu Gedor war der dunkelste Ort auf ganz Neschan. Daran gab es keinen Zweifel. Die Finsternis wuchs hier in eine neue Dimension. Sie umfasste mehr als nur die Abwesenheit von Licht.

Hier bedeutete sie die Abwesenheit von Hoffnung. Jedenfalls jener Art von Hoffnung, wie sie die Bewohner der Länder des Lichts suchten. Schwäche war alles, was er früher mit diesem Bedürfnis nach Trost, Liebe und Wärme verbunden hatte.

Bis zu diesem Tage, als der Junge ihn an der Schwerthand berührt hatte. Es war eine liebevolle, eine beinahe zärtliche Berührung gewesen. Sie hatte ihn zutiefst erschüttert. Schließlich war er der Jäger – ganz Neschan fürchtete seinen Namen –, der andere aber nur ein Knabe.

Diese Berührung hatte alles verändert. Noch nie zuvor hatte er Liebe gespürt. Eine gewisse Fürsorge von Seiten Bar-Hazzats, ja, eine, wie man sie auch seinem besten Bluthund angedeihen lässt. Doch echte Zuneigung ...? Der Junge hatte ihn mit einer Waffe besiegt, die stärker war als jeder temanahische Stahl, gewaltiger noch als Hass, selbst mächtiger als der Tod. Der Knabe verfügte über die Gabe der vollkommenen Liebe.

Kein Wunder, dass alles so gekommen war: die jähe Konfrontation mit diesen mächtigen Gefühlen, Verwirrung – ein kurzes Zögern nur – und der Junge war ihm entkommen. Natürlich hatte er, der Jäger Bar-Hazzats, ihn verfolgt, hatte lieber sterben wollen, als diese Niederlage zu erleiden. Aber das war ihm nicht vergönnt gewesen.

Er war damals im Nebel umhergeirrt, wie lange, das wusste er bis heute nicht. Und schließlich kehrte er nach Gedor zurück. Allein – Gan Mischpads Grenznebel hatte alle seine Männer verschlungen – überquerte er den geheimen Pass nach Témánah. Und allein trat er vor seinen Gebieter; die Schmach der Niederlage war zwar groß, doch wenigstens diese letzte Pflicht wollte er erfüllen. Er wusste, dass es für sein Versagen nur einen Lohn geben konnte: den Tod. Aber selbst diese Gnade blieb ihm versagt. Bar-Hazzat kannte das Wort Gnade nicht.

Seit diesem Tage hatte der Schwarze Turm ihn nicht mehr freigegeben. Er saß in den Eingeweiden dieses Riesen fest und dachte über die wahre Bedeutung des Wortes Finsternis nach. Es gab wohl – in welcher Sprache auch immer – keinen Begriff, der diese Schwärze auch nur annähernd beschreiben konnte.

Da das Licht seine Gesellschaft mied, blieben ihm nur die eigenen Gedanken. Und die Ratten. Sie liebten den Schwarzen Turm, waren gesund und wohlgenährt – von den Gefangenen, die hier unten vergessen worden waren, so sagte man. Ab und zu verirrte sich auch eine in sein Kerkerloch. Aber hier war er der Jäger. Seine Reflexe waren noch intakt, und er hatte sich der Finsternis angepasst. Kaum einmal entkam ihm eine Beute. Das Fleisch der Tiere half ihm, zu überleben, wenn es auch in der letzten Zeit knapper geworden war. Es hatte sich wohl unter den Ratten herumgesprochen, dass es in diesem Loch für sie nichts zu gewinnen gab.

Die Ratten vergaßen ihn allmählich, ebenso wie Bar-Hazzat ihn vergessen hatte, der auf der Spitze des Schwarzen Turmes thronte. Nur Fim dachte an ihn. Fim vergaß nie etwas.

Fim, das war der Kerkermeister dieses Verlieses, ein Wesen, von dem sich nicht mit Bestimmtheit sagen ließ, ob es je menschliche Ahnen besessen hatte. Vernunft, Mitgefühl und Humor schienen ihm fremd zu sein. Sein Gehorsam gegenüber Bar-Hazzat gründete sich eher auf Gewohnheiten denn auf Pflichtgefühl oder Furcht. Natürlich flößte der dunkle Herrscher jedem Wesen Angst und Schrecken ein. Aber Fim besaß zu wenig Verstand, um sich ernsthaft einschüchtern zu lassen. Er war ein Fleischberg, bleich, unbehaart, schmutzig. Ein einziges Auge stand ihm mitten auf der Stirn, doch das taugte nicht viel. Wenn ein neuer Gefangener in seiner lichtlosen Zelle wahnsinnig wurde, wenn er schrie und brüllte und am Ende dann nur noch leise wimmerte, störte das Fim nicht; er bemerkte es kaum. Bei alldem war Fim durchaus zuverlässig. Sobald ein Befehl Eingang in seinen massigen Kopf gefunden hatte, führte er ihn mit ruhiger Beharrlichkeit aus.

Diesem Umstand verdankte der Jäger sein Überleben. Fim vergaß nie, die kargen Rationen durch die Klappe in der Kerkertür zu schieben. Gelegentlich revanchierte sich der Gefangene dafür mit einer halb verzehrten Ratte.

Schon oft, in den vergangenen drei Jahren, hatte er sich gefragt, ob dieses langsam verlöschende Leben im lichtlosen Raum nur eine andere, eine besonders grausame Form der Todesstrafe war. Anfangs erschien es ihm so, zumal er das Urteil verdient hatte. Aber dann warfen seine fiebrigen Gedanken Fragen auf, die er nicht beantworten konnte. Warum war gerade er nicht getötet worden, als er den Knaben im Grenznebel verfolgte? Warum hatte er die weite Strecke zurück nach Gedor schadlos überstanden? Und weshalb hatte ihn Bar-Hazzat nicht sogleich vernichtet? Rücksichtnahme gehörte nicht gerade zu seinen Tugenden.

Er, der einst so gefürchtete Jäger, hatte alles verloren, selbst seinen Namen. Doch sogar in dieser ausweglosen Situation war ihm sein Leben als Pfand geblieben. Es musste eine Erklärung dafür geben. Vielleicht existierte ein größerer Plan, in dem auch er eine Bestimmung hatte?

Diese Hoffnung verschaffte ihm neuen Mut, neue Kraft; sie ließ ihn in der Gruft überleben, deren Siegel der Schwarze Turm war. Die Leute sagten, dass von diesem Ort die Schatten ausgingen, welche die Bewohner Neschans bedrückten. Aber auch er würde eines Tages von hier entkommen – jedoch nicht als Schatten. Und dann, das spürte er mit jeder Faser seines Körpers, sollte er seine wahre Bestimmung erfüllen.

Kapitel 3 Ein neugieriger Haufen

Der Himmel lag grau über der Steppe. Mit dem Verlassen des Grenznebels schien auch der Winter zurückgekehrt zu sein. Einmal mehr hatte sich Yonathan gefragt, ob Gan Mischpad, der Garten der Weisheit, überhaupt in dieser Welt lag. Doch schnell hatten sich seine Gedanken wieder dem Naheliegenden zugewandt, und er war in quälendes Grübeln versunken.

„Mein Pferd ist gesprächiger als du!“, beklagte sich Gimbar, nicht zum ersten Mal. „Hätte ich gewusst, dass ich mit einer Holzpuppe durch die Steppe reiten muss, dann hätte ich mir ein paar Bücher aus dem Kontor mitgenommen. Da gibt es noch einiges aufzuarbeiten!“

Ein kurzer Seufzer kam aus Yonathans Kehle. „Ich bin sehr froh, dass du mich begleitest, Gimbar.“